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Frage 453
14.02.2002
Lieber Hans-Peter,
da der von dir gesuchte Satz das Motto meines Gymnasiums war und in großen Lettern auf einer Marmorplatte im Foyer prangte, kann ich
zumindest die lateinische Fassung aus dem Gedächtnis zitieren:
IN NECESSARIIS UNITAS
IN DUBIIS LIBERTAS
IN OMNIBUS CARITAS
Auf Deutsch heißt das etwa: In notwendigen Dingen Einheit In zweifelhaften Dingen Freiheit In allen Dingen Liebe
Eine Internetrecherche über den Spruch und seinen Autor brachte interessante Ergebnisse. Traditionell wird der Satz tatsächlich
Augustinus zugeschrieben und daher auch von Katholiken gerne zitiert (bis in päpstliche Verlautbarungen hinein); inzwischen hat sich aber
herausgestellt, dass Augustinus nicht der Autor und die obige Fassung auch nicht die ursprüngliche ist. Vielmehr stammt der Spruch von einem
lutherischen Theologen namens Rupertus Meldenius (eig. Peter Meiderlin, 1582-1651). Das Biographisch-Bibliographische Kirchenlexikon geht
ausführlich darauf ein: "[...] der von M[eldenius] geschaffene, an eine verwandte Formulierung
Senecas (Epist. 88,37) bewußt angelehnte Spitzensatz [...]: 'Verbodicam: Si nos servaremus in necessariis Unitatem, in non necessariis
Libertatem, in utrisque Charitatem, optimo certe loco essent res nostrae. (Ich will es mit einem Wort sagen: Wenn wir wahren würden im
Notwendigen Einheit, im Nicht-Notwendigen Freiheit, in beidem Liebe - gewiß würde unsere Sache bestens stehen.)' -
M[eldenius] meint zunächst: gegen den Kriegsdruck römischer Gegen-Reformation. Aber der Gedanke steht bewußt in der Tradition der
sog. Irenik zurück bis zu Erasmus von Rotterdam [...]. Die Differenzierung von 'necessaria / non necessaria' geht auf Calvin zurück
(Inst. IV,1,12). Sie wurde jedenfalls von Casaubonus 1612 wörtlich und M[eldenius'] Formulierung teilweise nahekommend benutzt. [...] Unter
'Heilsnotwendigem (ad salutem necessaria)' versteht M[eldenius]:
1. 'Glaubensartikel' ('theologische Prinzipien', 'Hauptstücke des
Katechismus'), die 'eindeutig den Angelpunkt des Heils berühren', 'da
ohne diese niemand gerettet werden kann' (Glaubensprinzip);
2. evidente Ableitbarkeit aus der Bibel (Schriftprinzip); £
3. Formulierung in
Bekenntnissen der Kirche (Traditionsprinzip);
4. 'was alle orthodoxen
Theologen für notwendig halten' (Autoritätsprinzip). Eben das vertrat
die Orthodoxie; nicht aber M[eldenius'] Folgerung: 'In weniger
notwendigen Fragen aber ... wird man (in privatem Rahmen) zögern oder
zweifeln dürfen.' Das hielt sie für 'Mißbrauch der Freiheit in ja an
sich erlaubten Dingen' oder reformatorischen Gewissensfreiheit in
Richtung auf 'Pyrrhonische oder akademische' Skepsis, was wiederum
M[eldenius] als 'untragbare (intolerabilem) Tyrannis (Diktatur) gegen
die Kirche Gottes (alle anderen Kirchen)' ansah. -
Die in diesem Kontext zu verstehende Sentenz wurde, nicht grundlos davon
isoliert, breiter interpretiert und unter Vergessen ihres Urhebers, erst
um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert weltberühmt. Calixt hat sie
ignoriert. Gregor Franck († 1651) zitiert sie 1628 als 'summa' seiner,
kurbrandenburgisch-reformierte Kirchenpolitik vertretenden Schrift;
Baxter 1649 als 'this pacificatory enterprise' in der Widmung der 1.
Aufl. von 'The saint's everlasting rest' mit Zuschreibung an 'Rup.
