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1. Timotheus  LOGOS





Der erste Brief des Paulus an Timotheus




Heinz-Werner Neudorfer






SCM R.BROCKHAUS, WITTEN
BRUNNEN VERLAG GIESSEN









3. Auflage 2018

© 2004 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH
Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-brockhaus.de; E-Mail: info@scm-brockhaus.de

Umschlaggestaltung: www.krauswerbeagentur.de, Herrenberg

ISBN 978-3-417-29721-8 (SCM R.Brockhaus)
ISBN 978-3-7655-9721-3 (Brunnen)
Bestell-Nr. 229.721









INHALT


Vorwort der Herausgeber

I. Einleitung
1. Annäherung
2. Autor und Adressaten
3. Geschichtliche Situation, Zeit und Ort der Abfassung
4. Aufbau und Struktur
5. Botschaft und theologische Aussage
6. Zu Textüberlieferung und Stellung im ntl. Kanon
7. Zur Geschichte der Auslegung

II. Auslegung

1. Teil: Wie Paulus die Gemeinde ordnet (1Tim 1,1–3,16)
1. Der Eingangsgruß (1Tim 1,1–2)
2. Der Anlass des Briefes (1Tim 1,3–7)
3. Weisung an Timotheus (1Tim 1,8–20)
4. Das Gebet der Gemeinde im Gottesdienst (1Tim 2,1–3,1a)
5. Über die Gemeindeleiter (1Tim 3,1b–7)
6. Über Diakone und Diakoninnen (1Tim 3,8–13)
7. Der Zweck des Briefes (1Tim 3,14–16)

2. Teil: Wie Timotheus die Gemeinde ordnen soll (1Tim 4,1–6,19)
8. Endzeitliche Verirrungen (1Tim 4,1–5)
9. Weisung an Timotheus (1Tim 4,6–16)
10. Der Umgang mit Gruppen der Gemeinde (1Tim 5,1–16)
11. Über die Ältesten (1Tim 5,17–21)
12. Weisung an Timotheus (1Tim 5,22–25)
13. Sklaven und Herren in der Gemeinde (1Tim 6,1–2)
14. Der Umgang mit dem Geld (1Tim 6,3–10)
15. Warnung und Ermutigung an Timotheus (1Tim 6,11–16)
16. Mahnung an die Reichen (1Tim 6,17–19)
17. Briefschluss (1Tim 6,20–21)

III. Verzeichnisse

1. Literaturverzeichnis
2. Autorenverzeichnis
3. Stichwortverzeichnis









Vorwort der Herausgeber


Die Kommentarreihe „Historisch-theologische Auslegung des Neuen Testaments“ will mit Mitteln der Wissenschaft die Aussagen der neutestamentlichen Texte in ihrer literarischen Eigenart, im Hinblick auf ihre historische Situation und unter betonter Berücksichtigung ihrer theologischen Anliegen erläutern. Dabei sollen die frühere wie die heutige Diskussion und neben den traditionellen auch neuere exegetische Methoden berücksichtigt werden.

Die gemeinsame Basis der Autoren der einzelnen Kommentare ist der Glaube, dass die Heilige Schrift von Menschen niedergeschriebenes Gotteswort ist. Der Kanon Alten und Neuen Testaments schließt den Grundgedanken der Einheit der Bibel als Gottes Wort ein. Diese Einheit ist aufgrund des Offenbarungscharakters der Heiligen Schrift vorgegeben und braucht nicht erst hergestellt zu werden. Die Kommentatoren legen deshalb das Neue Testament mit der Überzeugung aus, dass die biblischen Schriften vertrauenswürdig sind und eine Sachkritik, die sich eigenmächtig über die biblischen Zeugen erhebt, ausschließen. Wo Aussagen der biblischen Verfasser mit außerbiblischen Nachrichten in Konflikt stehen oder innerhalb der biblischen Schriften Spannungen und Probleme beobachtet werden, sind Klärungsversuche legitim und notwendig.

Bei der Behandlung umstrittener Fragen möchten die Autoren vier Regeln folgen: 1. Alternative Auffassungen sollen sachlich, fair und in angemessener Ausführlichkeit dargestellt werden. 2. Hypothesen sind als solche zu kennzeichnen und dürfen auch dann nicht als Tatsachen ausgegeben werden, wenn sie weite Zustimmung gefunden haben. 3. Offene Fragen müssen nicht um jeden Preis entschieden werden. 4. Die Auslegung sollte auch für diejenigen brauchbar sein, die zu einem anderen Ergebnis kommen.

Unser Kommentar will keine umfassende Darstellung der Auslegung eines neutestamentlichen Buches in Geschichte und Gegenwart geben. Weder bei der Auflistung der Literatur noch in der Darstellung der Forschungsgeschichte oder der Auseinandersetzung mit Auslegungspositionen wird Vollständigkeit angestrebt. Die einzelnen Autoren haben hier im Rahmen der gemeinsamen Grundsätze die Freiheit, beim Gespräch mit der früheren und aktuellen Exegese eigene Akzente zu setzen. Die Kommentarreihe unternimmt den Versuch einer „geistlichen Auslegung“. Über die möglichst präzise historisch-philologische Erklärung hinaus soll die Exegese die Praxis von Verkündigung, Seelsorge sowie Diakonie im Blick behalten und Brücken in die kirchliche Gegenwart schlagen. Die Autoren gehören zu verschiedenen Kirchen und Freikirchen der evangelischen Tradition. Unterschiede der Kirchen- oder Gemeindezugehörigkeit, aber auch unterschiedliche exegetische Meinungen wollen sie weder gewaltsam einebnen noch zum zentralen Thema der Auslegung machen.

Die Auslegung folgt einem gemeinsamen Schema, das durch römische Ziffern am Seitenrand angezeigt wird. Leserinnen und Leser finden unter I eine möglichst genaue Übersetzung, die nicht vorrangig auf eine eingängige Sprache Wert legt. Unter II ist Raum für Bemerkungen zu Kontext, Aufbau, literarischer Form oder Gattung sowie zum historischen und theologischen Hintergrund des Abschnitts. Unter III folgt dann eine Vers für Vers vorgehende Exegese, die von Exkursen im Kleindruck unterbrochen sein kann. Abschließend kann unter IV eine Zusammenfassung erfolgen, in der das Ziel des Abschnitts, seine Wirkungsgeschichte und die Bedeutung für die Gegenwart dargestellt werden, soweit das nicht schon im Rahmen der Einzelexegese geschehen ist.

Alle Auslegung der Bibel als Heiliger Schrift ist letztlich Dienst in der Gemeinde und für die Gemeinde. Auch wenn die „Historisch-theologische Auslegung“ keine ausdrückliche homiletische Ausrichtung hat, weiß sie sich dem Ziel verpflichtet, der Gemeinde Jesu Christi für ihren Glauben und ihr Leben in der säkularen Moderne Orientierung und Weisung zu geben. Die Herausgeber hoffen, dass die Kommentarreihe sowohl das wissenschaftlich-theologische Gespräch fördert als auch der Gemeinde Jesu Christi über die Konfessionsgrenzen hinaus dient.

Im Frühjahr 2004

Bischof Dr. Gerhard Maier
Prof. Dr. Rainer Riesner
Prof. Dr. Eckhard J. Schnabel
Dr. Heinz-Werner Neudorfer









I. Einleitung


„Ich möchte noch einmal auf das Grundsätzliche zu sprechen kommen: Lohnt es sich heute noch, Kommentare zu schreiben? Mit Recht ist gefragt worden, ob die herkömmlichen historisch-kritisch ausgerichteten Kommentare, die sich auf spitzfindige Quellenscheidungshypothesen kaprizieren und den Text bis in den letzten Winkel hinein wie mit einer 1000-Watt-Lampe ausleuchten, ihren Sinn noch erfüllen können. Ich habe den vorliegenden Kommentar vom Anfang bis zum Ende gelesen und mich zum Schluß gefragt: Wer außer einer Handvoll Spezialisten profitiert von diesem Sammelwerk mit historischen, religionsgeschichtlichen, sprachwissenschaftlichen Informationen und geistreichen Hypothesen über die Entstehungsgeschichte und die literarische Struktur usw.? Welchen geistlichen und theoretischen Gewinn wirft das alles ab? Damit sind wir beim Thema: Muß der Kommentar der Zukunft nicht ganz anders aussehen als die bisherigen, die mehr oder weniger nach dem gleichen ‚Strickmuster‘ arbeiten? Für mein Empfinden müßte die geistliche Dimension des Wortes Gottes stärker herausgearbeitet werden. Literaturwissenschaftliche Feinarbeit ist gut und wichtig, aber sie ist nur Vorarbeit und Hinführung. Beispielhaft sind nach wie vor die großen Klassiker aus der Väterzeit oder die theologischen Kommentare eines Martin Luther und anderer Reformatoren, die man heute noch mit Gewinn liest. Man könnte hinzufügend hinweisen auf einige moderne Außenseiter, die erkannt haben, worauf es bei der Bibelexegese ankommt. …“

Mit vorstehenden Sätzen hatte Josef Ernst schon 1990 seine Anregungen für den „Kommentar der Zukunft“ formuliert. Ihm ist sicher zuzustimmen, wenn es auch leichter ist Kritik zu üben, als einen besseren Kommentar auf den Tisch zu legen. Ob das mit vorliegendem Band gelungen ist, vermag ich nicht zu sagen, jedenfalls war es beabsichtigt. Benutzerinnen und Benutzer mögen sich ihr Urteil selbst bilden.

In der Tat scheint der Zeitpunkt, gängige Ansichten über die Pastoralbriefe zu überdenken, günstig gewählt. Las sich Wolfgang Schenks umfangreicher Forschungsbericht von 1987 noch wie ein Abgesang auf die Pastoralbriefe als Bestandteil des kirchlichen Kanons, so sprach Karoline Läger acht Jahre später bereits von deren „Neuentdeckung“ und dachte dabei wohl nicht nur an die zunehmende Beschäftigung mit ihnen, sondern auch an neue Ansätze. Insofern also könnte der hier für 1Tim unternommene Versuch einer Neubewertung auf Verständnis, mindestens aber auf Interesse hoffen.

Seit rund 200 Jahren gilt es nämlich vor allem in der deutschsprachigen neutestamentlichen Wissenschaft als ausgemacht, dass die Briefe an Timotheus und Titus nicht den Apostel Paulus zum Verfasser haben, sondern aus späterer Zeit stammen, und dass sie als ein von Anfang an zusammengehöriges, mit einem bestimmten „kirchenpolitischen“ Zweck erstelltes Corpus zu behandeln seien. Dafür sprechen ernsthafte Gründe, vor allem ihre konstatierte gegenseitige Nähe in sprachlicher, historischer und theologischer Hinsicht bei gleichzeitig angenommener Distanz zu Sprache, Theologie und Situation des Apostels.

Seit dem frühen 18. Jh. werden sie aufgrund ihres Charakters als „Pastoralbriefe“, also als Schreiben, in denen es vor allem um Fragen der Gemeindeleitung und Seelsorge geht, bezeichnet. Was sie auf den ersten Blick miteinander zu verbinden scheint, ist die Front, gegen die sie kämpfen (nämlich die Irrlehrer), ist die Gemeindeorganisation, sind ähnliche Zustände in den Gemeinden, ist die theologische Begriffs- und Vorstellungswelt und die Sprache. Gerade dies aber macht die Echtheit der Pastoralbriefe zum Problem.

Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass der Paulus-Verehrer Marcion sie nicht in seinem Kanon hatte, dass sie aber seit dem Ende des 2. Jh.s bis in die Neuzeit unwidersprochen als „echt“ anerkannt sind. Erst 1804 bestritt J.E.C. Schmidt, drei Jahre später auch F.D.E. Schleiermacher die Echtheit des 1Tim wegen ihrer Sprache und der biographischen Angaben. 1812 hielt J.G. Eichhorn alle drei Briefe wegen der Sprache für unecht, 1835 sah F.C. Baur Verbindungen zur Gnosis des 2. Jh.s. Heute wird im deutschsprachigen akademischen Raum weitgehend die Unechtheit vertreten, wenn sich auch die Einsicht, sie seien von traditionellen (vielleicht paulinischen?) Fragmenten durchzogen, immer mehr durchzusetzen scheint. Nur selten sind im wissenschaftlichen Bereich Vertreter der Echtheit zu finden, und wenn, dann meist in Verbindung mit einer Sekretärshypothese (wie Joachim Jeremias). Der Bogen der Forschungsgeschichte verläuft also von zaghafter Behauptung der Unechtheit, welchletztere übrigens im katholischen Raum bis weit ins 20. Jh. hinein abgelehnt wurde, bis zu einer beinahe verächtlichen Einschätzung aufgrund ihres angeblich epigonenhaften Charakters.

In der Gegenwart beobachten wir eine gespaltene Haltung, die von Wolfgang Schenks dezent in einer Fußnote versteckter Empfehlung, die Briefe aus dem Kanon zu entfernen, bis Hanna Stettler reicht, die den drei kleinen Briefen doch zumindest „Quellen der Christologie“ bei Paulus, den synoptischen Evangelien, in der Apostelgeschichte und bei Johannes zugesteht. Zu erwähnen sind Versuche, wenigstens einen echt-paulinischen Restbestand in Gestalt einer Fragmentenhypothese (Michel, Schmithals, Harrison) oder durch die Annahme einer Originalbriefe (bald nach deren Abfassung?) erweiternden Überarbeitung (zuletzt I. Howard Marshall) zu retten. Diese Bemühungen verbindet die gemeinsame Einsicht, dass die drei Briefe von dem „echten“ Paulus doch nicht so weit entfernt sind, wie die Vertreter der Pseudepigraphie vermuten.

Die Pastoralbriefe standen lange Zeit trotz gelegentlicher gegenteiliger Beteuerungen zumindest in der deutschsprachigen Exegese hinsichtlich ihres theologischen Gewichts in keinem sehr hohen Ansehen. Sie gelten als „pseudopaulinisch“ und vermögen ob ihres Inhaltes das Interesse der Forscher kaum anzuziehen. Höchstens als Quellen für die spätneutestamentliche Zeit, d.h. etwa für die Periode zwischen 80 und 120 n.Chr., also als Dokumente des (beginnenden?) sog. Frühkatholizismus, erscheinen sie von Wert. Darüber hinaus schätzt man noch die in ihnen konservierten älteren Traditionsstücke. Damit endete bis vor Kurzem bereits ihre Bedeutung für die ntl. Theologie und für christliche Kirchen und Gemeinden heute. Tendenziell und faktisch wurden und werden die Aussagen dieser Briefe aber bei der Erhebung einer Theologie des Paulus weitestgehend ausgeblendet.
Wie sieht diese Sicht der Pastoralbriefe in ihrer Konkretion aus? Am Beispiel von Jürgen Roloffs Kommentar soll ein heute von vielen vertretenes Lösungsmodell in seinen Grundzügen kurz dargestellt und knapp kommentiert werden:

1. Roloff geht von einer Widersprüchlichkeit der vorausgesetzten Briefsituation als Argument gegen die paulinische Verfasserschaft aus. Er fragt, „worin die Notwendigkeit für Paulus“ bestanden habe, „seinem langjährigen Vertrauten und engsten Mitarbeiter nochmals brieflich all das einzuschärfen, was er ihm bereits vorher mündlich aufgetragen hatte (1,3) …“ Selbst wenn man diese Ansicht teilt – wobei durchaus Gründe und Motive vorstellbar sind, dass Paulus es doch getan haben könnte! –, liegt die Lösung auf der Hand, sofern man die literarische Gattung des 1Tim berücksichtigt. Es handelt sich nämlich, wie Michael Wolter gezeigt hat, um ein Schreiben, das der literarischen Gattung der mandata principis zuzurechnen ist. Es sind dies „Instruktionen, die neuernannten Amtsträgern in den römischen Provinzen der Kaiserzeit für die Versehung ihrer Aufgabe mitgegeben wurden.“12 Sie waren zwar direkt an den Mandatsempfänger gerichtet, waren aber „nicht nur für die Lektüre der Adressaten bestimmt …, sondern [wurden] z.T. in Übersetzung publiziert und so in ihrem Wortlaut auch den Provinzialen [also denen, die von den Anweisungen betroffen waren] zur Kenntnis gebracht“. Wir haben uns den Vorgang etwa so vorzustellen, dass Timotheus, von Paulus nach Ephesus gesandt, dieses Schreiben zugestellt erhielt (oder vielleicht sogar mitbrachte!) und es der Gemeinde vorgelesen wurde, vielleicht bei seiner Einsetzung oder bei einer Gemeindeversammlung. Versuchen wir den 1Tim zu verstehen, dann haben wir also immer an diese doppelte Adressierung zu denken. So erklärt sich sowohl das Fehlen der von manchen Auslegern eingeforderten Grundaussagen paulinischer Theologie – sie waren Timotheus und vielleicht auch den Ephesern gut bekannt –, als auch die Wiederholung der Anweisungen an den Mitarbeiter, die auf diese Weise der Gemeinde mitgeteilt wurden.

2. „Die Angaben über Schicksal und Weg des Paulus lassen sich nicht in seiner uns bekannten, aus den sonstigen Briefen wie der Act zu erschließenden Biographie unterbringen“, schreibt Roloff. Beide diskutierten Möglichkeiten, nämlich den Ansatz im Rahmen der sog. 3. Missionsreise Mitte der 50er-Jahre (etwa bei van Bruggen zwischen Apg 19,20 und 19,21) bzw. nach einer angenommenen Freilassung aus der in Apg 28 erwähnten römischen Haft (Mitte der 60er-Jahre), lehnt er ab: erstere, weil der Apostel Timotheus nach Apg 19,22 nicht nach Ephesus, sondern nach Makedonien geschickt habe, letztere, weil eben diese Entlassung des Paulus nicht zu erhärten sei und Lukas doch wohl von seinem Tod in Rom ausgehe.16 Wenn aber die Apostelgeschichte (wie ich glaube) den Abschluss des lukanischen Werks darstellt und auch so konzipiert war, wenn sie zudem eine Funktion im Zusammenhang mit dem Prozess des Paulus hatte, wird dieses Argument durchaus fragwürdig. Denn sollte Lukas vom Tod seines „Helden“ als Märtyrer gewusst haben, dann ist überhaupt nicht zu erklären, warum er über dessen Martyrium außer gewissen nebulösen Andeutungen kein Wort verliert, wo er doch dem Tod des Stephanus so viel Gewicht gegeben hatte. Für mich ist dies ein sehr starkes Argument für die Datierung der Apostelgeschichte vor der neronischen Verfolgung und also vor dem Martyrium des Paulus.

3. „Sprache und Stil der Past weichen nicht unerheblich von den übrigen Paulusbriefen ab,“ schreibt Roloff und listet die bekannten Befunde auf: den „Sonderwortschatz“ von etwa 19% (bezogen auf den Gesamtbestand der Pastoralbriefe), die hohe Zahl von Hapaxlegomena, sprachlich-stilistische Abweichungen usw. Die Überlegung von John A.T. Robinson u.a., Paulus passe sich hier im Sinne von 1Kor 9,20 seinen griechisch-hellenistischen Lesern an, weist Roloff m.E. zu rasch und vor allem unbegründet ab. Zur Sprachstatistik hat Eta Linnemann 1996 noch einmal die Bedenken und auch die dabei gemachten Fehler zur Sprache gebracht. Sprachliche Nähe zu den übrigen Paulusbriefen als „bewusste Stilimitation“ zu erklären, ist zwar eine gern praktizierte, letztendlich aber wohl doch auch zu einfache Lösung.20 Wenn Richards mit seinen Aussagen über Sekretär und Verfasser recht hat (s.u.), müssen Sprach- und Stilargumente ohnehin relativiert werden und tragen für die Echtheitsdebatte nichts oder doch nur wenig aus.

4. Schließlich führt Roloff die „Differenz der theologischen Terminologie“ an, die er als „das wohl entscheidende Argument gegen eine paulinische Autorschaft“ bezeichnet. Gemeint ist vor allem das Fehlen zentraler paulinischer Termini und die Einführung „eine[r] Reihe von Paulus fremden hellenistischen Begriffen“ in Gotteslehre und Christologie, „vor allem aber in der Beschreibung christlicher Existenz und Lebenshaltung“, usw.22 Dies ist in diesem Zusammenhang neben dem Historischen zweifellos das gewichtigste Argument. Denn wenn sich in den Pastoralbriefen tatsächlich eine andere Theologie darstellen würde als in den (übrigen) Paulusbriefen, müsste in der Tat mit Schenk über die Kanonizität dieser Texte nachgedacht werden. Dabei ist allerdings das Gewicht eines argumentum e silentio im Blick auf in den Pastoralbriefen fehlende Begriffe oder Themen mit Vorsicht zu betrachten. Fehlt doch etwa das die paulinische Theologie tragende Stichwort δικαιοσύνη θεοῦ außer in Röm und 2Kor in allen übrigen Paulinen, σταυρός kommt in Röm und 2Kor, in 1/2 Thess und Phil nicht vor, von ja doch zweifellos für Paulus nicht unwichtigen Themen wie dem Abendmahl und der Eschatologie, die nicht nur im Röm vermisst werden, ganz zu schweigen.

Damit ist freilich das von Roloff und anderen Gemeinte nicht vom Tisch gewischt. Es bedarf einer Prüfung, ob nicht tatsächlich aus bestimmten Gründen andere Begriffe eingeführt wurden, die aber einen mindestens ähnlichen Inhalt transportieren sollen. Die Einzelauslegung muss zeigen, ob 1Tim deutlich von der Linie der paulinischen Theologie abweicht oder nicht. Die Hilfshypothese, die sprachlich wie theologisch „typisch paulinisch“ wirkenden Stellen seien auf bewusste Imitation des Verfassers der Pastoralbriefe zurückzuführen, wohingegen umgekehrt den Pastoralbriefen verwandte Aussagen in den als „echt“ angesehenen Briefen mit „paulinischen Brieffragmenten und sekundären Interpolationen in Röm, Phil und 1 Thess“ zu erklären wären, erweist sich bei näherem Hinsehen als wenig tragfähig. Mit solcher Argumentation kann man alles und auch das Gegenteil beweisen.

5. Wie stellt sich für Roloff die Entstehung des 1Tim dar? Klar ist für ihn, dass die Pastoralbriefe aus den genannten Gründen nicht von Paulus stammen können. Sie sind vielmehr „in einem stark hellenisierten kirchlichen Milieu der dritten Generation“26 entstanden, konkret in Ephesus „kaum sehr viel später als um das Jahr 100“.28 Der wirkliche Verfasser wollte den Eindruck der Echtheit erwecken und (im Stil der Neuplatoniker) in seiner aktuellen Situation die „Gewichtung der Vergangenheit ins Spiel“ bringen30 - ein kirchenpolitisches Motiv also. Ephesus war (nach Roloff) um die Wende zum 2. Jh. „ein Zentrum ungebrochener paulinischer Tradition“, und auch die in den Pastoralbriefen sich spiegelnde kirchliche Situation entspreche dem, wie er mit ausdrücklichem Bezug auf Offb 2,1–6 schreibt. Dabei bleibt hier ganz außer Betracht, dass die kleinasiatische Metropole gerade in den 80er-/90er-Jahren vor allem auch ein Zentrum der johanneischen Tradition gewesen sein muss, dass möglicherweise der alte Johannes persönlich noch dort lebte und die Kirche leitete.

Das Fazit dieses Durchgangs kann angesichts der zu erhebenden Bedenken nur lauten: Es bleiben zu viele Fragen unbefriedigend beantwortet oder gar offen, als dass das von Roloff vorgetragene Modell bedenkenlose Zustimmung finden könnte. Gibt es aber eine Alternative dazu? Wir werden im Zuge der Auslegung versuchen, eine zu entwerfen. Dabei orientieren wir uns an vorliegenden Arbeiten der internationalen Forschung. Gerade im angelsächsischen Raum, in jüngster Zeit aber auch im deutschsprachigen Bereich gab und gibt es nämlich ernstzunehmende Stimmen, die wieder stärker an die traditionelle Sicht der Dinge vor Schleiermacher anknüpfen. Diesen Faden werden wir im Folgenden aufnehmen und fortzuführen suchen.


1. Annäherung

Ist es möglich, angesichts der immer problematischer werdenden Theorie von der Pseudepigraphie, für die u.a. in den frühen christlichen Gemeinden das intellektuelle Milieu fehlte34 und die in der damals herrschenden Situation der Auseinandersetzung zudem kaum vorstellbar ist, die „Echtheit“ des 1Tim zu erweisen? Ist es möglich, die fraglos vorhandenen schwierig im Corpus Paulinum unterzubringenden Aussagen aufgrund des alten Auslegungsgrundsatzes „sacra scriptura sui ipsius interpres“ vom Ganzen der paulinischen Theologie her einzuordnen und zu beleuchten? Und die Pastoralbriefe dadurch als zusätzliche Urkunden für die paulinische Theologie und die Geschichte des frühen Christentums (wieder) zu gewinnen? Ist es möglich, durch eine synchrone Betrachtung historische Linien zu Schriften zu ziehen, die vermutlich oder möglicherweise gleichzeitig entstanden sind, und literarische bzw. theologische Linien, die auf sprachliche sowie theologische Verwandtschaft hinweisen? Könnte sich diese Konzeption aufgrund neuerer Forschungen am Ende gar als die einleuchtendere herausstellen? Könnte es sein, dass die Pastoralbriefe die Beschreibung einer Theologie des Paulus nicht erschweren, sondern bereichern? Wir wollen die befriedigende Beantwortung dieser Fragen nicht versprechen, aber doch anstreben.

Die hier vorgelegte Auslegung geht von drei Vorentscheidungen aus:
1. Wir sehen in den Pastoralbriefen drei je für sich zu betrachtende Texte.
2. Diese Texte sind (im Rahmen ihrer Gattung) echte Briefe.
3. Sie stammen tatsächlich in dem nachher darzulegenden Sinne von dem im Eingangsteil genannten Verfasser, dem Apostel Paulus.


2. Autor und Adressaten


2.1 Verfasser und Schreiber

Es ist keine neue Einsicht, dass Verfasser und Schreiber eines antiken Briefs identisch sein konnten, aber nicht mussten, ja wohl in der größeren Zahl der Fälle nicht waren. E.R. Richards hat dies mit seinem Vergleich der Briefe Ciceros mit denen des Paulus erneut ins Bewusstsein gerufen und präzisiert. Er geht von einer abgestuften Form der Verfasserschaft aus – vom wörtlichen Diktat bis zur bloß groben Vorgabe des Inhalts durch den Verfasser –, zeigt aber zugleich, dass die verschiedenen Grade der Beteiligung des Verfassers keinen Einfluss auf seine Verfasserschaft hatten. Daraus ist der Schluss zu ziehen (und das ist nun neu!), dass eine Unterscheidung zwischen „Echtheit“ in dem Sinne, dass Paulus selbst den Brief geschrieben bzw. diktiert hat, und einer sog. „Sekretärshypothese“ nicht mehr angebracht ist, sofern nämlich der Sekretär im Auftrag des Paulus schrieb und dieser den Brief durch seine Unterschrift (evtl. auch nach Korrektur oder in Verbindung mit ergänzenden eigenen Bemerkungen37) zu seinem eigenen gemacht hatte.


2.2 Einwände

Was steht der Meinung entgegen, der Apostel Paulus sei tatsächlich in diesem Sinne Verfasser des 1Tim gewesen? Sprache und Stil fallen dann weitgehend weg, wobei der Text des Briefes ja an etlichen Stellen sogar eine sprachlich-stilistische Nähe zu anderen Paulusbriefen erkennen lässt, wie die Auslegung zeigen wird.39 Anders ist es mit den verwendeten theologischen Termini, auf die ebenfalls in der Auslegung einzugehen sein wird. Exemplarisch soll aber ein Begriff behandelt werden. Εὐσέβεια, auch ein Wort, das 1Tim mit der Apg verbindet, bezeichnet nach Oberlinner „das gottgefällige Verhalten als Charakteristikum der Christen“, nach Roloff „die Ehrfurcht vor dem Bereich des Göttlichen, vor den numinosen Kräften und Mächten sowie – darauf folgend – die Achtung der von diesen Kräften und Mächten gesetzten Ordnungen, die für das Zusammenleben der Menschen in der Gesellschaft maßgeblich sind.“ Beide betonen mit einem gewissen Recht die Verwurzelung des Wortes in der hellenistischen Sprache. Anders Stettler: Sie beleuchtet den atl.-jüdischen Hin-tergrund, wo der Begriff vor allem in 1/2/4Makk als griechisches Äquivalent für יְרְאָה dient. „Der Verfasser der Past verwendet statt des für hellenistische Leser mißverständlichen φόβος θεοῦ ausschließlich das aus dem hellenistischen Judentum übernommene εὐσέβεια. Φόβος θεοῦ (und dementsprechend εὐσέβεια) bedeutet im AT „an einigen markanten Stellen … einfach Gehorsam gegenüber dem göttlichen Willen … Besonders deutlich zeigt sich in 1Tim 3,16, dass εὐσέβεια kein bloßer Moralbegriff ist … Hier kann εὐσέβεια nur als Synonym für πίστις verstanden werden … Beide Begriffe umfassen für die Past – wie schon יְרְאַת יהוה in der LXX – die ganze Lebensbewegung der Christen. Der Begriff steht also nicht in erster Linie ‚für das Verhalten des Christen’, so wie vorher für das ‚des Griechen’, sondern in erster Linie für dessen Grund, nämlich das neue Gottesverhältnis, mit Paulus gesprochen: den Glauben …“ Ähnliches könnte man für weitere Termini zeigen. So unendlich weit von Paulus weg ist die theologische Begrifflichkeit der Pastoralbriefe nicht. Wir haben es nicht mit hellenistischen „Paulus-Plattitüden“ zu tun. In ihnen wird vielmehr versucht, auch in der Sprache auf die Adressaten einzugehen. Dass Paulus dabei ein weites Herz an den Tag gelegt haben wird, d.h. dass er nicht beckmesserisch auf seiner Terminologie bestanden hat, mag man konzedieren.

Bleibt die Theologie selbst, bleiben die theologischen Themen. Nicht umsonst werden die drei Schreiben „Pastoralbriefe“ genannt, befassen sich also in erster Linie mit Fragen der Gemeindeordnung und Seelsorge. Dass es daneben kurze, aber doch wert- und gehaltvolle Texte z.B. zur Christologie und Gotteslehre gibt, die unser Bild nicht nur der ntl., sondern der paulinischen Theologie präzisieren und ergänzen können, sei nur am Rande erwähnt. Dies gilt etwa von den Aussagen über die „guten Werke“, die m.E. mit der paulinischen Rechtfertigungslehre nicht im Widerspruch stehen, sondern von der Seite der Ethik her eine wichtige Ergänzung darstellen. Dass der Apostel seinem Schüler nicht wie der ihm fremden Gemeinde in Rom sein komplettes „Lehrgebäude“ darstellen muss (was er ja bekanntlich selbst dort nicht tut!), ist eine Binsenweisheit.44 Es mag deshalb erlaubt sein zu fragen, ob die von Albert Schweitzer in seiner „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ scharfsinnig erhobene Tendenz jeder Epoche, sich den „Jesus“ zu schaffen, der ihr entsprach, nicht mutatis mutandis auch für Paulus zutreffen könnte. Luke Timothy Johnson jedenfalls stellt Überlegungen darüber an, ob nicht gerade protestantische Ausleger seit der Reformation immer auf der Suche nach einem für ihre Zwecke „brauchbaren“ Apostel Paulus sind als nach dem wirklichen „historischen“: „There is an understandable tendency to find a Paul who corresponds to the scholar’s sense of what is important or essential to Christianity and to reject as unauthentic what does noch meet that measure. Just as critics of the nineteenth century sought a Paul who is free of moralizing and the institutional, so twentieth-century critics desire a Paul who is egalitarian rather than hierarchical. It is not entirely by accident that the Pastorals are also thought to be authentic by scholars who value tradition and ecclesiastical structure and the divine inspiration of Scripture.” Ich wage die These, dass unser aller Paulus-Bild weit mehr von seiner Darstellung in der Apostelgeschichte geprägt ist als uns bewusst ist. Und übrigens: Woher wissen wir eigentlich, dass der Römerbrief „echt“ ist? Könnte nicht der 2Tim der einzige im engen Sinne wirklich „echte“, d.h. von Paulus persönlich geschriebene Paulusbrief sein?46

Pseudepigraphie im Sinne einer „literarischen Konvention“ scheidet m.E. als Möglichkeit aus, die Unstimmigkeiten zwischen 1Tim und den allgemein für „echt“ gehaltenen Paulusbriefen zu erklären. In den christlichen Gemeinden jener Zeit fehlte nach allem, was wir über ihre Zusammensetzung wissen, das (intellektuelle) Milieu und die Muße, in der sie einen Sinn machen würde. Zudem wäre der Brief dann von vorn herein nicht geeignet gewesen, in tatsächlich stattfindende Auseinandersetzungen als „Kronzeuge“ angeführt zu werden. Es wäre ein Brief für private Liebhaber gewesen. 1Tim spricht aber in eine Kampfsituation hinein. Handelte es sich bei 1Tim dagegen im Sinne Roloffs um eine bewusste Fälschung mit dem Ziel einer Einflussnahme auf solche innergemeindlichen Kämpfe, dann wäre nicht nur die ethische Frage nach der „Wahrheit“ der Heiligen Schrift zu stellen, sondern der bzw. die Verfasser wären (wie die Auslegung zeigen wird) an vielen Stellen zu fragen, warum sie ihr Werk nicht besser, klüger durchgeführt haben. Außerdem passt Manches (etwa das undifferenziert und explizit ausnahmslos geforderte Gebet für die Obrigkeit 2,2) nicht mehr in die Zeit nach 80 n.Chr. Es bleiben also unter dem Strich für uns nur die verschiedenen Modelle, die von einer paulinischen Verfasserschaft (im Sinne von E.R. Richards) ausgehen.

Zu in einigen Punkten ähnlichen Ergebnissen kommt, wenn auch insgesamt anders positioniert, die 2002 erschienene, mit Methoden der Briefforschung erarbeitete Untersuchung von William A. Richards: „Difference and Distance in Post-Pauline Christianity. An Epistolary Analysis of the Pastorals“. Er betont nämlich die Unterschiede zwischen den drei Pastoralbriefen und kommt schließlich zu dem Resultat, drei verschiedene Autoren hätten die Briefe in drei verschiedenen Jahrzehnten geschrieben. 1Tim, den er im Anschluss an Martin L. Stirewalt vom Briefgenre her als „Letter-Essay“ identifiziert, bezeichnet er interessanter Weise als „Letter to Timothy the True“.

Wissen wir etwas über den faktischen Schreiber des 1Tim, also über jene Person, die (auf Diktat oder im Auftrag des Paulus) den Brief formuliert hat? Im Grunde tappen wir völlig im Dunkeln. Ein Name hat allerdings immer wieder eine Rolle gespielt: Lukas. Die Gründe liegen auf der Hand: Vor allem sind es die zahlreichen Anklänge an typisch lukanische Sprache und Stil (vgl. die Einzelauslegung), zum andern die Verbundenheit des Arztes aus Antiochia mit Paulus, der diesen ab 16,10 (Troas, 2. Missionsreise) zwar nicht ununterbrochen, aber doch über weite Strecken bis zur römischen Gefangenschaft begleitet hat. Wie wenige andere war er mit dem Denken des Apostels vertraut, bewahrte sich aber dennoch eine gewisse Distanz (etwa, indem er seinem „Helden“ den von diesem so stark reklamierten Aposteltitel vorenthielt) und huldigte keinem unreflektierten „Paulinismus“. Die Wahrscheinlichkeit für Lukas als Schreiber hängt natürlich von der historischen Situation ab, in der man den 1Tim festmacht.


2.3 Der Adressat und die Adressaten

Vordergründig ist der 1Tim „an Timotheus, das legitime Kind im Glauben“ gerichtet. Dies zieht sich, was die Anrede angeht, durch den gesamten Brief: Nirgendwo werden andere Personen direkt angesprochen. Wenn es andererseits zutrifft, dass wir es mit einem Exemplar der Gattung mandata principis zu tun haben (wofür viel spricht), wurde der Brief unter der stillschweigenden Übereinkunft geschrieben, dass sein Inhalt den betroffenen Gemeindegliedern zugänglich gemacht werden würde, und zwar um des Dienstes des Timotheus willen ganz offiziell, vermutlich bei seiner Einsetzung in der Gemeindeversammlung. So gesehen sind also beide in Betracht zu ziehen: Timotheus und die Gemeinde in Ephesus.

