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Ein Fremdling auf Erden.

Kol. 3, 8.
Denn ihr seid gestorben, und euer Leben
ist verborgen mit Christo in Gott.

Hoher Fremdling, der zur Erden,
Aus des Vaters Schoße kam,
Und der Menschheit knechtsgeberden
Ohne Murren auf sich nahm,
Der in rauher Erdenhülle,
Unter grobem Pilgerkleid
Barg der Gottheit ganze Fülle,
Trug den Stern der Herrlichkeit.

Fremdling unter Deinem Volke,
Das mit Palmen Dich empfing,
Während ihm des Wahnes Wolke
Vor den blöden Blicken hing,
Das in Leibesnot und Schmerze
Gierig griff nach Deiner Hand,
Aber nie Dein himmlisch Herze,
Nie Dein göttlich Wort verstand!

Fremdling unter Pharisäern,
Die Dein heilger Blick erschreckt,
Der Du durch ein Heer von Spähern
Walltest still und unbefleckt,
Wie der Mond, der fleckenlose,
Durch das Nachtgewölke zieht,
Wie der süße Kelch der Rose
Mitten unter Dornen blüht! –

Fremdling in dem Kreis der Jünger,
Der Dich Herr und Meister hieß,
Dem Dein sanft erhobner Finger
Seine Torheit oft verwies,
Den Du in den Abschiedstagen
Noch voll Wehmut angesehn:
„Vieles hätt ich euch zu sagen,
Doch ihr könnts nichts verstehn!“ –

Fremdling auf der schönen Erde,
Die Dir wenig Rosen trug,
Aber Mühsal und Beschwerde,
Dorn und Disteln ach! genug:
Denn das Wild hat seine Stätte
Und ihr Nest des Vogels Brut,
Doch des Menschen Sohn kein Bette,
Drauf ein Haupt in Frieden ruht! –

Fremdling, der bei Nacht gekommen
Und geheim von hinnen ging,
Der, ein Gräuel selbst den Frommen,
Am verfluchten Holze hing,
Der die blut’gen Grabeslinnen
Liegen ließ in leerer Gruft,
Den die Wolke trug von hinnen,
Aufwärts durch die blaue Luft!

Fremdling nach zweitausend Jahren
Heute noch in dieser Welt,
Ob sich auch Dein Volk in Scharen
Betend um Dein Kreuze stellt,
Wo Dich Tausende nicht kennen,
Weil ihr Geistesauge blind,
Tausende mit Lippen nennen,
Doch Dir fern im Herzen sind! –

Hoher Fremdling, gib hienieden
Mir den rechten Fremdlingssinn,
Dass ich, reich in Deinem Frieden,
Gern ein Gast und Pilger bin;
Geht mein Pfad auf öden Haiden,
Führt mein Weg durch grüne Aun:
Lass in Schmerzen mich und Freuden
Unverrückt nach oben schaun!

Muss ich unter linden Seelen
Freundlos meine Pfade gehen
Und mein Heiligstes verhehlen,
Oder es verlästert sehn:
Lass mich nach der Welt nichts fragen,
Die die Besten stets verstieß,
Und mein Heil im Herzen tragen
Als verschlossnes Paradies!

Wenn sich holde Bande trennen,
Die die Wallfahrt mir versüßt,
Liebe Herzen mich verkennen,
Freundesaug sich sterbend schließt,
Wenn ich blut‘ aus stillen Wunden
Und die Kelter tret‘ allein:
Lass mich, Dir im Geist verbunden,
Einsam, nicht alleine sein!

Wirft das Weltglück seine Kränze
Andern blindlings in den Schoß,
Stehn im blütenreichsten Lenze
Meine Bäume blütenlos:
Lass mich nicht um Tand mich grämen,
Gib zum Trost mir zwiefach dann
Frieden, den die Welt nicht nehmen,
Den die Welt nicht geben kann!

Hoher Fremdling, der zur Erde
Niederstieg aus Engelreihn:
Dass ich dort ein Bürger werde,
Lass mich hier ein Fremdling sein,
Hier mit dir in Gott verborgen,
Vor der Menschen Auge nichts,
Aber dort am großen Morgen
Offenbar als Kind des Lichts.

Karl Gerok, 1860