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Europa mit und ohne Bibel


Benedikt Peters, CH- Arbon    Home 

Übersicht B. Peters - Artikel

Die Bedeutung der Bibel für Kultur und Geschichte Europas ist unleugbar. Ohne dieses Buch wäre Europa nie geworden, was es war, und wäre es heute nicht, wie es ist. Im folgenden werde ich einige Leitlinien der Wechselbeziehung zwischen biblischem Glauben und gesellschaftlichem Leben aufzuzeigen suchen. Wir müssen uns dabei stets vor Augen halten, daß das Geflecht der gegenseitigen Beziehungen zu komplex sind, als daß es auf so kleinem Raum nach allein Seiten hin gebührend berücksichtigt werden könnte.

1. Die Sternstunde Europas
Pfarrer Wilhelm Busch sagte in einer Predigt «die Sternstunde Europas» habe geschlagen, als der Völkerapostel, aus Asien kommend, von Gott nach Europa geführt wurde. Der Historiker und Reisebegleiter des Apostels Paulus berichtet davon in Apostelgeschichte 16:6­12

Innerhalb einer Generation wurde das römische Reich vom Evangelium durchsetzt, Tausende örtlicher Christengemeinden entstanden. Dabei war die Botschaft in jeder Beziehung ein Ärgernis gewesen; es widersprach in allen entscheidenden Punkten dem philosophischen und religiösen Empfinden der damaligen Zeit.

Das Ärgernis des Evangeliums:
o Der Glaube an einen jenseitigen Gott
o Der Glaube an die Schöpfung
o Die totale Verderbtheit des Menschen
o Errettung allein durch Gnade
o Die Ausschließlichkeit der biblischen Botschaft
o Die Menschwerdung Gottes in Christus
o Die leibliche Auferstehung
o Das kommende Gericht
o Die ewige Verdammnis

Die gleichen Punkte, die heute Widerspruch gegen das Evangelium erregen, erregten schon im 1. Jahrhundert und seither in allen nachfolgenden Jahrhunderten Widerspruch. Apostelgeschichte 17 gibt uns davon einen lebhaften Eindruck:

«Die Epikuräer, an die sich Paulus in Athen wandte (Apg 17:18) glaubten, daß die Welt aus Atomen aufgebaut sei und sie vertraten eine Theorie der Evolution. Sie glaubten an die Existenz von Göttern, aber sie glaubten, daß die Götter nie in das Weltgeschehen eingegriffen hätten noch je eingreifen würden. Ihre wissenschaftliche Theorie lehrte sie, daß sowohl der menschliche Leib als auch die menschliche Seele sich aus Atomen zusammensetzt. Beim Tod zerstieben die Atome der Seele wie des Körpers. Die Seele zerfällt unmittelbar, der Körper später. Nichts überlebt, außer den einzelnen Atomen. Sie lehnten daher aus wissenschaftlichen Gründen die Möglichkeit der Auferstehung ab. Paulus predigte ihnen natürlich trotzdem die Auferstehung Christi (17:31).
Die meisten gewöhnlichen Griechen glaubten an ein weiterleben der Seele nach dem Tod, das hatte sie Plato wenn nicht schon Homer gelehrt. Aber niemand von ihnen glaubte an die Auferstehung des Leibes. Ihr großer Klassischer Dichter Aischylos hatte gesagt, daß es so etwas ganz einfach nicht gibt. Als ihnen Paulus daher die leibliche Auferstehung Christi verkündigte, lachten sich ihn aus (17:30­32).
... In populärer Form waren Vorstellungen der Seelenwanderung, des Fegefeuers und der Reinkarnation aus dem Hinduismus durch die Pythagoräer und Plato in die griechische Religion eingedrungen.» (David Gooding: True to the Faith).

2. Der Siegeslauf des Evangeliums
Das Evangelium setzte sich durch, wurde unter Kaiser Constantin (306­337 n.Chr.) zur Religio licita, zur erlaubten Religion, und später zur alleinigen Religion des römischen Reiches. Die christliche Kirche wurde zur kulturellen Lehrerin des nach dem Zusammenbruch des römischen Reiches heranwachsenden Europa. Die Zentren der Bildung und Kultur waren vom frühen Mittelalter an die Klöster (Irland; St. Gallen; Reichenau).

Einen eindrücklichen Beleg für die zivilisierende Kraft des Evangeliums bilden die nordeuropäischen Regionen, die zuletzt christianisiert wurden. Nachdem die heidnischen Nordmänner während zweier Jahrhunderte der Schrecken des ganzen christlichen Europa gewesen waren und man sich ihrer auf keine Art zu erwehren wußte, erwies sich das Evangelium als die einzige Kraft, die sie zu bändigen vermochte. Ansgar, der Apostel des Nordens, trug das Evangelium nach Dänemark, Norwegen und Schweden; und siehe da: Die wilden Wikinger wurden zahm und ließen von ihren Raubzügen ab.

