Gedanken zur revidierten Elberfelder Bibelübersetzung
Seit über hundert Jahren gibt es die sog. „Elberfelder Übersetzung“ der Heiligen Schrift. Wenn wir die Vorworte zum Neuen Testament (1. Auflage 1855) und zum Alten Testament (1. Auflage 1871) lesen, stehen wir unter dem Eindruck einer tiefen Ehrfurcht vor dem inspirierten Wort Gottes, die die Übersetzer erfüllte. Ihre Absicht war, dem nicht gelehrten Leser eine „möglichst treue und genaue Wiedergabe des Wortes Gottes“ in die Hand zu geben. Daß sie sich der Tatsache bewußt waren, daß jede – auch diese – Übersetzung mehr oder weniger mangelhaft ist, zeugt von der Demut der Übersetzer. Dabei war einer der maßgebenden Mitarbeiter J.N. Darby, ein hervorragender Kenner der alten Sprachen; außerdem besaß er tief e Einsicht in das Wort Gottes. Von ihm stammt eine vollständige Bibelübersetzung in die französische Sprache und eine Übersetzung des Neuen Testamentes in die englische (das Alte Testament konnte er nicht mehr vollenden).
Jede Übersetzung ist zugleich in gewisser Hinsicht auch Auslegung. Es gibt nämlich keine zwei Sprachen, die einander so ähnlich wären, daß für jedes Wort und jede Form des Satzbaus in der einen Sprache eine hundertprozentige Entsprechung in der anderen Sprache vorhanden wäre. Besonders schwierig wird die Übersetzung, wenn es sich um Sprachen handelt, die seit Jahrhunderten in dieser Form nicht mehr gesprochen werden. Die Flut der modernen Bibelübersetzungen zeigt deutlich, wohin es führt, wenn eigenes Verständnis und moderne Ausdrucksweise zum einzigen Maßstab bei der Übertragung des heiligen Textes gemacht werden.
Die Mitarbeiter an der Elberfelder Übersetzung waren jedoch von der wörtlichen Inspiration der Heiligen Schrift überzeugt. Außerdem urteilten sie, daß „niemand die ganze Tragweite dieser Offenbarung zu erfassen vermag und oft in einem Satze ein das Verständnis des Übersetzers übersteigender Sinn verborgen liegt, der in einer freien Übersetzung verlorengeht, in einer genaueren hingegen durch eine tiefere Belehrung des Heiligen Geistes gefunden werden könnte“. Daher war es für sie „eine gebieterische Notwendigkeit, das Wort des Grundtextes gleichsam wie in einem Spiegel wieder hervorzubringen“.
Wieviel Segen hat die Arbeit dieser Brüder bis in die heutige Zeit gebracht! Zwar wurde von Anfang an von verschiedenen Seiten bemängelt, daß die „Elberfelder Übersetzung“ (E.Ü.) sich an vielen Stellen zu ängstlich an den hebräischen bzw. aramäischen Text des Alten Testamentes und den griechischen Text des Neuen Testamentes anschließe und manche unnötige sprachliche Härten enthalte. Aber im allgemeinen wurde und wird sie auch heute noch als eine äußerst genaue Wiedergabe des Urtextes anerkannt.
Nun ist im Laufe von über hundert Jahren seit der Herausgabe der ersten Elberfelder Übersetzung manche Veränderung eingetreten. Da ist zuerst die deutsche Sprache zu nennen, die einem ständigen Wandel unterliegt. Worte wie „Eidam, harren, sintemal, Brosamen, Dirne“ usw., die die Übersetzer noch ohne weiteres verwenden konnten, werden heute kaum noch oder mit anderer Bedeutung gebraucht. In Stil und Satzbau besteht heute mehr die Neigung zu kurzen, leicht überschaubaren Sätzen. Diese Gründe allein sind jedoch nicht ausreichend, um eine Revision oder eine neue Übersetzung zu rechtfertigen. Schon die klassischen Werke der deutschen Literatur stellen an den Leser hohe Anforderungen im Blick auf Konzentration und Verständnis. Sollte es bei dem heiligen Wort Gottes, das uns Seine ewigen Gedanken mitteilt, anders sein? Gewiß ist es so klar, daß der einfältigste Sünder seine Schuld und das Erlösungswerk Christi erkennt. Auch das einfachste Kind Gottes findet darin Belehrung, Trost und Kraft. Aber andererseits ist es so erhaben, daß der größte Geist es nie zu erschöpfen vermag.