Timotheus stammte aus Lystra (röm.: Colonia Lustra) in Lykaonien, ca. 30 km südsüdwestlich von Ikonion. Reste des antiken Ortes an der alten via Sebaste findet man auf einem Tell ca. 1,5 km nordwestlich des Dorfes Khatyn Serai. Paulus hatte die Stadt auf der ersten (Apg 14,6–20) und zweiten Missionsreise (Apg 16,1–3) besucht, wobei ihn die üblen Erfahrungen des ersten Besuchs (14,19f) nicht von einer späteren Wiederholung abgehalten haben. Dort lernte er Timotheus, den Sohn einer jüdischen Frau und ihres griechischen Mannes, kennen und offenbar auch schätzen. Er hätte den jungen Mann, der vielleicht (vgl. Apg 16,1 mit 1Tim 1,2 / 2Tim 1,2; s.u. S. 50) durch seine eigene Predigt Christ geworden war, sonst wohl kaum zu seinem Mitarbeiter gemacht, der ihn über weite Strecken seiner zukünftigen Reisen begleitet hat. „Wegen der Juden“, d.h. mit dem Ziel einer ungestörten Arbeit auch in judenchristlichem Kontext, ließ sich Timotheus (von Paulus?) beschneiden. Dies wird etwa im Jahr 48/49 gewesen sein. Timotheus begleitete Paulus dann auf der 2. Missionsreise bis Beröa, wo er nach der Flucht des Apostels zusammen mit Silas zurückblieb (Apg 17,14), sicher zur Konsolidierung der entstandenen Gemeinde. Von Makedonien aus reisten diese Beiden dann auf Geheiß des wartenden Paulus direkt nach Korinth (18,5), wo das Missionarsteam sich längere Zeit aufhielt. Auch auf der 3. Missionsreise befand sich Timotheus unter den Begleitern des Paulus, war also wohl auch in Ephesus, bevor er zusammen mit Erastus von dort nach Makedonien geschickt wurde (Apg 19,22), vermutlich um die geplante Ankunft des Apostels dort (19,21) vorzubereiten. Dort trafen der Apostel und sein Schüler wieder zusammen. Wiederum als „Vortrupp“ reiste Timotheus etwa im Jahr 55 gemeinsam mit einigen anderen durch Makedonien zurück nach Troas (Apg 20,1–5). Als Mitabsender wird Timotheus im 2Kor, Phil, Kol, 1/2Thess und Phlm genannt, als Briefempfänger in 1/2Tim. Außerhalb der Paulusbriefe wird in Hebr 13,23 (also in den frühen 60er-Jahren?) erwähnt, dass er wieder in Freiheit sei. Insgesamt entsteht das Bild eines Mannes, der das Vertrauen seines „Chefs“ so sehr besaß, dass dieser ihn für Aufgaben einsetzte, bei denen Eigenverantwortung gefragt war (1Kor 4,17; 16,10; Phil 2,19). Seine Arbeitsgemeinschaft und innere Verbundenheit lobt Paulus ausdrücklich (Phil 2,19–23) – ein Text, aus dem auch schon die Enttäuschung eines alternden Mannes spricht, der seine Aufgabe nicht mehr so erfüllen kann, wie er es gern würde.

Ephesus war eine Stadt in der Landschaft Lydien an der Westküste Kleinasiens, an der Mündung des Flusses Kaystros, und Hauptstadt der römischen Provinz Asia. Die Reste, die von einer stolzen Geschichte zeugen, befinden sich bei dem Dorf Ayasoluk. Bereits im 2. Jh. v.Chr. hatte es schätzungsweise 300 000 Einwohner gehabt. Zweimal besuchte Paulus die Stadt, zuerst nur kurz auf der Rückreise der 2. Missionsreise, von Korinth kommend, im Jahr 52 (Apg 18,18f), auf der 3. Reise dann ausführlich von 52 bis 55. Ein erstes Wirken innerhalb der jüdischen Gemeinde brachte keinen Durchbruch. Daraufhin trennte er sich mit denen, die ihm anhingen, von der Synagoge (Apg 19,9) und lehrte dann zwei Jahre lang im Lehrsaal eines gewissen Tyrannus (Apg 19,8–10). In diesen zeitlichen Zusammenhang könnte die von manchen vermutete Haft in Ephesus stattgefunden haben. Die Höhepunkte seiner Erlebnisse in der Stadt werden relativ ausführlich in Apg 18/19 geschildert: die „Vorarbeit“ des Apollos zusammen mit Aquila und Priska, der letztlich gescheiterte Versuch in der Synagoge Fuß zu fassen, Konflikte mit jüdischen Exorzisten und heidnischer Zauberei, schließlich die Konfrontation mit dem Artemis-Kult und den von ihr abhängigen Kunsthandwerkern, der als „Stellvertreterkrieg“ zwischen heidnischer Religion und Christentum einzuordnen ist, gipfelnd in einer juristischen Auseinandersetzung, bei der die Vertreter des Staates sich wieder inhaltlich neutral verhalten. Trotzdem musste das Missionsteam den Platz räumen (20,1). Ob das Erlebnis, von dem Paulus 1Kor 15,32 spricht, in diesen Zusammenhang gehört, ist unklar. Ob hier wirklich ein Tierkampf gemeint ist, ist eher unwahrscheinlich.

In kultureller wie in religiöser Hinsicht war Ephesus ja kein unbeschriebenes Blatt. Seit langer Zeit war der Kult der Magna Mater in Gestalt der ursprünglich phrygischen Göttin Kybele in Ephesus ansässig. Nach Einwanderung der Griechen im 11. Jh. v.Chr. wurde die Göttin und ihr Kult von ihnen adaptiert, indem man die Göttin mit der griechischen Göttin Artemis identifizierte. Dabei wurde die Artemis von Ephesus „the deity of the reproductive powers of nature and the source of overflowing life. She possessed the powers of the life-giving earth“. Obwohl der Mythos der Kybele ursprünglich mit ausschweifender Sexualität verbunden war, behielt die Artemis in Ephesus doch das Merkmal der Jungfräulichkeit, freilich in dem Sinne, dass sie keinen Mann als ihren Herrn anerkannte. Wie in fast allen Mysterienreligionen war beim Artemiskult der Zugang für Männer und Frauen in gleicher Weise möglich. Entsprechend gab es eine große Zahl von Priesterinnen, sog. μελίσσαι. Umstritten ist, ob es sich bei ihnen um Tempelprostituierte handelte. Verheirateten Frauen war jedenfalls das Betreten des Artemisions bei Todesstrafe verboten.60 Insgesamt bot der Tempel sehr vielen Menschen in Ephesus Arbeit, beherrschte andererseits durch diese Leute die ganze Gegend. Auch der Kaiserkult besaß in der Metropole Kleinasiens ein Zentrum. Als religiöses Gegenüber ernst zu nehmen war für die junge Christengemeinde wohl lediglich das zahlenmäßig stark vertretene Judentum.

Von Ephesus aus reiste die Gruppe um Paulus nach Apg 20,1 Richtung Norden, setzte über nach Europa, bereiste drei Monate lang Makedonien und Griechenland und kehrte dann etwa auf demselben Weg zurück, um wieder nach Syrien zu gelangen. Nach seiner fluchtartigen Abreise aus Ephesus (Apg 20,1) hat Paulus die Stadt nach den Angaben der Apg nicht mehr betreten. Im Gegenteil: Auf der Rückreise überging er die Stadt absichtlich bzw. vorsichtshalber, traf sich aber mit den „Ältesten der Gemeinde“ etwa im Jahr 56 in Milet, wo er mit ihnen über die kommende schwierige Zeit sprach und von ihnen Abschied nahm. Man darf feststellen: Lukas deutet in Apg 20 einen späteren Besuch des Paulus in Ephesus nicht an.

Ist 1Tim wirklich an Timotheus (und als mandata-principis-Schreiben damit auch an die Gemeinde in Ephesus) gerichtet, stammt er wirklich aus der Zeit nach einer ersten Gefangenschaft in Rom, so darf nach Verbindungslinien sowohl zum nach Kleinasien gerichteten Epheserbrief (57–59 aus Cäsarea oder um 60 aus Rom), als auch zum Bericht über seine Erlebnisse dort in der Apostelgeschichte (Apg 18,19–21; 19,1–20,1; 20,17–38), als auch nach späteren Spiegelungen in der Johannes-Offenbarung (Offb 2,1–7) gefragt werden:

Liebe
1Tim 1,5
Eph 1,6; 4,15; 6,23f u.ö.
Offb 2,4
Umkehr/Sendung
1Tim 1,12–17
Eph 2,1–7/3,5–10
Offb 2,5
Gebet
1Tim 2,1–10
Eph 6,18–20
Frauen & Männer
1Tim 2,8–15
Eph 5,22–33
(Offb 2,6?)
Alkoholgenuss
1Tim 3,3; 5,23
Eph 5,18
Generationenfrage
1Tim 5,1–8
Eph 6,1–4
Sklaven und Herren
1Tim 6,1f
Eph 6,5–9

Wie orientiert der Apostel seine Gemeinden in diesen Fragen im Eph und im 1Tim? Und: gibt es Brücken zum Sendschreiben nach Ephesus (Offb 2,1–7)? Einige knappe Gedanken:

Liebe: Auf die gewichtige Rolle, die das Stichwort „Liebe“ im Eph spielt, war oben bereits hingewiesen worden. Dem entspricht, dass im Zentrum des Sendschreibens nach Ephesus (Offb 2,4) das Verlassen der „ersten Liebe“ als der Hauptvorwurf an die dortige Gemeinde auftaucht. Ganz offensichtlich war dies dort ein wichtiges Problem, wie auch der Epheserbrief in seinem ethischen Teil zeigt (4,2.15;5,1ff.25ff;6,23). Für Paulus beginnt die Liebe Gottes bereits in der Erwählungslehre (Eph 1,4) und strahlt aus bis in die „Niederungen“ des Verhaltens der Christen im Alltag (Eph 4,1–6) als „bedeutendste Wirkung des Geistes“.

Umkehr und Sendung: In 1Tim 1,12–17 nimmt er sich selbst und seinen Lebensweg als Beispiel für Gottes Barmherzigkeit (1Tim 1,13.16), die auch in Eph 2,4 eine Rolle spielt. In diesem Zusammenhang spricht er jeweils von dem aus christlicher Sicht abwegigen Vorleben bei ihm (1Tim 1,13) wie bei den Ephesern (Eph 2,1–3), das von Sünden gekennzeichnet war (Eph 2,1f), aus denen Christus gerettet hat (1Tim 1,15). Er greift das Thema in abgewandelter Form in Eph 3,5–10 noch einmal auf, indem er (nun noch deutlicher im Sinne von 1Tim 1,12–17) über seine eigene Wandlung und Sendung spricht, durch die er zu einem Vorzeigeobjekt der Gnade Gottes geworden ist (1Tim 1,14/Eph 3,7f). In Offb 2,5 wird der Gemeinde Umkehr als (einziger) Ausweg aus der Distanzierung von Gott empfohlen. Die „ersten Werke“ könnten an das ihrer Sendung entsprechende Verhalten in der Frühzeit ihrer Geschichte erinnern.

Gebet: In 1Tim 2,1–10 wie in Eph 6,18–20 verwendet Paulus eine differenzierte Terminologie für das Gebet, das an beiden Stellen auch auf die Erfüllung seines Auftrags bezogen ist (1Tim 2,6f / Eph 6,19f). Sprachlich auffällig ist die Häufung von Formen des Wortes πᾶς in beiden Texten.

Frauen und Männer: In 1Tim 2,8–15 sind Männer und Frauen je für sich ein Thema, und zwar mit Blick auf ihr Beten, während Eph 5,22–33 die Haustafel den Rahmen bildet. Die „Ordnung des Hauses Gottes“ (Wagener) und damit die Vorstellung des οἶκος spielt auch im Eph eine Rolle. Trotz unterschiedlicher Zielrichtung (1Tim: das Gebet – Eph: das Verhältnis zueinander) stimmen beide Texte darin überein, dass die „Unterordnung“ der Frau betont wird (ὑποτάσσειν - ὑποταγή). In Offb 2,6 werden die „Nikolaiten“, eine frühchristliche Sekte, erwähnt. Nach altkirchlichen Nachrichten war das Verhältnis von Mann und Frau zueinander in ihr ein Streitpunkt mit den „orthodoxen“ Gemeinden.

Alkoholgenuss: Hier bietet sich die Eph-Parallele (allerdings mit anderer Terminologie) geradezu als Verständnishilfe an. Paulus spricht dort aus, was er für den Alkoholabhängigen befürchtet, nämlich „Liederlichkeit“ (ἀσωτία). Dass er dabei durchaus differenzieren kann, zeigt des Apostels Ermunterung an Timotheus 5,23. Es geht um guten Gebrauch und die Vermeidung von Missbrauch.

Generationenfrage: Zweifellos sprechen die beiden Texte unterschiedliche Aspekte des Generationenkonflikts an, 1Tim das Verhalten des Timotheus gegenüber Alten und Jungen sowie die Fürsorgepflicht der Kinder gegenüber der älteren Generation, Eph die Beziehung zwischen Vätern und ihren Kindern. Eph 6,2f wird das 4. Gebot explizit zitiert, 1Tim 5,4.8 steht es nur implizit im Hintergrund.

Sklaven und Herren: In 1Tim 6,1f geht es um das Verhalten christlicher Sklaven gegenüber ihren (heidnischen oder christlichen) Herren, während Eph 6,5–9 mehr den Gehorsam der Sklaven und den menschenwürdigen Umgang der Herren mit ihnen im Blick haben. Insofern könnte 1Tim eine spätere Situation reflektieren.

War Eph wenn auch nicht ausschließlich an die dortige Gemeinde gerichtet, so doch mindestens als Rundbrief an kleinasiatische Gemeinden Mitte der 60er-Jahre in der Provinzmetropole bekannt, dann wird noch leichter verständlich, warum Paulus in 1Tim auf grundlegende theologische Aussagen verzichten konnte.


3. Geschichtliche Situation, Zeit und Ort der Abfassung

Was gibt 1Tim selbst zur Frage seiner Datierung her? Es sind eigentlich recht wenige konkrete Angaben:

1,3f
Timotheus blieb in Ephesus zurück, während Paulus nach Makedonien reiste. Er sollte dort nämlich die Auseinandersetzungen mit Irrlehrern
1,7
weiterführen, von denen sich einige selbst als Lehrer des jüdi schen Gesetzes verstanden.
1,20
Zwei werden namentlich erwähnt: Hymenaios und Alexander.
3,14
Paulus will bald zu Timotheus (nach Ephesus?) kommen, doch könnte sich sein Kommen auch verzögern.
4,12
Timotheus ist noch relativ jung.

Soviel ist außerdem erkennbar: Hinter 1Tim steht eine ausgesprochene Kampfsituation. Der Brief wurde nicht vom Schreibtisch für den Schreibtisch entworfen. Zur Diskussion stehende Fragen sind die nach der Ordnung im Gottesdienst, nach einer angemessenen Gemeindestruktur, damit in Zusammenhang die Frage der Gemeindeleitung und der Ämter sowie allen voran die Abwehr einer wohl von innen her kommenden Bedrohung der Gemeinde.

Nimmt man von der oben dargestellten Möglichkeit Abstand, 1Tim sei erst nach dem Tode des Paulus entstanden, so bleiben am Ende zwei oder drei ernsthaft zu prüfende Lösungen im Blick auf die geschichtliche Situation seiner Entstehung:


3.1 Eine Rundreise während der 3. Missionsreise

Unter Hinweis auf eine Reihe von Vorgängern entwickelt Jacob van Bruggen das Modell einer Datierung des 1Tim im Zusammenhang der 3. Missionsreise. Sein Ausgangspunkt ist erstens die Annahme, Paulus müsse seinen insgesamt drei Jahre (Apg 20,31) dauernden Arbeitsaufenthalt in Ephesus unterbrochen haben. Darauf weist nach van Bruggen die Tatsache, „dass Lukas diese drei Jahre nicht als eine ununterbrochene Periode schildert. Er teilt sie in zwei Abschnitte ein“, nämlich in drei Monate (Apg 19,8) und zwei Jahre (19,10) einerseits und ein drittes, von Lukas nicht näher dargestelltes Jahr (19,22) andererseits, das nach van Bruggen von dieser ersten Zeit zu unterscheiden ist, weil es durch allgemein zusammenfassende Bemerkungen (19,10–12.20) davon getrennt wird. Möchte man so argumentieren, dann müsste man allerdings 19,10f als Abschluss der 2 ¼ Jahre annehmen, während die in 19,12ff geschilderten Auseinandersetzungen mit Okkultisten bereits in die nächste Periode fallen würden. 19,20 ist ein abschließendes Summarium, 19,21 öffnet sich dann die Tür für einen weiteren Zeitabschnitt, dessen Schwerpunkt und erzwungenen Abschluss der Demetrius-Aufruhr bildete. Ausdrücklich wird letzterer „um diese Zeit“ κατὰ τὸν καιρὸν ἐκεῖνον datiert. Die Frage ist also, ob über die 2 ¼ Jahre hinaus tatsächlich noch eine längere Zeit (ein Dreivierteljahr) für die von van Bruggen angenommene „Rundreise“ zur Verfügung stand. Zweitens spricht für sein Modell, „daß Paulus auf jeden Fall von Ephesus aus Korinth besucht hat“, und zwar nach 1Kor und vor 2Kor.74 Und später: „Paulus unterbrach seine Arbeit in Ephesus mindestens für einen Besuch in Korinth, und diese Unterbrechung muß zwischen Act. 19,20 und 21 eingeordnet werden.“ Dieser von anderen Forschern als „Zwischenbesuch“ bezeichnete Ausflug war nach van Bruggen in Wirklichkeit „eine Rundreise durch das gesamte Terrain der zweiten Reise (Mazedonien und Achaja)“, wie er aufgrund von 1Kor 16,5f annimmt. Die hier gemeinte Reise ist nicht mit Apg 19,21; 20,1 zu identifizieren, obwohl beide ihn von Ephesus nach Korinth führen. Eine Reise nach Jerusalem weist Paulus nämlich in 1Kor 16,4f noch von sich, in Apg 19,21 ist sie dagegen fest geplant, woraus van Bruggen schließt, dass Apg 19,21 eine spätere Situation beschreiben muss. Außerdem befinden sich Aquila und Priska 1Kor 16,19 noch in Ephesus, während sie zum Zeitpunkt der Abfassung des wahrscheinlich in Korinth geschriebenen Röm (16,3–5) schon seit längerer Zeit in Rom sind. Dies alles fließt zusammen in dem Modell der Rundreise durch Makedonien und Achaia, von der aus Paulus (vermutlich bald nach seiner Abreise von Korinth) an Timotheus schrieb. Dieser sollte den Apostel während dessen überschaubarer Abwesenheit in Ephesus vertreten, wofür 1Tim Anweisungen enthielt.

Aus diesen und einigen anderen, hier nicht darzustellenden Gründen entsteht für van Bruggen folgendes Bild der historischen Einordnung von 1Tim:

Bevor Paulus nach Apg 20 von Ephesus (und dem gesamten Gebiet seiner dritten Reise) Abschied nahm, hat er eine Rundreise durch Makedonien und Achaia unternommen (Apg 19,21), von der aus er 1Tim an seinen Stellvertreter Timotheus nach Ephesus schrieb. Dies war nötig, weil Timotheus, selbst vorher unabhängig unterwegs, erst kurz vor der Abreise des Apostels wieder in Ephesus eingetroffen war.

Nach diesem Modell hätte der Apostel dann Apg 20,1–3 erneut eine Reise mit ähnlichem Streckenverlauf gemacht. Das ist natürlich nicht auszuschließen. Allerdings spricht manches dafür, dass 19,21 lediglich der Entschluss zu einer Reise nach Makedonien, Achaia und dann Jerusalem und Rom berichtet wird, dem erst nach der schwieriger gewordenen Entwicklung der Demetrius-Unruhen in 20,1 die Ausführung folgte. Davon, dass Paulus 19,21 tatsächlich eine Reise angetreten hätte, sagt der Text allerdings explizit nichts.


3.2 Vor der Gefangenschaft in Caesarea

Mit diesem eben in groben Zügen dargestellten Modell verbindet das zweite das Bemühen, den historischen Hintergrund von 1Tim in einer in der Apostelgeschichte berichteten und in den Paulusbriefen sich spiegelnden Situation zu suchen. Unter Berufung auf Bo Reicke hat Robinson vor allem anhand der in den verschiedenen (Gefangenschafts-)Briefen erwähnten Personen Tit ins Frühjahr 57 und 2Tim in den Sommer 58 datiert. Für 1Tim kommt er zu folgendem Zusammenhang:81

Apg 20,1 könnte nach Robinson das in 1Tim 1,3 erwähnte Ereignis gewesen sein. Dafür spricht nach seiner Meinung u.a. der Gebrauch des Verbs παρακαλεῖν an beiden Stellen. Auch das Verhältnis des Apostels zu seinem Mitarbeiter Timotheus bzw. dessen Stellung lässt sich nach Robinson eher in der Mitte der 50er-Jahre, also in die Zeit der Korintherbriefe, einordnen (vgl. 1Tim 4,11–15 mit 1Kor 16,10f). 1Tim datiert er in den Herbst des Jahres 55.

Bo Reicke selbst hat sich in einer kurz vor seinem Tod im Jahr 1987 verfassten, 2001 postum veröffentlichten Vorlesungsreihe unter dem Titel „Re-examining Paul’s Letters. The History of the Pauline Correspondence“ erneut mit dem 1Tim befasst. Er vertritt hier die Auffassung, die relevanten Aussagen 1Tim, Apg, 1/2Kor bestätigten die Annahme, der Brief sei im Sommer oder Herbst 56 geschrieben worden, und zwar – in Ephesus: „First Timothy was therefore written while both Paul and Timothy were still in Ephesus, and the epistle can be understood to correspond to the public farewell speech that Luke alludes to in connection with Paul’s departure for Macedonia (…).“ Der Zweck des Briefs ist demnach ganz im (hier auf die Spitze getriebenen) Sinn der „Mandata-principis-Briefe” zu sehen, nämlich in der Unterweisung und Unterstützung des Angeschriebenen im Blick auf dessen anzutretendes Amt. Entsprechend sei 1Tim im Grund an die ganze Gemeinde in Ephesus, ja auch an „outsiders“ gerichtet.

Beide Versuche gehen von den in ntl. Schriften greifbaren Fakten und Daten aus und gelangen dabei zu einer Datierung innerhalb der Lebenszeit des Paulus. Reickes Modell kommt zudem unserer Gattungsbestimmung des 1Tim sehr nahe.


3.3 Nach Ende des lukanischen Berichts in Apg 28

Bot der Versuch, 1Tim in die uns aus der Apg bekannte Biographie des Paulus einzuordnen, das Problem, die vielen chronologisch-biographischen Detailangaben aus der Apg wie aus den Paulusbriefen zu einem schlüssigen Modell vereinen zu müssen, so trägt die Annahme, 1Tim falle erst in den uns sonst nicht näher bekannten letzten Lebensabschnitt des Apostels, den Vorteil und das Stigma, solche Angaben weder berücksichtigen zu müssen noch zu können, eben weil es sie nicht gibt. Wer 1Tim (und die Pastoralbriefe überhaupt) jenseits von Apg 28 entstanden sieht, muss immer wieder vor dem Hintergrund schweigender Quellen argumentieren. Denn zwischen den Berichten der Apg und den außerntl. Dokumenten der 90er-Jahre klafft eine große Lücke. Schärfer und mit Worten von Reicke ausgedrückt: solche Versuche „are based on pure speculation.“

Dass dieser zugespitzte Satz nicht völlig zutreffen kann, zeigt schon die lange Reihe und zeigen die Namen der seriösen Ausleger, die trotz mancher Bedenken diesen Weg gewählt haben. Sie können sich zunächst auf sehr alte, noch ins 1. Jh. reichende Informationen über eine Spanienreise des Paulus nach seiner Freilassung aus der ersten Haft in Rom berufen: auf den Mitte der 90er-Jahren in Rom entstandenen 1Klem (5,5–7), d.h. nur rund 30 Jahre nach der vermuteten Abfassung des 1Tim, dann im späten 2. Jh. auf den Canon Muratori (35–39), die Petrusakten (1–2) und die Paulusakten (9–11). Die Annahme, diese Notizen basierten lediglich auf der Vermutung, die Pläne des Paulus in Röm 15,23–25.28 müssten doch wohl zur Ausführung gelangt sein, lässt sich weder unabweisbar belegen noch bestreiten, rein methodisch also letztlich überhaupt nicht klären.89

Der letzte Bedeutende unter den deutschsprachigen Vertretern der „Spanien-Hypothese“ war kein Geringerer als Joachim Jeremias. Nach seiner Meinung fügen sich die Situationsangaben der Pastoralbriefe nicht in den uns aus der Apg bekannten Ablauf ein. Andererseits wisse keine alte Quelle von einer Hinrichtung des Paulus schon nach der (ersten) römischen Haft,91 dafür aber von dessen Spanienreise. Gegen den damals bekannten tatsächlichen Ablauf der Ereignisse hätte kein Fälscher die Pastoralbriefe schreiben können.93 Das einzige ernsthafte Problem stellt für ihn die Ankündigung des Paulus dar, die Epheser würden ihn nicht mehr zu sehen bekommen. Allerdings ist auch Apg 21,11.13 so nicht in Erfüllung gegangen, wie auch andere Ankündigungen hinweisen dürfen, die sich nicht erfüllt haben und die die Gemeinden in Rom (Röm 1,9f.13) und Korinth (2Kor 1,16–23) verunsicherten.

In dieselbe Richtung geht einer der jüngsten englischsprachigen Kommentare zu den Pastoralbriefen von William D. Mounce. Er zeichnet folgendes Bild:

Timotheus war während der (ersten) römischen Haft bei Paulus. Vor oder nach dem Prozess wurde er zur Bekämpfung der dortigen Irrlehre nach Ephesus gesandt. Freigekommen, missionierte Paulus in Spanien97 und auf Kreta, wollte dann in den Osten (Ephesus) gehen. Während er schließlich nach Makedonien reiste, traf er Timotheus, der (aus Ephesus kommend?) daraufhin mit dem Brief nach Ephesus zurück kehrte. 1Tim sollte diesen Mitarbeiter für seinen Dienst dort instruieren und ermutigen.


3.4 Die Datierung des 1Tim

Stärkstes Argument für eine Ansetzung vor Apg 20 ist, dass Paulus in 3,14 von seiner baldigen Ankunft in Ephesus spricht, nachdem er sich in Apg 20 doch in Milet ausführlich und demonstrativ von den dortigen Ältesten verabschiedet hatte. Andererseits haben sich auch sonst nicht alle vorausplanenden Ankündigungen des Apostels erfüllt (s.o.). Wurde die Apg wirklich weitgehend während der ersten römischen Haft geschrieben und fertiggestellt, dann konnte Lukas nichts von dem bevorstehenden erneuten Kontakt mit der Gemeinde in der Hauptstadt der Provinz Asia ahnen. Die „Frühdatierung“ mit van Bruggen, Reicke, Robinson u.a. hat den Vorteil, dass sie den 1Tim der uns bekannten Paulusbiographie einpassen lässt, allerdings ohne explizit in ihr vorzukommen.

Es kommt hinzu, dass im 1Tim die Gemeinde noch im Aufbau begriffen scheint und dass sich an einigen Stellen sprachliche und andere Parallelen zu Briefen aus demselben Zeitraum Mitte der 50er-Jahre (1/2Kor; Röm) zeigen lassen. Auch die dort gerade akuten Probleme berühren sich teilweise mit denen in Ephesus des 1Tim.

Auf der anderen Seite ist aus dem Text des Briefes der aktuelle Entwicklungsstand der Gemeinde kaum präzis zu erheben. Offene, sogar umstrittene Fragen im Blick auf die Gemeinde- und Gottesdienstordnung gab es in anderen Gemeinden (etwa in Korinth) bei deren Gründung, aber auch Jahre später, ebenso Klärungsbedarf in grundlegenden geistlich-theologischen und ethischen Fragen – ein Faktum, das den Apostel ja schier verzweifeln lassen konnte. Robinson legt dagegen (und das ist kein Widerspruch, sondern entspricht geschichtlich-empirischer Realität) Wert auf die Feststellung, dass sich Entwicklungen in der frühen Christenheit auch sehr rasch vollziehen konnten – eine Beobachtung, die aus der Entstehungszeit ähnlicher anderer Bewegungen (etwa der Reformationszeit oder dem frühen Pietismus, aber auch der französischen oder russischen Revolution) eine Bestätigung finden. Eine soziologische Ordnung innerhalb der Gemeinde, ja sogar ein „Witwenproblem“, gab es offensichtlich schon in Jerusalem nur kurze Zeit nach Pfingsten (Apg 6,1). Auch eine Form der Amtseinsetzung, die mindestens eine Vorform von „Ordination“ dargestellt haben dürfte, kennt die Apg für diese frühe Zeit (Apg 6,6). Das (scheinbare oder tatsächliche) Abrücken von Naherwartung (4,1; 6,14f) passt sicher eher in die Mitte der 60er als der 50er-Jahre, ist aber auch dort nicht undenkbar.

Geht man dagegen von der Abfassung des Briefes nach einer Freilassung aus der römischen Gefangenschaft aus, so wird 1Tim am wahrscheinlichsten mit Ellis in das Jahr 64 n.Chr. zu datieren sein, denn die Aufforderung zum Gebet für die Obrigkeit (1Tim 2,2) dürfte nach Ausbruch der neronischen Verfolgung im Frühjahr 65 so undifferenziert kaum noch denkbar sein. Ellis vermutet das Jahr 63 als Termin der Freilassung, nimmt dann eventuell eine Reise in die Ägäis und schließlich eine Reise nach Spanien an. Unmittelbar nach der Rückkehr von der (kurzen) Tätigkeit dort wäre 1Tim geschrieben. Weil der Apostel jetzt nicht mehr die Zeit hatte, Briefe an die einzelnen Gemeinden zu schreiben, wählte er den Weg über zwei Schreiben an die Mitarbeiter Timotheus und Titus, die den Inhalt dann verbreiten würden.

Um es kurz zu machen: Alle drei unter a) bis c) dargestellten Hypothesen scheinen mir grundsätzlich möglich zu sein. Am wahrscheinlichsten ist m.E. eine Abfassung nach der Freilassung aus der 1. römischen Haft. In diese Richtung weisen (1) Aussagen (vgl. die Einzelauslegung!), die eher auf einen älteren Absender schließen lassen, der sein Lebenswerk sichern möchte, weiter (2) Sätze, die ein Abrücken von der früheren Naherwartung signalisieren, (3) die doch relativ fortgeschrittene Entwicklung der Gemeindestruktur sowie (4) Stellen, die m.E. in der Zeit um 100 wenig Sinn machen würden (z.B. 2,2).

Dieses Modell c) legen wir bei der Auslegung zugrunde, werden aber auch auf Beobachtungen hinweisen, die für a) oder b) sprechen.


3.5 Der Ort der Abfassung

Der Brief selbst gibt keine Hinweise auf den Ort seiner Abfassung außer dem im Verständnis umstrittenen, dass Paulus unterwegs ist nach Makedonien. Vermutlich hat er dazu denselben Weg gewählt wie schon früher, nämlich von Ephesus aus Richtung Norden, dann von der Nordwestspitze Kleinasiens hinüber nach Europa und westwärts nach Makedonien. In den subscriptiones, die einigen Abschriften des 1Tim beigefügt wurden, finden wir den Hinweis, der Brief sei von Laodicaea oder von Nikopolis geschrieben worden. Laodicaea liegt ziemlich genau östlich von Ephesus etwa 150 km entfernt im Lykostal. Paulus hatte die Stadt nach dem Bericht der Apg nicht besucht, der dortigen Gemeinde aber einen (uns wohl nicht erhaltenen) Brief geschrieben (Kol 2,1; 4,16). Nehmen wir an, er sei von Ephesus tatsächlich nach Makedonien gereist, dann bietet sich eindeutig das auf der Route liegende Nikopolis als Ort der Abfassung des 1Tim an. Sehen wir in dem Schreiben allerdings eine Autorisierungsurkunde nach Art der mandata principis, dann wäre es möglich, dass es noch in Ephesus verfasst und dem Timotheus dort übergeben wurde – dafür spräche auch das Fehlen eines Postscripts mit Grußliste.


4. Aufbau und Struktur

Rüdiger Fuchs hat sich unlängst ausführlich mit Strukturfragen zum 1Tim befasst. An ähnliche Beobachtungen anderer Autoren anknüpfend macht er den Vorschlag, 1Tim als „Ringkomposition“ zu verstehen: „Wichtige Themen und Stichworte von Kap.1 werden in Kap.6 wieder aufgenommen.“ Konkret nennt er neben vielen anderen den κύριος-Titel, der nur in 1,2.12.14 und 6,3.15.16, also je dreimal, verwendet wird, weiter „verwandte Doxologien“ in 1,17 und 6,15f sowie die Bezeichnung μακάριος für Gott in 1,11 und 6,15, die Erwähnung des ersten Kommens Jesu in 1,15 und seines zweiten Kommens in 6,14ff usw. Außerdem weist er auf parallele Strukturen in Kap. 1/6 und auf die Tatsache hin, dass dieser Rahmen „Verhaltensregeln und Lehrhilfen für Timotheus“ bringe.107 Der Briefrahmen hat dann folgende Grobstruktur:

1,3–7 Briefanlass
1,3–10: Hauptthema von Kap.1
6,3–10: Hauptthema von Kap. 6
1,11–17: Paulus und Doxologie
6,11–16: Timotheus und Doxologie
1,18–20: Hauptthema von Kap.1
6,17–19: Hauptthema von Kap. 6
6,20–21: Briefanlass

Das zweite Augenmerk gilt der Briefmitte (3,14–4,16 (bzw. 5,2). Als Thema des Briefes hatte Fuchs die Abwehr von Irrlehre bzw. Abfall erhoben. Dies taucht als thematische inclusio in 1,8ff; 3,16–5,2; 6,3ff auf, Abschnitte, die auch durch andere Stichwortbrücken verbunden sind. Zudem wird hier das negative Stichwort ἀσεβεῖς in 3,16ff und 6,3ff antithetisch mit εὐσέβεια aufgenommen und die Beziehung zwischen Paulus und Timotheus wird in 1,2.7.18–20; 3,14f; 4,12f; 6,13.20 klärend beschrieben. Eine Reihe ergänzender Beobachtungen kommen hinzu, z.B. die einer chiastischen Struktur in 3,14f.

Zu dieser Analyse des „Skeletts“ kommt die Zweiteilung des 1Tim in Kap. 1–3 und 4–6. Mit Hinweis auf Lohfink114 konstatiert Fuchs, dass Kap. 1–3 Anweisungen des Apostels für die ganze Gemeinde im „Ich-ordne-an“-Stil enthält, während 4–6 dann der „Ordne-du-an“-Stil vorherrscht. Beide großen Blöcke sind nach Fuchs ebenfalls parallel gestaltet (vgl. unten S. 179).

Diese Erwägungen bieten, wenn man sich ihnen auch nicht bis ins Detail anschließen muss, doch eine tragfähige Basis für die Auslegung des Briefes. Das fehlende Postskript ließe sich nach Fuchs evtl. damit begründen, dass Paulus den Brief vor dem Eintreffen des Timotheus verfasst und ihn diesem dann persönlich übergeben haben könnte. Eine andere denkbare Erklärung wäre anzunehmen, dass 1Tim sehr bald nach der Abreise des Apostels geschrieben wurde, sodass sich Grüße etc. erübrigten. Das sind aber nur Spekulationen.


5. Botschaft und theologische Aussage

Trifft es zu, dass 1Tim 3,14–16 (bzw. 3,14–4,5) das Zentrum des Briefes bilden, und dass Eingangs- und Schlussteil sowie das eigentliche Textcorpus von da her gestaltet sind, so können wir die Absicht, die der Apostel mit 1Tim verfolgte, so festhalten: Paulus möchte durch seinen Mitarbeiter Timotheus das Verhalten bzw. die Verhältnisse in den Gemeinden ordnen und zugleich dafür sorgen, dass der Kern christlichen Glaubens, die Christologie, für alle Gemeindeglieder klar umrissen ist und unzweifelhaft fest steht. Indem er dies klärt, bekämpft er Irrlehrer, die Ordnung und Theologie der Gemeinde zu ändern suchen.

Von diesem Grundsatz her werden Gotteslehre und Christologie in impliziter Auseinandersetzung mit den Gegnern entfaltet, wird auch die Bedeutung der (Jesus-)Tradition festgeschrieben, wird der Gottesdienst und das Gebet geordnet, werden Fragen der Gemeindeleitung und -ordnung entschieden und wird über allem die christliche Liebe als Ziel vor Augen gestellt.