Die Degenerierung der christlichen Botschaft
Eine Botschaft, die solche dem natürlichen Empfinden anstößigen Lehren enthält, konnte sich indes nicht halten. Äußerlich blieb Europa wohl christlich, die Kirchen beherrschten zwar Leben und Urteilen der Menschen, aber sie waren voll menschlicher Traditionen statt voll des Wortes Gottes (Matthäus 15:8,9; vgl. Kolosser 3:17).
Die Korruptheit der kirchlichen Führer war handgreiflich und in aller Munde, die Christenheit versank in tiefen Aberglauben. Der Keim der Degenerierung lag in der unseligsten Ehe, die unter dem Himmel je geschlossen worden ist: in der Ehe zwischen Thron und Altar. Das Reich Christi und die Reiche der Welt sind inkommensurable und inkompatible Größen, wie wir aus dem Munde des Nazareners, des Königs des Reiches Christi, vernehmen:

»Jesus antwortete: Mein Reich ist nicht von dieser Welt; wenn mein Reich von dieser Welt wäre, so hätten meine Diener gekämpft, auf daß ich den Juden nicht überliefert würde; jetzt aber ist mein Reich nicht von hier« (Joh 18:36).

3. Europas Stunde der Scheidung
Der Gott, der dafür gesorgt hatte, daß das Evangelium im 1. Jahrhundert nach Europa gekommen war, griff im 16. Jahrhundert mit großer Macht ein und schenkte der degenerierten Christenheit die Reformation.

Die Botschaft der Reformation
Die Reformatoren verkündeten wieder mit Kraft die Botschaft, welche die Apostel verkündigt hatten. Sie argumentierten allein mit dem geschriebenen Wort Gottes; sie verkündeten die Unumschränktheit Gottes und den Zustand totaler Verderbtheit des Menschen. Daraus zogen sie den einzig richtigen biblischen Schluß: Die Errettung des hoffnungslos verderbten Menschen muß vollständig Gottes Werk sein. Wir verstehen, warum die drei großen Schlagworte der Reformation lauten mußten:

Sola Scriptura: Allein die Schrift
Sola Gratia: Allein durch Gnade
Sola Fide: Allein durch Glauben

Auswirkungen der Reformation auf das gesellschaftliche Leben
Diese Wahrheiten veränderten jene Menschen und jene Gesellschaften, die sie aufnahmen. Der Unterschied zwischen den Ländern der Reformation und den Ländern, die unter dem Joch der römischen Kirche blieben, war augenfällig.

«Es hat vielleicht nie eine intensivere Form religiöser Schätzung des sittlichen Handelns gegeben, als die, welche der Calvinismus in seinen Anhängern erzeugte (Max Weber: Die protestantische Ethik).

Der französische Staatsdenker Montesqieu (1689 ­ 1755) schreibt von den Engländern, sie hätten es

«in drei wichtigen Dingen von allen Völkern der Erde am weitesten gebracht: in der Frömmigkeit, im Handel und in der Freiheit» (Esprit des Lois, Buch XX Kap. 7).

Daß Frömmigkeit gleichzeitig Freiheit bedeutet (vgl. Joh 8:32), ist bei Römisch Katholischer Frömmigkeit ganz undenkbar, denn diese bedeutet immer Priesterherrschaft und damit Unmündigkeit der ihr unterworfenen Seelen. Bürgerliche Freiheiten, sozialer Ausgleich, Bildung, Emanzipation der Frau und wirtschaftliche Wohlfahrt waren eindeutige Folgen der Reformation.

 

Das Evangelium und politische Mündigkeit
Montesquieu hatte bereits beobachtet, daß zwischen der «Frömmigkeit» der Engländer und ihrer Freiheitlichkeit ein Zusammenhang bestand. Ein anderer Franzose, Alexis de Tocqueville (1805­1859), bereiste wenige Jahrzehnte nach ihrer Gründung die Vereinigten Staaten von Amerika, die ihre Existenz bekanntlich den puritanisch dominierten Staaten Neuenglands verdankte. Puritaner hatten diese Kolonien im 17. Jahrhundert gegründet, puritanischer Glaube und Sittlichkeit hatten das Zusammenleben dominiert, im «Great Awakening», der Erweckungsbewegung jener Neuenglandstaaten in der Mitte des 18. Jahrhunderts war noch einmal dezidiert protestantischer Glaube und damit protestantische Ethik zur entscheidenden sittlichen Kraft geworden, die das Gemeinwesen zusammenhielt. Tocqueville schrieb in seinem Buch «Demokratie in Amerika» (1831):

«Ich habe kein Land gesehen, in welchem das Christentum dem Verstand eindeutigere, einfachere oder allgemeiner vertretene Ansichten präsentiert. Indem es alle demokratischen Tendenzen respektierte, welche nicht absolut gegen das Christentum gerichtet waren, wurde es zu einem Verbündeten des Geistes individueller Abhängigkeit.»