Ein anderes Problem ist die Unzulänglichkeit der Übersetzer. Wie in jeder Übersetzung, so haben sich auch bei der „E.Ü.“ im Laufe der Zeit hier und da Stellen als nicht ganz treffend oder genau übersetzt erwiesen. Diese Fehler zu beseitigen, sollte das Anliegen einer Überarbeitung sein.
Aber auch diese wird, wie alles Menschenwerk, unvollkommen bleiben.
Schließlich ist noch die Tatsache zu erwähnen, daß in den Jahrzehnten seit der Herausgabe der „E.Ü.“ vor allem im Nahen Osten viele alte Handschriften oder Teile davon mit dem Text des griechischen Neuen Testamentes gefunden worden sind. Diese haben in den meisten Fällen keine neuen Erkenntnisse im Blick auf die alte Überlieferung gebracht, sondern deren Richtigkeit bestätigt. Aber es gibt doch eine Anzahl von Stellen, bei denen der uns geläufige Text auch anders lauten könnte. Wie gesagt, handelt es sich jedoch nirgendwo um Dinge, die die Grundwahrheiten angreifen, sondern meistens um nebensächlichere Tatsachen. Diese dürfen dem ernsten Schriftforscher jedoch nicht gleichgültig bleiben, handelt es sich doch um das lebendige Wort Gottes! So haben auch die Übersetzer der „E.Ü.“ sich die Ergebnisse der Textforschung zunutze gemacht. Das ist einer der Gründe, weshalb die „E.Ü.“ an vielen Stellen von der Übersetzung Martin Luthers abweicht; ihm standen bei weitem nicht so gute Textvorlagen zur Verfügung, wie den Brüdern im vergangenen Jahrhundert oder uns heute.
So gesehen, gibt es nach etwa 120 Jahren sicherlich manche Gründe für eine Überarbeitung der „E.Ü.“ Aber es muß auch gesagt werden, daß sie zwar hier und da Schwächen – wie alles menschliche Werk -, aber keine schweren Mängel aufweist.
Nun ist 1975 im Verlag R. Brockhaus das Neue Testament mit Psalmen als „revidierte Elberfelder Übersetzung“ (R.E.Ü.) erschienen. Auf den ersten Blick ein ansprechendes Werk mit gut leserlichem Druckbild, vielen Parallelstellen-Angaben und Abschnitt-Überschriften, die das Zurechtfinden erleichtern sollen. Aus dem Vorwort ist zu entnehmen, daß man nach folgenden Grundsätzen bei der Revision vorgegangen ist:
1. möglichst genaue Wiedergabe des Grundtextes,
2. Bemühung um ein gutes verständliches Deutsch,
3. Benutzung des besten griechischen bzw. Hebräischen Textes.
Wie sieht es nun bei genauerer Betrachtung aus? Ist es den Überarbeitern gelungen, die Arbeit der Brüder vor etwa 120 Jahren in demselben Geist auf einen Stand zu bringen, der den heutigen Erkenntnissen und Anforderungen entspricht?
1. Möglichst genaue Wiedergabe des Grundtextes
In der „EU.“ ist in sehr vielen Fällen, wo im Griechischen der Artikel vor einem Substantiv fehlt, dies dadurch gekennzeichnet worden, daß der Artikel im Deutschen in etwas kleinerer Schrift schräg (kursiv) gesetzt wurde. Besonders wichtig war dies in Verbindung mit dem Wort „Herr“, wenn es den alttestamentlichen Namen „Jehova“ wiedergab (vgl. Mt 1,20. 22. 24 und viele andere Stellen). Ähnlich ist es auch in vielen anderen Fällen. „Die Wahrheit“ ist meistens die geoffenbarte Heilswahrheit, während „Wahrheit“ ohne Artikel mehr die Wirklichkeit aller Dinge bedeutet (z. B. Joh 18,37.38). „Der Glaube“ ist das Glaubensgut (2. Tim 4,7), „Glaube“ ohne Artikel die Glaubensenergie im Menschen (2. Tim 2,22; Heb 11,3). Freilich ist auch die „E.Ü.“ nicht völlig konsequent in dieser Kennzeichnung (z.B. müßte in Heb 11,1 „Glaube“ ohne Artikel stehen).
In der „revidierten Elberf eider Übersetzung“ nun sind diese Fälle nicht mehr zu erkennen.