Mit welcher letzten Intention wurde 1Tim also geschrieben? Sicher gilt aufs Ganze gesehen, was Frances Young über das „ultimate goal“ der Pastoralbriefe insgesamt schreibt: „The Pastorals would look to eternal life as the outcome. Salvation, …, is about the gift and attainment of that perfection which is God’s will for humanity, which will inherit eternal life, receive the crown of righteousness and share in eternal glory. This hope is perhaps the final challenge of these epistles to an age which dare not hope beyond the present order.” Neben diesem geistlichen Generalziel verfolgt Paulus aber eine Reihe von konkreten Absichten, die sich auf Lehre (und Irrlehre) und Leben in der Gemeinde in Ephesus beziehen. Ganz zweifellos will er beides an den Grundsätzen der Lehrüberlieferung und Kirchenordnung orientieren, die in jener Zeit in den von ihm gegründeten Gemeinden galten – übrigens ganz im Sinne von 1Kor 11,16. Dem entspricht formal die Verwendung von relativ viel damals schon tradiertem Material. Neben dem theologischen und dem pädagogischen Ziel verfolgt er auch seelsorgliche Absichten im Blick auf Timotheus. Seine Stellung als Gemeindeleiter und damit auch sein Selbstbewusstsein soll gestärkt werden bis hinein in sehr persönliche Bereiche (etwa 5,23).


6. Zu Textüberlieferung und Stellung im ntl. Kanon

In der ältesten Handschrift, die die Paulusbriefe enthält (P46 um 200), bricht der Text ab. Es fehlen die Pastoralbriefe, ebenso 1Thess und Phlm. Die ältesten erhaltenen Textzeugen für 1Tim stammen aus dem 4. (Codex Sinaiticus) und 5. Jh. (Codex Alexandrinus). Von dieser Zeit an gibt es eine kontinuierliche Linie von Belegen. Andererseits finden sich schon vom 2. Jh. an auf der altlateinischen Übersetzung basierende Zitate aus den Pastoralbriefen, auch aus 1Tim in den Kirchenvätern (Polykarp, Tertullian, Cyprian), was darauf schließen lässt, dass der Brief von ihnen für authentisch gehalten wurde. Mit Phlm stehen die Pastoralbriefe (unterschiedlich angeordnet) als an Einzelpersonen gerichtet innerhalb der Paulusbriefsammlung jeweils am Ende.

David Trobisch geht in seiner Heidelberger Dissertation von 1987 über „Die Entstehungsgeschichte der Paulusbriefsammlung“ davon aus, dass in Ephesus (!) am Anfang des 2. Jh.s eine Sammlung vorhandener Paulusbriefe hergestellt wurde. Dabei wurden um eine „Ursammlung“ (Röm, 1/2Kor, Gal) herum einige Briefe an Gemeinden (Eph, Phil, Kol, Thess) gruppiert. Um Phlm kristallisierten sich Briefe an Einzelpersonen (Tim, Tit). Die Pastoralbriefe seien bis dahin unbekannt gewesen. Gerade sie aber hätten die Unterstützung der kleinasiatischen Bischöfe gefunden. Polykarp von Smyrna habe für die Verbreitung gesorgt. So unkonventionell diese These auch sein mag, für uns interessant ist die Datierung jener ersten umfangreicheren Sammlung auf den Beginn des 2. Jh.s, denn damit ist die Entstehung der Pastoralbriefe um 100 n.Chr. kaum zu vereinbaren. Untermauert würde dadurch aber die Meinung, (nur) durch die Pastoralbriefe habe die paulinische Theologie Eingang ins 2. Jh. gefunden.122


7. Zur Geschichte der Auslegung

7.1 An ausführlichen Darstellungen der Auslegungsgeschichte der Pastoralbriefe und damit auch des 1Tim mangelt es nicht. Zu nennen ist im deutschsprachigen Raum für die Zeit von 1945 bis 1985 besonders die schon erwähnte umfangreiche, m.E. freilich teilweise interessegeleitete und deshalb nicht immer ausgewogene Darstellung von Wolfgang Schenk in ANRW. Für den angelsächsischen Bereich ist jetzt auf Mark Hardings Arbeit „What are they saying about the Pastoral Epistles?“ hinzuweisen.

7.2 Um mit den historisch-literarischen Fragen einzusetzen: Die Tendenz der deutschsprachigen akademischen Auslegung des 1Tim ist (auch bei katholischen Kommentaren) ein klares Votum für eine pseudepigraphe Verfasserschaft in Verbindung mit einer relativ späten Datierung, nämlich in die Zeit um 100 n.Chr. Allerdings werden dabei verschiedene Vorstellungen bezüglich des Hintergrunds bzw. der Motivation bei Abfassung der Briefe deutlich. Während etwa Roloff von einer Täuschungsabsicht ausgeht und eine sog. literarische Konvention als „eine durch nichts begründete Verharmlosung“ abweist, lösen sich andere Autoren von der Vorstellung, hier habe jemand (bzw. eine „Schule“?) bewusst versucht, unter dem Namen des geschätzten Apostels die nach seiner Meinung nötige und legitime Aktualisierung von dessen Botschaft vorzunehmen und sie gezielt in den Auseinandersetzungen seiner Gegenwart einzusetzen. Das Modell einer „literarischen Konvention“ verliert also Anhänger. Dagegen wird (auch angesichts der unabgeschlossenen Debatte um das Phänomen „Pseudepigraphie“) immer häufiger auf eine präzise Nachfrage nach den (Hinter-)Gründen der Verfasserschaft verzichtet: „Auch wenn uns Kriterien zur angemessenen Beurteilung des Phänomens der Pseudepigraphie noch nicht zur Verfügung stehen, müssen wir doch erkennen, dass auch das Urchristentum in der zweiten und dritten Generation sich dieses Stilmittels bedient hat … In der Zeit nach dem Tode der Apostel war offensichtlich ein Autoritätsvakuum eingetreten, das den Rückgriff auf die großen Glaubenszeugen des Anfangs besonders dringlich machte. Die entscheidende Frage, …, dürfte doch die sein, ob der Rückbezug auf Paulus sachlich zu Recht behauptet wird.“127 Merkel bejaht die von ihm gestellte Frage später mit geringen Abstrichen und endet interessanter Weise mit der Frage: „Und wann wäre ein so tiefer und spannungsreicher Theologe wie Paulus ohne Abstriche rezipiert worden?“ Hier kommt deutlich Bewegung in das bisher so klar ausgemachte Spiel. Dem entspricht das in neueren Kommentaren m.E. zu beobachtende Bemühen, behutsamer als früher mit den Pastoralbriefe umzugehen.129

Nicht zu verkennen ist der Akzent auf der inzwischen für eine kirchlich eingebundene Theologie als bedeutungsvoll erkannten Wirkungsgeschichte. Was 1Tim angeht, ist hier sonderlich auf das beginnende Kirchenrecht (Kirchenverständnis; 1Tim als früheste Kirchenordnung; Verständnis der Ordination; Ämter) sowie auf die Beteiligung von Frauen an Gottesdienst, Verkündigung und Gemeindeleben hinzuweisen. Gerade im 2./3. Jh. haben die Pastoralbriefe sehr intensiv nachgewirkt und (wie manche meinen) das Paulusbild nachhaltig geprägt: „Neither the gnostic Paul nor the apocalyptic Paul nor the ascetic Paul was canonised, but the Paul of the Pastorals. It ist fascinating that modern scholarship has skirmished over the same ground, with Bultmann emphasising the gnostic, Käsemann and Becker the apocalyptic features of Paul’s thought“, schreibt Young und fährt fort: “The Pastorals spelt out in practical terms the consequences for everyday life of becoming a Pauline Christian …”.

Von religionsgeschichtlichem Interesse ist die inzwischen besonders von Exegetinnen, aber nicht nur von ihnen, voran getriebene Analyse des religiösen Hintergrunds des 1Tim. Allerdings schwankt das Bild stark (vgl. etwa Gritz, Clark Kroeger, Köstenberger u.a.) zwischen griechisch-hellenistischen Mysterienkulten in Verbindung mit uralten (kleinasiatischen) Magna-Mater-Kulten einerseits, gnostisierenden Strömungen und weiteren Optionen andererseits. Feministische Überzeichnungen scheinen im Rückzug begriffen. Die Aussagen zur „Frauenfrage“ (1Tim 2,9–15) werden in der deutschsprachigen Forschung weitestgehend einheitlich, nämlich relativierend behandelt. Daneben gibt es nicht nur von konservativ-evangelikaler Seite grundsätzliche Anfragen, ob es adäquat sei, „die Pastoralbriefe“ als Einheit zu behandeln. Stettler hat hier behutsame Schritte gemacht, andere (z.B. Fuchs) gehen in dieselbe Richtung. Gleichzeitig werden die Pastoralbriefe theologisch wieder näher an die Theologie des Paulus herangerückt (Stettler, Läger, Fuchs). Besonders ihre Christologie war zuletzt Gegenstand eingehender Untersuchungen (s.u. S. 180ff).









II. Auslegung




1. Teil: Wie Paulus die Gemeinde ordnet


1. Der Eingangsgruß (1Tim 1,1–2)


I

1 Paulus,
[superscriptio]
Apostel [des] Christus Jesus
[intitulatio]
gemäß der Anordnung Gottes, unseres Retters
[intitulatio]
und des Christus Jesus, unserer Hoffnung,
[intitulatio]
2 dem Timotheus,
[adscriptio]
dem legitimen Kind im Glauben:
[intitulatio]
Gnade, Erbarmen, Friede von Gott, dem Vater,
[salutatio]
und Christus Jesus, unserem Herrn.
[salutatio]


II

Um die Verbindung mit den von ihm gegründeten Gemeinden zu halten, bediente sich der Apostel Paulus, wenn er nicht persönlich hinreisen konnte (sog. „Zwischenbesuch“ in Korinth!) zweier Methoden: Entweder verkehrte er mit ihnen über zuverlässige Boten, die er (wie im zeitgenössischen Judentum üblich) gelegentlich auch mit Handlungsvollmacht ausstattete. So könnte etwa Titus nach 2Kor 7f in seinem Auftrag tätig gewesen sein. Oder er benutzte das Medium „Brief“, das damals schon eine lange Geschichte hinter sich und eine sehr differenzierte Form angenommen hatte. Der antike Brief spiegelt in seiner Form noch mehr oder weniger stark die Gesprächssituation wider und gibt sich dadurch selbst als „Notlösung“, d.h. als Ersatz für das eigentlich zu bevorzugende persönliche Gespräch zu erkennen. Für uns Spätere sind die antiken Briefe dagegen ein Glücksfall, können wir doch mit ihrer Hilfe die Situationen und Themen etwa im Gespräch zwischen Paulus und seinen Gemeinden wenigstens teilweise rekonstruieren.

Untersuchen wir seine Briefe hinsichtlich ihrer Struktur und der in ihnen begegnenden Formen z.B. im Vergleich mit anderen antiken Briefen, so zeigt sich in Übereinstimmung und Abweichung, wo der Apostel die Gewohnheiten seiner Zeit übernahm bzw. wo er eigene Wege gegangen ist, die sich ihm unter Umständen von den spezifischen Bedürfnissen seiner Korrespondenz her nahe legten. Das gilt sogleich für den Briefeingang. Vergleichen wir 1Tim 1,1f mit den Briefeingängen der übrigen, besonders aber der „unbestritten echten“ Paulusbriefe, so fällt er trotz geringerer Abweichungen keineswegs aus dem Rahmen.

Paulus bedient sich in allen Briefen der sog. „orientalischen“, d.h. aus zwei Nominalsätzen bestehenden Präskriptform, die er auf verschiedene Weise variiert. Auf die Namensnennung des Absenders (superscriptio) folgt eine inhaltliche Bestimmung seiner Tätigkeit oder Eigenschaft (intitulatio), die in der Regel mit einem Genitiv-Attribut versehen ist und gelegentlich mit einer ihren Ursprung präzisierenden Angabe verbunden sein kann. Daran schließt sich unmittelbar die Nennung des Empfängers an (adscriptio), die wiederum durch eine zusätzliche Angabe (intitulatio) inhaltlich näher bestimmt ist. Es fällt auf, wie knapp dieser Zusatz in den Pastoralbriefen im Vergleich mit den meisten übrigen Paulinen ausfällt. Hätte tatsächlich ein späterer Schreiber Timotheus und Titus als besonders respektable Paulusmitarbeiter apostrophieren wollen, so wäre dies doch wohl der Platz dafür gewesen! Freilich – dies ist ein aus dem Schweigen unserer Quelle erschlossenes Argument, das wir aus methodischen Gründen nur mit Vorsicht einsetzen dürfen.


III

Dem ersten Nominalsatz folgt der Eingangsgrußwunsch (salutatio) in Gestalt eines zweiten Nominalsatzes (V. 2b) An dieser Stelle weichen die Pastoralbriefe am auffälligsten von den übrigen Paulinen ab, indem hier die stereotype Formel χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη κτλ. nur abgewandelt vorkommt (vgl. aber auch die Kurzform in 1Thess).

1 Paulus ist der einzige genannte Absender und Autor (= Verfasser) des 1Tim. Damit ist — wie Richards gezeigt hat — noch nichts über den Schreiber des Briefes gesagt, den der Verfasser durch seinen Namenszug am Ende des Briefes autorisierte. Wir haben in der Einleitung gesagt, dass, warum und in welchem Sinn wir von der paulinischen Verfasserschaft in Gestalt einer „Sekretärshypothese“ ausgehen. Das ermöglicht uns u.a., die „paulinische Theologie“ auf eine breitere Basis zu stellen und damit insgesamt ein abgerundeteres Bild von ihr zu skizzieren, aber auch, unseren Informationsstand bezüglich der urchristlichen (Sozial-)Geschichte zu erweitern. Denn nur ein Maximum an Quellen erlaubt zuverlässige Aussagen über diese durchaus komplexen Themen.

Paulus bezeichnet sich eingangs – wie auch in den meisten anderen seiner Briefe – in einer „betont würdevollen und autoritativen Selbstvorstellung“ als ἀπόστολος und „umschreibt mit dem Wort seine Aufgabe der Evangeliumsverkündigung: er ist autorisiert, als Bote und Repräsentant des gekreuzigten und auferstandenen Herrn den heidenchristlichen Gemeinden das Evangelium zu bringen“. Der Wortstamm liegt als Verb und Substantiv schon in der Jesustradition auch im technischen Sinn vor (Mt 10,5; Mk 6,7; Lk 9,2; Mt 10,2; Mk 3,14(!); Lk 6,13), und zwar als Verb in einer solchen Fülle, dass die ntl Briefe dagegen zahlenmäßig kaum ins Gewicht fallen. An mindestens drei Stellen besteht eine direkte Verbindung zum atl. Sprachgebrauch: Mk 1,2 stellt der Evangelist die Sendung des Täufers unter die Weissagung aus Mal 3,1; in Verbindung damit steht Mt 11,10 par die Antwort Jesu auf die Anfrage des Täufers nach seiner Messianität; schließlich Lk 4,18, ebenfalls im Zusammenhang mit der Messiasfrage, wo Jesus Jes 61,1f als programmatisch für seinen Auftrag zitiert und auslegt. Das hebr. Äquivalent ist jeweils die Wurzel שָׁלַח, deren Bedeutung via LXX auch das ntl. Verständnis von „senden“ im Sinne von „sich repräsentieren lassen“ bestimmt. Indem Jesus denselben Begriff, der für seine eigene Sendung konstitutiv war, auch für die Sendung seiner Jünger verwandte, stellte er ihren Auftrag als von vergleichbarer Qualität dar.138 Die Bindung des Apostels an den Herrn, der ihn sendet, ist demnach von nicht zu vernachlässigender Wichtigkeit. Dem entspricht ganz die im Frühjudentum schon vorntl. bestehende Einrichtung des שָׁלִיחַ, dessen wesentliche Merkmale die strenge Bindung des Boten an den Auftrag des Sendenden (bei Paulus: „das θέλημα, die ihn von aussen bestimmende Willensäusserung Gottes“) und die autoritative und rechtswirksame Stellvertretung des Sendenden durch seinen Boten sind.140 Beide Kategorien weisen sachlich auch in den Umkreis des Selbstverständnisses der atl. Propheten und damit, was Paulus angeht, auf sein Berufungserlebnis bei Damaskus zurück. Sie lassen sich somit als homogene Elemente seines Selbstverständnisses verstehen.

Bei dem substantivierten Adjektiv ἀπόστολος stellt sich die Sache etwas anders dar. Hier überwiegen – wie nicht anders zu erwarten – zahlenmäßig deutlich die Belege in den ntl. Briefen. Stand in den Evangelien der Vorgang der Sendung durch Jesus im Mittelpunkt, so ist es in den Briefen der Weg und Auftrag seiner Gesandten. Diese Beziehung macht Paulus sogleich deutlich, indem er dem Aposteltitel das Genitivattribut anfügt: Apostel [des] Christus Jesus. Grammatisch betrachtet handelt es sich hierbei um einen genitivus possessoris, d.h. im Genitiv wird die Person des „Eigentümers“ angegeben. Paulus betrachtet sich als Eigentum Christi, ein Gedanke, den er schon z.B. in Röm 14,8 (τοῦ κυρίου ἐσμέν) allgemeiner ausgeführt und inhaltlich gefüllt hat, nämlich mit dem Ausdruck κυρίῳ ζῶμεν (ähnlich etwa Gal 2,20). Traditionsgeschichtlich entstammt diese Ansicht dem AT, wo das ganze Bundesvolk Israel als Gottes Eigentum gilt (Ex 19,5; Deut 4,20; 7,6; Ps 135,4 u.ö.; vgl. auch Tit 2,11–14) und ihm deshalb mit seiner gesamten Existenz zur Verfügung steht. Paulus überträgt diesen Sachverhalt auf die Christen (Eph 1,14). Aber auch der einzelne erwählte Amtsträger, nämlich der Priester, ist „heilig dem HERRN“ (Ex 28,36). In Röm 15,16 hat Paulus sein apostolisches Selbstverständnis in priesterlichen Kategorien dargestellt. Er hat diese Ebene aber nicht zum Zentrum seines Apostolatsverständnisses gemacht. Dafür bildet das alttestamentliche Prophetenamt häufig den Hintergrund der Aussagen über seinen Dienst.144 Schon die Sache selbst legt das nahe, denn Paulus ist zunächst Wortverkündiger wie die Propheten, er macht das erlösende Sühnegeschehen bekannt, ist aber deshalb selbst noch nicht am Vorgang der Versöhnung beteiligt, über den er in Röm 3,21–26 spricht.

Im NT und besonders im Corpus Paulinum werden nebeneinander, aber doch in bedacht-differenzierendem Gebrauch, die „Namensformeln“ Χριστὸς Ἰησοῦς (81-mal) bzw. Ἰησοῦς χριστός (90-mal) verwendet. „Der Heilsbringer – Χριστός – ist Jesus, als solchen bezeichnet ihn der Beiname Χριστός.“ Entwicklungsgeschichtlich betrachtet wird aber die erstgenannte Formulierung die ältere sein, steht doch hinter dieser absoluten Form die mit Artikel versehene Ἰησοῦς ὁ Χριστός, die ihrerseits wiederum auf der hebräischen Vorlage יֵשֻׁעַ הַמָּשִׁיחַ beruht und als Nominalsatz verstanden werden muss: „Jesus (und kein anderer) ist der Messias“. Paulus benutzt beide griechischen Wendungen von seinen frühesten Briefen an (Gal: 10 bzw. 7-mal149). Es fällt jedoch eine Häufung der späteren Form in 1/2Tim (nicht im Tit!) auf.

Damit ist auch schon der Bedeutungsgehalt angeklungen: Χριστός („der Gesalbte“) ist die griechische Übersetzung des hebräischen Messias-Titels, der bereits im AT eine beachtliche Bedeutung hatte. Es bestand der Brauch, bestimmte Amtsträger (König, Priester) bei ihrer Einsetzung mit (Salb-)„Öl“ zu begießen, eine symbolische Handlung, die Reinigung wie auch Ausstattung mit Amtsvollmacht bzw. mit Gottes Geist zum Inhalt hat. Mit dem „Akt der Salbung“ ist „die Legitimation zur Wahrnehmung der übertragenen Aufgabe verbunden“.151 Zu diesen „Gesalbten“ gehören in erster Linie die Könige Saul (vgl. 1Sam 10,1 u.ö.) und David (1Sam 16,13 u.ö.). An die Person Davids und seine Nachkommenschaft ist dann die Verheißung eines endzeitlichen Erlösers gebunden, die (wohl im Anschluss an die Nathansverheißung 2Sam 7, wo allerdings wie im ganzen AT der Begriff „Messias“ in diesem Sinn noch keine Rolle spielt) dann in den Psalmen und den prophetischen Schriften mehr und mehr entfaltet wird. Diese Hoffnung richtet sich auf eine Rettergestalt, die sich durch ständigen Geistbesitz auszeichnet (Jes 11,2).

In den verschiedenen theologischen Strömungen des nachatl. Judentums hat die Lehre vom Messias, sofern sie aufgenommen wurde, sehr verschiedene Ausprägungen erfahren. Sie spiegeln sich in den Schriften dieser Gruppen und darüber hinaus bis in den Jüngerkreis Jesu wider (vgl. nur Lk 24,21; Apg 1,6). Das Spektrum reichte von der Vorstellung des Messias als einer rein geistlichen Autorität (Lehrer des Gesetzes) bis hin zu jener eines doppelten, nämlich eines kriegerischen und eines priesterlichen Messias in den Schriften der Qumran-Essener.

Die junge Christenheit hat den Titel aus dem jüdischen und nicht aus dem griechisch-hellenistischen Bereich übernommen. Dies belegt zur Genüge die Tatsache, dass das Verbaladjektiv χριστός außerhalb der LXX, des NT und der davon abhängigen Schriften nicht in Bezug auf Personen gebraucht wird. Nach Mk 14,61–64 wurde Jesus unter der Anklage, ein Messiasprätendent zu sein, vom Synhedrion zum Tode verurteilt. Entsprechend und doch paradoxerweise und deshalb umso glaubwürdiger verbindet Paulus mit dem Christus-Titel zunächst Jesu stellvertretenden Tod am Kreuz (Gal 3,13), dann aber auch seine Auferstehung (Röm 6,4). Der Glaube an Jesus als an den Heilsbringer in diesem Sinne hat Konsequenzen für Leben und Mission der Christen als der Menschen, die nach Paulus ἐν Χριστῷ sind, also mit ihrer ganzen Existenz dem Christus einverleibt sind oder (wie Stuhlmacher schreibt): „Als diejenigen, die ‚in Christus‘ bzw. ‚im Herrn‘ leben, sind die Glaubenden durch und durch von der Heilstat Gottes in und durch Christus bestimmt.“ Das hat christologische, ekklesiologische und ethische Implikationen und Konsequenzen. Speziell in die Pastoralbriefe sind Traditionsstücke eingegangen, mit denen die vorpaulinische Gemeinde sich zu Christi Tod und Auferstehung bekannte (1Tim 1,15; 2,5f; 6,13; 2Tim 1,9f; 2,8; Tit 2,11–14; 3,6).

Zum Selbstverständnis des Apostels gehört auch die weiterführende, die Herkunft dieses Amtes näher bestimmende Aussage, er sei, was er ist, gemäß der Anordnung Gottes, unseres Retters, und des Christus Jesus, unserer Hoffnung. Außer 1/2Thess, Phil und Phlm verwendet Paulus in allen seinen Briefen einen solchen Zusatz, der entweder formelhaft sein kann wie das διὰ θελήματος θεοῦ (1/2Kor, Eph, Kol, 2Tim) oder in dem Paulus schon die Brücke zum Inhalt des jeweiligen Briefes schlägt (z.B. Röm: ἀφορισμέ- νος εἰς εὐαγγέλιον θεοῦ; Gal: οὐκ ἀπʼ ἀνθρώπων, οὐδὲ διʼ ἀνθρώπου, ἀλλὰ διὰ Ἰησοῦ Χριστοῦ. …). Anordnung (ἐπιταγή) kommt im NT nur in den Paulus-Briefen vor und meint (außer vielleicht Tit 2,15) eine autoritative, nämlich auf Gott bzw. Jesus selbst zurückgehende Setzung. Sie kann sich auf ethische Verhaltensregeln beziehen, mehr noch aber im Zusammenhang mit der Verkündigung des Evangeliums stehen (Röm 16,26). Was ist dieses aber anders als die gute Nachricht von dem erlösenden Gott? Was Wunder, wenn deshalb die Anordnung, auf die Paulus sein Apostolat gründet und zurückführt, unmittelbar auf das Werk Gottes, unseres Retters, als ihres Urhebers zurückgeführt wird? Wir befinden uns damit theologisch auf gut paulinischem Boden, wie 1Kor 9,16–18; Gal 1,1 zeigen.

Eigentümlich ist es freilich und natürlich nicht unbemerkt geblieben, dass der σωτήρ-Titel in den Pastoralbriefen gegen den sonstigen Gebrauch bei Paulus auf Gott-selbst übertragen wird (so in unserem Brief auch in 2,3; 4,10, darüber hinaus in den Pastoralbriefen Tit 1,3; 2,10; 3,4). Dieser Feststellung sind aber sogleich mehrere Einschränkungen anzufügen: Wir begegnen dieser Konstellation erstens nämlich auch im „Lobgesang der Maria“ Lk 1,47, einem vorlukanischen Text, der vor dem Hintergrund des Hanna-Psalms 1Sam 2,1–10 interpretiert werden muss. Dort wiederum ist von Gottes σωτηρία (LXX: ἐν σωτηρίᾳ σοῦ) die Rede (1Sam 2,1) und es ist nur noch ein kleiner Schritt zum nomen agentis σωτήρ. Bei der von Vielen anerkannten Nähe der Pastoralbriefe zum lukanischen Werk ist damit bereits eine traditionsgeschichtliche Verbindung hergestellt. Außerdem ist diese Bezeichnung Gottes im Frühjudentum der atl. Apokryphen exklusiv auf Gott angewandt, ist aber gleichzeitig als spezifische Messiasbezeichnung im jüdischen Bereich in ntl. Zeit nicht zu belegen. Es trifft zwar zu, dass der Terminus σωτήρ auch im hellenistischen Herrscherkult seinen Platz hatte; das galt aber ebenso etwa für den κύριος-Titel und andere vergleichbare Bezeichnungen. Indem die junge Christenheit sie adaptierte (und zwar zumeist vom hellenistischen Judentum adaptierte, wie ein Vergleich mit LXX zeigt), stellte sie sich als bewusste Alternative zum heidnischen Herrscherkult dar (vgl. 1Kor 8,5f). Denn „die Anspielung auf die Taufe in Tit 3,5 und die Fortsetzung καὶ εἰς ἐπίγνωσιν ἀληθείας ἐλθεῖν (1Tim 2,4) machen den rein theologischen Inhalt des σωτήρ-Terminus klar“. Zweitens wird Gott-selbst auch in der (möglicherweise ebenfalls traditionellen) Schlussdoxologie des Judasbriefes (Jud 24f), den Robinson immerhin in die Jahre 61/62 datiert, der also unserem Brief dann zeitlich nicht fern wäre, so bezeichnet. Beides zusammen deutet auf das Vorhandensein dieser Gottesbezeichnung in der frühen heiden- und judenchristlichen Tradition hin. Drittens finden wir den Titel auf Jesus angewandt außerhalb der Pastoralbriefe im ganzen Corpus Paulinum nur noch zweimal (Eph 5,23; Phil 3,20). Viertens weist die Statistik für die Pastoralbriefe in 2Tim und Tit vier Belegstellen aus, wo Jesus Christus mit dieser Bezeichnung belegt wird (2Tim 1,10; Tit 1,4; 2,13; 3,6), was immerhin bedeutet, dass der Verfasser dieser Briefe in der Anwendung auf Jesus keinen (theologischen) Gegensatz zum sonst bei Paulus üblichen Gebrauch gesehen hat. Eine strikte Trennung zwischen Gott, dem Initiator der Rettung (1Tim 2,4!), und Jesus, ihrem „Verwirklicher“, wäre ohnehin nicht zu erwarten.

Der theologische Inhalt der Gottesbezeichnung ist nun noch zu beschreiben. Im AT denkt man bei den entsprechenden hebräischen Äquivalenten, allen voran der Wurzel ישׁע, an Gottes rettenden, ja heilschaffenden Beistand in Zeit und Ewigkeit. Die jüdische Literatur, die zwischen AT und NT entstanden ist, schließt die Lücke und setzt teilweise einen stärkeren Akzent auf die ewige Errettung vom Gericht und Tod (etwa 4Esr 2:7). Diese letzte Dimension der Rettung des Lebens prägt denn auch besonders den ntl. Gebrauch von σῴζειν: „Die Bedeutung Bewahrung, Erhaltung des natürlichen Bestandes einer Person oder einer Sache findet sich nicht“. Auch darin geht also der Sinngehalt deutlich über die im hell. Herrscherkult gebräuchliche Verwendung hinaus. Denn von dem Herrscher erhoffte man sich zunächst einmal Bewahrung im Bereich der Immanenz, also Schutz vor Feinden, Versorgung mit den zum Leben wichtigen Gütern usw. Paulus trägt dieser Tendenz des christlichen Sprachgebrauchs, nämlich „Errettung“ als eine umfassende, über das Alltägliche und Immanente hinaus gehende Aktion Gottes zu verstehen,162 Rechnung, indem für ihn σωτηρία das Ziel seiner missionarischen Bemühungen und zugleich „ein futurisch-eschatologischer Terminus“ ist. Christen sind errettet von Gottes im letzten Gericht sich auswirkendem Zorn, und zwar errettet in Hoffnung (Röm 8,24). Die Anwendung des Titels auf Gott „fits the theological emphasis in 1 Timothy on salvation“, schreibt Johnson.

Damit ist aber zugleich die Verbindungslinie zwischen den beiden in offensichtlichem Parallelismus stehenden Epitheta Gottes, unseres Retters und Christus Jesus, unserer Hoffnung gezogen. Letztgenannte unterstreicht noch einmal, dass auch die erste theologisch verstanden sein will. Der gekommene Messias Jesus ist die Personifikation des Heils, das Israel seit Langem erwartet. Damit dehnt Paulus nun auch explizit auf Jesus aus, was im AT im Blick auf Gott galt (Jer 17,7; Ps 60,4; 71,5 [jeweils LXX]). Schritte in diese Richtung hatte er schon 1Thess 1,3 und vollends Kol 1,27 gemacht, ohne jedoch damit die Unterschiede zwischen Gott und Jesus zu verwischen. Es trifft wohl zu, was Grundmann schreibt: „In den Pastoralbriefen sind Gott und der Christus Jesus an vielen Stellen zwar einander koordiniert, aber es ist durchgängig festgehalten, dass Jesus Christus Gottes Mandatar ist und Gott in ihm handelt“. Die Hoffnung der Christen auf den Heilsbringer Jesus ist eine auf Gottes Zukunft gerichtete, eine eschatologische Hoffnung, die freilich in der Spannung zwischen dem gekommenen Messias Jesus und dem vollendenden Handeln Gottes ihren Platz hat. Sprachlich-theologisch könnte sich das darin ausdrücken, dass Paulus in 1Tim 1,1 geradezu programmatisch von Gott als dem Retter spricht, um den es in 1Tim 1–3 geht, und von Jesus als unserer Hoffnung, worüber er 1Tim 4–6 handelt.

Was bedeutet dies alles für das Apostolatsverständnis in den Pastoralbriefen? Paulus versteht sein Amt formal vor dem Hintergrund einer Einrichtung des zeitgenössischen Judentums. Diese reicht freilich nicht aus, um seinen Auftrag zu beschreiben. Es ist deshalb unumgänglich, bei dem Sendungsbewusstsein Jesu und bei der Sendung seiner Jünger durch ihn anzusetzen. Die Apostel repräsentieren ihren Herrn, d.h. in ihrer Existenz und Person redet und handelt der erhöhte Herr selbst (2Kor 5,20). Nun schreibt Paulus aber an seinen Mitarbeiter Timotheus, ohne ihn ganz unmittelbar in den Apostolat einzubeziehen. Im Gegenteil ist es nötig, ihm als Mitarbeiter in den Gemeinden Anerkennung zu verschaffen. Das bedeutet doch: Dieses besondere auf die unmittelbar von Jesus gesandten Missionare und Gemeindeleiter beschränkte Apostolat vererbt sich nicht weiter, weder auf dem Wege biologischer oder geistlicher Nachkommenschaft, noch auf dem der Übertragung. Die geistliche Vollmacht der Späteren – das wird Paulus im weiteren Verlauf des Briefes zeigen – kommt aus der Treue gegenüber der empfangenen (Jesus-)Tradition.

2 Der zweite Teil des Briefeingangs ist dem Briefempfänger gewidmet. Das, was wir modern „Adresse“ nennen, stand natürlich auch im antiken Brief von außen lesbar auf dem Brief, sei er nun eine verschnürte und versiegelte Papyrusrolle oder ein zusammengefaltetes und ebenfalls versiegeltes Leder oder Pergament gewesen, wie sie in genügend großer Anzahl auf uns gekommen sind. Leider besitzen wir aber keinen einzigen Paulusbrief im Original, sodass uns die Gewohnheit der Antike gut zustatten kommt, Absender und Adresse im Briefeingang noch einmal zu wiederholen. In unserem Fall ist der Brief Timotheus, dem legitimen Kind im Glauben bestimmt (V. 2a). Timotheus (dt. etwa: „Fürchtegott“) ist selbst in mehreren Paulusbriefen als Mitverfasser (Phil; 1/2Thess), als Mitabsender (Kol; Phlm) oder als Mitarbeiter (Röm; 1Kor 16,10) genannt.

Ihn verband, als Paulus an ihn schrieb, bereits eine längere persönliche Geschichte mit dem Apostel (siehe oben S. 20). Timotheus war im südkleinasiatischen Lystra zu Hause, Sohn einer Judenchristin und eines griechischen (= heidnischen) Vaters. Paulus machte den geachteten jungen Mann offiziell zu seinem Mitarbeiter und nahm an ihm die Beschneidung vor, um den judenchristlichen Gemeinden keinen Anlass zur Ablehnung zu geben (Apg 16,1–3). Auf der weiteren zweiten und auf der dritten Missionsreise gehörte Timotheus dann zu seiner Begleitung, übernahm auch eigenständige Aufgaben (Apg 17,14; 18,5; 19,22). Im Auftrag des Paulus arbeitete er in Thessalonich (1Thess 3,2.6) und Korinth (1Kor 4,17; 16,10) und teilte des Apostels Gefangenschaft (Phil 2,19; vgl. auch Hebr 13,23), befand sich also wohl den größten Teil der 50er-Jahre dieses 1. Jh.s in engem Kontakt zu Paulus. Wie Josua von Mose (Deut 34,9) wurde er von Paulus eingesetzt (2Tim 1,6) und mit der Bewahrung der verbindlichen Überlieferung beauftragt.

Beide Empfänger der Pastoralbriefe, Timotheus und Titus, bezeichnet der Apostel als seine „Kinder“ (1Tim 1,2; 2Tim 1,2; Tit 1,4 u.ö.). Für Timotheus gilt dies auch außerhalb der Pastoralbriefe, wo Paulus ihn gegenüber seinen Gemeinden in metaphorischem Sinn sein „Kind“ bzw. seinen „Sohn“ nennt (1Kor 4,17), mit dem ihn aber gleichzeitig der gemeinsam geleistete Dienst für das Evangelium verbindet (Phil 2,22). Aber auch die angeschriebenen Gemeindeglieder kann der Apostel als seine „Kinder“ bezeichnen (1Kor 4,14; 2Kor 12,14; Gal 4,19; 1Thess 2,11) – psychologisch betrachtet auch ein Hinweis auf das fortgeschrittene Alter des Verfassers. In unserem Zusammenhang ist aber besonders Phlm 10 ergiebig. Dort spricht Paulus von dem Philemon entlaufenen Sklaven Onesimus, „den ich gezeugt habe in der Gefangenschaft“. Damit meint er – wie aus dem Brief hervorgeht – dessen durch seine Vermittlung erfolgte Lebenswende zu Christus hin. In diesem engeren Sinne versteht Paulus sich als „Vater“ des Sklaven und diesen als sein „Kind“ (vgl. Phil 2,27!). Wir wissen nicht sicher, ob auch Timotheus durch Paulus während dessen 1. Missionsreise zum christlichen Glauben gekommen ist. Nach Apg 16,3 wurde er aber von Paulus beschnitten, ein Vorgang, den im Judentum der Vater an seinem Sohn vornahm168 und der vielleicht die besonders enge Beziehung zwischen Paulus und Timotheus konstituierte. Der ergänzende Zusatz γνησίῳ ἐν πίστει weist genau in diese Richtung, meint doch γνήσιος zunächst den leiblichen im Unterschied zum adoptierten, den ehelichen im Gegensatz zum unehelichen Sohn, in jedem Falle aber die reine, unverfälschte Herkunft. Damit ist folglich ganz abgesehen von der Rolle, die Paulus bei der Bekehrung des Timotheus spielte, das Faktum im Blick, dass der Apostel in ihm seinen zuverlässigen, vertrauenswürdigen Mitarbeiter sieht, der ganz in seinem Sinne arbeitet. Wie Wolter im Vergleich zu einem Pliniusbrief zeigt, ist es zugleich Bestandteil der „Mandata-principis-Terminologie“, mit deren Hilfe der Apostel den Hörern des schriftlichen Mandats die Autorität des Timotheus verdeutlicht.