Es sage nun niemand, Demokratie sei eine biblische Einrichtung; aber es läßt sich sagen: Allein von biblischer Sittlichkeit mehrheitlich dominierte Menschen machten moderne Demokratie möglich. Die zweite Musterdemokratie nach den Vereinigten Staaten wurde die Schweiz, nicht zufällig das Land mit zwei großen Zentren der Reformation ­ Zürich und Genf ­ und mit starker, die Eidgenossenschaft eindeutig dominierender protestantischer Ethik. Die Katholiken fühlten sich bei der Gründung der modernen Eidgenossenschaft mit der Bundesverfassung von 1848 damals in der Schweiz als ins Abseits gedrängte Minderheit; so beurteilen noch heute schweizerische Historiker die Lage der Katholiken jener Jahre. Hätte katholisches Denken und sittliches Urteilen dominiert, wäre die Schweiz nie zur modernen Schweiz geworden.

Das Evangelium und wirtschaftlicher Wohlstand
Die klassische wissenschaftliche Untersuchung zum Zusammenhang zwischen dem reformatorischen Glauben und wirtschaftlichem Aufschwung stammt vom deutschen Sozialökonomen und Wirtschaftshistoriker Max Weber (1864 ­ 1920). Seine grundlegende Veröffentlichung «Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus» ist bis heute ein immer wieder aufgelegtes Standardwerk geblieben.
Hier einige ausgewählte Zitate aus genanntem Werk:

«Nun ist unverkennbar, daß schon in dem deutschen Worte Beruf ebenso wie in vielleicht noch deutlicherer Weise in dem englischen calling eine religiöse Vorstellung ­ die einer von Gott gestellten Aufgabe ­mitklingt ... Und verfolgen wir nun das Wort geschichtlich durch die Kultursprachen hindurch, so zeigt sich zunächst, daß die lateinisch-katholischen Völker für das, was wir Beruf nennen, einen Ausdruck ähnlicher Färbung ebensowenig kennen wie das klassische Altertum, während es bei allen protestantischen Völkern existiert.»

Arbeit als gottgewollte Aufgabe, Pflichterfüllung als christlicher Dienst am Höchsten, Arbeit als der bessere Gottesdienst als die fromme Kurzweil bettelnder und schmarotzender Mönche ­ das alles kennen wir von Luther. Max Weber:

«Daß diese sittliche Qualifizierung des weltlichen Berufslebens eine der folgenschwersten Leistungen der Reformation war, ist in der Tat zweifellos, und sie darf nachgerade als Gemeinplatz gelten.»

«Der Abscheu und die Verfolgung, welchen z.B. die methodistischen Arbeiter im 18. Jahrhundert von Seiten ihrer Arbeitsgenossen begegneten, bezog sich, wie schon die in den Berichten so oft wiederkehrende Zerstörung ihres Handwerkszeuges andeutet, keineswegs nur oder vorwiegend auf ihre religiösen Exzentrizitäten ­ davon hatte England viel und Auffallenderes gesehen ­, sondern auf ihre spezifische Arbeitswilligkeit, wie man heute sagen würde.»

«Die Welt ist bestimmt, der Selbstverherrlichung Gottes zu dienen, der Christ dazu da, den Ruhm Gottes in der Welt durch Vollstreckung seiner Gebote an seinem Teil zu mehren. Gott will die soziale Leistung des Christen, denn er will, daß die soziale Gestaltung des Lebens seinen Geboten gemäß und so eingerichtet werde, daß sie jenem Zweck entspreche. Die soziale Arbeit des Calvinisten in dieser Welt ist lediglich Arbeit in maiorem Dei gloriam. Diesen Charakter trägt auch die Berufsarbeit, welche im Dienste des diesseitigen Lebens der Gesamtheit steht.»

«Aber die Arbeit ist darüber hinaus, und vor allem, von Gott vorgeschriebener Selbstzweck des Lebens überhaupt ­ Selbst Zinzendorf sagt gelegentlich: Man arbeitet nicht allein, daß man lebe, sondern man lebt um der Arbeit willen, und wenn man nichts mehr zu arbeiten hat, so leidet man oder entschläft. Der paulinische Satz: Wer nicht arbeitet, soll nicht essen, gilt bedingungslos und für jedermann. Die Arbeitsunlust ist Symptom fehlenden Gnadenstandes.»