Meldenius' (hier ersetzt er, wirksam durch die zahllosen Auflagen und
Übersetzungen des berühmten Buches, 'utrisque' durch 'all' [omnibus])
und 1679, in der Dedikation von 'The true and only way of concord of all
the christian churches', als 'the Pacificator's old and despised words'
lateinisch fast wörtlich nach M[eldenius]; Comenius 1668 in 'Unum
Necessarium ...', seiner 'All'-Lehre sprachlich leicht angeglichen,
eingeleitet mit: 'summa ... concordiae christianorum lex est trina (Die
Summe der Eintracht der Christen ist das dreifache Gesetz)' (VIII,6)
anonym; Johannes a Marck 1708 als Wahlspruch von Hermann Witsius (am
Ende verändert in '... Prudentia et Charitas'); Hermann Venema 1741 als
'Spruch eines weisen Mannes'. Danach häufen sich die Anführungen.
Gleichzeitig neu gefördertes historisches Wissen (s.u.) bleibt
unbeachtet. So beansprucht Abraham des Amorie van der Hoeven 1834 und
1847 die Sentenz, nun ausgegeben als Aussage 'des berühmten
Kirchenvaters', für die von Arminius sich herleitende niederländische
'Remonstrantsche Broederschap' (mit wirksamer Ersetzung von 'non
necessariis' durch 'twijfelachtige' [dubiis]; vielleicht sekundäre
Einwirkung eines antiken Rechtssatzes [...]); spätestens 1839 wird sie
von S. Blaupot ten Cate nunmehr Augustin zugeschrieben; in Deutschland
wird sie so 1852 und 1865 bekannt durch das Gedicht 'Die christliche
Liebe' von Hoffmann von Fallersleben, das die nunmehrige Deutung der
Sentenz von ihrem Ende her belegt. Prominenter Zeuge des jetzt folgenden
'Ozeans von Anführungen' (Eekhof) ist Friedrich Althoff (1839-1908). Mir
noch wurde der Spruch anonym von Dr. Paul Alpers (1887-1968) auf dem
Gymnasium Ernestinum in Celle etwa 1950 überliefert. Heute wird er kaum
mehr angeführt (depraviert noch bei H. Küng, Konzil und
Wiedervereinigung, 1960, 215). -
1840 setzt die Forschung nach der Herkunft des Spruches ein. 1847
spricht N. C. Kist ihn Augustin ab und weist ihn, aufgrund einer
wiederentdeckten richtigen Angabe Wilhelm Peiffers von 1768, über
Witsius und Baxter R[upertus] M[eldenius] zu, welchen Namen bereits 1709
Samuel Werenfels, der die 'Paraenesis' kennt und zitiert (nicht aber den
Spruch!), als Pseudonym ('fictum ... nomen') erkannt habe. Aber erst der
von Kist befragte Friedrich Lücke entdeckte einen Nachdruck der
'Paraenesis' von 1736, den er 1850 (s.u.) veröffentlichte, und 1851
einen Originaldruck. Die Identifizierung des Verfassers sowie die
Datierung und Lokalisierung seiner Schrift gelang dann endgültig 1906
Ludwig Bauer durch die Wiederentdeckung unbeachtet gebliebener Angaben
von Franz Anton Veith von 1795. Trotzdem werden alte Irrtümer bis heute
wiederholt, was die Ausführlichkeit dieses Artikels rechtfertigen mag."
So weit das Biographisch-Bibliographische Kirchenlexikon
(http://www.bautz.de/bbkl/m/meldenius.shtml, dort auch ausführliche
Literaturangaben). Zwei weitere (englische) Internetseiten über die
Autorschaft des Spruches:
http://ccat.sas.upenn.edu/jod/augustine/quote.html
http://www.mun.ca/rels/restmov/texts/unitas/essrev.html
Herzliche Grüße
Michael S.
Lieber Hans Peter,
der Spruch lautet "Im Notwendigen Einheit, im Zweifelhaften Freiheit, in
allem die Liebe". Der Spruch wird zwar Augustinus zugeschrieben, findet sich
aber nirgends in seinen Werken. Wann der Satz zum erstenmal aufgetaucht ist?
Über diese Frage hat man bereits 1850 ein 150seitiges Buch geschrieben, wie
ich folgender (englischer) Internetseite entnehme:
http://ccat.sas.upenn.edu/jod/augustine/quote.html
Nach dieser Information taucht der Spruch zum erstenmal bei einem Theologen
im 17. Jahrhundert auf. Weitere Einzelheiten findest du auf der angegebenen
Seite.
Viele Grüße
Martin A.