An die adscriptio schließt sich der Gruß bzw. Segenswunsch (salutatio) an: Gnade, Erbarmen, Friede von Gott, dem Vater, und Christus Jesus, unserem Herrn (V. 2b). Im griechischen Brief jener Zeit hieß es häufig einfach χαίρειν. Vom selben Wortstamm kommt das Substantiv χάρις, das im Profangriechischen der ntl. Zeit Terminus für den herrschaftlichen „Gnadenenerweis“ war. Berger spricht (mit Bezug auf Aristoteles vom „Ungeschuldetsein der χ. im Gegensatz zum Lohn“. Sogar in unserem deutschen Wort „Gnade“ steckt noch das Moment des unverdient Empfangenen:173 Es meinte nämlich im Alt- und Mittelhochdeutschen das „Sich-Herabneigen“. Näherte sich die Sonne am Abend dem Horizont, dann sagte man: Sie geht „zu genaden“; gab die Braut dem Bräutigam ihr Ja-Wort, sagte man: Sie ist ihm „zu genaden“. Dem entspricht der Sache nach schon der Gebrauch des griech. Begriffs bei Paulus: Gottes für den Menschen unverdiente χάρις ist der Ermöglichungsgrund für die Rettung des Sünders. Wohl deshalb stellt Paulus das Substantiv anstelle des Verbs an den Anfang seiner Briefe neben die beiden Begriffe ἔλεος und εἰρήνη und nimmt damit in der Abweichung vom üblichen Briefformular zugleich eine Umwertung ins Theologische vor. Für Berger eignet sich das Wort gerade deshalb für die Verwendung in Briefeingängen, weil es „unter dem Aspekt der … Souveränität Gottes“ „das Heilsgut schlechthin“ bezeichnen konnte.

Ἔλεος nimmt bei Paulus diese Linie auf. Anders als im Profangriechischen, wo das Wort zunächst im affektiven Bereich seinen Platz hat, meint das hebräische Äquivalent חֶסֶד „ein Verhalten …, das aus einem Gegenseitigkeitsverhältnis entspringt … die einem Treueverhältnis entsprechende (hilfreiche) Tat“. Im NT wird diese Bedeutung dann auf Gottes entscheidende Tat zugespitzt, nämlich auf die Heilstat in Christus.178 Ein letztlich eschatologisch gefüllter Begriff ist auch εἰρήνη, das auch im NT vor dem weitgespannten Hintergrund des atl.-jüd. שָׁלו̇ם-Verständnisses die restitutio ad integrum der gesamten Schöpfung, dann aber konkreter das eschatologische Heil des Menschen, nämlich seinen Frieden mit Gott (Röm 5,1) im Blick hat.

Liegen die Dinge so, dann wird verständlich, warum Paulus diese Eingangswünsche nicht von sich aus, sondern nur von Gott, dem Vater, und dem Herrn Christus Jesus senden kann: Gnade, Erbarmen und Friede in diesem Sinn sind menschlicher Verfügung grundsätzlich entzogen. Werden sie empfangen, so ist schon dies Gnade. Mit dem κύριος-Titel wird – was vom AT her nicht selbstverständlich ist – der Christus neben Gott-Vater gestellt. Κύριος war bekanntlich in den (relativ späten) christlichen Manuskripten der LXX die stereotype Übertragung des heiligen Gottesnamens יהוה ins Griechische. Nicht in seiner Eigenschaft als Messias kann Jesus die drei eschatologischen Gaben verleihen, wohl aber aufgrund seiner Teilhabe an der Gottheit Gottes. Je dreimal nennt der Apostel den κύριος in Kap. 1 und 6, also am Anfang und am Ende des Briefes, was sicher kein Zufall ist. Wir finden demnach im Briefeingang und der salutatio des 1Tim bereits eine reflektierte und differenzierte Christologie und Gotteslehre vor.

Warum weicht aber die Salutatio von der sonst den Paulusbriefen eigentümlichen Formulierung χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη ab? Letztere bestand wohl aus acht rhythmisch geordneten Silben. Hätte der Schreiber sie in die Form der 2. Person Singular gebracht, indem er aus dem Plural ὑμῖν den entsprechenden Singular σοι gemacht hätte, dann wäre eine rhythmische Veränderung eingetreten, nämlich der Verlust einer Silbe und damit eine Umwertung der verbliebenen Silben. Um dies zu vermeiden, könnte er zur Achtsilbigkeit ergänzt haben. Die Ergänzung wird deshalb durch das Wort ἔλεος erfolgt sein, weil dieser dreigliedrige Gruß offenbar in den kleinasiatischen Gemeinden (im Gottesdienst?) üblich war, wie auch 2Joh 3 zeigt, was ja ebenfalls in diesem Raum anzusiedeln ist. Zudem bilden schon im AT die entsprechenden hebräischen Verben חנן und רחם gerade in gottesdienstlich-liturgischem Kontext häufig ein Begriffspaar, das Gott weniger in seinem Sein, sondern vielmehr in seinem Verhalten gegenüber den Menschen beschreibt. Auch für die Verbindung von ἔλεος und εἰρήνη gibt es ein Vorbild (syrApkBar 78,2).


IV

Χάρις- für Paulus die grundlegende Verhaltensweise Gottes gegenüber dem Sünder - ἔλεος - das zur (Heils-)Tat werdende Betroffensein Gottes vom Geschick der Sünder - εἰρήνη - das eschatologische Ziel Gottes mit dem gerechtfertigten Sünder: In dieser Trias fasst Paulus gleich zu Beginn seine ganze Botschaft zusammen. Es wurde manchmal das Fehlen grundlegender Elemente der paulinischen Theologie in den Pastoralbriefen bemängelt. Kein Wunder, denn sie sind im Brief an den Schüler als bekannt vorausgesetzt und klingen gleich hier am Anfang programmatisch an. Ihr späteres Fehlen hängt mit dem besonderen Charakter dieses Briefes zusammen. Aufs Ganze gesehen zeigt uns der Briefeingang des 1Tim die Tätigkeit des Paulus als von eschatologischer Qualität. Akzente werden gesetzt, Grenzen abgesteckt, Grundlagen ins Gedächtnis gerufen. Über den unmittelbaren Empfänger hinaus ist dabei auch schon an jene Gemeinden gedacht, denen Timotheus im Auftrag und in der Autorität des Apostels vorsteht.


2. Der Anlass des Briefes (1Tim 1,3–7)


I

3 Wie ich dir zusprach, in Ephesus zu bleiben, als ich nach Makedonien reiste, damit du einigen verbietest, anders zu lehren 4 und sich mit endlosen Mythen und Genealogien zu befassen, welche sich mehr mit Grübeleien befassen als mit Gottes Heilsplan im Glauben … 5 Das Ziel der Weisung ist aber Liebe aus reinem Herzen und gutem Gewissen und ungeheucheltem Glauben. 6 Davon sind einige abgeirrt und haben sich nichtigem Geschwätz zugewandt 7 in der Absicht, Gesetzeslehrer zu sein, ohne aber zu wissen, was sie sagen, noch worüber sie zuversichtlich sprechen.


II Aufbau

In diesen Sätzen klingen die Themen des ersten Hauptteils (Kap. 1–3) bzw. des ganzen Briefes bereits an: Auseinandersetzung mit den Gegnern, Gottes Heilsplan, der Glaube, die Liebe als das große Ziel. Sie sind aber auch mit dem folgenden Abschnitt über das Thema „Gesetz“ fest verklammert. Im Rahmen des Briefaufbaus entsprechen 1,3–10 dem Abschnitt 6,3–10, indem sie nämlich die dann behandelten Themen intonieren.

Die Perikope setzt das bis V. 20 reichende Proömium nun mit Blick auf den Empfänger des Briefs und dessen Anlass fort. Sie weist inhaltlich folgenden Aufbau auf:

V. 3f
Erinnerung an den Auftrag des Timotheus
V. 5
Ziel der Tätigkeit
V. 6f
Beschreibung der Gegner

In 1Tim fehlt (wie in Gal und Tit) das Dankgebet, das sonst in Paulusbriefen häufig, nicht immer, am Übergang vom Briefeingang zum Corpus steht (Röm 1,8; 1Kor 1,4ff; Phil 1,3ff u.ö., aber auch 2Tim 1,3) und vermutlich eine Parallele zur in griechischen Privatbriefen ab dem 1. Jh. n.Chr. zu findenden „Proskynema-Formel“ ist. Diese wiederum stammt wohl aus dem ägyptischen Briefstil und hatte schon dort zweifellos religiösen Charakter. Im 1Tim steht hier stattdessen eine Briefformel, die den Empfänger an eine früher erhaltene, immer noch gültige Anweisung erinnern soll: καθὼς παρεκάλεσά σε + Infinitiv, eine Formel, die auch in hellenistischen Briefen ihren Platz hatte.

Καθώς am Satzanfang ist eine unterordnende komparative Konjunktion. Sie bedarf stets einer Ergänzung, damit ein sinnvoller, ganzer Satz entsteht. Dies ist hier nicht der Fall. Grammatisch betrachtet ist dieser erste Satz des Briefcorpus darum unvollständig, ein „Anakoluth“ (V. 3f), wobei der auf καθώς antwortende Satzteil aus dem Zusammenhang zu erschließen ist. Jeremias vertritt die Auffassung, dieser Bruch verrate „eine stärkere Unruhe des Schreibers“. In dieselbe Richtung weist auch der Erklärungsversuch des Anakoluth bei Blass-Debrunner, „in längeren Satzgefügen“ werde „etwa nach einer Unterbrechung durch Zwischensätze die angefangene Konstruktion vergessen“ und es schiebe sich „im Geist des Schriftstellers eine andere an ihre Stelle“. Zu unserer Stelle freilich heißt es dort: „In ein reines Wirrsal verläuft die Konstruktion von 1Tim 1,3ff infolge der unaufhörlichen Einschiebungen und Anhängsel.“

Beide Auslegungen befriedigen letztlich nicht. Nach dem, was wir über die Abfassung antiker Briefe wissen und nachdem der übrige Brieftext einen durchaus durchdachten, keineswegs „eiligen“ Eindruck macht, müsste über eine andere Erklärung nachgedacht werden. Jedenfalls dürfte es sich angesichts der Vorliebe des Paulus für Anakoluthe um ein bewusst eingesetztes Stilmittel handeln, das in diesem Falle den Auftrag des Timotheus zwar auf die in V. 3f explizit genannten Aufgaben festlegt, sie aber nicht darauf beschränkt, sondern ihn ganz allgemein an die vom Apostel vor dessen Abreise empfangenen Weisungen erinnern soll. Die in V. 3bf genannten Konkretionen sind im Kontext des Briefes nur als pars pro toto zu verstehen. Das Stichwort παραγγείλῃς wird in V. 5a (und später in dem noch einmal persönlich an Timotheus gerichteten Abschnitt 18–20) in Gestalt des zugehörigen Substantivs παραγγελίας wieder aufgenommen und in offensichtlichem Kontrast zu den negativen Bestimmungen in V. 3bf positiv fortgeführt. V. 6f greift nochmals auf die schon in V. 3 genannten τινες zurück und beurteilt sie anhand der in V. 5 genannten Kriterien.


Historischer Hintergrund

Gleich am Anfang stellt sich auch die historische Frage. Paulus spielt hier erstens auf einen mit Timotheus gemeinsamen Aufenthalt in Ephesus an, wo er seinen Mitarbeiter zurückließ, um selbst nach Makedonien zu reisen. Zweitens nennt er dessen Aufgaben, die wiederum ein (wenn auch undeutliches) Spiegelbild der dortigen Situation sind. Natürlich ist es reizvoll und vielleicht sogar naheliegend, in diesem Zusammenhang mit Robinson an Apg 20,1–3 zu denken. Dort befand sich der Apostel wohl im Jahr 56 (55?) auf seiner dritten Missionsreise in Ephesus. Er nahm Abschied mit dem Ziel πορεύεσθαι εἰς μακεδονίαν (20,1), was 1Tim 1,3 entsprechen könnte. Nur wird in Apg 20,4 unter seinen Begleitern auf dem Weg durch Makedonien und Griechenland ausdrücklich auch Timotheus genannt. Das heißt, dass dieser offensichtlich nicht in Ephesus zurückblieb. Von einem weiteren Aufenthalt des Paulus in Ephesus erfahren wir aber aus der Apg nichts. Die Hinweise 1Kor 15,32 und 2Kor 1,8ff beziehen sich wahrscheinlich auf die Zeit, die Paulus auf seiner dritten Missionsreise dort verbrachte. Die bessere Lösung ist also die Einordnung der Pastoralbriefe nach den in der Apostelgeschichte berichteten Ereignissen.


III

3 Sehr direkt kommt Paulus auf sein Anliegen zu sprechen. Er erinnert Timotheus an die vor seiner Abreise empfangene παράκλησις. Sehr schön kommt hier der schillernde Charakter dieses griechischen Wortstammes zur Geltung. Hatte schon das verbum simplex καλεῖν ein relativ breites semantisches Spektrum, so gilt dies ebenso für das verbum compositum παρακαλεῖν. Bauers Wörterbuch nennt u.a. folgende Bedeutungen: herbeirufen, einladen, zu Hilfe rufen, aufrufen, auffordern, ermahnen, anrufen, bitten, ersuchen, ermuntern, zusprechen, trösten, gut zureden, freundlich zusprechen, gute Worte geben. Von den Bestandteilen des Wortes (Präposition παρά + Wortstamm καλ-) her kann man als allgemeine Bedeutung annehmen: „von der Seite her ansprechen“. Damit kann nun ein motivierend-ermutigendes Ansprechen ebenso gemeint sein wie ein autoritativ-weisendes. Wichtig ist aber: „von der Seite her ansprechen“ kann nur jemand, der neben einem steht. Παρακαλεῖν ist kein Terminus der Befehlssprache, die von „oben“ nach „unten“ verwendet wird. Paulus, der ja durchaus seine Stellung kannte, fand trotzdem den Ton, mit seinen Mitarbeitern auf gleicher Ebene zu reden und ihre Kompetenz und Eigenständigkeit dadurch ernst zu nehmen und ihren Dienst zu würdigen (vgl. 2Kor 8,6 mit Titus). Seine Autorität hing nicht nur mit dem Amt zusammen, in das er sich gerufen wusste, sondern auch mit seiner Sachkompetenz und seinem vorbildlichen Einsatz. Wir dürfen trotz mancher Problemfälle von einer im Ganzen vertrauensvollen Zusammenarbeit im paulinischen Missionswerk ausgehen. Geradezu programmatisch führt der Apostel neben seinem „Lieblingswort“ für solchen Zuspruch das Verb παραγγέλλειν ein, das in unserem Brief einen wichtigen Platz einnehmen wird. Programmatisch deshalb, weil er der παραγγελία von ihrer Funktion im Gemeindebau her in 1,5 einen hohen Stellenwert geben wird. Sie wird damit geradezu zu einer Zusammenfassung dessen, was Timotheus in Ephesus tun soll.

Lukas verwendet in Apg 18,18 denselben Terminus προσμένειν für das Verweilen des Apostels in Korinth. Im Kontext dieser Stelle kommt deutlich das Moment des zagenden Bleibens, also des „Ausharrens“ zum Ausdruck: Trotz des massiven Widerstands seiner Gegner ergriff Paulus nicht die erste Gelegenheit, sich von dort abzusetzen. Vielmehr blieb er trotz Schwierigkeiten noch eine Weile in der Stadt. In diesem Sinne ist auch diese Stelle zu verstehen. Timotheus’ Zurückbleiben in Ephesus steht unter einer klaren Weisung: … damit du einigen verbietest, anders zu lehren … (V. 3). Hier ist ein semantischer Wechsel zu beobachten, indem nun – im Verhältnis zwischen Timotheus und bestimmten Personen in Ephesus – doch die Befehlssprache Verwendung findet: παραγγέλλειν (vgl. auch 4,11; 5,7; 6,13.17) wird im profanen wie im biblischen (und diesem benachbarten) Griechisch „von Respektspersonen aller Art“ verwendet, die verbindliche Anweisungen geben. In 1Tim wird dies zu einer wesentlichen Komponente des Auftrags, den Timotheus zu erfüllen hat. Allerdings schwingt auch hier das persönliche Element mit: Im Unterschied zu κελεύειν, das ja auch zur Verfügung gestanden hätte und für den sachlichen Befehl steht, wird mit παραγγέλειν „der Betroffene ganz persönlich angesprochen u verpflichtet“. Schmitz verweist aber auch auf den besonderen, im „messianischen Heilshandeln des Schöpfers“ begründeten Charakter, den das Wort im 1Tim gewinnt und der es „grundsätzlich von allen religiösen oder ethischen Vorschriften“ unterscheidet.

4 Das „Verbot“, das Timotheus vermitteln soll, konkretisiert Paulus (wohl immer noch im Rückbezug auf die mündlich erteilte Weisung): anders lehren, sich mit Mythen und endlosen Genealogien befassen. Zu fragen ist zunächst, ob das μηδέ koordinierend oder subordinierend – also explikativ – aufzufassen ist, d.h. ob das anders lehren als Oberbegriff dient. Auch hier erweist sich der lukanische Sprachgebrauch als verwandt: Wie in 1Tim 6,17, so ist auch Apg 4,18 παραγγέλειν mit μή + Inf. und μηδέ + Inf konstruiert (ähnlich Apg 21,21 λέγειν). In allen Fällen stehen im Inf. zwei vom Sinn her verwandte, aber nicht identische Verben. Analog ist auch 1,3f zu interpretieren. Ἑτεροδιδασκαλεῖν ist wohl eine spezifisch christliche Bildung. Es kommt außer an dieser Stelle nur noch 1Tim 6,3 als Briefinclusio (und IgnPol 3,1) vor, ein Zeichen dafür, dass zur Zeit der Abfassung des 1Tim die Irrlehre nicht nur faktisch geübt wurde (das war auch früher schon der Fall!), sondern dass sie als solche thematisiert wurde. Die recht blasse Beschreibung bekommt vorerst ein wenig Farbe durch das dazu gesetzte Verbot, sich mit Mythen und endlosen Genealogien zu befassen. Die Verbindung beider Begriffe findet sich (recht unspezifisch) schon bei dem hellenistischen Historiker Polybios (Hist. IX 2). Es muss also gefragt werden, ob Paulus mit ihnen konkretere Vorstellungen verbindet. Beiden lassen sich im griechischen, im jüdischen und im gnostischen Kontext verorten. Die Erstellung von Stammbäumen (im Judentum auch rechtlich bedeutsam mit Blick auf den Landbesitz, bei den Griechen interessant hinsichtlich der Götter- und Halbgötterfamilien, für die Gnosis von Bedeutung für die Paulus schon bekannten Äonen- und Archontenlehren [1Kor 2,6.8]) könnte ebenso gemeint sein wie die spekulative Auslegung atl. Stammbäume. Endlos ist zweifellos abschätzig gemeint und könnte durchaus die Konnotation von „sinnlos, nutzlos“ haben.

Es ist allerdings hier noch nicht der Ort, eine Identifizierung der Gegner des Paulus in Ephesus zu versuchen. Zu wenig gibt der Text an dieser Stelle her. Es werden sich aber im Verlauf der Auslegung weitere Mosaikstückchen finden. 1Tim 1,3f gibt folgende Konturen:

1) Es handelt sich offenbar um eine abgrenzbare Gruppe (τισίν), die
2) dem Einfluss des Timotheus ausgesetzt ist, also zur Gemeinde gehört,
3) großes Interesse (προσέχειν) an
4) „endlosen Mythen und Genealogien“ hat und
5) dadurch gedankliche Beschäftigung (ἐκζητήσεις) mit diesen erfordert,
6) die nach Paulus besser dem Heilsplan (οἰκονομία) Gottes gelten sollte.

Die deutschsprachige Exegese bleibt weitgehend ihrer traditionellen Einschätzung treu, die Gegner in den Pastoralbriefen seien im Umkreis der Gnosis zu suchen (Merkel, Roloff, Brox, Oberlinner). Während unter den neueren englischsprachigen Kommentaren Johnson eher zu zurückhaltendem Umgang mit den Informationen rät, die uns der 1Tim bietet, findet Mounce, dass jüdische, protognostische, hellenistische und andere Elemente deren Erscheinungsbild ausmachen. Dabei versucht er allerdings, unter der Überschrift „The Ephesian Heresy“ die Informationen aller drei Pastoralbriefe zusammen zu fassen. Umfangreich ist seine Liste der Punkte, die auf jüdischen Hintergrund weisen. Er kommt zu dem Schluss, dass „the heresy does not appear to be mainstream Judaism“. In gnostische Richtung geht die von den Gegnern offenbar vertretene Askese, ihre Freizügigkeit, eine spekulative Aufnahme des AT, die Geringschätzung des Leiblich-Physischen. Marshall spricht sich gegen die Gnosis-Hypothese aus und votiert für eine Verbindung von jüdischen, christlichen und asketischen Elementen: „We have to do with a group of Jewish Christians, perhaps travelling teachers with an ascetic streak, who were active within the Pauline mission area.“ Diese Meinung dürfte auch einem Trend der neueren deutschen Forschungen zum religionsgeschichtlichen Hintergrund des Epheserbriefs entsprechen (vgl. Schlier, Schnackenburg, Gnilka).

Die Erwägungen über den Charakter der Gegner in Ephesus zur Zeit des 1Tim haben sich verständlicherweise oft an die auch aus anderen Zusammenhängen bekannten und weltanschaulich einzuordnenden Begriffe μῦθος und γενεαλογία gehängt, die inhaltlichen Aufschluss geben können, sofern sie in einem spezifischen Sinn zu verstehen sind. μῦθος kommt im NT nur in den Pastoralbriefen (1Tim 1,4; 4,7; 2Tim 4,4; Tit 1,14) und im 2Ptr (1,16) vor. Der Vergleichsrahmen ist also ziemlich eng abgesteckt. Was ist mit dem Wort gemeint? Es hatte seinen festen Platz im Denken der Griechen als Bezeichnung der Göttergeschichten, die in der griechischen Religion der frühen und (in veränderter Form) auch der späteren Zeit eine wichtige Rolle spielten. Ihre Priester konnten auch ἐξηγήται τῶν μῦθων genannt werden. Im Volk waren die Mythen mit ihren drastisch-anthropomorphen Schilderungen der Götterwelt beliebt, wenngleich die Gebildeten sie schon früh allegorisch verstanden und spätestens seit dem 5./4. Jh. (Plato) wegen der in ihnen auftretenden lockeren Moral, ihrer Einfalt und ihrer Unwahrheit Mythoskritik übten. Bereits Plato unterscheidet den verlässlichen, glaubwürdigen Logos vom Mythos.

Weist also dieser Terminus vorläufig eher in Richtung Griechentum (vgl. aber Tit 1,14!), vielleicht tatsächlich zu einer Frühform der Gnosis, so könnte der Hintergrund der Genealogien das Judentum sein. Denn dort legte man Wert auf „Geschlechtsregister“ als Nachweis der Herkunft, wie besonders der Pentateuch, dann aber im NT auch die Evangelien (Mt 1,1–17; Lk 3,23–38) belegen. Denn damit hing wiederum das Anrecht auf einen bestimmten Teil des dem Volk von Gott zum Erbbesitz gegebenen Landes zusammen. Philo konnte die gesamte Geschichtsdarstellung des Pentateuch in einen „historischen“, die Kosmogonie betreffenden, und einen „genealogischen“ Teil gliedern, wobei letzterer, also die (frühe) Menschheitsgeschichte, die Bestrafung der Gottlosen und die Ehrung der Gerechten zum Inhalt habe (zu Ex 2,17). Das nachgestellte Adjektiv ἀπεράντοις wirft ein negatives Licht auf Mythos und Genealogie. Es bezieht sich auf beide Begriffe, die zusammen „in der hellenistischen Literatur Bezeichnung für mythologische Geschichtsschreibung“ waren.

In der Gemeinde in Ephesus wirkte die angesprochene Gruppe negativ, indem sie durch ihr Interesse an diesen letztlich nicht lösbaren (deshalb ἀπεράντοις) „Lieblingsproblemen“ (Lehr-)Debatten (Jeremias: „Tüfteleien“) auslöste, anstatt (μᾶλλον + ἢ hat hier ausschließenden Sinn) Gottes Heilsplan im Glauben zu fördern. Dass οἰκονομία hier eher „Heilsplan“ als etwa „Heilsordnung“ bedeutet, zeigt sich auch an der heilsgeschichtlichen Terminologie im Kontext (τέλος, παραγγελία V. 5). Grammatisch bezieht sich das Wort auf παρέχουσιν zurück und bezeichnet also die Alternative zu dem, womit sich die Irrlehrer befassen. Die Ergänzung ἐν πίστει im Glauben macht unmissverständlich klar, welchen Beitrag die menschliche Seite dazu leisten kann. Es geht Paulus im 1Tim nach diesem programmatischen Satz nicht um christliche Bürgerlichkeit, sondern um den Kern seines Auftrags überhaupt: um das Evangelium (V. 11!), das im Glauben anzunehmen ist.

5 V. 5 setzt diese Linie fort, indem einmal das Stichwort παραγγελ- aufgenommen, zum andern durch τὸ τέλος via negationis gezeigt wird, was im Unterschied zu den „endlosen Debatten“ hinsichtlich Gottes Heilsplan tatsächlich zum Ziel führt. Mit dem Stichwort Liebe ist dann die Trias von 1Kor 13,13 wieder komplett (1,1.2.4.5). Die ganze Maßnahme, die Aufgabe des Timotheus in Ephesus, dient einem positiven Ziel: Liebe aus reinem Herzen und gutem Gewissen und ungeheucheltem Glauben. Damit spricht Paulus erneut das Verhältnis der Gemeindeglieder untereinander an. Die Liebe, deren Lob der Apostel in 1Kor 13 gesungen hatte, soll auch in Ephesus, der wichtigsten (Offb 2,1) Gemeinde Kleinasiens, die Beziehungen gestaltend durchdringen. Durch die Offb sind wir in der glücklichen Lage, rund 30 Jahre später noch einmal einen Blick auf die Situation der Gemeinde werfen zu können. Das Ergebnis ist wenig ermutigend: „Ich werfe dir vor, dass du die erste Liebe verlässt“, sagt der erhöhte Herr den Ephesern. Offensichtlich folgte Paulus einer berechtigten Regung, als er schon im 1Tim gerade diesen Punkt anmahnte. Begründet der Apostel damit den Gegensatz von „Streit um die Lehre“ einerseits und „Umgang in Liebe“ andererseits? So hat es zunächst den Anschein, denn das δε setzt ja V. 5 in Gegensatz zu V. 3b–4. Allerdings ging es dort ja nicht um Lehrstreitigkeiten, über die Paulus nun den Mantel einer alles zudeckenden Lieben werfen würde. Er hat selbst diesen Streit nie gescheut und oft geführt. Vielmehr hat er die von den Gegnern vertretene Meinung abschließend als „andere Lehre“ qualifiziert. Damit ist ein Gespräch nicht mehr sinnvoll und möglich. Gerade die Ausgrenzung der abweichenden Lehre im Sinne ihrer Überwindung führt zu erneuerter Integration der Irrlehrer und eben so zu erneuerter Liebe.

Das Wesen der ἀγάπη kommt erst im Vergleich mit anderen Begriffen der griechischen Sprache, die wir im Deutschen allesamt etwas platt mit „Liebe“ zu übersetzen pflegen, zu seinem Profil. Stauffer hat die Begriffe ἔρως und ἀγάπη so nebeneinander gestellt: „Der ἔρως ist von Hause aus die Allerweltsliebe, die bald hier, bald dort ihre Befriedigung sucht. Ἀγαπᾶν ist eine Liebe, die Unterschiede macht, die ihren Gegenstand wählt und festhält. Der Eros ist von einem mehr oder minder unbestimmten Drang nach einem Objekt bestimmt. Ἀγαπᾶν ist vom Subjekt her bestimmt, ist freie, entschiedene Tat. Ἐρᾶν wird im höchsten Sinne von dem Drang des Menschen nach oben, von der Liebe zum Göttlichen gebraucht. Ἀγαπᾶν geht vornehmlich auf die Liebe Gottes, die Liebe des Höheren, die den Geringeren emporhebt, über andere hinaushebt. Der Eros sucht im andern die Erfüllung des eigenen Lebenshungers, Ἀγαπᾶν muss oft übersetzt werden mit „Liebe erweisen“; es ist ein schenkendes, tätiges Lieben, das dem andern zugute kommt“. Als dritten Terminus stellt Stauffer noch φιλία daneben. Er „bezeichnet zumeist die Neigung, die fürsorgliche Liebe …“ Und weiter: „… diese Liebe ist Adel, ist Bestimmung, Aufgabe, der sich der Mensch nicht entziehen kann, nicht Trieb und Rausch, der ihn überkommt“.

An solche Liebe innerhalb der Gemeinde ist also gedacht, freilich – wie der Kontext V. 3f zeigt – nicht ausschließlich, ja nicht einmal in erster Linie hinsichtlich der zwischenmenschlichen Beziehungen der Gemeindeglieder untereinander. Im Vordergrund steht, was die Liebe mit Lehrfragen zu tun hat. Es ist ein für uns fast unbekannter Aspekt, dass die exklusive Liebe, um die es hier geht, auch in den theologischen Bereich gehört, denn Paulus prangert ja nicht ethische Verirrungen an, sondern Vermischungen im Bereich der Lehre, die sich freilich unweigerlich auch im Umgang mit Menschen auswirken werden. Sie beheben heißt: die Liebe wiederherstellen.

Diese wird sogleich dreifach bestimmt: Es ist Liebe aus reinem Herzen und gutem Gewissen und ungeheucheltem Glauben (V. 5). In der biblischen Anthropologie ist das Herz – anders als in unserem Denken – nicht mit dem Gefühl in Verbindung gebracht. Es ist vielmehr das Organ, mit dem der Mensch die wichtigen Entscheidungen des Lebens trifft. Wird von ihm Reinheit erwartet, so kann dabei nicht an kultische Reinheit im atl. Sinne gedacht sein. Eben weil das Herz Entscheidungsinstanz ist, geht es hier um die Reinigung von allem die geforderte Liebe gefährdenden Denken (vgl. 1Petr 1,22), von aller Verhaftung an gottloses Wesen im Sinne von 1Thess 1,9f. Hauck spricht in diesem Zusammenhang von der „Rückhaltlosigkeit der vollzogenen Hinkehr zu Gott“. Mit dieser ersten Bestimmung chiastisch verbunden spricht Paulus zweitens von der Liebe, die aus gutem Gewissen kommt. Schon Röm 2,15 stellt er beide Begriffe in gleicher Weise verbunden und unterschieden nebeneinander: Gottes Wille ist dem Menschen in das Entscheidungsorgan „Herz“ geschrieben und wird ihm durch das „Gewissen“ bewusst gemacht. Im AT fehlt bekanntlich ein Terminus für „Gewissen“, u.a. weil „die alttestamentliche Reflexion des Ich über sich selbst … das gehorsame Hören auf Gott [ist]. Damit wird auf das in sich widerstreitende Ich zu einer einheitlichen Person, die dem redenden Gott gegenübersteht. Das Ge-wissen wird zum Gehören im Sinn des willentlichen Angehörens“. Diese letzte Aussage weist auf die Schnittmenge von „Herz“ und „Gewissen“ hin. Paulus „versteht das ‚Gewissen‘ als eine Instanz im Menschen, also nicht nur als Bewusstsein“.221 Es hat nicht zuerst die Aufgabe zukünftiges Verhalten vorzuschreiben, sondern vergangenes Verhalten anhand bestehender Grundsätze zu beurteilen und dieses Urteil dem Menschen bewusst zu machen, wobei im Blick auf den gläubig gewordenen Menschen von einer Erneuerung des Gewissens nicht ausdrücklich die Rede ist. Auszugehen ist von einer allgemein-anthropologischen Einschätzung des Gewissens, was aber eine Veränderung beim Christen nicht ausschließt.

Συνείδησις ἀγαθή meint nach Maurer mehr als bloß das sozusagen unbelastete, neutrale Gewissen: „Es ist mit großer Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass der Verfasser der Pastoralbriefe an die Erneuerung des Menschen durch die Neuschöpfung im Glauben denkt, die die gesamte christliche Existenz umfaßt“. In diesen Kontext passt dann auch der ungeheuchelte Glaube“. Weil christlicher Glaube immer einen Inhalt hat, kann dieser Inhalt auch verfälscht sein (V. 3f). Wenn die oben angedeutete Richtung stimmt, dass Paulus in diesem Zusammenhang nämlich nicht von der zwischenmenschlichen ἀγάπη redet, sondern im Kern von der Liebe zu Gott, und wenn wir den Glauben als ein personales Verhältnis zu Gott verstehen, dann ist deutlich, dass der Zusatz ἀνυποκρίτου sich ebenfalls nicht auf das Vortäuschen von Glauben vor Menschen beziehen kann. Auch hier ist Gott gemeint, „der die Herzen erforscht“ (Röm 8,27), dem man nichts vormachen kann. Das Substantiv ὑποκρίτης meint in aller Regel zunächst den „Schauspieler“, wird aber in der frühchristlichen Literatur häufig in übertragenem Sinn verwendet. Es geht also um den „echten“, nicht nur „gespielten“ Glauben. So verstanden meinen die drei Bestimmungen der ἀγάπη im Kern ein und dasselbe, nämlich die geklärte Gottesbeziehung.

6 In V. 6 ist ὧν auf die drei in V. 5 erwähnten Tugenden als Aspekten der christlichen Liebe zu beziehen. Die hier genannten τινές könnten mit denen von V. 3b identisch oder eine Teilmenge von jenen sein. Es ist richtig: Paulus stellt hier nur einen „Holzschnitt“ seiner Gegner her, d.h. er zeichnet gewisse Grundmerkmale aller Irrlehrer nach: Sie sind nämlich (1) davon abgeirrt, zunächst wohl nur in kleinen Schritten veränderten Verhaltens und ohne die Konsequenz vor Augen zu haben. Seelsorgliche Erfahrung bestätigt diese Sicht: Bei vielen, die sich letztendlich vom Glauben abwenden, beginnt dieser Weg mit ethischen Entscheidungen, die aber nicht ohne Folgen auf den Glauben bleiben. Denn dann haben die Irrlehrer (2) den Schritt vom Verhalten zur Sprache und zum Denken, genauer: zur Lehre gemacht und sich nichtigem Geschwätz zugewandt. Μάταιος meint „den sinnlosen Aufbau einer Scheinwirklichkeit gegenüber der allein gültigen Wirklichkeit Gottes bzw. … die skeptische Resignation angesichts der Gottesferne in der Wirklichkeit dieser Welt“. Viele Weltanschauungen konstruieren eine in sich tatsächlich stimmige Gesamtorientierung, die aber von Gott, wie ihn die Bibel beschreibt, ganz absieht. Das Urteil des Paulus darüber ist hart, entspricht aber dem Duktus seiner Aussagen auch in anderen Briefen.

7 Die Gegner möchten (3) gern als Gesetzeslehrer betrachtet werden, ein Stand, der offenbar auch in den paulinischen Gemeinde zur Zeit der Abfassung des Briefs Ansehen genoss. An den beiden übrigen Stellen im NT sind Lehrer des jüdischen Gesetzes gemeint. Autoritäten in Sachen „Auslegung“ und „Lehre“ möchten sie sein, erweisen sich dabei aber (4) als Leute, die im Grunde nicht wissen, was sie sagen, noch worüber sie zuversichtlich sprechen. Unkenntnis tritt gern in Verbindung mit hohem Anspruch und starkem Selbstbewusstsein auf, wirkt dann aber nicht selten arrogant und ist selbst meist unbelehrbar – daran hat sich in zwei Jahrtausenden nicht viel geändert. Ob Paulus deshalb an dieser Stelle auf eine (in manchen Kommentaren angemahnte) inhaltliche Auseinandersetzung verzichtet? Oder vielleicht weil er be 1Timotheus voraussetzte, dass dieser wusste, wie ihnen zu begegnen war?