Richard Baxter, ein puritanischer Bibelausleger des 17. Jahrhunderts mit großem Einfluß, schreibt:

«Frage: Soll ich nicht alle weltlichen Geschäfte ablegen, um nur über meine Errettung zu sinnen?
Anwort: Du kannst alle übertriebenen weltlichen Sorgen abwerfen, welche dich in geistlichen Dingen unnötig hindern. Aber du darfst nie alle körperliche Anstrengung und geistige Arbeit niederlegen, in denen du dem allgemeinen Wohl dienstbar sein kannst. Jeder muß als Glied der Kirche und der Allgemeinheit sein Teil zum Wohl sowohl der Kirche als auch der Allgemeinheit beisteuern. Dies zu vernachlässigen und zu sagen: Ich werde mich stattdessen in Gebet und Kontemplation versenken, ist, als ob dein Diener seine Hauptarbeit vernachlässigen und einer angenehmeren Arbeit nachgehen würde. Und Gott hat dir befohlen, für dein tägliches Brot zu arbeiten und nicht wie die Drohne vom Schweiß anderer zu leben.»

Das Evangelium und soziales Engagement
Eine der mächtigsten durch das Evangelium ausgelösten Bewegungen seit der Reformation war die sogenannte «methodistische» Erweckung des 18. Jahrhunderts, welche die gesamte englischsprachige Welt erfaßte (England, Wales, Schottland, Irland, Nordamerika). Die beiden Träger dieser ungeheuren religiösen und sozialen Bewegung waren George Whitefield und John Wesley. Der Bahnbrecher und Wichtigere der beiden war George Whitefield. Er predigte das Evangelium so, wie es die Reformatoren getan hatten. Ich zitiere aus einem Brief Whitefields an seinen Weggefährten und Mitarbeiter Wesley:

«Die Lehre unserer Erwählung und freien Rechtfertigung in Christus Jesus wird mir täglich eindringlicher aufs Herz gelegt. Sie füllt meine Seele mit heiligen Feuer und gewährt mir große Freimütigkeit und Gewißheit in Gott, meinem Heiland. Ich hoffe, daß wir Feuer fangen voneinander, und daß wir in heiligem Eifer darin wetteifern, wer unter uns den Menschen am tiefsten erniedrigt und den Herrn am höchsten erhöht. Nichts als die Lehren der Reformation vermögen das zu bewirken. Ich weiß, daß Christus alles in allem ist. Der Mensch ist nichts: Er hat den freien Willen, in die Hölle zu fahren, nicht aber in den Himmel zu kommen, solange Gott nicht in ihm wirkt, daß er das wolle und wirke, was Gott gefällt. O, wie herrlich ist die Lehre der Erwählung und des endgültigen Ausharrens der Heiligen. Ich bin davon überzeugt, daß der Mensch, solange er diese wichtigen Wahrheiten nicht glaubt und spürt, er nicht von sich selbst frei werden kann; wenn er aber von diesen Wahrheiten überzeugt und von deren Anwendung auf sein Herz überführt worden ist, dann wandelt er wahrhaftig im Glauben. Liebe, nicht Furcht, drängt ihn zum Gehorsam.
Es ist die Lehre der Erwählung, welche mich am stärksten drängt, in guten Werken überströmend zu sein. Ich werde zum Leiden willig gemacht um der Erwählten willen. Das läßt mich voller Trost das Evangelium predigen, da ich weiß, daß die Errettung nicht vom freien Willen des Menschen abhängig ist, sondern daß der Herr am Tage seiner Macht willig macht, und daß er mich verwenden kann, einige Seiner Erwählten heimzurufen, wann und wo es ihm gefällt.»
(Zitiert in: Arnold Dallimore, George Whitefield, S. 407).

Das christliche Paradox
Die Reformatoren waren von der völligen Unfähigkeit des Menschen zum göttlich Guten überzeugt; ebenso der zitierte George Whitefield. Alles Heil und alles Wohl des Menschen liegt am souveränen Gnadenwillen Gottes. Sollte eine solche Ansicht den Menschen nicht zur völligen Passivität verleiten? Ist nicht die islamische Lehre vom Kismet die dämonische Fessel, welche Millionen von Menschen in stumpfer Resignation dahintrotten läßt? So ist es.