Ein weiteres Beispiel für geringere Genauigkeit ist das Wort „Tempel“. Wie aus der Fußnote der „E.Ü.“ zu Matthäus 4,5 hervorgeht, gibt es im Griechischen zwei Worte für „Tempel“, eines, das die Gebäude im allgemeinen (hieran) und ein anderes, das das Heiligtum selbst bezeichnet (naos). In den Anmerkungen der alten „E.Ü.“ ist es jeweils angegeben; in der „Revidierten“ fehlen diese Hinweise.
Im Neuen Testament werden verschiedene Worte für „heilen“ verwendet. Eines davon kann auch „(er-)retten“ im geistlichen Sinn bedeuten. Dies wird bei den Heilungen in den Evangelien nur dann gebraucht, wenn der Geheilte auch Glauben hat. Auch dies ist in der „E.Ü.“ in einer Anmerkung angegeben (z. B. Luk 8,36; 18,42; Joh 11,12). In der „R.E.Ü.“ fehlen auch diese Hinweise. Ein Fehler in der „E.Ü.“ ist unbemerkt mit in die „revidierte E.Ü.“ übernommen worden. In Eph 4,13 muß es heißen: „… bis wir alle hingelangen zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes“. Stattdessen heißt es auch weiterhin unrichtig: „ … zur Einheit des Glaubens und zur Erkenntnis des Sohnes Gottes“, als ob wir jetzt den Sohn Gottes noch nicht erkennen und erst in der Herrlichkeit dazu kommen (vgl. jedoch Joh 17,3).
Noch manche andere Beispiele könnten hierzu aufgezählt werden, die bestätigen, daß man es mit der Genauigkeit doch nicht so genau genommen hat.
2. Gutes Deutsch
Dem Bemühen um eine gute sprachliche Wiedergabe sind da Grenzen gesetzt, wo die Genauigkeit der Wiedergabe leidet. Wir haben bereits gesehen, daß die Genauigkeit jedoch in mancher Hinsicht im Vergleich zur alten „E.Ü.“ zu wünschen übrig läßt, auch wo keine stilistischen Gründe geltend gemacht werden können. Zwar erkennen wir an, daß der Text der „Revidierten“ sich an vielen Stellen flüssiger liest als in der alten „E.Ü.“; aber darauf allein kommt es ja nicht an. Wichtig ist, ob der Text des Wortes Gottes möglichst getreu wiedergegeben wird. Das ist aber leider nicht immer der Fall. Häufig fiel die Genauigkeit der Schönheit zum Opfer.
In der „E.Ü.“ sind viele Partizip-Sätze vorhanden, die der deutschen Sprache nicht so geläufig sind und daher altertümlich oder steif wirken. Manchmal sind diese im Griechischen häufigen Sätze auch durch mit „indem“ eingeleitete Nebensätze wiedergegeben worden. Ein Beispiel hierfür ist Heb 1,3.4: „… welcher, (der) Abglanz seiner Herrlichkeit und (der) Abdruck seines Wesens seiend und alle Dinge durch das Wort seiner Macht tragend, nachdem er (durch sich selbst) die Reinigung der Sünden bewirkt, sich gesetzt hat zur Rechten der Majestät in der Höhe; indem er um soviel besser geworden ist als die Engel, als er einen vorzüglicheren Namen vor ihnen ererbt hat.“
In der „R.E.Ü.“ lautet dieser nicht einfache Satz folgendermaßen: „… der hat, da er Ausstrahlung seiner Herrlichkeit und Abdruck seines Wesens ist und alle Dinge durch das Wort seiner Macht trägt, sich zur Rechten der Majestät in der Höhe gesetzt, nachdem er die Reinigung von den Sünden bewirkt hat, und er ist um soviel erhabener geworden als die Engel, wie er einen vorzüglicheren Namen vor ihnen ererbt hat“. Die Änderung der Partizipien „seiend… tragend“ zu einem begründendem Nebensatz: „da er… ist .. . trägt“ ist eine Verzerrung und Verfälschung des Sinnes. Denn der Herr hat sich nicht zur Rechten Gottes gesetzt, weil er Abglanz der Herrlichkeit und Abdruck des Wesens Gottes von Ewigkeit her war, sondern weil Er sich selbst zu nichts gemacht und sich erniedrigt hatte, erhielt Er als Lohn diesen herrlichen Platz zur Rechten Gottes (vgl. Phil 2,6-11; Heb 2,9).