IV

Der Kampf gegen falsche Lehre zieht sich durch die Geschichte der Kirche wie ein Kontrapunkt. Die Kirche der Gegenwart hat hier Entscheidendes verloren. Ihr fehlt der Mut, zwischen richtiger (= schrift- und bekenntnisgemäßer) und falscher Lehre zu unterscheiden und wenn nötig entsprechende Trennungen zu vollziehen, und ihr fehlt die Klarheit zu entscheiden, was eigentlich angesichts des pluralistischen Spektrums der Theologie richtig und was falsch ist. Nach CA VII ist jedenfalls im lutherischen Bereich das discernere, das Unterscheiden sowohl der Lehre (schrift- und bekenntnisgemäß) als auch der Geister, Aufgabe der Bischöfe. Aber welcher Bischof hätte noch den Mut und die Macht, sich gegen theologisches Spezialistentum durchzusetzen? Welche Kirchenleitung, welche Synode würde ihm darin folgen? Häufig bleibt es bestenfalls beim Nebeneinanderstellen dessen, was tatsächlich an Meinungen in einer Kirche und in der Theologie vorhanden ist. Unser Text bleibt deshalb Mahnung und Prüfstein zugleich.

Aber auch auf der anderen Seite bleiben die Aussagen unseres Abschnitts aktuell: Irrige Lehren und irrende Lehrer entstehen selten von einem Augenblick zum andern. Ein langer Weg führt dort hin, der nicht selten mit relativ geringen ethischen Abweichungen beginnt, dann aber zu immer deutlicheren Differenzen auch im Bereich der Lehre führt. Von menschlich-persönlichen Eigenarten einmal abgesehen, handelt es sich in der Lehre häufig um die unangemessene Überbewertung einzelner Elemente christlichen Glaubens (Helmut Thielicke spricht anschaulich von einer „Elephantiasis“), d.h. es wird diesen Elementen ein Platz und ein Gewicht gegeben, die ihnen nicht zukommen. Handelt es sich dann auch noch um einen enthusiastisch-charismatischen „Führertyp“, so wird es an Anhängern nicht fehlen.


3. Weisung an Timotheus (1Tim 1,8–20)


I

8 Wir wissen aber: Das Gesetz ist gut, sofern es jemand sachgemäß gebraucht 9 in dem Wissen, dass das Gesetz nicht dem Gerechten bestimmt ist, sondern Gesetzlosen und Widersetzlichen, Gottlosen und Sündern, Unheiligen und Profanen, Vatermördern und Muttermördern, Mördern, 10 Unzüchtigen, Päderasten, Menschenhändlern, Lügnern, Meineidigen und wenn etwas anderes der gesunden Lehre entgegensteht, 11 gemäß dem herrlichen Evangelium von dem glückseligen Gott, das mir anvertraut worden ist.

12 Ich danke Christus Jesus, unserem Herrn, der mich stark gemacht hat, weil er mich als zuverlässig angesehen und in den Dienst eingesetzt hat, 13 obwohl ich früher ein Lästerer und Verfolger und Hochmütiger war, aber er hat sich meiner erbarmt, weil ich [es] unwissend im Unglauben tat. 14 Die Gnade unseres Herrn war aber überreich mit Treue und Liebe, die in Christus Jesus ist.

15 Zuverlässig ist das Wort und aller Annahme wert:

Christus Jesus kam in die Welt, um Sünder zu retten, von denen ich der Erste bin. 16 Aber deshalb erfuhr ich Erbarmung, damit Christus Jesus an mir als erstem die ganze Langmut erweise als Muster für die, die künftig an ihn glauben zum ewigen Leben.

17 Dem König der Ewigkeiten,
dem unsterblichen, unsichtbaren, einzigen Gott,
[gehört] Ehre und Herrlichkeit in die Ewigkeiten der Ewigkeiten. Amen.

18 Diese Weisung übergebe ich dir, mein Kind Timotheus, entsprechend den früher über dich ergangenen Prophetien, damit du durch sie den guten Kampf kämpfst, 19 Glauben hast und ein gutes Gewissen, das einige von sich gestoßen und hinsichtlich des Glaubens Schiffbruch erlitten haben, 20 zu denen gehören Hymenaios und Alexander, die ich dem Satan ausgeliefert habe, damit sie gezüchtigt werden und nicht [mehr] lästern.


II Aufbau

Der vorliegende Abschnitt, der das Proömium fortsetzt, ist deutlich erkennbar als Vertiefung und Abrundung des ersten, einführend-programmatischen Argumentationsgangs (1,3–7) strukturiert. Er lässt sich in vier Teile gliedern, wobei die Teile 1 und 3 inhaltlich im engeren Sinne theologisch (θεός V. 11. 17), der zentrale und umfangreiche zweite Teil christologisch (viermal Χριστός Ἰησοῦς V. 12.14.15.16) ausgerichtet ist. Sprachlich und theologisch sind die vier Teile zudem durch die achtmal vorkommende Wortwurzel πιστ- (V. 11–16.19) miteinander verknüpft. V. 18–20 konkretisieren die zuvor geäußerten Gedanken im Blick auf die Aufgabe des Timotheus.

8–11
Wem gilt das Gesetz?
12–16
Gottes Gnade zeigte sich an Paulus exemplarisch
17
Doxologie
18–20
Die daraus resultierende Aufgabe des Timotheus

Von einer einheitlichen literarischen Form kann keine Rede sein. Vielmehr fällt in diesem Text gerade die Vielfalt der Formen auf. Dabei hebt sich besonders ein „Lasterkatalog“ (V. 9f; vgl. noch 1Tim 6,4f; 2Tim 3,2–5; Tit 3,3) und eine Doxologie (V. 17) heraus. Von den Kleinformen wird in der Einzelexegese zu handeln sein.


Historischer Hintergrund

Deutete bereits die Beschreibung der Gegner in Ephesus als „Möchte-gern-Gesetzeslehrer“ (V. 7) auf einen jüdischen Hintergrund, so führt die vorliegende Perikope diese Annahme zur Gewissheit. Auch fast zwanzig Jahre nach dem Galaterbrief, den ich in das Jahr 48 datiere, rund ein Jahrzehnt nach den Korintherbriefen und dem Schreiben an die römische Gemeinde hat den Apostel die alte Frage nach der Bedeutung des Gesetzes nicht losgelassen. Wir haben es hier nicht mit Vertretern einer bereits entwickelten Form der (christlichen) Gnosis zu tun.230 Sie hängen vielmehr eng mit dem Judentum zusammen, wenn anders die Argumentationshilfen sinnvoll und treffend sein sollen, die der Apostel seinem Schüler gibt. Jeremias weist auf drei auch für die Datierung zu beachtende Merkmale hin, nämlich (1) auf das offenbare Fehlen eines großen gnostischen Lehrsystems, (2) auf den judaisierenden Charakter und (3) auf die Tatsache, dass die Irrlehrer noch nicht definitiv von der Gemeinde getrennt sind. Dies hat sich zur Zeit der Abfassung der Offb in den 90er-Jahren geändert.


III

8 Die sprachliche Nähe zu den übrigen Paulusbriefen belegen die formelhaften Wendungen οἴδαμεν δὲ ὅτι (V. 8) und εἰδὼς τοῦτο ὅτι (V. 9; vgl. 2Tim 2,23; 3,14; Tit 3,11; Phlm 21). Im Römerbrief, der ja an eine dem Apostel persönlich noch unbekannte Gemeinde gerichtet ist und in dem es ihm darauf ankommen musste, die trotzdem bestehenden Gemeinsamkeiten herauszustellen, verwendet er fünfmal die Formel οἴδαμεν (δὲ/ γὰρ) ὅτι … Sie stellt den Bezug zu gemeinsam Geglaubtem her und verleiht der nachfolgenden Feststellung im Indikativ feierlichen Nachdruck. Ähnliches beobachten wir im 1Kor, der mehr im Zeichen der Konfrontation steht. Die Wendung kommt dort zweimal positiv vor, charakteristischer Weise aber auch zehnmal negativ in der Frageform οὐκ οἴδατε ὅτι …, indem Paulus die Gemeinde auf eigentlich selbstverständliche Inhalte gemeinsamen Glaubens anspricht, die aber offenbar für die Korinther alles andere als unumstritten sind. So auch hier in der Auseinandersetzung mit den Möchte-gern-Gesetzeslehrern (1,7): Es fiel dem Apostel nach Röm 7,7.12–16 nicht schwer, unter den Satz, dass das Gesetz gut sei, seinen Namen zu setzen. Freilich dachte er dabei an das Gesetz als für die Lebensgestaltung des Menschen hilfreiche, ja verpflichtende Willensäußerung Gottes (er nennt das „dem Wesen des Gesetzes entsprechend“, νομίμως und spricht sogar von einer „Benutzung“ des Gesetzes“), nicht mehr als Heilsweg, d.h. als die Methode des als Typus verstandenen (jüdischen) homo religiosus, Gottes Wohlwollen zu erringen und zu sichern. Um eben diesen Punkt hatte er ja schon im Gal und später auf dem Apostelkonzil die Auseinandersetzung geführt. Es ging dabei im Kern um die Frage, ob Jesus Christus für alle Menschen den unmittelbaren Zugang zu Gott eröffnet habe, oder ob der Weg zum Vater auch post Christum nur über den „Umweg“ der formellen Zugehörigkeit zum atl. Bundesvolk Israel (und das hieß: durch Beschneidung und Gesetzesgehorsam) zu beschreiten sei, ob also Jesus nicht mehr sei als „nur“ der erwartete Messias für Israel.

9 Allerdings spricht Paulus, dabei über Röm 7,(12).16 hinausgehend, sogleich in der grammatischen Form des Potentialis von der bedingten Güte des Gesetzes, die von der Art seines Gebrauchs abhängig ist: … sofern es jemand sachgemäß gebraucht in dem Wissen, dass das Gesetz nicht für den Gerechten – und das heißt für Paulus nach Tit 3,4–7: für den von Gott um Christi willen Gerechtfertigten! – bestimmt ist. Mit dieser letzten Behauptung geriet er in Gegensatz zum Judentum und damit auch zu seinen Gegnern in Ephesus. Denn nach jüdischer Auffassung war das Gesetz sehr wohl „für den Gerechten bestimmt, ja im oben beschriebenen Sinne gerade für ihn (Ps 1!). Selbst der Messias bringt nach rabbinischer Meinung keine neue Tora, vielmehr studiert, hält und lehrt er sie. Auch hier bewegt sich 1Tim in paulinischen Bahnen, indem der den Sünder überführende Charakter des Gesetzes hochgehalten wird (vgl. Röm 3,20).

In zweifacher Weise erläutert er diese Sicht des Gesetzes, welche die uns aus den übrigen Paulusbriefen bekannten Einsichten ergänzt: (1) Der Gegensatz νόμος ⇔ ἀνόμοις macht deutlich, dass die in dem am Dekalog orientierten Lasterkatalog Aufgeführten eben dem Gesetz zuwider leben. Indem er dann aber (2) diese Vergehen als Gegensatz (κεῖται ⇔ ἀντίκειται umschließt den Lasterkatalog!) zur „gesunden Lehre“ festmacht, stellt er eine enge Verbindung zwischen Gesetz und „gesunder Lehre“ her, jedenfalls was Geltung und Würde angeht. Außerdem ordnet er durch V. 11 den sachgemäßen Gebrauch des Gesetzes dem Evangelium zu und unter, macht es zum Maßstab des Gesetzes und widerspricht damit der These seiner Gegner, die seine Gesetzesobservanz zum Kriterium seiner Legitimität als Apostel und seiner „Orthodoxie“ machen wollen.

Dass νόμος hier tatsächlich den Gotteswillen meint, wird unzweifelhaft deutlich an der exemplarischen Anwendung in Gestalt des Lasterkatalogs (V. 9f), der aus 15 Gliedern besteht. Die ersten fünf Glieder sind jeweils mit α privativum gebildet, d.h. sie haben ein Defizit im Blick, Eigenschaften bzw. Verhaltensweisen, die eigentlich erwartet werden müssten, aber bei der betreffenden Person nicht vorhanden sind. Insgesamt führt der Katalog – wie längst erkannt wurde – am Dekalog entlang. Ob man allerdings die ersten drei Begriffspaare den drei ersten Geboten im Einzelnen zuordnen kann und sollte, erscheint fraglich. Die Gesetzlosen und Widersetzlichen stehen m.E. ganz allgemein für jene, die den Gehorsam gegen den Willen Gottes und die Einfügung in die ja ebenfalls von Gottes Gebot gegebene gesellschaftliche Ordnung Israels ablehnen. Als gesetzlos (ἄνομος) galt schon den Griechen ein Mensch, der die bestehenden Gesetze durch sein subjektives Verhalten faktisch als für sich ungültig missachtete. Widersetzlich (ἀνυπότακτος) nannten sie den, der nicht bereit war, sich bestehenden Regeln zu unterwerfen, sich einzuordnen. In der alten Zeit galt die möglichst weitgehende menschliche Autonomie und Unabhängigkeit im Sinne unseres neuzeitlichen Individualismus noch nicht als erstrebenswert. In der Regel war die Einfügung in die bestehenden Ordnungen der Gemeinschaft das Ideal (s.u.). Dem entspricht auch die weitere Verwendung des Wortes in den Pastoralbriefen, wo es um die Unterordnung unter den Vater bzw. unter die Repräsentanten der „gesunden Lehre“ geht (vgl. Tit 1,6.10). In den beiden ersten Gliedern des Lasterkatalogs wird demnach ganz allgemein und überschriftartig das Sich-Absetzen vom Gotteswillen apostrophiert.

Konkreter wird die Verbindung zum ersten (und zweiten) Gebot bei den beiden folgenden Charakterisierungen, wo Paulus von den Gottlosen und Sündern spricht. Das Wortpaar ist ein Hendiadyoin, d.h. mit zwei Begriffen wird derselbe Sachverhalt beschrieben. Ἀσεβής bezog sich im griechischen Raum auf die Verweigerung der Teilnahme am offiziellen Kult der Stadt – damals und bis in die Anfänge der Neuzeit hinein ein schwerwiegender Verstoß gegen die Gemeinschaft. In Athen wurden ἀσεβεῖς gerichtlich verurteilt. Dahinter steht der Gedanke von der religiösen Einheit eines Gemeinwesens, das für Dissidenten keinen Platz hat. Mit zunehmender religiöser Indifferenz kam es dann zur Unterscheidung der ἀσέβεια (Kultverweigerung) als des schlimmeren Vergehens von der ἀθεότης (Atheismus) als Ablehnung des Glaubens und der Verehrung von Göttern überhaupt. Diese Entwicklung wurde für die Christen mit zunehmender innerer Distanz und damit einhergehend äußerer Unterscheidbarkeit vom Judentum insofern wichtig, als ihnen im späten 1. und vor allem im 2. Jh. wegen ihres bildlosen Gottesdienstes staatlicherseits mit Recht ἀσέβεια vorgeworfen werden konnte, sie den Vorwurf der ἀθεότης aber zurückwiesen.

Grundsätzlich lässt sich dieser Gedankengang auch auf Israel übertragen. Von der Verpflichtung zum Gesetzesgehorsam im umfassenden Sinn ausgenommen waren nur die nichtisraelitischen Bewohner des Landes, von denen aber immerhin ein Minimum an Respekt vor Israels Religion erwartet wurde, der das praktische Zusammenleben mit ihnen überhaupt erst ermöglichte (vgl. etwa Lev 17,8ff) – ein durchaus aktuelles Thema in einer multikulturell und damit zugleich multireligiös werdenden Gesellschaft! Diese Bestimmungen bildeten dann im frühen Christentum die Grundlage für die Vereinbarungen des Apostelkonzils über die (Mahl-)Gemeinschaft zwischen Juden- und Heidenchristen (Apg 15,19f; 27–29). Im griech. Judentum galt ἀσέβεια nicht als bloße Einstellung, sondern stets als ein Verhalten, ein Tun, und insofern als objektiver Tatbestand, als „die in der Summe der Taten sich kundtuende Gesamtrichtung des Lebens“. Der ἀσεβής war Musterbeispiel für „die vollendete Mißachtung Gottes und seines Willens“. In der weisheitlichen Literatur, die von ihrem Charakter her natürlich besonders an den Gesamteinstellungen der Menschen interessiert ist, steht er häufig im Gegensatz zum δίκαιος, womit der Bogen zu 1Tim 1,9a wieder geschlagen wäre. Die Nähe zur Missachtung des ersten (und zweiten) Gebots ist deutlich.

Ἁμαρτωλός (Sünder) geht in eine ähnliche Richtung, betont aber einen besonderen Aspekt. Von der Grundbedeutung der Wortwurzel ἁμαρτ- als des Verfehlens eines eigentlich zu treffenden Zieles aus ergibt sich die Bedeutung des Adjektivs. Ein ἁμαρτωλός verfehlt etwas in und mit seinem Leben, für den Griechen die in einer menschlichen Gemeinschaft geltenden Normen und Ordnungen, die ja nach seiner Anschauung auch göttlichen Rechts sind, nach biblischem Denken verfehlt er das Entscheidende, den Entscheidenden, Gott selbst. Paulus spricht wenige Verse später (V. 15) im Blick auf die Erlösungstat Christi gewiss nicht ohne Absicht von solchen Sündern.

Auch das dritte Begriffspaar den Unheiligen und Profanen lässt sich nur schwer gegenüber den beiden vorausgegangenen Bezeichnungen profilieren. Ἀνόσιος bezeichnet den Menschen, der sich der pietätlosen „Übertretung altheiliger Ordnungen“ schuldig macht. Βέβηλος meint ganz grundsätzlich „das Profane“ im Gegensatz zum „Heiligen“, auf Menschen angewandt „profane, gottferne Menschen“. Man könnte hier eine Beziehung zum Sabbatgebot herstellen, insofern der Sabbattag eben der zur besonderen Pflege der Gottesbeziehung ausgegrenzte, der „heilige“ Tag ist.

Die drei ersten Begriffspaare des Lasterkatalogs kreisen also um die Themen der (nach lutherischer Zählung) ersten Tafel des Dekalogs, lassen sich allerdings nur schwer bestimmten Geboten zuordnen. Dagegen ist die Bezugnahme der folgenden Bezeichnungen auf das vierte bis achte Gebot eindeutig zu erkennen. Vatermörder und Muttermörder nennen den Extremfall der Übertretung des vierten Gebots. Schon der griech. Philosoph Plato (4. Jh. v.Chr.) kennt der Sache nach das Wortpaar, wenn er auch die Begriffe hier nicht verwendet. Dabei ist an den entehrenden Charakter zu denken, den das Schlagen für die Alten hatte. Dem entspricht übrigens die atl. Übersetzung der LXX in Ex 21,15f, wo es wörtlich heißt: „Wer seinen Vater oder seine Mutter schlägt, soll des Todes sterben. Wer seinen Vater oder seine Mutter verflucht, wird des Todes sterben.“ Ähnliche Aussagen finden sich in der Fluchliturgie Deut 27,16. Das Judentum zur Zeit Jesu konnte das Gebot des Ehrens als Auftrag deuten für die Eltern zu sorgen, hielt aber zugleich eine Möglichkeit bereit, diese manchmal unangenehme Aufgabe zu umgehen, indem ein entsprechender Betrag als Opfergabe und also quasi als „Ablösesumme“ für diese Pflicht an den Tempel entrichtet wurde. Jesus hat auch hier den ursprünglichen Gotteswillen freigelegt (Mt 15,1–9). Paulus wiederum gab dem Gebot einen Platz in seiner Haustafel (Eph 6,1f) und deutete es im Sinne der Gehorsamspflicht gegenüber den Eltern.

Mit dem Begriff Mörder ist deutlich das fünfte Gebot im Blick. Das Wort ἀνδροφόνος kommt im biblischen Griechisch sehr selten vor. Es steht 2Makk 9,28 von dem antigöttlichen „Scheusal“ schlechthin, von dem syrischen Diadochenkönig Antiochus IV. Epiphanes zusammen mit βλάσφημος im Rahmen der Darstellung von dessen Tod. Biblisches Denken wusste sehr wohl zu unterscheiden zwischen Totschlag (Num 35,22ff), zwischen im Extremfall erlaubtem bzw. gar gebotenem Töten (Krieg; Todesstrafe; Blutrache Num 35,19.21) und in jedem Fall verbotenem Morden (Ex 21,12; Deut 27,24). Jesu Radikalisierung des Tötungsverbots in der ersten Antithese der Bergpredigt (Mt 5,21–26) richtet sich ebenso wie das Gebot der Feindesliebe (Mt 5,43–48) nicht umsonst auf den sehr persönlichen Bereich, von dem staatliches Handeln noch einmal zu unterscheiden ist.

10 Das sechste Gebot wird mit zwei Bezeichnungen aufgegriffen: Unzüchtige und Päderasten werden genannt. Auch hier wieder steht zunächst der umfassendere Begriff (πορνεῖα), der im Zusammenhang der Heterosexualität seinen Sinn hat, dann ein wohl beispielhaft zu verstehender Extrembegriff (ἀρσενοκοίτης), was sowohl für Homosexualität ganz allgemein, als auch für deren Sonderform, den sexuellen Umgang mit männlichen Kindern, stehen kann. In Griechenland erfreute sich die sexuelle Beziehung zu Knaben als eine Variante der ebenfalls nicht seltenen Homosexualität besonderer Beliebtheit. Paulus nennt 1Kor 6,9 beide Begriffe in einem Lasterkatalog.

Stellen wir diese Aussage in einen größeren biblischen Zusammenhang, so ergeben sich u.a. folgende Aspekte:

l. Gott erschafft den Menschen als Mann und Frau füreinander Helmut Thielicke geht in seiner immer noch bedenkenswerten „Ethik der Geschlechtlichkeit“ von dem Grundphänomen der geschlechtlichen Differenziertheit des Menschen aus und betont, diese habe – anders als die prinzipiell mischbare Rassendifferenzierung – einen „character indelebilis“, eine wirkliche Mischung der Geschlechter sei nicht möglich. Er verweist zudem auf das von Jesus selbst festgestellt Faktum, dass „der im Anfang den Menschen gemacht hat, der machte, daß ein Mann und eine Frau sein sollte“ (Mt 19,4). Im biblischen Schöpfungsbericht ist die prinzipielle Gleichheit der Geschlechter im Unterschied von der Tierwelt erstens dadurch ausgedrückt, dass die Frau aus einem Teil des Menschen gemacht wird (Gen 2,21ff), zweitens, dass sie als eine „Entsprechung“ zum Mann geschaffen wird. Der Mann erkennt diese Gleichheit in seinem Jubelruf dankbar an: „Das ist doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch!“ (Gen 2,23). Neben die Gleichheit der Menschen wird aber sofort die Andersartigkeit der Geschlechter gestellt, indem die Frau den eigenen Namen vom Mann erhält. Das Verhältnis der Geschlechter zueinander ist eine „Ich-Du-Beziehung“ im Unterschied zur „Ich-Es-Beziehung“ des Menschen zur belebten und unbelebten Schöpfung. Es beruht darauf, dass Mann und Frau von Gott auf derselben „Schöpfungsebene“ gemacht sind und darauf, dass sie einen gemeinsamen Auftrag erhalten haben, den sie partnerschaftlich zu erfüllen haben.

Im Blick auf unseren speziellen Aspekt der Homosexualität bedeutet dies: Die Erfüllung des Wunsches Adams nach Beistand und Gegenüber erfolgte gerade nicht, indem Gott den Menschen einfach „reduplizierte“ oder „clonte“. Es war ein neuer Schöpfungsakt dazu nötig, dessen Ergebnis Gott dann allerdings mit dem Prädikat „sehr gut“ belegt. Dass tatsächlich die lebensmäßige Verbindung von Mann und Frau intendiert war und (Mt 19,4–6!) ist, ergibt sich aus dem bekannten Satz über ihr Verhältnis zueinander: „Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seiner Frau anhangen, und sie werden sein ein Fleisch“ (Gen 2,24). Bei dem „Ein-Fleisch-Sein“ müssen wir uns stets zwei Ebenen vor Augen halten: Einmal ist tatsächlich die körperliche Vereinigung von Mann und Frau gemeint, zweitens aber und eigentlich in erster Linie ihr „Eine-Person-Sein“. Das hebr. Wort בָּשָׂר meint ja neben „Fleisch“ auch die „Person“. In der Ehe wird vor Gott aus zwei Personen eine „Ehe-Person“. Dieser Vorgang wird im Schöpfungsbericht als das ganz Normale im Verhältnis zwischen Mann und Frau dargestellt. Eine alternative Beziehungsweise ist nicht vorgesehen, auch keine zu Tieren, was in der Antike ja durchaus nicht abwegig war. Das, was wir „Freundschaft“ nennen, kennt die Bibel natürlich auch, setzt es allerdings auf einer anderen Ebene an.

2. Die Bibel kennt auch die Homophilie, lehnt sie aber eindeutig ab.

Die biblischen Texte über sexuelle Delikte und Perversionen sind bekannt, ebenso die gesetzlichen Bestimmungen der Tora in Lev 18 (bes. 18,22f) und 20 (V. 13–16). Homosexualität wird hier als תּוֹעֵבָה, als „Gräuel“ bezeichnet und als solches mit der Todesstrafe bewehrt. Damit ist gemeint, „was durch die eigene Wesensbestimmung ausgeschlossen ist, was also gefährlich und unheimlich erscheinen muß“. So können Menschengruppen bezeichnet werden, die einfach nicht zueinander passen (Spr 29,27), aber auch unvereinbare Wertesysteme (Spr 16,12). Jedenfalls ist mit dem Begriff das prinzipiell Unvereinbare markiert. Theologisch betrachtet ergibt sich daraus: „Gewisse Dinge sind dem Wesen Jahwes unvereinbar und werden von ihm abgelehnt. … Die Ablehnung oder Ausscheidung des Wesensfremden hat offensichtlich den Zweck, die Homogenität und Funktionsfähigkeit der Gruppe zu sichern“.

Dieser atl. Behandlung korrespondiert der ntl. Befund, sofern uns nämlich die entsprechenden Verhaltensweise zunächst in Kontexten begegnen, die sehr verschiedene, für Christen aber allemal inakzeptable Verhaltensweisen zusammenstellen, nämlich in den sog. „Lasterkatalogen“ (1Kor 6,9f; 1Tim 1,9f). Thielicke schreibt: „Danach besteht kein Zweifel, daß Paulus die Gleichgeschlechtlichkeit als Sünde und als Verkehrung der von Gott erlassenen Ordnung menschlichen Daseins versteht, auch wenn sie innerhalb dieser Lasterkataloge keineswegs den Akzent besonderer Schrecklichkeit erhält“. Dieser letzte Zusatz ist besonders wichtig im Blick auf die theologische und geistliche Beurteilung und auf die seelsorgliche Behandlung der Homosexualität, die also in denselben Rahmen der Gefallenheit einzuordnen ist wie die anderen dort genannten Sünden. Für homosexuelle Sünden gilt ebensosehr Gottes Angebot der Vergebung wie für andere Sünden auch. Was sie davon abhebt, ist allerdings ihre Beharrlichkeit und ist ihr quasi-missionarischer Eifer, sich selbst auszubreiten, sowie die Tatsache, dass – wie Paulus schreibt – die Konsequenzen dieses sündigen Verhaltens auf den Sünder selbst zurückfallen. Thielicke bezeichnet die Homophilie als „Symptom menschlicher Ursünde“.

Am ausführlichsten äußert sich Paulus in Röm 1,24–27 über Ursprung und Wesen der Homophilie. Aus diesem Text ergeben sich mehrere Gesichtspunkte:

a) Es besteht eine ursprungsmäßige Verbindung zwischen mangelnder Gottesbekanntschaft und Homophilie. So, wie der Mensch seine religiösen Potenzen letztlich auf sich selbst richtet, indem er – durchaus im Sinne Ludwig Feuerbachs – die Übersteigerung seiner selbst in Gestalt von Götzenbildern verehrt, so richtet er auch seine sexuellen Potenzen vom gottgeschenkten Gegenüber und damit auch von der Verantwortung für die Fortpflanzung der Menschheit auf sich selbst, auf sein eigenes Geschlecht.

b) Für Paulus ist unbestreitbar klar, was im sexuellen Verhalten als „normal“ (d.h. als schöpfungsgemäß) und also „richtig“ vor Gott und als „gut“ für den Menschen anzusehen ist, nämlich die φυσικὴ χρῆσις, der „natürliche Geschlechtsverkehr“, was nach Hartfeld „für den Schreiber die heterosexuelle Beziehung innerhalb einer Ehe“ bedeutet. Ganz entsprechend versieht der Apostel die lesbische und die homosexuelle Beziehung mit dem Etikett παρὰ φύσιν: „widernatürlich“ oder „neben-natürlich“.

c) Homophilie nimmt, sosehr physiologische (z.B. hormonelle) Gegebenheiten dabei eine Rolle spielen, ihren Anfang in einer Entscheidung des Menschen. Paulus macht diesen Aspekt durch die Verwendung des Begriffs μεταλλάσσειν deutlich, der im Handel für „eintauschen“ verwendet wurde: Die Menschen, Frauen wie Männer, hatten bereits etwas in der Hand – und zwar die φυσικὴ χρῆσις! -, als sie willentlich dafür die χρῆσις παρὰ φύσιν eintauschten. „Lesbianismus ist weder durch Zwang von außen noch konstitutionell bedingt: gemäß Röm 1,26 sind lesbische Beziehungen als eine von innen ausgehende Entscheidung der Frauen für diese sexuelle Triebrichtung zu verstehen“.

Mutatis mutandis gilt dasselbe für die Männer: Auch Homosexualität als praktizierte Sexualität beruht in ihrem Ursprung auf einem Entschluss. Hinter dem ἀφέντες τὴν φυσικὴν χρῆσιν steckt die Entscheidung, das bisher Bekannte und Praktizierte zu verlassen. Dass Paulus hier tatsächlich von Homosexualität ganz allgemein und nicht etwa von ihren extremen Formen, etwa der Päderastie, spricht, wird m.E. ganz deutlich in der Feststellung, sie seien „in ihrer Begierde aufeinander entbrannt, Mann mit Mann“. Er greift in Röm 1,27 mit dem Begriff ἄρσην auf die Schöpfungsterminologie zurück (Gen 1,27 LXX), wo es um das männliche Geschlecht insgesamt geht.

Diese Beurteilung hat umso mehr Gewicht für unsere Diskussion, als Homophilie in der Umwelt des Paulus durchaus positiv bewertet wurde und „Paulus mit den damaligen diversen Entstehungstheorien der Homosexualität vertraut gewesen sein muß“, wie Hartfeld schreibt, auch mit der von Aristoteles dargestellten „konstitutionellen Homosexualität“. Dessen ungeachtet beurteilt Paulus sie als „widernatürlich“ und als „sündig“. „Die Homosexualität kann nicht einfach der normalen Schöpfungsordnung der Geschlechter gleichgestellt werden, sondern sie ist deren habituelle oder aktuelle Entstellung. Demzufolge ist der Homosexuelle aufgefordert, seinen Status nicht a priori zu bejahen oder gar zu idealisieren – genausowenig, wie andere (z.B. krankhafte) Störungen a priori bejaht werden kann, sondern zunächst Objekt angemessener Befragung, dh in ihrer Fragwürdigkeit erkannt sein will (so sehr sie zum Träger eines Segens und einer schöpferischen Aufgabe werden kann)“. Selbst wenn Homophilie dem Menschen ohne dessen individuelles Verschulden mitgegeben sein sollte, bleibt es doch seine Aufgabe, daran zu arbeiten. „Praktizierende Homosexuelle müssen laut Paulus zur Kenntnis nehmen, daß sie keinesfalls im Gottesreich beheimatet werden können“, schreibt Hartfeld in Anlehnung an Thielicke.

3. Im Gespräch mit den Meinungen der Gegenwart

Derzeit werden in Kirche und Theologie vor allem drei Meinungen vertreten, nämlich a) dass Homosexualität ebenso wie Heterosexualität völlig normal und natürlich sei, b) dass Homosexualität veranlagungs- bzw. krankheitsbedingt sei und c) dass Homosexualität widernatürlich und als Sünde zu qualifizieren sei.

3.1 Im Blick auf die erstgenannte Meinung wird sich der Versuch eines Gesprächs aufgrund der Bibel als schwierig erweisen. Unser Gegenüber wird die biblischen Texte entweder in seinem Sinne interpretieren; oder er wird den sensus literalis zwar anerkennen, die biblischen Aussagen aber für zeitbedingt und deshalb irrelevant erklären. Konsequent weitergedacht führt die Akzeptierung der Homosexualität als eines völlig normalen Verhaltens aber dazu, auch andere Sexualpraktiken, etwa den Sadismus, den Masochismus, die Päderastie bzw. die Sexualität mit Kindern überhaupt, bis hin zu sexuellen Beziehungen zu Tieren für möglich und erlaubt zu erklären. Diese Konsequenz wäre klarzumachen.

3.2 Aussichtsreicher ist das Gespräch mit der zweiten Ansicht, dass nämlich Homosexualität veranlagungs- bzw. krankheitsbedingt sei, also unverschuldet. Darunter haben wir zu verstehen, dass der oder die Homophile ihre Neigung via Erbgut von der Zeugung an mitbekommen habe oder dass es sich bei der Homosexualität um eine Erkrankung oder eine physiologisch bedingte Unregelmäßigkeit handle, für die die Betroffenen in beiden Fällen nicht zur Verantwortung zu ziehen seien. Thielicke geht durchaus von der Möglichkeit sog. konstitutioneller Homosexualität aus, erklärt sie deshalb aber nicht für „schuld-neutral“. So wie es andere krankhafte Veranlagungen oder Krankheiten gebe, die nicht einfach als gegeben hingenommen werden können, sondern bekämpft werden müssen, so müsse sich auch der Homophile um Heilung, mindestens aber um Besserung seines Problems bemühen. Ausdrücklich dehnt Thielicke diese Verpflichtung über die Inanspruchnahme des Arztes hinaus auf den Seelsorger aus. Er verwehrt sich gleichzeitig stark gegen eine Diskriminierung der Homosexuellen,261 erwartet allerdings von den Betroffenen, dass sie sich um eine ethisch verantwortete Existenz bemühen.

3.3 Bleibt also die dritte Möglichkeit, die – was den biblischen Befund betrifft – sicher zutreffend ist. Wie aber gehen wir damit unter seelsorgerlichem Aspekt um? Was sagen wir im Gespräch mit Homosexuellen, die ernsthaft seelsorgerliche Hilfe suchen?

Wir müssen uns zunächst die beiden Gefahren verdeutlichen, vor denen er oder sie steht: Die eine Gefahr ist, dass der homosexuelle Mensch nicht ohne Trotz sagt: „Ich bin nun einmal so und kann nicht anders leben!“ Dass er oder sie also die sicherlich nötige und richtige Selbstannahme überzieht. Wir machen es uns zu leicht, wenn wir eine Kumpanei Jesu mit der Sünde annehmen. Gewiss, Jesus hat auch der Ehebrecherin vergeben, aber er hat ihr auch gesagt: „Sündige hinfort nicht mehr!“ (Joh. 8,11).

Das andere Extrem ist die Resignation: „Mir ist doch nicht zu helfen. Für mich gibt es keine Hoffnung.“ Hier wäre seelsorglich klarzustellen, dass Homosexualität keine unvergebbare Schuld bedeutet und dass die von Christus gewirkte Erlösung auch hier die Kraft hat zu vergeben. Damit ist aber dem Menschen, dem Christen, noch nicht geholfen, mit seinem Problem zu leben, ohne ständig weitere Schuld auf sich zu häufen.

Wie kann also dem Homophilen, der den Willen zur Veränderung hat, geholfen werden? In manchen Fällen ist ärztliche Hilfe möglich. Theologisch ist daraufhinzuweisen, dass ein Unterschied besteht zwischen der latent vorhandenen und der ausgelebten homophilen Konstitution. Seelsorglich können wir helfen, indem wir dem Betroffenen die Einbindung in einen Kreis von vertrauenswürdigen Freunden und Freundinnen anbieten, der ihm hilft seine Freizeit zu gestalten und eventuell die latente oder offene Abneigung gegenüber dem anderen Geschlecht zu nehmen. Zudem können wir auf die „Chancen“ hinweisen, die mit der homophilen Neigung häufig verbunden sind, nämlich ein tiefes Einfühlungsvermögen und oft eine pädagogische Begabung.

Wir fassen zusammen:

1. Die biblische Tradition kennt den menschlichen Hang zur sexuellen Perversion und verschweigt ihn nicht. Sie qualifiziert Homosexualität eindeutig als Sünde vor Gott. Ihre tiefste Wurzel ist nämlich sehr eng mit der Beziehung des Menschen zu Gott verbunden: So, wie der Mensch sich selbst an Gottes Stelle setzte, so vertauschte er auch die von Gott als Geschenk gegebene Heterosexualität mit der Homosexualität, die häufig zu Milieuproblemen führt. Mit dieser Ablehnung der Sünde geht aber die Liebe Gottes zum Sünder einher.