Jetzt aber sehen wir an einem Paulus das gleiche, was uns das Leben der Reformatoren und aller großer Verkündiger ihrer Botschaft auszeichnet: Die restlose Überzeugung, daß alles an Gottes Gnade liegt, treibt den daran Glaubenden zu unermüdlichem Arbeiten an (1Kor 15:10), läßt ihn das Leben an diesen Gott verlieren und im Dienst an seinen Mitmenschen verzehren.
Von Luther wie von Calvin bezeugen Freunde wie Feinde, daß sie angesichts ihrer unfaßbaren Arbeitsleistung sprachlos dastehen. George Whitefield und John Wesley standen den genannten in keiner Weise nach. Ersterer hielt in den 25 Jahre öffentlichen Wirkens, die ihm vor seinem frühen Tod beschieden waren, nach vorsichtiger Schätzung 20 000 Predigten, überquerte dabei 13mal den Atlantik, gründete Gemeinden, Waisenhäuser und Schulen für die Armen. Wie ist dieses scheinbare Paradox zu erklären?
So: Der Gott, dessen Gnadenwille in der Bibel geoffenbart ist, ist der Gott unendlicher Liebe und Fürsorge (Matt 5:44,45). Wer sich dessen Willen rückhaltlos unterwirft, wer sich dessen Gnade vollständig ausliefert, weil er weiß, daß in ihn nichts Gutes wohnt ­ so spricht Paulus in Röm 7:18 ­, der wird von seinem Gott gedrängt, aus Liebe gedrängt (2Kor 5:11), allen Menschen Gutes zu wünschen und Gutes zu tun.
Zunächst wird er ihnen das Beste geben, das er ihm geben kann, und das ist das Evangelium; er wird sich aber auch darum kümmern, ihm zeitlich Gutes zu geben. Zum Seelenheil wird sich auch die Suppe und die Seife gesellen. Das von Calvin für die Reformation gewonnene Genf wurde eine Stadt der sozialen Fürsorge und der Bildung, das ganz Europa zum Vorbild diente. Die vom Evangelium Ergriffenen, die aus Liebe zu Gott in Liebe zu den Menschen gedrängt wurden, Schulen zu bauen, Gefängnisse zu besuchen, Kranke zu pflegen, Hungernde zu nähren, sind so zahlreich, daß sie nicht aufgezählt werden können. Das nachfolgende Beispiel soll für die übrigen stehen:

3. England vor und nach Whitefield und Wesley
England war Ende des 17. und im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts ein sittlich und sozial so degeneriertes Land, daß zeitgenössische Beobachter um den Fortbestand der Nation bangten.
«Wir gehen zurück bis ins Jahr 1660. Mit der heftigen Verwerfung des Puritanismus, die damals die Restauration der Monarchie begleitete, gab man den Engländern die Vorstellung, daß man ohne üble Folgen ein Leben der ungezügelten Hemmungslosigkeit führen könne. Mit dieser Gewißheit warf ein Großteil der Nation alle Hemmungen ab und stürzte sich kopfüber in ein Leben der Gottlosigkeit, der Trunksucht, der Unmoral und des Spielens. Es wurden Gesetze verabschiedet, welche jedes puritanische Gewissen quälen mußte. Im Jahre 1662 ­ einem der schwärzesten Tage in der gesamten britischen Geschichte ­ wurden nahezu 2000 Pastoren aus ihrem Beruf gestoßen ­ all jene nämlich, welche sich der Act of Uniformity nicht beugen konnten. Hunderte litten für den Rest ihres Lebens, manche starben in der Folge.» (Arnold Dallimore)

Der Ausverkauf des biblischen Glaubens
Hatte man die bibelgläubigen Pastoren aus der Church of England vertrieben, Männer, die den Glauben der Reformatoren persönlich kannten und mit Hingabe lehrten, kann das Bild , das jene Kirche im 18. Jahrhundert bot, nicht verwundern:

«Das Kollektiv der Pastorenschaft besteht aus Männern, deren Leben und Beschäftigung in sonderbarster Beziehung zur ihrem Beruf stehen ­ Höflinge, Politiker, Anwälte, Händler, Wucherer, Tandler, Musiker, Werkzeuge der Mächtigen und sogar Gefährten von Schurken und Gottlosen. Das Kirchenvolk ist entsprechend das unwissendste, das sich in irgendeinem protestantischen wenn nicht überhaupt christlichen Volk auf der Erde befindet.»
(Alfred Plummer, The Church of England in the Eighteenth Century).