In 2. Kor 5,19 kommt in den Worten: „daß Gott in Christo war, die Welt mit sich selbst versöhnend“ die Haltung Gottes in Christus zum Ausdruck, als dieser auf der Erde war und sich selbst als Opfer hingab. Diese Haltung Gottes war vollkommene Gnade, Liebe und Versöhnung. In der „R.E.Ü.“ lautet der Satz nun: „daß Gott in Christus war und die Welt mit sich selbst versöhnt hat“, als ob alle Menschen aufgrund des Werkes Christi mit Gott versöhnt seien! Das klingt nach Allversöhnung.
In Eph 5,27 heißt es in der „R.E.Ü.“: „… um sie zu heiligen, indem er sie reinigte durch das Wasserbad im Wort“. Die Reinigung der Versammlung ist Gegenwart, nicht Vergangenheit. Die einzelnen Gläubigen bedurften der Reinigung bei ihrer Bekehrung, da sie Sünder waren. Aber die Versammlung als solche war nie verloren! Sie wird jetzt durch Christi Wirken ständig von Befleckungen von innen und außen gereinigt, wie es auch in der alten E.Ü. heißt: „… auf daß er sie heiligte, sie reinigend…“
Schließlich noch eine Bemerkung zu den im Vorwort erwähnten Begriffen „Jehova“ und „Versammlung“. In den Psalmen (sowie in der in Arbeit befindlichen Revision des übrigen Alten Testamentes) wird Jehova durch „HERR“ ersetzt. Hierzu schrieben bereits die Übersetzer der „E.Ü.“ im Vorwort: „Von den neueren Gelehrten wird fast einstimmig angenommen, daß anstatt “Jehova‘ oder “Jehovi‘,Jahwe‘, das ist,der ewig Seiende‘, der Unwandelbare, zu lesen sei. Wir haben aber die alte Form des Namens des Bundesgottes Israels beibehalten, weil der Leser seit Jahren an denselben gewöhnt ist.“ J.N. Darby hat in seiner französischen Übersetzung Jehova mit „Eternel“ (das ist „der Ewige“) wiedergegeben, in der englischen, nicht von ihm selbst bearbeiteten Übersetzung des AT steht „Jehovah“. In der Septuaginta, der etwa 200 v. Chr. entstandenen griechischen Übersetzung des AT heißt es statt Jehova immer „kyrios“ ohne Artikel (d.h. „Herr“). In den aus dem AT angeführten Stellen im NT steht daher immer „(der) Herr“. Gottes Wort selbst bestätigt zwar diese Wiedergabe des Namens „Jahwe“ durch „Herr“ im N.T., da aber im AT. zwischen „Herr“ und „Jehova“ unterschieden wird, sollten wir die Verwendung des Namens „Jehova“ beibehalten.
Wie steht es nun mit dem Wort „Versammlung“ für das griechische „ekklesia“ im NT? Vom Ursprung her bedeutet dieses Wort „die herausgerufene (Schar)“ und weist damit auf den Charakter derer hin, die dazugehören. Das Wort ekklesia war den Juden bekannt, da es für die Gemeinde des Volkes Israel gebraucht wurde (vgl. Apg 7,38). Aber auch den Griechen, deren Sprache und Gewohnheiten es entstammte, war es bekannt als Bezeichnung der Volksversammlung der griechischen Städte, zu der nur bestimmte freie Bürger Zutritt hatten, sowie als Bezeichnung für eine vorübergehende Versammlung (vgl. Apg 19,41). Dieses Wort heiligte Gott für den Namen Seiner Kirche, d.h. aller derer, die durch das Blut Christi erkauft und durch den Heiligen Geist zu einem Leibe getauft sind.
Bei den heute gebräuchlichen Worten „Kirche“ und „Gemeinde“ stehen zu sehr andere Gedanken im Vordergrund. Entweder denkt man an eine festgefügte, traditionsreiche Organisation und deren Gebäude (Kirche), oder mehr an eine örtlich begrenzte Gruppe (Gemeinde). Beides ist jedoch einseitig oder falsch. Daher gibt das Wort „Versammlung“ den Charakter der Gemeinschaft aller Gläubigen sowie ihrer örtlichen Darstellung am besten wieder. Zudem hat es den Vorzug, eine genaue Übersetzung des griechischen Wortes zu sein. Das Argument, eine Versammlung sei nur eine vorübergehend versammelte Gruppe, ist nicht stichhaltig, denn auch im heutigen Sprachgebrauch bedeutet z.B. „Bundesversammlung“ durchaus eine ständige Einrichtung. Es ist daher sehr zu bedauern, daß das Wort „Versammlung“ in der R.E.Ü. durch „Gemeinde“ ersetzt wurde, wenn auch jeweils in der Fußnote das Wort „Versammlung“ erwähnt wird.