2. Homosexuelle Menschen brauchen deshalb mehr als andere das Gefühl des Angenommenseins in einer christlichen Gemeinschaft. Ihrerseits ist die Bereitschaft nötig, ihre Neigung zu sublimieren, zu beherrschen und die mit ihr verbundenen positiven Eigenschaften als anvertraute Pfunde einzusetzen.

Dieses Extrembeispiel sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass schon mit πορνεῖα jede Form außerehelicher Sexualität gemeint und als schuldverstrickend markiert ist. Gerade im kleinasiatischen Ephesus, wohin der Brief ja gerichtet ist, blühte damals der Kult der Göttin Artemis (Apg 19,27), die hier (verschmolzen mit der kleinasiatischen Magna Mater) verehrt wurde.

Mit Menschenräubern wird auf das 7. Gebot angespielt, und zwar im Sinne des hebräischen Urtexts, in dem es ebenfalls um Menschen, nicht um Dinge geht: ἀνδραποδιστής (hapax legomenon im NT) ist der „Sklavenräuber“ und „Menschenhändler“. Auch hier akzentuiert also das biblische Verständnis und mit ihm Paulus ein Gebot anders, als wir es gewohnt sind. Eigentumsdelikte sind in dem Verbot des Begehrens zusammengefasst.

Zwei Beispiele nennt der Katalog auch für das 8. Gebot. Lügner und Meineidige, also Menschen, deren Verfehlung im Bereich des Redens zu suchen ist. Allerdings ist zu beachten, dass im Hebräischen דָּבָר sowohl das „Wort“, als auch das „Ereignis“ und die „Sache“ meinen kann. Worte sind demnach für den hebräisch denkenden Menschen niemals nur „Schall und Rauch“. Sie setzen vielmehr Wirklichkeit. Erneut steht mit ψεύστης der allgemeinere Oberbegriff voran, gefolgt von dem spezielleren und auch verwerflicheren ἐπίορκος. „Meineid ist potenziertes Vergehen, weil er Jahwes Namen für die Lüge gebraucht“.

Das neunte (und zehnte) Gebot wird in diesem Lasterkatalog nicht detailliert aufgegriffen, vielmehr mit der allgemeinen Formel … und wenn etwas anderes der gesunden Lehre entgegen steht erwähnt. Damit ist zugleich der exemplarische Charakter der aufgezählten Laster benannt.

Zu den sprachlichen Besonderheiten, die die sog. Pastoralbriefe verbinden, gehört der Ausdruck ὑγιαίνουσα διδασκαλία (2Tim 4,3; Tit 1,9; 2,1), der in Verbindung mit den verwandten Begriffen ὑγιαίνοντες λόγοι (1Tim 6,3; 2Tim 1,13) und λόγος ὑγιής (Tit 2,8) sowie ὑγιαίνειν ἐν τῇ πίστει (Tit 1,13; 2,2) zu betrachten ist. Im Profangriechischen zeichnete das Partizip ὑγιαίνων eine große Nähe zum Adjektiv ὑγιής aus, die bis zur Austauschbarkeit beider ging. Die Frage ist: Meint die Terminologie des 1Tim (bzw. der Pastoralbriefe überhaupt) in diesem Sinne die christliche Lehre als eine gesunde, nämlich (von Missverständnissen, Torheiten und Irrtümern) reine, vernünftige, oder ist hier eher vor dem Hintergrund der in 1Tim 1 bereits ansatzweise skizzierten Irrlehre an die ihr innewohnende, „gesundmachende“ Kraft gedacht? Bei der Lösung ist m.E. von der Formulierung Tit 2,8 auszugehen, wo der λόγος ὑγιής als ein Teilaspekt der διδασκαλία dargestellt wird. Als Begründung für „gesunde“ Verkündigung wird gerade dort der Gegner (ὁ ἐξ ἐναντίας; gemeint sind wohl die Irrlehrer, vielleicht auch ein Bestimmter von ihnen) genannt, dem keine Argumente geliefert werden sollen, mit deren Hilfe er berechtigte Klage führen könnte. Oberlinner wird recht haben, wenn er von der doppelten „Zielrichtung“ nach außen und nach innen spricht. Allerdings darf die Verbindung zwischen dem „guten Gesetz“ (V. 8) und der „gesunden Lehre“ (V. 11) nicht übersehen werden. Für den Juden Paulus war es selbstverständlich und unverdächtig, dass sich die Grundaussagen der Gottesbeziehung in Worte fassen lassen. Für ihn stellte es keine Erstarrung und Beschränkung der viva vox Evangelii dar, wenn der Glaubensinhalt präzis festgehalten wurde. Im Gegenteil: Indem er seine Weisungen an die Gemeinden in Briefform, also schriftlich und nicht durch mündlichen Vortrag seiner Boten, übermittelte, trug er selbst dazu bei und war sich dessen wohl auch bewusst. In 2Kor 3,6 hat er den todbringenden Gesamtcharakter des Gesetzes im Blick. „Buchstabe“ und „Geist“ stehen hier nicht für „Fixiertes“ und „Freies“, sondern für das, was zur Verurteilung beiträgt, im Gegensatz zu dem, was Leben gibt. Michel schreibt zu dem Problem: „Man darf also das Evangelium nicht nach der ‚gesunden Lehre‘ deuten, sondern muß umgekehrt die ‚gesunde Lehre‘ als eine Umschreibung des Evangeliums ansehen.“

Zusammenfassend wird man sagen können: Wie das Licht schon allein durch seine Anwesenheit das Dunkel durchdringt, so wirkt die „gesunde Lehre“ geradezu katalytisch auf die Irrlehre, zu der sie sich in einem unüberbrückbaren Gegensatz befindet.

11 Dies alles gilt in Position wie Negation, im Wissen um die Bedeutung des Gesetzes wie um dessen Übertretung durch die Menschen, um Freiheit vom Gesetz und bleibende Bindung an das Gesetz (in Gestalt des Dekalogs, aber eben nicht im Sinne eines Heilswegs) gemäß dem herrlichen Evangelium von dem glückseligen Gott, das mir anvertraut worden ist. Gesetz und Evangelium treten hier (in einer traditionellen liturgischen Formel? V. 11) zugleich nebeneinander und einander gegenüber. Formal wird das sichtbar gemacht, indem das Stichwort νόμος den Anfang beherrscht (gleich viermal in V. 8f!), εὐαγγέλιον dagegen am Ende steht, und zwar in einem komplizierten Hebraismus (wörtlich: „das Evangelium der Herrlichkeit des glückseligen Gottes“) mit feierlichem Ton. Das κατά, mit dem der Apostel das Gesetz (vgl. V. 9f) auf sein Evangelium (V. 11) bezieht, macht die Überordnung des Evangeliums unbestreitbar klar. Deshalb lässt Paulus keinen Zweifel daran, was ihm speziell aufgetragen ist, denn die Legitimität seines Auftrags wurde ja von den Gegnern angefochten. Ein Blick in den 2Kor legt sich nahe, wo er auch von der überschwänglichen Herrlichkeit des Amtes spricht, das zur Gerechtigkeit führt und wo auch Buchstabe (Gesetz) und Geist (Evangelium) einander gegenüber gestellt werden (2Kor 3,6–11). Freilich ist δόξα mehr als nur barocke liturgische Ausschmückung. Das Wort meint ja vom AT her das ganze „Gewicht“, die ganze objektive Bedeutung und subjektive Bedeutsamkeit Gottes. Evangelium hat es demnach mit dem Zentrum dessen zu tun, was Gott für Israel bedeutete.

Eigenartig mutet es zunächst an, wenn in diesem Zusammenhang das Adjektiv glückselig (μακάριος) als Gottesprädikat vorkommt. Denn im AT (auch in LXX) ist Gott nicht Träger solcher Glückseligkeit, höchstens deren Wirker. Auch Gegenstände oder Zustände werden dort nicht so bezeichnet.271 Umgekehrt waren für die Griechen gerade die Götter οἱ μάκαρες, weil sie über dem Leiden und Sorgen, Arbeiten und Sterben standen, das den Menschen auferlegt ist. Diese Meinung hat sich in den Schriften Philos von Alexandria niedergeschlagen. Nach ihm trifft die Bezeichnung eigentlich nur für Gott zu und kann allenfalls in einem relativierten Sinn auf Menschen angewandt werden. Unsere Formulierung konnte an diesen Vorgang anknüpfen, indem der wahrhaft „glückliche“, d.h. hier wohl: der von menschlichem Heilsbedürfnis und Heilsverlangen freie Gott den menschlichen Fehlleistungen des Lasterkatalogs gegenüber gestellt wird. Das Gesetz im Sinne eines Heilswegs ist für jene Strebenden, aber an ihm Scheiternden da, das Evangelium für die sich an den „glücklichen Gott“ Klammernden.

Dieses Evangelium ist dem Apostel anvertraut. Das passivum divinum ist wieder typisch paulinische Redeweise (vgl. Röm 3,2 τὰ λόγια τοῦ θεοῦ; Gal 2,7 und 1Thess 2,4 τὸ εὐαγγέλιον; Eph 3,7ff). Das Anvertrauen hat auch eine funktionale Komponente in sich, die Gabe ist zugleich Aufgabe (1Kor 9,16f). Ganz zweifellos denkt der Apostel hier konkret an seine Beauftragung im Zusammenhang mit seiner Hinkehr zu Christus (Gal 2,7; vgl. Apg 9,15 22,14f; 26,16–18). Formal betrachtet erfüllt der abschließende Relativsatz eine doppelte Funktion. Er stellt den zweiten Teil der Klammer dar, die die Verse 8–11 umschließt und die von dem starken οἴδαμεν zum ebenso zuversichtlichen ἐγώ führt, vom Gemeingut der Christen zum besonderen Auftrag des Paulus. Außerdem führt der Verfasser hier erneut die vorher schon angeklungene Wurzel πιστ- ein, die bis V. 19 sinnbestimmend bleiben wird. Der Glaube an Christus als der Heilsweg ist das Thema der folgenden Verse.

V. 11 endet mit betontem ἐγώ, das inkludierend und damit in gewissem Sinn abschließend auf 1,1 zurückweist. Darauf können sich manche Ausleger berufen, wenn sie den Abschnitt mit 1,11 enden lassen.

12–14 Damit ist aber auch die Person des Apostels bereits ins Spiel gebracht, und es liegt nahe, dass er an dieser Stelle auf die mit seiner Person zusammenhängenden Anwürfe der Gegner eingeht. Er tut es in Form eines Dankes an Christus, der ihn zu dem gemacht hat, der er jetzt ist. Formal findet das seinen Ausdruck darin, dass Χριστὸς Ἰησοῦς den Abschnitt wie eine Klammer umschließt (V. 12/14). Auf den Dank (V. 12a) folgt die Begründung des Dankes (12b), dann als Negativfolie der Hinweis auf des Apostels frühere „Laster“ (13a) samt der Begründung, warum Christus sich trotzdem seiner erbarmt hat (13b), und der abschließende Preis der Gnade (14). Auch hier lohnt es sich wieder, sprachliche Strukturen aufzuspüren: Das Stichwort χάρις (V. 12a/14a) und die Ausdrücke Χριστῷ Ἰησοῦ (12a/14b) und τῷ κυρίῳ ἡμῶν (12a) bzw. τοῦ κυρίου ἡμῶν (14a) halten diesen kurzen Abschnitt zusammen. Wie im voraufgegangenen der Lasterkatalog das Zentrum bildete, so hier die dreigliedrige Beschreibung des früheren Lebens des Apostels.

12 Wofür weiß Paulus seinem Herrn Dank? Erstens und zusammenfassend dafür, dass Er ihn stark gemacht hat (V. 12). Auch dieser Terminus hat seinen Platz im Gedankengut des Apostels. Phil 4,13 und 2Tim 4,17 beschreibt ἐνδυναμοῦν exakt denselben Vorgang des Erfülltwerdens mit göttlicher Kraft. In LXX finden wir das Wort u.a. Ri 6,34 (Rezension B [Vaticanus]), wo Gideon durch Gottes Geist die Kraft bekommt, Israels Unterdrückung abzuschütteln, und 1Chron 12,18 (Textrezension des Alexandrinus), wo Amasai ebenfalls durch den Geist das klärende, wegweisende Wort gegeben wird. In beiden Fällen steht ἐνδυναμοῦν für hebr. לָבֵשׁ, in beiden Fällen ist das πνεῦμα (κυρίου) Subjekt. Dies wirft ein bezeichnendes Licht auch auf unsere Stelle: Durch Gottes Geist erfüllt Christus seinen Apostel von innen her mit der Weisheit, zur richtigen Zeit das richtige Wort zu sagen, und mit dem Mut, das Richtige zu tun. Geisterfüllt Reden und Handeln – damit ist der apostolische Dienst umfassend beschrieben, und Christus, von dem beides herkommt, gilt daher der Dank, der in V. 12bf im Blick auf die Person des Paulus noch eingehender begründet wird. Weil er mich als zuverlässig angesehen und in den Dienst eingesetzt hat, obwohl ich früher ein Lästerer und Verfolger und Hochmütiger war, schreibt Paulus. Πιστός ist ein rühmliches Prädikat, das ihn neben Mose stellt (Hebr 3,5 vgl. Num 12,7 LXX) und das sogar auf den erhöhten Christus angewandt wird (Offb 1,5 u.ö.), das aber auch auf seine eigenen Mitarbeiter anzuwenden Paulus sich nicht scheut (1Kor 4,17 Timotheus; Eph 6,21 und Kol 4,7 Tychikus; Kol 4,9 Onesimus; Kol 1,7 Epaphras). Es meint in diesem Zusammenhang vornehmlich die Eignung für ein Amt bzw. dessen zuverlässige und weisungsgemäße Erfüllung. Dass er sich selbst sub specie Dei auch so verstanden hat, zeigt (zeitgleich?) 1Kor 7,25, wo Paulus seine Zuverlässigkeit zur Unterstützung seiner Meinung im Blick auf eine bestimmte Frage anführt. Es fällt auf, dass es auch dort mit dem Stichwort ἐλεεῖσθαι in Verbindung steht. Die Zuverlässigkeit, um die es hier geht, bringt Paulus nicht mit, sie wird ihm vielmehr beigelegt – eine Parallele zur iustificatio impii (Rechtfertigung des Unfrommen), die durch die dreifache Selbstdisqualifizierung des Apostels mit Begriffen, die in dem Lasterkatalog ebenfalls Verwendung fanden, nur noch unterstrichen wird.

Seinen Auftrag sah er als Dienst an. Διακονία meinte ursprünglich das Servieren bei Tisch. Ein typischer Sklavendienst (Lk 17,7–10) war es also, auf den sich der hoffnungsvolle Nachwuchstheologe Paulus eingelassen hat, und er selbst wurde nicht müde, diese seine Stellung mit Stolz auf seine „Visitenkarte“ (nämlich die Briefeingänge) schreiben zu lassen. Schön formuliert Jürgen Blunck: „Luther übersetzt Amt, um den verpflichtenden Charakter dieses Dienstes zu verdeutlich … Berufung geschieht nicht aufgrund eigener Voraussetzungen, sondern trotz fehlender Voraussetzungen.“

13 Was er früher war, schränkt seinen Dienst jetzt nicht mehr ein. Das gilt übrigens auch für seine Gemeinden im Blick auf das Vorleben der Mitglieder (Röm 6,17–22; 1Kor 6,9–11; Eph 2,1ff). Die Rechtfertigung bewirkt tatsächlich eine Neuschöpfung, das Alte ist tatsächlich ganz vergangen, Neues ist entstanden (2Kor 5,17). Damit ist unvereinbar, den Anderen ständig bei seiner Vergangenheit zu behaften, wie es die Paulusgegner offenbar taten. Der Apostel versucht nicht sie zu vertuschen oder zu verharmlosen, was nach Lage der Dinge auch gar keine Chance gehabt hätte. Er steht zu seiner Biographie, indem er selbst die belastenden Ausdrücke auf den Tisch legt, die hier zur Debatte stehen: ein Lästerer und Verfolger und Hochmütiger ist er früher gewesen. Apg 26,11 berichtet Paulus von sich, er habe die von ihm aufgespürten Christen zum Lästern gezwungen, was voraussetzt, dass auch er selbst Jesus (denn nur um ihn kann es hier gehen) gelästert hat. Auf diesen Vorgang bezieht sich unsere Stelle. Βλασοφημία bezeichnet schon bei den Griechen „die Lästerung der Gottheit dadurch, daß ihr wahres Wesen entstellt oder ihre Macht angetastet oder angezweifelt wird“. Das Judentum zur Zeit Jesu, allen voran die Rabbinen, verstanden darunter im Kern jeden (dem βλάσφημος bewussten oder wie bei Paulus unbewussten) Angriff auf Gottes Majestät. Sie gingen dabei von den Geboten zum Umgang mit Lästerern und Götzendienern in der Tora aus (Lev 15,30f; 24,10–16) und sahen den Tatbestand der Lästerung als erfüllt an bei Götzendienern, wenn einer „in frecher Weise von der Tora spricht“ und wenn einer „den Jahwenamen beschimpft“. Möglicherweise (sofern nämlich die drei Begriffe auch ein zeitliches Nacheinander in seiner Biographie ausdrücken sollen) gehörte Paulus zu jenen, die unter dem Kreuz den sterbenden Christus verhöhnten und damit seine Messianität und Gottessohnschaft bestritten (Mt 27,39–44) und ihn damit im Sinne von Mk 14,64 als „Gotteslästerer“ qualifizierten. Von seiner Tätigkeit als Verfolger (διώκτης) berichtet der Apostel selbst Gal 1,13.23; Phil 3,6. Sie setzt im Grunde die falsche Selbsteinschätzung (ὕβρις) bereits voraus (Phil 3,4–7), die über das gegebene Maß hinausgreift und dadurch fremdes (in diesem Falle göttliches) Recht verletzt. Ὑβριστής gehört nach Bertram „wohl kaum zum festen Bestand solcher Aufzählungen“ (nämlich Lasterkataloge). Dann aber ist umso bemerkenswerter, dass das Wort nicht nur hier in solchem Zusammenhang begegnet, sondern auch in Röm 1,30 (und sonst im NT nicht mehr!), wo es neben ὑπερήφανοι steht wie im Katalog 2Tim 3,2 Βλάσφημοι. Ein typisch paulinischer Gedanke?

Neben das, was er aus eigenem Antrieb früher war, stellt Paulus nun, was Gottes Erbarmen aus ihm gemacht hat. Dabei argumentiert er ebenso, wie er im Römerbrief im Zusammenhang der Erwählungslehre im Blick auf Gottes Erbarmen über Israel und die Heiden geschrieben hatte. An unserer Stelle markiert er den ‚heilsbiographischen‘ Gegensatz sprachlich durch τὸ πρότερον … ἀλλά (1Tim 1,13), dort mit der heilsgeschichtlichen Wendung ποτε … νῦν δε (Röm 11,30f) und dem Hinweis auf die ἀπείθεια, hier auf ἄγνοια (vgl. Apg 3,17!) und ἀπιστία. Ging es dort um die universale heilsgeschichtlich-eschatologische Wende, so hier um die ganz persönliche Wende in seinem Leben. Mit ἐλεεῖν kann demnach beides bezeichnet werden, Gottes umfassendes wie sein ganz individuelles barmherziges Eingreifen. Zwar steht natürlich auch bei dem Apostel Gottes Barmherzigkeit im Hintergrund, die ihn im Endgericht rettet, doch ist daneben auch gemeint, dass er schon in diesem Leben aus dem Irrtum von Unwissenheit und Unglauben befreit wurde. Zu beachten ist aber der atl. Befund: LXX übersetzt Lev 22,14 בִּשְּׁגָגָה mit der Formel κατʼ ἄγνοιαν und bezeichnet entsprechend die versehentliche Sünde als ἄγνοια, was ihr aber nicht den Charakter der Schuld vor Gott und damit der Vergebungsbedürftigkeit nimmt. Auch der „Unglaube“ ist ja nicht einfach ein entschuldbares Informationsdefizit, sondern vielmehr eine Grundeinstellung Gott gegenüber, die sich im Leben konkretisiert.

14 Weil Paulus diese Konkretion der aktiven Ablehnung Gottes in Christus aus seinem früheren Leben so gut kennt, spricht er nun von der überreichen Fülle der Gnade, die seine Annahme bewirkte. Meinte ἐλεεῖν die unverdiente, rettende Zuwendung unter dem besonderen Aspekt einer bereits zwischen Gott und Saulus bestehenden Beziehung, so ist mit χάρις mehr Gottes gnädige, d.h. unverdiente Zuwendung zu Menschen allgemein angesprochen. Diese Gnade Gottes samt seiner Treue und Liebe nahm in dem Christus Jesus Gestalt an. Es kann sich hier nur um den genitivus subjectivus handeln, nämlich um die Gnade, Treue und Liebe Gottes zu den Menschen. Mit Liebe ist hier nicht zuerst eine emotionale Regung gemeint, sondern die auswählende Entscheidung Gottes für einen Menschen, an der Gott festhält.

Der Glaube an Christus bildet zusammen mit den Aussagen in 1,16 sowie 3,13–16 einen doppelten Rahmen um den dazwischenliegenden Text.

15 Wie ein Einschub wirkt V. 15. Er nimmt zwar das in V. 13 angesprochene Thema der Errettung durch Jesus Christus auf und führt es verallgemeinernd weiter, so wie im alten griechischen Drama der „Chor“ den Lauf der Handlung unterbricht und ihr Thema exkursartig vom Konkreten zum Allgemeinen führt. Die gedankliche Linie wird in unserem Text aber erst in V. 16 wieder erreicht, wie das wiederholende ἀλλά … ἠλεήθην deutlich macht. Diese Beobachtung erhält dadurch eine zusätzliche Stützung, dass V. 15 ganz offensichtlich geformtes Traditionsgut ist, denn die Zitations- oder Beteuerungsformel280 πιστός ὁ λόγος begegnet so oder ähnlich noch viermal in den Pastoralbriefen (1Tim 3,1; 4,9; 2Tim 2,11; Tit 3,8) und sonst nicht im NT. Sie begleitet Worte, die aus dem übrigen Text heraus ragen, hier ein Jesuslogion, das anklingt (Lk 19,10). Umstritten ist, ob ein soteriologischer Bezug konstitutiv für sie ist – was sich u.U. auf die Frage auswirkt (vgl. zu 3,1), ob sie den vorangegangenen Text abschließt oder den folgenden einführt. Jedenfalls verleiht sie diesen Worten besonderes Gewicht. Beim ersten und letzten Vorkommen im 1Tim (1,15; 4,9) ist die Formel ergänzt durch den Zusatz καὶ πάσης ἀποδοχῆς ἄξιος. Dies könnte funktional den Sinn einer inclusio haben.

Πιστός verwendet Paulus sonst für Gott, der zuverlässig ist, weil er tut, was er zusagt (1Kor 1,8f; 10,13; 2Kor 1,18; 1Thess 5,24). Folgerichtig kann das Adjektiv auch für die Worte verwendet werden, mit denen Gott etwas zusagt.

Ὁ λόγος ist eine alte Bezeichnung für die christliche Botschaft insgesamt, besonders wohl in ihrer missionarischen Zuspitzung (Apg 4,29; 6,5; 8,4 u.ö.). Dies trifft hier exakt zu, denn Paulus spricht selbst davon, das Wort sei aller Annahme wert und außerdem meint er damit Jesu Kommen (ἦλθεν) in die Welt zur Rettung der Sünder (V. 15). Auch hier steht der 1Tim auf einer gesicherten Überlieferungsgrundlage. Die sprachliche und inhaltliche Nähe zu Lk 19,10 ist unübersehbar. Das hebr. Verbum בוא, das im Kontext der Theophanie seine spezifische Bedeutung hatte (Deut 33,2; Ps 50,3; Hes 1,4 u.ö.), fand auch in der eschatologisch-messianischen Erwartung Israels (Sach 9,9; vgl. Dan 7,13 aram.) und vor allem dann der Qumran-Texte (1QS 9,11; CD 19,10f; 4QPB 3) seinen festen Platz. Jesus selbst wandte es in exponierter Weise rückblickend auf sein Kommen (sog. „ῆλθον-Worte“ Mt 5,17 u.ö.), das er messianisch verstand, und vorausblickend auf seine Wiederkunft an (Mt 24,30 u.ö.). Beide Linien finden sich auch in den paulinischen Schriften (Gal 4,4; Eph 2,17; 1Kor 4,5; 11,26), und so verwundert es nicht, dass Paulus 1Tim 1,15 ein Christus-Bekenntnis in Form eines ῇλθον-Satzes formuliert oder zitiert und durch den sicher von ihm angefügten Relativsatz auf sich bezieht.

Jesus kam also als gottgesandter Messias in die Welt, um Sünder zu retten. Der Talmud kennt den festen Ausdruck בֹּא לְעוֹלָם bzw. aram. אֲחָא בְּעָלֶמָא für das Griech. ἔρχεσθαι εἰς τὸν κόσμον (vgl. Joh 11, 27). Das sonst im NT in seiner Wertung häufig schillernde Wort für Welt (κόσμος) meint dabei auch an unserer Stelle ganz wertneutral den „Schauplatz, auf dem das menschliche Leben sich abspielt“. Dieses Kommen ist streng zweckgebunden. Es ist Herzstück der großangelegten Rettungsaktion Gottes zugunsten der Sünder. Hier berührt sich unser Text erneut mit dem Lasterkatalog (1,9). Als ἁμαρτωλός bezeichnet das griechische AT einen Menschen, der an Gott als dem eigentlichen Zielpunkt des Lebens vorbei lebt (s.o. zu V. 9). Dabei ist nicht zunächst die Schwere der individuellen Schuld im Blick. Im Israel der Jesuszeit konnte auch als Sünder in diesem Sinne bezeichnet werden, wer aus der Sicht der Frommen nicht wie sie nach dem Gesetz lebte. Der Allgemeinbegriff hat umfassende Bedeutung, weshalb Paulus sich gerade hier als der Erste (= der Schlimmste) bezeichnen kann. Er hat ja nicht nur quasi-passiv an Gott vorbeigelebt, sondern hat sich als Lästerer und Verfolger und Hochmütiger mit erhobener Hand gegen Gott hervorgetan, was sein Selbstverständnis stark prägte (1Kor 15,9). Überhaupt hat er in der Verfolgung der Gemeinde mit sein zentrales Vergehen erblickt (Gal 1,23; Phil 3,6), da sie nur die konsequente Weiterführung der auf eigener Leistung beruhenden Gerechtigkeit war. Gerade weil er mit diesem seinem Weg der religiösen und moralischen Anständigkeit gescheitert ist, musste der Apostel die Rettungsbedürftigkeit des Sünders klar ins Auge fassen. Deshalb ist für ihn der Christus in besonderem Maße der Bringer der σωτηρία, seine Funktion das σῶσαι (V. 15).

16 Dass er seinem engsten Mitarbeiter hier nicht seine gesamte Versöhnungstheologie ausbreitet, ist völlig verständlich und überhaupt kein Anlass zur Verwunderung. Paulus komprimiert das alles in dem zweimal gebrauchten (V. 13.16), im Römerbrief so schwergewichtigen Stichwort ἠλεήθην, das im Eingangsgruß 1,2 bereits angeklungen war. Erbarmen Gottes ist die Sendung des Sohnes, dessen stellvertretendes, sühnendes Leiden und Sterben und die Tatsache, dass Gott auf Paulus in besonderer Weise zugegangen ist und ihn in seinen Dienst genommen hat.

Das ἀλλὰ … ἠλεήθην nimmt den Faden von V. 13 wieder auf und führt den Gedanken im Blick auf den Zweck dieser Intervention Gottes weiter. Er besteht in dem Erweis der Geduld Gottes an dem Extrembeispiel des Saulus-Paulus, dessen Weg dadurch geradezu zum Studienobjekt für künftige Nachfolger Jesu wird. Μακροθυμία, von Gott ausgesagt, ist bei Paulus terminus technicus für Gottes geduldiges Warten mit dem Gericht (Röm 2,4; 9,22), das dann ab 5,21 in den Blick genommen wird. Er gebraucht für diesen Modellcharakter seines eigenen Lebensweges zum Glauben das Wort Muster (ὑποτύπωσις). Das mit ἐπί + Dativ konstruierte Verbum πιστεύειν entspricht seinem Sprachgebrauch (z.B. Röm 9,33; 10,11 [Zitat]). Die Hälfte aller im NT vorkommenden Fälle finden sich in den Paulusbriefen einschließlich der Pastoralbriefe, mehr als ein Drittel allein im Röm. Das im Dativ stehende Personalpronomen gibt dabei die Person an, auf Grund deren der Glaube möglich ist bzw. erfolgt. Die Unablösbarkeit christlichen Glaubens von der Person seines Stifters Jesus (Hebr 12,2) ist eine entscheidende Einsicht. Eine Verselbständigung des Wirkens Jesu oder des von ihm seinen Nachfolgern erteilten Auftrags etwa im Sinne einer Fortführung der „Sache Jesu“, wie immer sie inhaltlich beschrieben wird, ist, auch wenn es gern so propagiert wird, vom NT ebenso wenig gedeckt wie eine Verkürzung der Heilserwartung auf das irdische Leben. Auch das ewige Leben als Heilsgut ist in der paulinischen Theologie, besonders im Röm, fest verwurzelt (Röm 6,23 u.ö.). Paulus will sich mit dieser an seiner Biographie festgemachten Kurzfassung seiner Erlösungslehre gegenüber seinen Gegnern nicht verteidigen, sondern vielmehr den Gnadencharakter seiner Beauftragung in den Vordergrund stellen. Gott war es, der für ihn, an ihm und durch ihn tätig geworden ist. Da ist es nur konsequent, wenn er den Abschnitt mit einer Doxologie schließt.

17 bietet nämlich eine (von Paulus aus der Tradition übernommene?), im Briefganzen strukturell mit 6,15f kommunizierende Doxologie, die sich schon sprachlich deutlich vom Kontext abhebt. Sie hat drei Teile:

In 17a wird der Empfänger der Doxologie genannt,
in 17b werden ihm drei Prädikate beigelegt, und
in 17c wird der eigentliche Wunsch ausgesprochen.

Mit dem Stichwort ewig entsteht sofort eine Verbindung zwischen V. 16/17. Typisch hebräisch ist die wohl eher in die Vergangenheit zurückweisende Bezeichnung Gottes als des Königs der Ewigkeiten (τῷ βασιλεῖ τῶν αἰώνων / מֶלֶךְ הָעוֹלָם). Wir werden diesen Ausdruck kaum als Kampfformel gegen einen christlich-gnostischen Äonengottglauben ansehen können, durch die Gott bzw. Jesus kurzerhand zum Beherrscher der Äonen(götter) erklärt würde. Viel näher liegt es, an atl. und frühjüdische Belegstellen (wie in apologetischem Kontext in Jer 10,10 [fehlt in LXX!], wo es auch [s.u.] um die Auseinandersetzung zwischen den Götzen und dem wahren Gott geht; in doxologischem Kontext Tob 13,7S; 13,11BA u.a.) als Hintergrund zu denken. Dort wird die „Überzeitlichkeit“ Gottes, der von Anfang an war und kein Ende kennt, ausgesagt, ohne dass Gottes Ewigkeit im menschlich-chronologischen Zeitbegriff aufginge, auf den wir ihn gern reduzieren. Gerade durch seine Ewigkeit unterscheidet sich Gott vom Menschen. Ewigkeit ist geradezu die Sphäre Gottes im Unterschied zur raum-zeitlich bestimmten Sphäre der Menschen. Indem dem Menschen (geradezu johanneisch!) ewiges Leben als jetzt schon zu erlangendes Heilsgut angeboten wird (V. 16!), reicht Gottes Sphäre in die menschliche hinein. Ewiges Leben beginnt deshalb schon hier und jetzt in diesem Leben und endet mit dem Tode nicht – das ist auch zumindest ein Aspekt der sog. „präsentischen Eschatologie“ des Johannesevangeliums.

Die wesensmäßige Unterschiedenheit Gottes vom Menschen – in dem Prädikat ewig bereits impliziert – wird nun sogleich in drei Richtungen in Gegensätzen zur immanenten Empirie entfaltet: unsterblich, unsichtbar, einzig ist Gott. Alle drei Prädikate sind Paulus schon im Röm geläufig (Röm 1,23; 1,20; 16,27). Mit ἄφθαρτος stellt er Gott im Kontrast zu aller Vergänglichkeit dar, besonders zum Rhythmus von Leben und Sterben des Menschen, greift also die Kategorie der Ewigkeit noch einmal auf und scheut sich nicht, sie im griechischen Gewande darzustellen. Griechisch-philosophischem Sprachgebrauch entspricht auch das Verbaladjektiv ἀόρατος, das bei Plato zur Bezeichnung der Ideenwelt im Gegensatz zu dem sinnlich Wahrnehmbaren dient. Im jüdischen Bereich übernahm allen voran Philo die Vorstellung von der Unsichtbarkeit Gottes, während vorher die LXX ganz im Duktus des AT diesen Gedanken explizit nicht kennt. Im AT finden wir einerseits Aussagen über die Furcht vor dem Sehen Gottes und der damit verbundenen Gefahr (Mose Ex 33,20b), andererseits aber auch Berichte über persönliche, direkte Begegnungen mit Gott (Mose Ex 33,11 „von Angesicht zu Angesicht“; Jesaja Jes 6,1.5) und schließlich Stellen, wo Gott es ablehnt, sich sehen zu lassen (Mose Ex 33,20a). Dieser Befund widersetzt sich jedem Schematisierungsversuch. Wir machen es uns auch zu leicht, wenn wir die verschiedenen Facetten einfach der unterschiedlichen oder z.T. konträren „Theologie“ der Verfasser zuschreiben. Richtiger wird es sein, die Texte je in ihrem Zusammenhang auszulegen. Im NT hat sich die Situation insofern verändert, als mit der Inkarnation Jesu Gott ganz grundsätzlich eine persönliche Begegnung mit sich ermöglicht hat: „Wer mich sieht, sieht den Vater“, sagt Jesus (Joh 14,9). Damit ist Gott aber noch nicht in unsere Welt einzuordnen, d.h. er wird nicht einfach „sichtbar, sondern offenbar“. Das Entscheidende von Gott erkennt der Mensch nicht (wie an Adam und Eva deutlich wird), wenn er ihn „sieht“, sondern wenn sich Gott ihm erschließt, „offenbart“. Für unsere Stelle bedeutet das: Wenn Paulus anbetend von Gott als dem „Unsichtbaren“ spricht, wird uns ein an sich denkbarer Zugang versperrt, indem seine Offenbarung unserer Verfügung entzogen bleibt. Genau dies aber ist es, was auch das AT zu diesem Thema zu sagen hatte. Strukturell entsprechen sich die beiden ersten Gottesprädikate weitgehend, denn obwohl Gott unvergänglich ist, konnte sich der Gottessohn doch am Kreuz als „sterblich“ erweisen. Ähnlich verhält es sich – um es vorwegzunehmen – auch mit dem Prädikat einzig (vgl. Röm 16,27; Joh 5,44). Zwar ist Israels Gott der „einzig“ wahre Gott, der Schöpfer und Erlöser der Welt, aber doch gibt es neben ihm andere von Menschen nur angenommene oder tatsächlich existierende „Götter“ (1Kor 8,5f), die aber durch ihre Zu- und Unterordnung zu dem „einzigen“ Gott ihre entscheidende Relativierung erfahren. Gottes Exklusivität wird in Israels Tora in erster Linie von dem alten Glaubensbekenntnis des Gottesvolks her begründet: „Höre, Israel, Jahwe [ist] unser Gott, Jahwe [ist] einer“ (Deut 6,4). Die ganze Geschichte Israels kann man unter dem Aspekt des Kampfes um die Einzigartigkeit Gottes sehen. Die Polemik der Propheten gegen die Götzen, besonders bei Jesaja und Jeremia, impliziert nicht eine Leugnung ihrer Existenz, wohl aber (angesichts Gottes) ihrer Kompetenz. Auch Jesu Ablehnung durch sein Volk ist letztlich in seinem Anspruch, Sohn Gottes und damit selbst Gott zu sein, begründet (Mk 14,61f).

In V. 17 fehlt das verbum finitum, auch ein Merkmal für die gehobene Sprache der Doxologie. Zweifellos ist eine Form von εἶναι zu ergänzen, aber welche? Handelt es sich um einen Optativ (εἴη)oder um eine indikativische Feststellung (ἐστίν)? Die Frage wird in der Auslegung unterschiedlich beantwortet. Kittel versteht die „Doxologien als lobpreisende Feststellungen dessen, was ist“ und ergänzt entsprechend indikativisch unter Verweis auf Gal 1,5 und 1Petr 4,11. Die meisten modernen Kommentatoren entscheiden sich für den Optativ.292 Der atl. Begriff כָּבוֹד (ursprünglich: „Gewicht, Schwere“) meint ja beides, die „Herrlichkeit“, die Jahwe an sich eignet, dann aber auch das „Gewicht“, die „Bedeutung“, die er für den Menschen hat und (daraus resultierend) die „Ehre“, die ihm der Mensch in Anerkennung dieser Bedeutung und Herrlichkeit zuerkennt und entgegenbringt, ein Verhalten, das durchaus Jahwes Willen entspricht, denn er will geehrt sein.