Ein harmloser Deismus verdrängte den Glauben an den Gott der Bibel, und das kam der Verrohung britischer Gepflogenheiten in willkommener Weise entgegen. Das Christentum war bloßer schmückender Beirat, wie folgende Begebenheit aus jenen Tagen illustrieren kann:

«Sie [Queen Caroline] war lange bei schlechter Gesundheit gewesen, und im November 1737 lag sie im Sterben ... Nun erleben wir folgende sehr schmerzliche aber charakteristische Szene. Das Volk wundert sich, daß niemand mit der Königin Gebete gelesen hat. Um diesem Munkeln ein Ende zu setzen, schlug der Prime Minister Robert Walpole der Prinzessin Emily vor, den Erzbischof Potter ans Sterbelager zu bestellen. Die Prinzessin zögerte, worauf Walpole weiterfuhr, wiewohl etwa ein Dutzend Personen zugegen waren: Gnädige Frau, wir spielen am beste diese Farce; der Erzbischof wird seinen Part gut machen. Sie können ihm auftragen, sich so kurz zu fassen wie irgend möglich. Es wird der Königin weder schaden noch nützen, aber es wird alle guten und weisen Narren zufriedenstellen, die uns Atheisten nennen werden, wenn wir uns nicht als so große Narren bekennen, wie sie es sind.» (Alfred Plummer).

Bishop Butler sagte, der Skeptizismus herrsche so uneingeschränkt, daß man

«das Christentum so behandelt, als sei es reine Fiktion ... daß es zu nichts mehr dienen könne, als der öffentlichen Belustigung und Verhöhnung preisgegeben zu werden.»

Eine versoffene Nation
Die Nation war total dem Gin verfallen. Um 1700 war jedes sechste Haus in London ein Schnapsladen. Ein Londoner Beamter jener Zeit fragte sich:

«Was soll aus dem Kind werden, das im Ginsuff gezeugt wurde und im Mutterschoß und an der Mutterbrust einer dem Gin Verfallenen herangewachsen ist?»

Bishop Benson klagte zur gleichen Zeit:

«Diese verfluchten Schnäpse werden, wenn man weiterhin so viel trinkt, dieses Volk vernichten. Gin hat das englische Volk so werden lassen, wie es zuvor nie gewesen ist: grausam und unmenschlich.»

Der berühmte und im 18. Jahrhundert gefeierte britische Dramatiker Henry Fielding («Tom Jones») urteilte:

«Sollte das Trinken dieses Giftes in den nächsten zwanzig Jahren im gleichen Ausmaß weitergehen, dann werden nur noch wenige normale zurückbleiben, um es noch zu trinken.»

o Tierquälereien. Die Puritaner hatten Vergnügungen, die mit Tierquälerei zusammenhingen verboten. Jetzt aber fand das Volk landauf landab ihr Vergnügen an tierquälerischen               Spielen.
o Eine herzlose Aristokratie. Diese lebte in übermäßigem Prunk; große Teile der Bevölkerung aber in Elend.
o Wachsende Kriminalität, überfüllte Gefängnisse.
o Obszönitäten auf offener Bühne, «that sink of corruption ­ jene Kloake der Verderbtheit» wie John Wesley sie nannte.
o Sklavenhandel

England nach der Erweckung
Die Tätigkeit Whitefields diesseits und jenseits des Ozeans zeitigte außergewöhnliche Ergebnisse. Einer der berühmtesten Amerikaner jener Zeit, der Politiker und Beteiligter an der Unabhängigkeitserklärung Amerikas von 1776, Benjamin Franklin (1706­1790), war mit Whitefield befreundet, achtete seine Person und schätze seinen Einfluß, wiewohl er dessen Ruf zur Umkehr und zum Glauben an den Sohn Gottes nie befolgte. Er sagte über seine Heimatstadt Philadelphia, nachdem Whitefield dort das Evangelium verkündigt hatte:

«Im Jahre 1739 kam Pastor Mr Whitefield zu uns ... Die Menschenmengen aus allen nur erdenklichen Benennungen, die seine Predigten hörten, waren enorm. Für mich war es ein Gegenstand interessanter Spekulation, den außerordentlichen Einfluß seiner Redekunst auf die Zuhörer zu beobachten ... Es war wunderbar, die alsbaldige Veränderungen im Benehmen unserer Mitbürger zu sehen. Nachdem sie gegenüber diesen Dingen zuvor gedankenlos oder gleichgültig gewesen waren, schien es, als ob die ganze Welt religiös werden wollte, dergestalt, daß man Abends nicht mehr durch die Stadt spazieren konnte, ohne in jeder Straße in mehreren Familien den Gesang geistlicher Lieder zu hören.»