Ehre und Herrlichkeit (τιμὴ καὶ δόξα) kommen in den ntl. Briefen – meist allerdings (wie schon bei Philo und Josephus) in umgekehrter Reihenfolge und in christologischem Kontext – häufiger zusammen vor, gelegentlich in ähnlich gearteten Stücken auch mit dem Zusatz εἰς τοὺς αἰώνας τῶν αἰώνων (Offb 5,13; 7,12; vgl. Hebr 13,21). Das Darbringen von Ehre und Herrlichkeit ist Vollzug der atl. Aufforderung von Ps 28,1; 95,7 (beide Psalmen weisen Parallelen auf). In Ps 28,10[LXX], einem Lobpreis auf die „Stimme des Herrn“, wird Gott als βασιλεὺς εἰς τὸν αἰῶνα bezeichnet, und in Ps 95,7[LXX] werden gar die Heidenvölker aufgerufen, Gott δόξαν καί τιμήν zu geben. Beide Stellen weisen in den Raum des kultisch-liturgischen Gotteslobs. Im Kontext des letztgenannten Psalms geht es um die Gottheit Gottes (1Tim 1,17b!) im Vergleich mit den Götzen der Völker, denen nicht die Existenz, aber vehement das Anrecht auf δόξα bestritten wird.

Wies oben (V. 17a) das im Hintergrund stehende מֶלֶךְ הָעוֹלָם eher zurück auf die schon seit Urzeiten andauernde Ewigkeit Gottes, so richtet V. 17c den Blick nun in die Zukunft. In die Ewigkeiten der Ewigkeiten gehören und gebühren Gott Ehre und Herrlichkeit. Die Wendung stammt aus Ps 83,5b [LXX], also ebenfalls aus dem Zusammenhang des Gottesdienstes. Es ist wichtig, das griech. Wort αἰών nicht nur unter quantitativem (d.h. zeitlichem) Aspekt zu verstehen, sondern auch und geradezu vorrangig unter qualitativem (s.o.). „Ewigkeit“ ist aber mehr als nur die Bezeichnung einer kürzeren oder längeren oder auch unendlich langen Zeitepoche (dies soll nach Sasse der für die paulinischen Schriften charakteristische doppelte Plural ausdrücken). Sie gehört prinzipiell in Gottes Sphäre hinein, gehört zu Gottes Wesen. Dies wird besonders deutlich an dem Heilsgut des „ewigen Lebens“, einem Begriff, der zwar auch die Ent-Grenzung menschlicher Existenz über die sonst letzte Grenze des Todes hinaus impliziert, aber darüber hinaus eben auch inhaltlich gefüllt ist. Ewiges Leben ist schöpfungsgemäßes, sinnerfülltes, in die ursprüngliche Gottesgemeinschaft zurückgeholtes Leben, das umgekehrt erst durch diese neue Qualität auch den Charakter der zeitlichen Unbegrenztheit bekommt.

Das sehr wahrscheinlich schon vorpaulinisch zur Doxologie gehörige Amen zeigt nicht nur das Ende der Einheit an. Es bestätigt darüber hinaus die Vermutung, es handle sich bei V. 17 um ein Stück, das ursprünglich in der gottesdienstlichen Liturgie der Gemeinde seinen Ort hatte. Denn Amen ist – wie Deut 27,15–26 deutlich zeigt – nichts anderes als die Äußerung der Zu- und Einstimmung seitens der Gemeinde zu einem vorher von Gottes Seite her (in Gestalt der „Liturgen“) gemachten Feststellung. Sehen wir auf die Doxologie als Ganzes und fragen nach der Gottesdienstgemeinde, die hinter ihr stehen könnte, so kommt wieder nur die mit atl. Gut vertraute griechischsprachige Gemeinde infrage, wobei offen bleiben muss, ob V. 17b, der deutlich griechisch geprägte Mittelteil, schon vorpaulinisch in eine judenchristliche Doxologie (V. 17a.c) eingefügt wurde. Die Nähe gerade des Mittelteils zum Römerbrief (s.o.) lässt an die dortige Gemeinde denken, was wiederum einen voraufgehenden Aufenthalt des Apostels in Rom wahrscheinlich macht und insofern unseren chronologischen Ansatz des 1Tim unterstützt. Es kann sich hier aber nur um Vermutungen handeln.

18–20 Der den Brief einleitende Teil schließt mit einer knappen, konkreten Anweisung (παραγγελία vgl. 1,3.5), die ihrerseits (wie der Sprachgebrauch zeigt) in der dem Apostel von Christus verliehenen, also abgeleiteten Vollmacht ihre Begründung hat. Dabei wird die Übereinstimmung mit voraufgegangenen Offenbarungen betont (V. 18b) und der Zweck der Anweisung genannt (V. 18c.19a), und es werden als Negativfolie solche (ehemals mitarbeitende?) Leute genannt, die davon abgewichen sind (V. 19b.20a). Zugleich wird mit dem Begriff „guter Kampf“ eine Brücke zum Schluss des Briefs (6,12) geschlagen. Es entsteht also eine inclusio.

18 Ellis hat auf den traditionellen Charakter der παραγγελία in Verbindung mit der von ihm so genannten „tauta formula“ aufmerksam gemacht. Er bezieht allerdings ταύτην τὴν παραγγελίαν auf den ganzen 1Tim, was durchaus nicht zwingend ist. Viel wahrscheinlicher ist es, einen Zusammenhang mit V. 3–7 im Sinne einer inclusio anzunehmen, wo Verb und Substantiv schon einmal vorkamen und wo es ebenfalls um den Umgang mit Irrlehrern ging. Dort hatte Paulus seinen Schüler an eine zurückliegende Ermahnung erinnert (V. 3a παρεκάλεσα Aorist) und sie erneut zur Sprache gebracht. Nun ermahnt und ermutigt er ihn im Blick auf die Gegenwart (2,1 Präsenz). Die Anrede des Timotheus als τέκνον verstärkt in Verbindung mit V. 2 den inkludierenden Charakter: V. 18–20 schließen den Kreis, der mit V. 1ff eröffnet worden war. Beachtung verdient dabei noch die seltene Verwendung des Substantivs παραγγελία (nur fünfmal im NT, nur zweimal in den Pastoralbriefen, nämlich 1Tim 1,5.18), während das Verb in 1Tim (und sonst nicht in den Pastoralbriefen) zum terminus technicus für die im Auftrag des Apostels geschehende wegweisende Tätigkeit des Timotheus wird (1,3; 4,11; 5,7; 6,17). Deren Inhalt wiederum ist Gegenstand der Weitergabe. Παρατιθέναι gehörte bereits im griechischsprechenden Judentum zu den Verben, die den Traditionsprozess beschreiben.

Dieser Vorgang der Weitergabe von konkreten Anweisungen entspricht einer übergeordneten „Quasi-Norm“, indem er entsprechend den früher über dich ergangenen Prophetien erfolgt. Galt im Blick auf die Einschätzung des atl. Gesetzes die Regel, wie es κατὰ τὸ εὐαγγέλιον (V. 11) zu verstehen sei, so handelt der Apostel hier κατὰ τὰς προαγούσας ἐπὶ σὲ προφητείας. Mit dieser biographischen Notiz bezieht er sich wohl auch (Plural!) auf das 1Tim 4,14 beschriebene Ereignis. Dort ist von einer „Prophetie“ die Rede, aufgrund deren Timotheus unter Handauflegung durch die Ältesten (nicht durch Paulus!) ein nicht näher beschriebenes „Charisma“ gegeben wurde (das Stichwort παραγγέλειν taucht auch dort V. 11 auf). Mit προφητεία kann nur ein Prophetenwort gemeint sein, wie es der Apostel in 1Kor 14 allgemein bespricht und wie es Lukas Apg 11,28 (vgl. Gal 2,2) und Apg 21,11 beispielhaft auch beschreibt. Solch eine Prophetie hat den Einzelfall, das Individuum im Blick, dem sie ein beauftragendes, orientierendes, ermutigendes Wort des Herrn zuspricht. Durch sie eingewiesen und gestärkt soll Timotheus arbeiten.

Den ganzen Vorgang der Weitergabe der überlieferten παραγγελία sieht Paulus unter dem Zielaspekt des guten Kampfes (vgl. die schon erwähnte strukturelle Klammer zu 6,12!). Das Bild des Militärdienstes ist ihm ja auch sonst nicht fremd, und er wendet es in der für ihn typischen Weise auf die verschiedenen Aspekte der Mitarbeit im Dienste Jesu an (1Kor 9,7; 2Kor 10,2ff u.ö.). Neben das Bild des militärischen Kämpfens kann er das Bild vom sportlichen Wettkampf stellen (1Tim 6,12; 2Tim 4,7).

19 Was mit dem guten Kampf gemeint ist, erklärt der nachfolgende modale Partizipialsatz. Noch einmal bestätigt sich unsere Annahme, der Abschnitt 1,18–20 sei in engem Zusammenhang mit V. 1ff zu verstehen. Denn schon dort war als Ziel der Weisung die Liebe aus reinem Herzen und gutem Gewissen und ungeheucheltem Glauben genannt (zur Auslegung vgl. oben). Die Kette der acht von der Wurzel πιστ- stammenden Begriffe, die den Abschnitt 1,8–20 durchzieht, endet hier. Die Zielgüter des christlichen Glaubens und Lebens haben einige bereits von sich gestoßen und hinsichtlich des Glaubens Schiffbruch erlitten. Mit Schlatter wird man in dieser drastischen Ausdrucksweise den abrupten, energischen, entschiedenen Vorgang sehen können, der die Abkehr vom „gesunden“ Glauben und der ihm entsprechenden Lehre ausmacht. Bei den hier Betroffenen, deren zwei später namentlich und exemplarisch genannt werden, vollzog sie sich nicht als unmerkliche Entwicklung, sondern als entschlossener Akt (vgl. für Ephesus Apg 19,9), eine Beschreibung, die noch einmal zu den Aussagen in 1,6f passt und diese auf den Punkt bringt.

20 Es handelt sich um Hymenaios und Alexander. Den Erstgenannten erwähnt Paulus noch einmal in ähnlichem Zusammenhang (2Tim 2,17), dort gefolgt von einem gewissen Philetos, der sonst nicht vorkommt. Anders Alexander: Diesen Namen, präzisiert durch den Beinamen „der Schmied“, nennt der Apostel 2Tim 4,14 als seinen Gegner. Man wird davon ausgehen dürfen, dass es sich um dieselbe Person handelt. Ob dies auch für den Apg 19,33 erwähnten Alexander, einen Sprecher der Juden in Ephesus (!), gilt, ist dagegen fraglich. Über Hymenaios und Alexander schreibt der Apostel, er habe sie dem Satan ausgeliefert, damit sie gezüchtigt werden und nicht [mehr] lästern. Das klingt sehr ernst. In 2Tim 2,18 erhalten wir den Hinweis, Hymenaios und Philetos würden die Lehre verbreiten, die Auferstehung sei bereits geschehen, d.h. die heilsgeschichtliche Situation der Christen sei völlig anders einzuschätzen, als es etwa Paulus tat, der auf die Wiederkunft Jesu und die mit ihr verbundene Auferstehung der Toten (1Thess 4,16f) immer noch wartete. Zugleich rechnete er aber (jedenfalls im 2Tim) damit, dass auch für die Christen der Weg durch den leiblichen Tod zum Leben führt. Nüchternheit ist angebracht, nicht Enthusiasmus. Vermutlich wird es im Kreis um Hymenaios (und Alexander) zu abschätzigen, lästernden Bemerkungen über den irdischen Jesus analog zu 1Kor 12,3 gekommen sein, und Lästerung bedeutet immer zugleich Absage und Aufhebung der Gemeinschaft. Insofern vollzieht der Apostel in seiner Vollmacht mit der Übergabe an den Satan nur, was die Genannten an sich bereits selbst vorgenommen haben. Der Satan „appears here and elsewhere as an agent of God, carrying out punishment on especially recalcitrant sinners“, schreibt Marshall und ergänzt in der Fußnote: „He is also God’s enemy”. Die ambivalente Stellung des Satans im AT und NT wird damit deutlich.

Brox, Oberlinner303 u.a. weisen auf Unterschiede zwischen dem nach ihrer Ansicht „echten“ Paulus in 1Kor und dem Paulusschüler im 1Tim und auf die Wirkungsgeschichte der Stelle bis zur Inquisition hin. Für sie steht der Missbrauch durch autoritäre Machtausübung durch einzelne Personen im Mittelpunkt, wogegen 1Kor 5,5 der „echte“ Paulus die ganze Gemeinde in die Verantwortung nehme. Zweifellos wird die Autorität des Paulus als Apostel an beiden Stellen konkret. Es ist leichter, allgemein von ihr zu reden (oder zu schreiben), als sie konkret und damit u.U. auch verletzend werden zu sehen. Wenn das Apostelamt tatsächlich auch (und zuerst?) auf dem Hintergrund des frühjüdischen sog. „Schaliach-Instituts“ zu verstehen ist, lässt sich die juristische Komponente, dass der Abgesandte im Auftrag und Namen des bzw. der Sendenden auch rechtsverbindliche Maßnahmen vornimmt, nicht ausblenden. Hinzu kommt ein anderer Aspekt: Von einer erst noch „im Aufbau“ befindlichen (und das bedeutet: von einer selbst noch zwischen „gesunder Lehre“ und Irrlehre hin- und hergerissenen) Gemeinde konnte nicht erwartet werden, dass sie über die geistige und geistliche Klarheit und die innere Kraft verfügte, die für den Umgang mit Irrlehrern nötig war. Was der Apostel hier wie in Korinth tat, tat er in Wahrnehmung seines Auftrags und seiner Verantwortung. Das m.E. einzige Beispiel dafür, dass Paulus mit einer Adressatengemeinde eher „beratend“, also auf gleicher Ebene, kommunizierte, ist Rom. Die dortige Gemeinde war nicht seine Gründung, er hatte dort auch nicht gearbeitet. In allen anderen Briefen (sogar im Phlm!) ist die Autorität zu spüren, die wenn nicht Gehorsam, so doch mindestens Zustimmung erwartet.

Auch mit dem sog. „Blutschänder“ in Korinth ging Paulus so vor (1Kor 5,5), wobei er um die Vorläufigkeit solcher Auslieferung wusste, verband er doch für den Betroffenen geradezu die Hoffnung auf Läuterung mit dieser Maßnahme (vgl. 1Tim 1,20!). So werden wir auch unsere Stelle zu verstehen haben: Es geht einmal um die Verhinderung des Lästerns (vgl. dazu oben zu 1,13), dann aber auch um einen „pädagogischen“ Umgang mit den Betroffenen mit der Möglichkeit und dem Ziel ihrer Umkehr.307 Das Relativpronomen οὓς bezieht sich vielleicht nicht auf die gesamte Gruppe der Irrlehrer (τινες), sondern lediglich auf die beiden namentlich genannten Wortführer. Der Apostel wusste also zwischen Meinungsmachern und bloßen Mitläufern zu unterscheiden, wiewohl Letzteren der Umgang mit ihren Vorbildern zu denken geben musste.


IV

1. In diesem ersten Abschnitt hat Paulus in aller Kürze das Verhältnis von Gesetz und Evangelium dargelegt, dazu die Gotteslehre, die Christologie und auch die Versöhnungslehre in Umrissen dargestellt. Für den mit seiner Theologie vertrauten Schüler Timotheus war eine ausführliche Darlegung nicht erforderlich. Immerhin konnte die Skizze bei der Verlesung in der Gemeinde den Anlass zu umfassender Darstellung geben. Das Gesetz wird hier im Sinne des primus et secundus usus legis gesehen, d.h. zur Wahrung der äußeren Ordnung in der Gesellschaft und zur Überführung der Sünder. Immerhin war und ist der Dekalog so etwas wie das politische „Grundgesetz“ des Volks Israel.

2. Wir geben einem Menschen selten die Chance eines neuen Anfangs. Wir können andere an ihre „Jugendsünden“ erinnern und tun es auch. Gott dagegen vergisst, was er vergibt (Mi 7,18f; Jes 1,18; 1Joh 1,9). Für Paulus ist er selber das beste Beispiel dafür. Ohne Scheu kann er von seiner aus christlicher Sicht dunklen Vergangenheit sprechen. Jesus hat die Umkehrung der Grundausrichtung unseres Lebens von der Vergangenheit auf die Zukunft in das schöne Bild vom pflügenden Bauern gefasst: „Niemand, der seine Hand an den Pflug legt und nach hinten blickt, ist brauchbar für das Reich Gottes“ (Lk 9,62). In den Worten des Paulus klingt das in ähnlichem Kontext wie 1Tim 1 so: „Brüder, ich schätze mich selber nicht so ein, dass ich [es] schon hinter mir gelassen hätte. Eins aber [sage ich]: Ich vergesse, was hinten liegt, sondern ich strecke mich nach dem aus, das vorne ist“ (Phil 3,13). In unserer Wahrnehmung hat sich mit dem Christwerden oft nur wenig verändert, in Gottes Augen alles (1Kor 5,13).

3. 1Tim 1,15 klingt die missionarische Hauptthese des Briefs an, die 2,4 aufgenommen und verstärkt wird: Gottes Wille zur Errettung der Menschen. Damit unlösbar verbunden ist die besondere Stellung Jesu Christi, die nicht in einer pluralistischen „Ökumene der Religionen“ aufgehen kann.


4. Das Gebet der Gemeinde im Gottesdienst (1Tim 2,1–3,1a)


I

1 Nun ermahne ich als Erstes von allem, Bitten, Gebete, Fürbitten, Danksagungen für alle Menschen zu tun, 2 für Könige und alle, die Macht ausüben, damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit. 3 Das ist gut und akzeptabel vor Gott, unserem Retter, 4 der will, dass alle Menschen gerettet werden, indem sie zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen.

5
Einer ist nämlich Gott,
und einer ist Vermittler zwischen Gott und Menschen,
der Mensch Christus Jesus,
6
der sich selbst als Lösegeld für viele gegeben hat,
als Zeugnis für die bestimmten Zeitpunkte.

7 Zu diesem bin ich eingesetzt als Herold und Apostel – ich sage die Wahrheit, ich lüge nicht -, als Lehrer der Heidenvölker in Treue und Wahrhaftigkeit.

8 Nun will ich, dass die Männer an jedem Ort beten und [dabei] heilige Hände erheben ohne Zorn und Zweifel; 9 [ich will ebenso,] dass sich [auch] die Frauen[, wenn sie beten,] in gesitteter [Körper-]Haltung mit Scheu und Besonnenheit schmücken und nicht mit geflochtenem [Haar] und Goldschmuck oder Perlen oder aufwendiger Kleidung, 10 sondern – was Frauen [entspricht], die sich zur Verehrung Gottes bekennen – durch gute Werke. 11 Die Frau soll in Ruhe lernen in aller Unterordnung. 12 Zu lehren und eigenmächtig zu handeln ohne den Mann erlaube ich aber einer Frau nicht, sondern in Ruhe zu sein. 13 Adam wurde nämlich als erster gebildet, dann Eva. 14 Und Adam ließ sich nicht verführen, die Frau aber ließ sich gründlich täuschen und beging den Fehltritt. 15 Sie wird aber durch Kindergebären gerettet werden, wenn sie in Glauben und Liebe und Heiligung mit Besonnenheit bleiben. 3,1a Zuverlässig ist das Wort.


II Aufbau

Mit 2,1 beginnt ein bis 3,13 reichender größerer Abschnitt, hinter dem das Anliegen eines einladenden Verhaltens der Gemeinde gegenüber Nichtchristen steht. Wie der entsprechende Abschnitt im 2. Teil des Briefes (5,1–25; dort 5,5) bindet der Apostel auch hier das Thema „Gebet“ gleich am Anfang ein. Jeremias bezeichnet 1Tim 2–3 als „die älteste Gemeindeordnung der christlichen Kirche“ und kommt zu dem Schluss, dass sich damit das Ende des „enthusiastischen“ Zeitalters der frühen Kirche ankündige.

Unser Text (2,1–3,1a) ist deutlich in zwei große Teile gegliedert:
2,1–7
gibt der Vf. zunächst Weisungen für das Gebet, an die sich ein soteriologischer Hymnus anschließt;
2,8–3,1a
haben wir es mit detaillierteren Anweisungen für das Verhalten der Männer und Frauen im Gottesdienst zu tun.
Im Einzelnen ergibt sich folgende Einteilung:
2,1–7
Mahnung zum Gebet
2,1–2
Form, Inhalt und Ziel des Gebets
2,3
Bewertung solchen Betens
2,4
Feststellung des Gotteswillens
2,5–6
Soteriologischer Christushymnus
2,7
Das dreifache Amt des Paulus
2,8–3,1a
Verfügung des Apostels über das Verhalten im Gottesdienst
2,8
Die Männer
2,9–15
Die Frauen
2,9+10 Der wahre Schmuck der Frau
2,11+12 Der Grundsatz
2,13–15 Die Begründung
3,1a
Abschließende Bekräftigungsformel

Umstritten ist hier seit Langem die Abgrenzung nach vorn, also die Frage, ob 3,1a den vorangehenden Text abschließen oder den nachfolgenden einleiten. Schlatter meint, wenn „das Wort“ knappste Bezeichnung der christlichen Botschaft sei, beziehe sich die Formel rückwärts auf das schon Gesagte und verleihe ihm eine besondere Würde.310 Ist es aber nach vorn gerichtet, so meint „das Wort“ lediglich die nun folgenden Aussagen des Paulus über die frühkirchlichen Ämter, was eine Begrenzung bedeuten würde. Nimmt man hinzu, dass die Formel auch an anderen Stellen, an denen sie erscheint; das Vorangehende abschließt (Tit 3,8) oder abschließen könnte (1Tim 4,9; 2Tim 2,11), so ist die Entscheidung in diesem Sinne zu treffen, wenn auch viele neuere Exegeten anders entscheiden. Zwei Argumente sollten allerdings gehört werden: Trifft es zu, dass die Formel jeweils eine soteriologische Konnotation hat (Lock, Schenk, Wagener), dann zieht das Verb σωθήσεται sie an den Schluss des vorangehenden Abschnitts. Soll die hier von Paulus verwendete „Kurzformel“ lediglich an die ausgeführte Formel von 1,15 erinnern, so wird man beide Möglichkeiten erwägen können. Wir haben uns entschieden sie als Abschluss zu verstehen.


Literarische Form

Der vorliegende Abschnitt hat unter formalen Gesichtspunkten durchaus gemischten Charakter. Insgesamt befinden wir uns im Bereich der Gemeindeordnung, also der Paraklese (2,1!), die der Apostel mit dem nach dem lehrhaften Teil die Konsequenzen einleitenden οὖν paraeneticum und der von White sog. formula of request eröffnet, einer Formel, die auch in anderen (echten und umstrittenen) Paulusbriefen entweder am Anfang des Hauptteils oder an der Schnittstelle zwischen zwei Themenkreisen steht. Sie erscheint (mit Abwandlungen) meist in der Form

παρακαλῶ δε οὖν ὑμᾶς ἀδελφοὶ διὰ … ἵνα …
Verb (1. sg./pl.) – Partikel – Pers.pron.(Akk.) – Vokativ – Begründung – Verb (Inf.)/Finalsatz

White weist in diesem Zusammenhang auf Analysen antiker Petitionspapyri hin, in denen der eigentlichen Bitte häufig eine Schilderung des Hintergrunds („background section“) vorausgeht. Auf unsere Stelle angewandt könnte das bedeuten: In Kap. 1 stellt Paulus den Hintergrund seines Briefes dar, mit Kap. 2 beginnt das eigentliche corpus, der Hauptteil, in dem er sein Anliegen zur Sprache bringt. Gewiss kein Zufall ist die π-Alliteration in V. 1f (10-mal), ein weiteres Zeichen dafür, dass der Schreiber des Briefs mit den klassischen Stilformen der griechischen Sprache vertraut war, sie anwendete und dass der Text bis in Einzelheiten hinein durchdacht ist.

Formelhaft mutet auch V. 3 an, der sich am nächsten wohl mit 5,4 berührt (ἀπόδεκτος im ganzen NT nur an diesen beiden Stellen!). Aber auch sonst konnte Paulus wertend ähnlich formulieren (vgl. Röm 14,21; 1Kor 5,6; 7,1.8. 26; 9,15; Gal 4,18), sodass man von einem gefestigten Sprachgebrauch reden kann.

V. 4 beinhaltet einen synonymen parallelismus membrorum, vermutlich auch ein Stück aus der Tradition. V. 5f ist ein durch Stichwortanschluss (σωτήρ - σωθῆναι) verbundener soteriologisch ausgerichteter Gottes- und Christushymnus. Mit V. 11 beginnen die Gemeinderegeln (bis 3,13), die am Anfang (2,11–15) midraschartige Züge tragen. Mit Vers 3,1a endet der Abschnitt mit der Formel πιστὸς ὁ λόγος. Ein beträchtlicher Teil des Textes besteht demnach aus vorgeprägten Formen und Formeln, ein Sachverhalt, der längst erkannt wurde, aus dem aber unterschiedliche Schlüsse gezogen wurden.317


Historischer Hintergrund

Jeremias hat die Meinung vertreten, die in 1Tim 2 vorliegende Gottesdienstordnung sei vor dem Hintergrund der sog. Haustafeln entstanden, indem nämlich die im Privathaus herrschende Ordnung auch auf „Gottes Haus“, die Gemeinde (1Tim 3,15), übertragen worden sei. Allein man muss fragen, ob Kap. 2 tatsächlich die von ihm erhobene Anordnung „Obrigkeit, Männer, Frauen“ aufweist. Immerhin ist die „Obrigkeit“ in V. 2 lediglich Gegenstand der Fürbitte, während Männer (V. 8) und Frauen (V. 9–15) hinsichtlich ihrer Beteiligung am Gottesdienst ins Auge gefasst werden. Es sind also zwei verschiedene Ebenen, auf denen sie vorkommen. Die Fürbitte für die „Obrigkeit“ steht wohl eher deshalb am Anfang, weil deren Verhalten gegenüber der Gemeinde ihren Gottesdienst, um den es dann geht, ermöglicht oder behindert.

Eigentlich ist es verständlich, wenn V. 2b und von dort her auch dessen Umfeld der früheren Exegese zum Dorn im Auge werden musste. Sollte es tatsächlich möglich sein, dass der sonst so offensive, keiner Auseinandersetzung ausweichende Apostel Paulus, dessen uns bekannte Biographie es an Spannung mit jedem Roman aufnehmen kann, nun auf einmal so völlig „verbürgerlicht“? Oder was sonst sollte der Hintergrund seines Wunsches sein, das Gebet der Gemeinde möge dazu helfen, dass wir „ein ruhiges und stilles Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit“? Denn sonst las man es anders: Da wurde für die mit dem Apostel verbundenen Gemeinden gebetet, damit die in ihnen herrschende Unordnung und Irrlehre ausgeräumt werde (etwa 2Kor 13,9), die Liebe aber wachse (Phil 1,9), sie sich ihrer Berufung würdig erweisen (2Thess 1,11), Paulus aber vor den ihm in Jerusalem drohenden Gefahren bewahrt bleibe (Röm 15,30f). Wir müssen uns aber die Veränderungen vergegenwärtigen, die in den damals vergangenen Jahren eingetreten waren, um den anderen Akzent verstehen zu können, den der Apostel nun setzt. Zwar ist er aus der Gefangenschaft in Rom noch einmal freigekommen, aber die Zeichen standen trotzdem auf Sturm. Kaiser Nero, für den zu beten Paulus noch rund zehn Jahre zuvor im Römerbrief verlangt hatte, zeigte mehr und mehr seine Unberechenbarkeit, während sich in Palästina gleichzeitig die Situation zuspitzte. Das Verhältnis der Judenschaft zu den Römern wurde durch unsensible Prokuratoren einerseits und wachsenden Nationalismus andererseits immer mehr auf die schiefe Ebene hin zum Aufstand gedrängt. Man versuchte, die Urgemeinde zu einer projüdischen Parteinahme zu bewegen, ein Drängen, dem sie sich schließlich durch die Flucht ins ostjordanische Pella und damit durch die endgültige Trennung vom offiziellen Judentum entzog. Gewiss, so weit war es im Jahr 64 noch nicht, aber am Horizont deuteten sich diese Entwicklungen bereits an. Es ist besser verständlich, wenn den in die Jahre kommenden Apostel die Sorge um seine Gemeinden packte, wenn er ihnen nicht Auseinandersetzung und Verfolgung wünschte, sondern eben die Möglichkeit, ungestört zu wachsen. Das Ziel, die missionarische Durchdringung der ganzen Menschheit, war deshalb nicht aufgegeben, es wurde vielmehr erneut und feierlich betont (V. 4). Wer den Versuch macht, die Pastoralbriefe wirklich zu verstehen, muss sich in diese Situation des Apostels und seiner Gemeinden hineindenken.

Umso wichtiger ist für den Apostel das innere Gefüge der Gemeinde, d.h. besonders ihr Gottesdienst und das möglichst reibungslose Zusammenwirken ihrer Amtsträger. Auf diesen Bereich kommt er deshalb gleich am Eingang des Briefcorpus zu sprechen, freilich nicht ohne Grundlegendes anzusprechen, sei es soteriologischer Art, sei es die Bedeutung seiner Person betreffend (V. 7).

Vorrangiges Problem war damals im Gottesdienst offenbar das Auftreten der Frauen. Im Judentum war beides ziemlich klar geregelt. Die Synagoge der Mischna erlaubte der Frau weder das „Zeugnis“, noch die Unterrichtung von Kindern (nämlich in der Tora, also die Auslegung derselben), noch auch nur das Tischgebet. War es angemessen, die Verhaltensregeln der Frauen in Gemeinde und Gottesdienst wie vieles andere auch dem Vorbild der Synagoge anzupassen? Die Korinther- ebenso wie die Pastoralbriefe belegen die lebhafte Diskussion, die jedenfalls in manchen Gemeinden um diese Frage geführt wurde. Der Apostel bleibt (wie wir sehen werden) insgesamt in der vom Judentum gebahnten Spur, gibt ihr aber ein eigenes Gepräge.


III

1 Die (hier verkürzte) „formula of request“ eröffnet das eigentliche Briefcorpus. Der 1Tim will kein Lehrschreiben sein wie der Römerbrief, keine ausgesprochene Kampfschrift wie der Galater- oder der 2. Korintherbrief. Gewiss klingen Lehrtopoi auch an und hat der Apostel auch hier Gegner im Visier, die seine Gemeinden bedrohen und gegen die er deshalb argumentiert; aber in erster Linie sind es Fragen der inneren Gemeindeordnung, die er klären will und muss. Das Gebet als Anliegen und Aufgabe der Gemeinde steht dabei vornan. Der sachliche Vorrang des Betens korrespondiert hier der formalen Stellung im Briefganzen. Entsprechend bezieht sich das πρῶτον πάντων auf das Gebet als ersten der nun folgenden Verhandlungsgegenstände, ist nicht auf eine Reihenfolge im Ablauf des Gottesdienstes oder verschiedener Gebetsteile zu deuten.

Spricht er vom Gebet, das damals wie heute den Kern jüdischer Frömmigkeit ausmachte, verwendet Paulus gern die Aneinanderreihung von zwei oder mehreren Begriffen (Eph 6,18; Phil 4,6; 1Tim 5,5; vgl. schon Jer 11,14 LXX). Offenbar hatten die verwendeten Termini für ihn allesamt eine je spezifische Bedeutung, die sich im Nachhinein nur noch annähernd bestimmen lässt. Auffällig ist ihre Verwendung in Petitionen, wie die Papyri zeigen. Am ehesten kann man προσευχή als Abstraktbegriff ansehen, ein Wort, das die Anrufung Gottes stets impliziert. Dass der Apostel es nicht an den Anfang der knappen Liste von Gebetstermini gesetzt hat, deutet an, dass er damit keine systematische Absicht verband. Δέησις meint im Griechischen zunächst einfach den „Mangel“ an etwas, im NT dann jede Bitte im weitesten Sinn und an die verschiedensten Adressaten, speziell aber das konkrete, situationsbezogene Bittgebet zu Gott, häufig im Sinne einer Für-Bitte. Auch ἔντευξις gehört zur Terminologie der griechischen Bittschriften. Ursprünglich hatte es die Bedeutung „Begegnung“, dann aber auch „Unterredung“ (2Makk 4,8), und konnte schließlich sogar die territorialen „Ansprüche“ Kleopatras auf Palästina bezeichnen. Im ntl. Bereich bekommt es schließlich die Spezialbedeutung „Fürbitte“.324 Εὐχαριστία schließlich, der vierte verwendete Terminus, meint die „Erstattung von Dank“, im biblischen Kontext den dem Schöpfer und Erhalter geschuldeten (und ihm auch vorbehaltenen) Dank, der zu Gottes Verherrlichung dient (2Kor 1,11 im Gegenüber mit δέησις). Insgesamt geht es Paulus um die ganze Vielfalt des bittenden, fürbittenden und dankenden Gebets der Gemeinde, ohne dass sich hier eine Kategorisierung nahe legen würde. Für alle Menschen soll gebetet werden. Diese Anweisung wird verständlich, wenn man die Verbindung zu V. 4 beachtet, wo es in soteriologischem Kontext heißt, dass Gott will, dass alle Menschen gerettet werden. Wir haben es hier mit einer (allerdings nicht reinen) chiastischen Form zu tun, indem V. 1c (Gebetsgegenstand: für alle Menschen) und V. 4 (Gebetsziel: dass alle Menschen gerettet werden) die Verse 2a (Gegenstand: für Könige und alle, die Macht ausüben) und 2b (Ziel: damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen können) einrahmen. Paulus spricht von dem fürbittenden Gebet, das auf die Errettung aller Menschen aus ist. Nicht vergessen werden sollte der Verzicht der Römer seit Julius Caesar auf die Teilnahme der Juden am Kaiserkult, das später allerdings mit der Bedingung eines (jüdischen) Opfers zugunsten des Kaisers verbunden war.

2 Schon im AT und in seinem Umfeld finden wir die Sitte, für Könige und alle, die Macht ausüben, zu beten (z.B. Jer 29,7; Esr 6,10; Bar 1,11), um damit der Gemeinde bessere Existenzmöglichkeiten zu eröffnen.

Der Anspruch Gottes auf die ganze Welt ist fest im AT verwurzelt. Nicht nur um einen Anspruch, sondern auch um eine Segenswirkung geht es dabei, wie schon der Auftrag und die Verheißung an Abraham Gen 12,2f zeigt. Dieser Bogen der Segenswirkung spannt sich hinüber etwa bis zu Josef (Ex 40,38). Andererseits wird auch der Anspruch auf die heidnischen Völker deutlich, wenn etwa die Könige Nebukadnezar als Gottes Knecht (Jer 27,6) und Kyros als Gottes Messias (Jes 45,1) bezeichnet werden. Deutliche Ansätze finden sich dann in Jer 29,7, in Esr 6,10 im Erlass des Königs Darius sowie in den Apokryphen in Bar 1,11 als Aufforderung der babylonischen Juden an die aus dem Exil Heimgekehrten. Das Opfer für den Kaiser (nicht an den Kaiser!) war ein Zugeständnis der Juden, mit dem sie ihre auf Julius Caesar zurückreichenden religiösen Privilegien (Befreiung vom Opfer an den Kaiser, vom Militärdienst usw.) „bezahlten“. Jesu Wort zur Steuer (Mt 22,21) geht tendenziell in dieselbe Richtung. Ansonsten finden wir ähnliche Aussagen wie in 1Tim 2,2 erst wieder Mitte der 90er-Jahre in Rom (!) im 1Klem 60f, wo uns ein solches Gebet im Wortlaut erhalten ist.

Für Paulus hat dies Gebet aber durchaus einen ordnungstheologisch verwurzelten, positiven Charakter, sah er doch in den Machthabern die von Gott selbst eingesetzte Obrigkeit (Röm 13,1–7). Den Römerbrief schrieb der Apostel – das muss man sich klar machen – schon unter der Regierung des Kaisers Nero, dessen Willkür der Christenheit keine zehn Jahre später die erste systematische Verfolgungswelle und Paulus selbst den Märtyrertod bringen sollte. Dass (wie Jeremias z. St. meint) mit den βασιλεῖς „die Kaiser“ gemeint sein sollen, erscheint gerade angesichts des Plurals unwahrscheinlich. Könige dagegen gab es viele, und mit den ἐν ὑπεροχῇ ὄντων sind wohl die regionalen (Provinzstatthalter) und lokalen (Stadtregierungen) Machthaber gemeint (etwa 2Makk 3,11 von Hyrkan). Ob hinter der Formulierung die Meinung stand, vor Ort und nicht zuerst in Rom entscheide sich, wie die Gemeinden vom Staat behandelt werden? In diesem Sinne hatte jedenfalls Lukas in seiner Apostelgeschichte argumentiert, wenn auch nicht ohne an Konsequenzen in Rom zu denken.