Solches geschah allenthalben, wo Whitefield, Wesley und ihre Mitarbeiter im Evangelium arbeiteten. Unzählige Menschen wurden von der Botschaft ergriffen und geistlich von neuem Geboren. Das hatte auch Folgen auf das gesellschaftliche Leben. Ich nenne hier einige Ergebnisse der Erweckung des 18. Jahrhunderts in England:

o Befreiung von der Trunksucht (vgl. Schweden im 19. Jahrhundert und die Folgen der dortigen Erweckung)
o Gründung von Schulen für breite ungebildete Schichten. Whitefield gründete eine Schule für die völlig verwahrlosten              Arbeiterfamilien der Kohlebergwerke in Kingsfield bei Bristol, nachdem er als erster angefangen hatte, diesen von der Gesellschaft Verworfenen das Evangelium zu predigen. Griffith Jones, ein Mitarbeiter Whitefields, bildete in seiner walisischen Heimat Schullehrer aus und gründete Wanderschulen für Kinder und Erwachsene. Von 1731 bis 1761 entstanden fast 4000 solche Schulen und wurden 158 000 Schüler ausgebildet.
o Eröffnung von Waisenhäusern. Whitefield gründete ein Haus für elternlose Kinder bereits bei seinem zweiten Aufenthalt in Amerika in der Kolonie Georgia.
o Abschaffung der Sklaverei. Beide, Whitefield und Wesley, wandten sich öffentlich gegen die Praxis der Sklaverei.

Ich zitiere aus einem Buch über das Leben und die Wirkung von John Wesley:

«Wesley war schon zu seinen Lebzeiten ein mächtiger gesellschaftlicher Faktor. Als derjenige Engländer, der mit mehr Landsleuten von Angesicht zu Angesicht sprach als irgend ein anderer in jenen Jahrhundert, als einer der meistgelesen Schreiber von Flugblättern... Es gab niemanden, der ihm hinsichtlich seinen umfassenden Einflusses gleichgekommen wäre, schreibt die Cambridge Modern History.
Wesley griff bestimme Soziale Sünden frontal an. Seine Flugschrift gegen den Sklavenhandel ­ diese niederträchtigste Summierung aller Schurkereien ­, erschienen 1774, war eine der ersten Anklagen, die ein breites Publikum erreichte; und der letzte Brief, den er von seinem Sterbebett aus schrieb, ging an Wilberforce und mahnte den jungen Streiter für die Freiheit dringlich, seinen Kampf gegen den Sklavenhandel zu intensivieren. Wesley nahm den Kampf... gegen die Ginbrennereien auf, die der Historiker Lecky den größten Fluch jener Zeit nannte. Er setzte sich gegen den Mißbrauch der Arbeitskraft der Armen und für ihre Unterstützung und Bildung ein.»
(Garth Lean: John Wesley. Revolution ohne Gewalt)

In der britischen Geschichtsschreibung gilt es als ausgemachte Sache, daß die furchtbare französische Revolution nicht auf England überspringen konnte, weil das Evangelium das Land inzwischen sittlich und gesellschaftlich so verändert hatte, daß kein Grund und damit kein Nährboden für den gewaltsamen Umsturz mehr da war:

«Wesleys stetiger Einfluß in allen Krisensituation seiner Zeit ist ohne Zweifel ein Grund dafür, daß Historiker wie Lecky, Halévy und Temperley ihm das Verdienst zusprechen, England vor einer blutigen Revolution bewahrt zu haben, die der französischen von 1789 gleichgekommen wäre.» (Garth Lean: Wesley).

Im 18. Jahrhundert war England in der Welt führend im Sklavenhandel. Ein amerikanischer Forscher schätzt, daß England den französischen, spanischen und britischen Kolonien vor dem Jahre 1776 bereits drei Millionen Sklaven lieferte. Der «Handel», wie dieses üble Geschäft genannt wurde, war das erfolgreichste Geschäft des britischen Imperiums, es galt daher als das nationale Interesse.

1740, als Whitefield zum zweiten Male Nordamerika bereiste, schrieb er einen die Sklavenhalter verurteilenden offenen Brief an die Verantwortlichen der südlichen Kolonien: A Letter to the Inhabitants of Maryland, Virginia, and North and South Carolina Concerning their Negroes.

William Wilberforce war durch die methodistische Erweckung zum Glauben gekommen. 1787 schrieb er in sein Tagebuch:

«Der allmächtige Gott hat mir zwei Ziele gesetzt: die Abschaffung der Sklaverei und die Besserung der Sitten in England.»
«Zwanzig Jahre des Kampfes waren nötig, um das Parlament zur Abschaffung des Handels zu überreden... England vor Wesley war die größte Sklavenhalternation; England nach Wesley war führend im Kampf um die Weltweite Abschaffung der Sklaverei.»

4. Die Verdüsterung Europas
Gleichzeitig mit der Reformation wurde die Saat zur heutigen Verfinsterung gesät. Mit der Aufklärung, englisch «the enlightenment» und französisch «les lumières», wurden jene Kräfte freigesetzt, welche die Totengräber der Reformation geworden sind:

o Renaissance und Humanismus: Die Wiedergeburt des Menschen zur Mitte der von ihm selbst erklärten, erforschten und gestalteten Welt.
o Rationalismus: Der menschliche Geist statt des Wortes Gottes als Quelle letzter und höchster Erkenntnis.
o Materialismus: Im Anfang steht nicht Gott, nicht das Wort, sondern die Materie.

Hatte der Satz Timor Domini initium sapientiae Jahrhundertelang Wissenschaft, Lehre und gesellschaftliches Leben geprägt, so sind wir inzwischen so weit, daß kein Forscher und kein Politiker im Ernst mehr den Gott der Bibel als Urheber der sinnlich wahrnehmbaren Welt und Quell allen Wissens, als Richter allen Tuns und als Lenker aller Geschicke des Menschen anrufen kann. Er gäbe sich der Lächerlichkeit preis. Alles, was die Apostel und nach ihnen die Reformatoren gelehrt hatten, wird heute geschmäht oder belächelt.

Das antichristliche Paradox
Hatten wir von einem christlichen Paradox gesprochen, so müssen wir auch von einem antichristlichen Paradox sprechen. Die Nachfahren der Reformatoren und Puritaner, Pietisten und Erwecker mögen ganz gerne von der

o kulturstiftenden Kraft des Christentums reden.
o Die Früchte biblischen Denkens und Urteilens wie Pflichtbewußtsein, Rationalität, praktische Solidarität, und daraus erwachsende materielle Wohlfahrt werden gerne geerntet.
o Die Botschaft, d.h. die göttlichen Wahrheiten, welche die Kraft zu solchen für jedermann als nützlich erkennbaren Tugenden sind, will man indes nicht.
o Glaube an den Gott der Bibel und gläubige Unterordnung unter seinen Willen werden mit Abscheu verworfen.

Bürgerliche Freiheiten, politische Mündigkeit, Sozialstaat, Bildung für alle, Befreiung von rassistischen Vorurteilen, religiöse Toleranz, freie Meinungsbildung und ­äußerung etc. sind alles zumindest indirekte Folgeerscheinungen des Evangeliums. Die Bibel hat den Menschen gelehrt, entsprechend zu denken und sich entsprechend zu verhalten. Die Apostel, Reformatoren und Erweckungsprediger hatten indes ein großes Lebensziel. Ich zitiere einmal mehr aus Max Weber: Die protestantische Ethik:

«Ethische Reformprogramme sind bei keinem der Reformatoren ­ zu denen wir für unsere Betrachtung auch Männer wie Menno (Simons), George Fox, John Wesley zu rechnen haben ­ jemals der zentrale Gesichtspunkt gewesen. Sie sind keine Gründer von Gesellschaften für ethische Kultur oder Vertreter humanitär sozialer Reformprogramme oder Kulturideale. Das Seelenheil und dies allein ist der Angelpunkt ihres Lebens und Wirkens. Ihre ethischen Ziele und die praktischen Wirkungen ihrer Lehre sind alle hier verankert und Konsequenzen rein religiöser Motive.»

Das Seelenheil, oder genauer: die Erkenntnis des Gottes, den zu kennen und dem zu dienen allein Leben und Heil bedeutet, war die Leidenschaft der Reformatoren und Erwecker. Die sozialen Folgen waren willkommene aber nicht gesuchte Begleiterscheinungen. Die Christenheit des 20. Jahrhunderts ist hingegen allein an diesen interessiert. Daß man die Früchte will, den aber von sich weist, der sie wachsen läßt, ist eine Schmähung des Gebers aller guten Dinge. Gott aber läßt sich nicht spotten. Der Mensch wird das ernten, was er gesät hat. Das heißt, daß wir für eine Gesellschaft, die bestenfalls Gleichgültigkeit, meist aber direkten Widerspruch und offenen Hohn gegenüber der biblischen Botschaft sät, keine Hoffnung haben können. Die Folgen der seit Jahrzehnten betriebenen systematischen Ausmerzung biblischen Urteilens und Denkens aus Familie, Schule, Kirche und Medien sind ja auch mit Händen zu greifen. Europa sieht heute dem England vor der methodistischen Erweckung sehr ähnlich; alle dort genannten Punkte könnten wir auf uns und unsere Zeit anwenden. Nur mit einem Unterschied: Der Grad der Verderbtheit ist höher. Brauchen wir noch Beispiele anzuführen? Wir nehmen es allenthalben wahr, wir fühlen es, wir wissen es, daß wir ernten, was wir gesät haben:

«Irret euch nicht, Gott läßt sich nicht spotten! Denn was irgend ein Mensch sät, das wird er auch ernten» (Gal 6:7).