Konkretes Ziel der Fürbitte für die Obrigkeit ist hier, damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit. Offenbar bestand Anlass zu diesem Wunsch (im Blick auf Ephesus vgl. auch 1Kor 15,32; 16,9b; Apg 19,9f; 23ff), denn nun blies der antichristliche Wind der Gemeinde schon schärfer ins Gesicht (vgl. 1Petr, der etwa in dieselbe Zeit fällt). Aber schon früher, wohl Ende der 40er-Jahre, als Paulus den 1Thess schrieb, ermahnte er die Gemeinde, „ein stilles Leben“ zu führen (1Thess 4,11; vgl. 2Thess 3,12), was dort wohl auf die Unabhängigkeit der Christen von der Unterstützung der Außenstehenden gemünzt ist. Josephus kennt wenige Jahrzehnte später das Ideal des εἰρηνικὸν καὶ ἡσύχιον βίον διάξαι (Ant 13,407 vgl. 11,219; 18,245). Gemeint ist auch in unserem Zusammenhang (wie in 1/2Thess) die von außen ungestörte Entfaltungs- und Wirkungsmöglichkeit für die Gemeinde. Sie erweist sich praktisch durch Frömmigkeit und Ehrbarkeit. Beide griechischen Wörter stammen von einer gemeinsamen Wortwurzel. Sie verhalten sich zueinander wie die zwei Seiten einer Münze, wobei εὐσέβεια die Blickrichtung auf Gott hat, der ja auch hinter den Ordnungen dieser Welt steht, und σεμνότης das entsprechende sichtbare Verhalten meint. Das missionarische Moment zeigt: Es geht nicht um ein frommes Nach-innen-gewandt-Sein. Denn „σεμνός ist das, was … an dem Verhalten der Menschen, auf den andern einwirkend, ein σέβεσθαι hervorruft“. Wir haben uns also einen Kreislauf vorzustellen: Frömmigkeit (εὐσέβεια meint im profangriechischen Gebrauch allgemein „die Achtung von gültigen Werten bzw. Wertordnungen“. Als Einstellung Gott gegenüber führt sie zu einem entsprechenden Verhalten, welches wiederum Außenstehende so beeindrucken kann, dass sie selbst in diesem Sinne „fromm“ werden. Stettler zitiert Gerhard von Rad, nach dem εὐσέβεια bzw. das hebräische Äquivalent „an einigen markanten Stellen … einfach Gehorsam gegenüber dem göttlichen Willen“ meine, also praktizierten, gelebten Glauben. Die weitere Entwicklung der Kirchen- und Missionsgeschichte sonderlich der Alten Kirche zeigt, wie kräftig dieses Element mitgeholfen hat, die antike Welt christlich zu durchdringen. Das Lebenszeugnis war eine der erfolgreichsten Missionsmethoden.333

3 In V. 3 liegt eine „Billigungs-“ oder „Akzeptanz-Formel“ vor, die ähnlich noch in 5,4 steht. Gehen wir von dem weniger blassen Begriff ἀπόδεκτον aus, so gewinnt sie schnell ein Profil: Im griech. AT wird er im Zusammenhang mit dem Opferkult gebraucht. Ein Opfer(tier) gilt als ἀπόδεκτος, sofern es Gottes in den Opfergesetzen offenbarter Vorstellung, also seinem Willen, entspricht (etwa Lev 1,3 u.ö.). In diese Linie wird auch das andere Adjektiv καλόν einzureihen sein, dem wir unrecht täten, wollten wir es mit der ganzen Schwere des griechisch-philosophischen Sprachgebrauchs befrachten. Es hat hier „wie in LXX seine Färbung aus dem Willen Gottes“.337 Dieser Tatbestand wird durch die Zufügung „vor Gott, unserem Retter“ noch einmal unterstrichen. Was aber wird von Gott „gebilligt“? Die „Billigungsformel“ bezieht sich nicht nur auf die Zielangabe (V. 2b), sondern sehr wahrscheinlich auf die ganze Phrase von ποιεῖσθαι bis σεμνμότητι. Das fürbittende Gebet entspricht Gottes Willen, und zwar nun speziell Gottes Retterwillen, der in 1,15 programmatisch formuliert worden war. Hier wie auch an etlichen anderen Stellen wird Gott-selbst mit dem Prädikat σωτήρ belegt (vgl. Lk 1,47; 1Tim 1,1; 2,3; 4,10; Tit 1,3; 2,10; 3,4; Jud 25), während es meist dem Gottessohn vorbehalten ist (14-mal; zum σωτήρ - Titel vgl. oben zu 1,1).

4 Die Billigung der gemeindlichen Fürbitte für alle Menschen bedarf offenbar in jener unsicheren Zeit einer argumentativen Untermauerung aus dem bekannten und deshalb anerkannten christlichen Traditionsgut. Der Schreiber unseres Briefes kommt dem nach, indem er ein geprägtes Stück relativisch anschließt. Formal gesehen handelt es sich dabei um einen synonymen Parallelismus membrorum, der noch einmal den Retterwillen Gottes unterstreicht und die Art und Weise, wie solche Rettung geschieht, beschreibt. Der Satz könnte aus der innergemeindlichen Katechese hervorgegangen sein. Möglich wäre aber auch, an ein hymnisches, d.h. gottesdienstliches Stück zu denken. Inhaltlich findet sich die Umkehr als Gotteswille bereits im AT (etwa Hes 18,23). Aber auch mit Gal 1,4 und zu Apg 17,30 besteht Einklang, und die Linie weist weiter zu 2Petr 3,9, der nächsten Parallele, wo auch das Geduld-Motiv begegnet (vgl. Röm 2,4). Gottes Wollen wird dadurch gerade nicht als nicht durchsetzungsfähig relativiert, vielmehr wird ihm kein zwanghafter Charakter unterstellt und es wird als ein von Gott beherrschtes Wollen seinem Planen eingeordnet.

Ein entscheidender Punkt für das Verständnis unserer Stelle ist das καί. Ist es beiordnend zu verstehen oder doch eher epexegetisch die erste Aussage erläuternd? M.E. beschreibt der zweite Halbvers auch die Art und Weise, den Weg, wie es zur Rettung der Menschen kommen kann: …und zwar indem sie zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen. So verstanden ist die ἐπίγνωσις ἀληθείας nicht nur neben dem σωθῆναι das letzte Ziel des Erlösungshandelns Gottes, es ist vielmehr zugleich der Weg zu diesem Ziel. Beide Aspekte sind voneinander nicht zu trennen. Dem entspricht, was Paulus 2Tim 3,7 über die schreibt, die „immer lernen, aber niemals zur Erkenntnis der Wahrheit kommen können“. „Erkenntnis“ ist aber im Umkreis biblischen Denkens nie (nur) geistiger Vorgang, sie schließt stets die persönliche Stellungnahme, ja die Betroffenheit mit der ganzen Existenz, ein. Nehmen wir hinzu, dass Jesus sich nach Joh 14,6 als die „Wahrheit“ in Person verstanden hat, so wird deutlich, wovon Paulus hier spricht: Sich positiv zu Jesus stellen, das ist auf der menschlichen Seite Weg und Ziel der Errettung. Durch das ἔρχεσθαι, ein Verb der Bewegung, ist bereits impliziert, dass der Vorgang der Errettung eine Veränderung, einen Fort-Schritt bedeutet. Der Mensch kann und wird nicht bleiben, wie und was er ist, wenn Gott ihn rettet. Die grundsätzliche Zuordnung von Dogmatik und Ethik, von Indikativ und Imperativ wird hier durchkonjugiert. Aus dem Vertrauen auf Gott heraus werden Menschen tätig zur Verbesserung der Zustände in der Welt, nicht umgekehrt. Von Hebr 10,26 her, wo von der ἐπίγνωσις ἀληθείας die Rede ist, fällt noch einmal ein bezeichnendes Licht auf unsere Stelle. Hier wird der Ausdruck nämlich als Synonym für das Christ-Werden gebraucht.

5 An das eine Traditionsstück schließt sich unmittelbar ein weiteres an (V. 5f), wohl ein bekenntnishafter Hymnus auf den einen Gott und den einen Mittler Christus. Zweifellos hat das Bekenntnis eine gewisse Ähnlichkeit mit der zweiteiligen, wohl aus dem hellenistischen Judenchristentum stammenden Bekenntnis 1Kor 8,6, wo ebenfalls die Einzigkeit des Vaters und des Sohnes hervorgehoben wird. Damit bezieht der Apostel (und mit ihm seine Gemeinde) in doppelter Hinsicht Position: Einer ist nämlich Gott – im Blick auf das Judentum unterstreicht er damit ausdrücklich dessen Grundbekenntnis zu dem einen Gott (vgl. Röm 3,30; Gal 3,20), wie es im AT vielfältig zu finden ist, am präzisesten in dem Bekenntnis Deut 6,4, das viele fromme Juden bis heute täglich sprechen und das sie als Erinnerung und Bekenntnis am Körper und am Haus anbringen. Es gab für Paulus keinen Grund, sich in der Gotteslehre grundsätzlich vom Judentum als der Wurzel des Christentums (Röm 11,17ff) zu distanzieren, erst recht nicht in der von uns angenommenen Situation vor Ausbruch des ersten Jüdischen Krieges. Umgekehrt wird man fragen müssen, ob diese Harmonieerklärung auch dann noch angebracht gewesen wäre, wenn die Pastoralbriefe erst viel später, etwa um das Jahr 100, also nach der offiziellen Ausstoßung der Christen aus der Synagoge durch die Aufnahme des Fluchs über die Abtrünnigen in das „Achtzehn-Bitten-Gebet“, entstanden wären. Dem Vielgötterglauben des damaligen (und heutigen!) Heidentums, das von seinem Wesen her synkretistisch angelegt war, erteilt er damit zugleich eine deutliche Absage.

Eine andere, heute viel diskutierte Frage ist die nach dem Verhältnis zum Islam, mit dem das Christentum viel verbindet: 1. Wie das Judentum ist er eine monotheistische Religion, strenger noch als das Christentum selbst (jedenfalls aus islamischer und jüdischer Sicht!). „Dieser Glaube an Gott als Ursprung und Ziel von Mensch und Welt ist die grundlegende Gemeinsamkeit zwischen Christen und Muslimen“, schreibt Hagemann. 2. Wie Judentum und Christentum ist der Islam eine Buchreligion, d.h. es gibt eine relativ klar umrissene Lehrgrundlage.345 3. Wie das Christentum seine Wurzeln im Judentum hat, so hat der Islam seine Wurzeln im Judentum und im (häretischen) Christentum, allerdings daneben auch in heidnischer Religion. Dieser 3. Punkt stellt gleichzeitig aber auch schon ein Problem zwischen Christentum und Islam dar, insofern dieser sich und sein heiliges Buch als religiösen „Fortschritt“ über Judentum und Christentum hinaus versteht, also als ihre Überhöhung und Überwindung. Der 2. Punkt ist problematisch, weil es wie bei Juden und Christen keine allgemein gültige Lehrautorität gibt, sondern teilweise sich bekämpfende dogmatische Richtungen einerseits, andererseits liberale und fundamentalistische Strömungen. Zentral ist allerdings der 1. Punkt, ist die Frage nach Gott und damit auch nach Jesus Christus. Denn die Frage liegt nahe, ob angesichts der erwähnten religionsgeschichtlichen Verwurzelung nicht „Allah“ einfach nur eine andere Bezeichnung für dieselbe Gottheit sein könnte. Dem steht allerdings die konkrete Gotteslehre beider Religionen entgegen, in der es doch (wie nicht anders zu erwarten) neben etlichen Parallelen auch erhebliche Differenzen gibt. Christologie347 und Trinitätslehre waren dem Islam von Beginn an anstößig, werden allerdings als nachträgliche Verfälschungen der ursprünglichen Botschaft gesehen. Kein Platz ist im Denken des Islam für die Vorstellung eines Erlösers oder für eine „Kreuzestheologie“ in dem Sinn, dass ein von Gott Gesandter auch scheitern könnte.349 Insgesamt wird man die Identität Gottes mit „Allah“ nicht als Möglichkeit ansehen können. Dies hat Konsequenzen für den interreligiösen Dialog.351

Und ein Vermittler zwischen Gott und Menschen, der Mensch Christus Jesus – das ist gleichzeitig eine Abgrenzung gegenüber dem Judentum, das natürlich die Mittlerschaft Jesu entschieden ablehnte, und gegenüber dem Heidentum mit seiner Vielzahl von Mittlergestalten (Heroen, Halbgötter usw.).353 Dabei richtete sich der jüdische Protest gegen das Mittler-Monopol Jesu, denn es kannte ja durchaus menschliche (Mose, Priester, Propheten, Gottesmänner) und himmlische (Engel) Mittler zu Gott hin. Μεσίτης kommt im NT nur bei Paulus und im Hebr, also im weiteren Umkreis der paulinischen Theologie, vor. Gal 3,19f argumentiert der Apostel (wie es der Zusammenhang auch nahelegt) in jüdischen Bahnen. Der „Vermittler“ ist hier einerseits Mose, andererseits sind es die Engel. Den (in diesem Zusammenhang eher negativ gefassten) Mittlerbegriff von hier aus auf Christus zu übertragen, wäre nicht sinnvoll - und für einen Epigonen gefährlich. Denn an unserer Stelle ist der „Vermittler“ mehr als nur neutraler Vertrauensmann beider Seiten. Er ist selbst entscheidend am Vorgang der Vermittlung neuer Gemeinschaft zwischen Gott und Menschen beteiligt, um die es hier geht. Er ist Mittler und Mittel zugleich,355 wie V. 6 zeigt.

6 Die Mittlerschaft Christi wird nun in einem relativisch angeschlossenen Partizipialsatz inhaltlich beschrieben, und zwar in Kontinuität sowohl mit der im palästinischen Bereich bekannten Anschauung vom Selbstverständnis Jesu (Mk 10,45 par), als auch mit der Versöhnungstheologie des Paulus. Büchsel hält den Satz für „eine Nachbildung von Mk 10,45 (Mt 20.28)“, hebt aber die gegenüber der palästinischen Formulierung charakteristischen Gräzisierungen hervor: Wo Jesus typisch semitisch von τὴν ψυχὴν αὐτοῦ sprach, heißt es hier griechisch ἐαυτὸν; aus dem vorsichtigen ὑπὲρ πολλῶν wird (anknüpfend an 2,1) ὑπὲρ πάντων und aus dem Simplex λύτρον wird (hellenistisch) das Kompositum ἀντίλυτρον. Auch dieser Transfer würde also für die Annahme sprechen, Paulus stelle sich auch sprachlich auf seine jeweiligen Adressaten ein.

Die Möglichkeit der stellvertretenden Sühne war sowohl den Griechen als auch den Juden als religiöses Denkmodell geläufig. Bei den Juden war der Vorgang des Loskaufs durchaus nichts besonderes. Jeder Erstgeborene in Israel galt seit dem Auszug und der Tötung der ägyptischen Erstgeburt als für Gott ausgesondert. Diese musste (bei Tieren) geopfert oder (bei manchen Tieren und beim Menschen) durch eine Ersatzgabe ausgelöst werden (Ex 13,2.11–13). Die Rabbinen leiteten davon den Grundsatz ab, Lösegeld sei Ersatz für verwirktes Leben und – einen Schritt weiter gehend – Sühne. Auch der Loskauf in Sklaverei geratener Volksgenossen war bei ihnen üblich (Lev 27,34). Noch wichtiger ist allerdings der Vorgang des sühnewirkenden, stellvertretenden Sterbens, der schon Jes 53 sehr komprimiert mit Händen zu greifen ist. Dort geht es um das Sterben des Gottesknechts für die Sünden des Volkes (V. 4–6.8.11f[LXX]), ja περὶ ἡμῶν (V. 4). Die Griechen – und das sollte man hinsichtlich des Verstehens des stellvertretenden Todes Jesu seitens der Griechen nicht zu gering einschätzen – kannten die Verwendung von „Lösegeld“ (λύτρον) für den Loskauf von Sklaven ebenso wie für den von Kriegsgefangenen. Aber schon früh wussten sie auch um den Einsatz „Leben gegen Leben“, wenn etwa in der Sage die Gattin anstelle des Gatten, die Schwester anstelle des Bruders stirbt und ihm dadurch das Leben bewahrt.

Das alles zeigt uns: Die christliche Versöhnungsbotschaft war bei Juden und Griechen bereits verständnismäßig vorbereitet. Sie wussten, was gemeint war, wenn Jesus in den Evangelien und Paulus in seinen Briefen davon sprachen. Denn dies war nun einer der festgesetzten Zeitpunkte, im Blick auf den das Zeugnis der Lebenshingabe Jesu geschehen war. Τὸ μαρτύριον bezieht sich auf das geschehene und nun zu bezeugende Ereignis, dann erst auf die jetzt geschehende Verkündigung. Hier ist das hohe Gewicht zu bedenken, das im Altertum, zumal in Israel, dem Zeugen zukam. Lange vor Einführung der Indizienurteile gab sein Zeugnis vor Gericht den Ausschlag, ob der Angeklagte freigesprochen oder (vielleicht zum Tode) verurteilt werden würde. Es musste also den höchstmöglichen Grad an Gewissheit haben. Unser Hymnus überträgt dies auf das Zeugnis, das der stellvertretende Tod Jesu für die Menschen darstellt und stellt damit einen frühen Beleg für die Bezeichnung eines Sterbens nach Gottes Plan als „Martyrium“ dar (vgl. auch 6,13–15).

7 Diesen Gedanken führt der Apostel sogleich fort, indem er von seinem eigenen Amt als κῆρυξ καὶ ἀπόστολος spricht (vgl. 2Tim 1,11, dort wohl in der „Reinform“). Das relativische ὁ bezieht sich auf τὸ μαρτύριον und besagt, Paulus sei gerade zur Proklamation dieser Botschaft eingesetzt. Der Begriff schillert an dieser Stelle also in seiner doppelten Bedeutung (zu bezeugendes Ereignis und Zeugnis von dem geschehenen Ereignis). Κῆρυξ (als Substantiv bei Paulus nur hier und 2Tim 1,11) heißt der mit der Bekanntgabe offizieller Erlasse der Obrigkeit beauftragte „Herold“, aber auch der religiöse „Prediger“. Ἀπόστολος „Gesandter“ nannten die Griechen etwa auch den Leiter einer Flottenexpedition. Im israelitischen Bereich hatte die „Sendung“ von Menschen durch Gott eine lange Tradition, die ihre vorläufige Spitze in der Sendung der Propheten erreichte (2Sam 12,1; Jes 6,8; Jer 1,7 [jeweils LXX] u.ö.; vgl. zu 1Tim 1,1): Sie waren Gesandte Gottes zu einzelnen Menschen (König) oder zu einer Gemeinschaft (Volk) mit einem klar umrissenen Auftrag, der nicht selten im Ruf zur Umkehr, zur Lebenswende bestand. Auch das Judentum der Jesuszeit kannte „Gesandte“ (s.o.), שְׁלִיחִים, ebenfalls mit einem klaren, zeitlich befristeten und sachlich begrenzten Auftrag und einer damit verbundenen Handlungsvollmacht ausgestattete Visitatoren, die von Jerusalem aus die Diasporagemeinden in aller Welt besuchten und dort im Namen der Jerusalemer religiösen Führung handelten. Jesus hat diesen Sprachgebrauch ausdrücklich übernommen, als er seine zwölf Jünger mit einem Verkündigungsauftrag und einer Handlungsvollmacht aussandte (Mk 3,14). Diesen Auftrag, der zunächst ebenfalls befristet und begrenzt war (Mt 10,5f), machte Jesus nach Ostern für die verbliebenen Elf zu einem unbefristeten und unbegrenzten. Auch Paulus verstand sich, wie Lukas in den Berichten der Apg über dessen Berufung zeigt, als von dem erhöhten Herrn eingesetzter (ἐτέθην) Apostel. Er verteidigte diesen Titel um der damit verbundenen Vollmacht willen den Korinthern (1Kor 9,1ff; 15,9; 2Kor 11,5; 12,11f) und – mutatis mutandis – vorher schon den Galatern gegenüber. Gleichzeitig hängte er ihn aber nicht so hoch, konnte vielmehr auch seinen Mitarbeiter Titus und zwei nicht einmal namentlich genannte Brüder, die mit einem fest umrissenen Auftrag unterwegs waren, als ἀπόστολοι ἐκκλησιῶν bezeichnen (2Kor 8,23). Die Beteuerungsformel ich sage die Wahrheit, ich lüge nicht (vgl. Röm 9,1) zeigt die auch jetzt noch (also nach wahrscheinlicher Datierung 8 oder 9 Jahre nach den Korintherbriefen und etwa 16 Jahre nach Gal) vorhandene „Legitimationspflicht“ des Paulus in den Augen mancher ihm wenig wohlwollend gegenüberstehender Christen – ein Zusatz übrigens, der rund 40 Jahre später kaum verständlich und im Sinne des vermuteten Verfassers auch gar nicht hilfreich wäre. Er zeigt aber auch, dass 1Tim weder formal noch faktisch ein reiner Privatbrief ist. Man könnte sagen: Die Kritiker des Apostels schauen dem Adressaten beim Lesen stets über die Schulter bzw. sie sind bei der öffentlichen Verlesung zugegen.

Paulus verstand sich also als autorisierter Proklamator und bevollmächtigter Gesandter (vgl. 2Kor 5,20), aber auch als Lehrer der Heidenvölker (διδάσκαλος ἐθνῶν). Διδάσκαλε (hebr. רַבִּי) war stehende Anrede für Jesus, der von seinen jüdischen Zeitgenossen nach Form und Inhalt seines Wirkens offensichtlich in die Kategorie der Rabbiner eingeordnet wurde. Lukas nennt in der Liste der Propheten und Lehrer von Antiochia (Apg 13,1) auch Saulus, und der Apostel selbst kennt dieses Amt des Lehrers (1Kor 12,28; Eph 4,11), ohne freilich sich selbst außerhalb der Pastoralbriefe explizit so zu bezeichnen. Rengstorf spricht von der doppelten Funktion der Apostel, die die Aufgaben der nach außen gerichteten missionarischen Verkündigung des κῆρυξ bzw. εὐαγγελιστής einerseits, gipfelnd in der Auferstehungsbotschaft und dem Umkehrruf, mit der nach innen gerichteten, gelehrt-lehrenden Aufgabe des διδάσκαλος in ihrer Person vereinigten. Mit Recht hebt er das aus tief gehender Kenntnis der jüdischen Heiligen Schrift hervorgehende, deren durch Jesu Kommen und Wirken bedingte Neuverständnis einbeziehende, nüchtern-methodischer Exegese entspringende διδάσκειν von dem pneumatischen προφητεύειν ab. Zu ihm gehört sowohl die Deutung der jeweiligen Situation aufgrund der Schrift, als auch die seelsorgliche Zuspitzung im Blick auf den Einzelnen oder die Gemeinde. Für den Lehrer der Heidenvölker mussten zwangsläufig die nur im jüdischen Bereich sinnvollen Elemente „Schriftbeweis“ und das Schema „Verheißung – Erfüllung“ im Rahmen der missionarischen Verkündigung zurücktreten. Διδάσκειν meint im heidnischen Umfeld deshalb „die Belehrung seiner Gemeinden durch ihn selbst [Paulus] in der Zeit der Grundlegung ihres Christenstandes (2Thess 2,15; Kol 2,7; Eph 4,21), zweitens im Sinne einer innergemeindlichen Funktion der Christenheit“, mit anderen Worten eine Art „Grundausbildung“ der Heidenchristen hinsichtlich des AT und der Verkündigung Jesu. Der Zusatz in Treue und Wahrhaftigkeit kann verschieden interpretiert werden. Bezieht er sich auf den Apostel selbst in seiner Funktion als Lehrer der Heidenvölker, so ist (mit Jeremias z. St.) modal gemeint, dass dieser sein Amt in Treue und Wahrhaftigkeit ausrichtet, etwa im Sinne der Verteidigung der Zuverlässigkeit seiner Verkündigung und seiner Amtsführung im 2Kor. Es ist aber auch möglich, hier an das zu denken, was Paulus den Heidenvölkern beibringen soll. Dann wäre „in Glauben und Wahrheit“ zu übersetzen und an die subjektive Annahme und den objektiven Inhalt der christlichen Botschaft zu denken.

8 Mit V. 8 nimmt Paulus den oben V. 1f begonnenen Faden wieder auf. Οὖν wird auch sonst gelegentlich dazu verwendet, „nach einer Unterbrechung den Gegenstand wiederaufzunehmen“ (ähnlich 1Kor 8,4!). Was V. 1 allgemein Ermahnung war, wird nun in der Konkretion zur persönlichen Verfügung des Apostels, die er aufgrund seiner Amtsautorität aussprechen kann (vgl. 5,14; Tit 3,8). Dabei kommen zunächst und nur sehr knapp die Männer in den Blick. Ἀνήρ heißt hier der (erwachsene) Mann (geschlechtsspezifisch im Unterschied zur Frau). Die Männer sind (wie im Judentum) nicht vom Gebet dispensiert. Im Gegenteil! Der bekannte, wohl nur sekundär belegte Satz des Philosophen Fichte: „Das Kind betet, der Mann will!“ lässt sich auf das Judentum gewiss nicht anwenden.

Welchen Gebetsauftrag erhalten die christlichen Männer? Sie sollen (1) an jedem Ort beten, dabei (2) heilige Hände erheben, und zwar (3) ohne Zorn und Zweifel.

1. Ἐν παντὶ τόπῷ sagt Paulus 1Kor 1,2 ebenfalls im Zusammenhang mit dem Gebet, aber auch für die geographische Verteilung seiner Gemeinden (2Kor 2,14; 1Thess 1,8). Schlatter z. St. sieht (parallel zur Entgrenzung des Gebets V. 1f) darin einen Hinweis, das Gebet nicht auf den Betsaal, also auf ihre Versammlungsstätte zu beschränken, damit nicht „der ganze neben dem Betsaal gepflegte Verkehr der Gemeinde gebetslos“ werde. Freilich war für den Juden das Gebet nicht prinzipiell an die Synagoge bzw. Proseuche (!) gebunden, wenn sie auch außerhalb Jerusalems dessen Hauptplatz war. Gewiss trifft der erste Teil der Schlatter’schen Beobachtung zu: Es führt eine sprachliche Verbindungslinie von 1f hierher, denn die parallele Formulierung wird doch kein Zufall sein. Dann aber weist der paulinischen Sprachgebrauch doch wohl auf ein geographisches Verständnis: Der Apostel gibt hier keine „Sonderanweisungen“, die etwa nur für Ephesus gelten sollen, sondern er stellt Regeln für seinen gesamten Einflussbereich auf.

2. Die Männer sollen heilige Hände erheben. Der Jude (aber auch viele Heiden) betete mit nach oben ausgebreiteten Händen und nach oben gerichteten Handflächen (vgl. Ex 17,11f), wie ein offenes Gefäß, in das Gottes Segen fließen sollte. Nicht auf der Geste liegt aber der Ton, sondern auf der Eigenart der erhobenen Hände, die heilig sein sollen. Die Hand steht pars pro toto für das Handeln des Menschen, das in atl. Umkreis in die Kategorien „heilig“ (kultisch nicht verunreinigend) und „profan“ bzw. „sündhaft“ (kultisch verunreinigend) eingestuft wurde. Auch die Griechen kannten die χέρες ὅσιαι in Verbindung mit dem Gebet. „Der Beter kann sein Gebet nicht von seinem Handeln sondern; vielmehr übertragen sich die Folgen seines Handelns auch auf sein Gebet“, schreibt Schlatter.370 Heiligkeit ist nach Eph 4,24 Attribut des von Gott erneuerten Menschen, der nach Gottes Geboten zu leben bestrebt ist.

3. Ent-heiligendes Handeln ist häufig von außen erkennbar. Anders ist es mit den inneren Regungen des Herzens, für die der Apostel (beispielhaft) die ὀργή und den διαλογισμός nennt. Zorn unterbindet das Verhältnis zum Mitmenschen. Jesus hatte in den Gottes Willen radikalisierenden „Antithesen“ das Zürnen mit dem Töten des Dekalogs gleich gestellt und entsprechende Weisung gegeben (Mt. 5,21–26). Zweifel (so m.E. besser als „Zank“, der ebenfalls auf die zwischenmenschlichen Beziehungen gehen würde) beeinträchtigt das vertrauensvolle Verhältnis zu Gott und damit die Erhörbarkeit des Gebets (Jak 1,6–8). Es scheint, als habe Paulus in V. 8 die spezifischen Probleme im Auge gehabt, die Männer mit dem Gebet hatten (und haben): den Versuch, das Beten und den ganzen Bereich des Religiös-Spirituellen den Frauen zu überlassen; die Gefahr, durch den Zwiespalt von Handeln und Beten zum Heuchler zu werden; die Tendenz, Zorn, Zweifel und andere innere Einstellungen zum Gebetshindernis werden zu lassen.

9 V. 9–15 kommt der Apostel auf das Verhalten von Frauen im Gottesdienst, speziell beim Gebet zu sprechen. In der damaligen Welt musste das junge Christentum als aus dem Judentum hervorgegangene Glaubensrichtung unweigerlich an dieser Stelle auf Konflikte stoßen, denn sowohl gesellschaftlich als auch kulturell und religiös waren die Rahmenbedingungen unter Juden und Heiden zu unterschiedlich. Kein Wunder also, wenn dieser Konflikt nicht im syrisch-palästinischen Raum aufbrach, sondern vor allem in Griechenland. Denn Frauen, die (wie Lydia in Philippi) zum Glauben an Jesus und dadurch zur christlichen Gemeinde kamen, brachten ja ihre eingeübten Verhaltensweisen mit. Sie wunderten sich nun, wenn von ihnen in dieser Gemeinschaft eine Zurückhaltung erwartet wurde, die ihnen bisher fremd war und deren Begründung sie nicht einzusehen vermochten. Festzuhalten ist jedenfalls: Das Beten im Gottesdienst wird den Frauen nicht verboten, aber es wird geregelt.

Mit ὡσαύτως wird das Verhalten der Frauen im Gottesdienst (konkreter: beim Gebet) ebenso unter die Verfügung des Apostels gestellt wie vorher das der Männer. Dazu gibt Paulus zunächst zwei Weisungen, deren grammatisches Grundgerüst eine nähere Betrachtung lohnt. Auch die Aussage über die Frauen ist eine noch von βούλομαι (V. 8) abhängige AcI-Konstruktion, die wir wie folgt ergänzen müssen:

[Βούλομαι] ὡαύτως καί γυναῖκας [προσευξομένας]
ἐν καταστολῇ κοσμίῳ κοσμεῖν ἑαυτὰς
μετὰ αἰδοῦς καὶ σωφροσύνης
μὴ ἐν πλέγμασιν καὶ χρυσιῷ
ἢ μαργαρίταις ἢ ἱματισμὦ πολυτελεῖ,
ἀλλʼ
ὁ πρέπει γυναιξὶν ἐπαγγελλομέναις
θεοσέβειαν,
διʼ ἔργων ἀγαθῶν.

Mit ὡαύτως + καὶ konstruierte Paulus ebenso in Röm 8,26 und vor allem 1Kor 11,25, wo auch das Hauptverb (ἔλαβεν) von V. 23 in V. 25 sinngemäß zu ergänzen ist. Dies hat zur Folge, dass sich V. 9f insgesamt auf das Verhalten der Frauen beim Gebet bezieht und nicht ganz allgemein Weisungen für das Verhalten der Frauen aufstellen will. Indem er es näher beschreibt, greift der Vf. ohne Scheu auf im griechischen Bereich geläufige Vorstellungen zurück, wo die Stichworte κόσμιος, αἰδώς, σωφροσύνη bereits miteinander verknüpft vorlagen:

κόσμιος bezeichnete schon früh „das Wesen einer Person, die sich selbst in Zucht zu halten vermag“ und wurde so „das Prädikat eines wahrhaft gesitteten, anständigen Menschen“, stets verbunden mit der „Idee der Beherrschung des Körpers, seiner Bewegungen und seiner Triebe“. Gegensatz dazu ist Zügellosigkeit (ἀκολασία) Κοσμιότης erscheint häufig (wie auch hier) im Windschatten der σωφροσύνη als deren Folge und gilt mit ihr zusammen geradezu „als Tugend edler Frauen“.

Diese Beobachtungen weisen den Weg für die Auslegung: Die Frauen werden angehalten, auch in ihrer Beteiligung am Gottesdienst der Gemeinde (die – im Gegensatz zum Judentum – in den von Paulus gegründeten Gemeinden offenbar nie grundsätzlich in Frage gestellt war) ihre Spontanität zu zügeln. Solche Zurückhaltung soll verbunden sein μετὰ αἰδοῦς καὶ σωφροσύνης. Beide Begriffe kann man im Griechischen im Umfeld der κοσμιότης finden, d.h. sie gehören demselben sprachlichen wie sachlichen Bereich an.

Mit αἰδώς fällt der Blick auf die Einstellung und Haltung des Menschen gegenüber Gott selbst und den von ihm bzw. von der Gemeinschaft (etwa der Polis) gesetzten und daher für den Menschen verpflichtenden Ordnungen. Σωφροσύνη, eine der griechischen „Kardinaltugenden“ und ihrerseits in der αἰδώς begründet, geht in dieselbe Richtung, meint sie doch u.a. „die Besonnenheit im Sinne von Mäßigung u Selbstbeherrschung“.380 Das bedeutet: Der Apostel stellt nicht ein ihnen zunächst fremdes, etwa in der weisheitlichen Literatur Israels wurzelndes Idealbild der Frau vor die Augen der weiblichen Gemeindeglieder, sondern er greift (aus seelsorglich-pädagogischen Gründen und sicher auch unter Berücksichtigung dessen, was die Frauen in Ephesus überhaupt verstehen und akzeptieren konnten) die im hellenistischen Bereich bereits geläufigen Vorstellungen auf und macht sie zu Instrumenten seiner Verhaltensregeln. Die Frauen sollen sich beim gemeinschaftlichen Gebet vor Gott gestellt wissen und deshalb sich bis in die äußeren Dinge wie die Kleidung (V. 9b), mehr noch aber in ihrem Auftreten und ihrer Motiviertheit entsprechend verhalten.

Im zweiten Teil (V. 9b) wird der Apostel konkreter. Hier lässt sich auch der aktuelle Hintergrund seiner Weisungen ein wenig deutlicher ausmachen. Dieser Satzteil steht unter dem positiven Stichwort des Sich-Schmückens.

Κοσμεῖν (und alles, was mit κόσμος „Ordnung; Schmuck“ zusammenhing) hatte für den Griechen einen grundsätzlich positiven Klang. So auch hier: Paulus lenkt den Blick der Frauen weg von den beeindruckenden Äußerlichkeiten (V. 9b) und weist sie auf das hin (V. 10), was ihnen wirklich „gut steht“. Ähnlich argumentiert auch 1Petr 3,3–6. Dort finden wir nicht nur zum Teil dieselbe Begrifflichkeit (κοσμ-, χρύσιον, ἱματ-, πολυτελής, ὑποταγή/ὑποτάσσειν); es wird auch ein Menschenpaar als Beispiel herangezogen, nämlich 1Tim 2,13f negativ Adam und Eva, 1Petr 3,6 positiv Sara und Abraham. Zudem spielt in beiden Zusammenhängen das Gebären von Kindern eine Rolle (1Tim 2,15 / 1Petr 3,6).

Drei Bereiche weiblicher „Mode“ spricht Paulus an: die Haartracht, den Schmuck und die Kleidung. Auf kaum einem Gebiet menschlicher Selbstdarstellung hat es seit der frühesten Zeit so wenig grundsätzliche Veränderung gegeben wie im Blick auf die Haartracht. Schon im 3. Jt. v.Chr. trugen die Frauen Trojas reichen goldenen Haarschmuck, in minoischer Zeit kannte „frau“ auf Kreta hochfrisiertes, mit Bändern durchwirktes, teilweise kompliziert frisiertes Haar. Auch in Griechenland selbst trugen Frauen des 1. Jt.s Gold und Silber in komplizierten, mit Locken und Strähnen versehenen Frisuren. Die Römerinnen, in späterer Zeit sonderlich die Damen des Kaiserhauses, nahmen diese Traditionen gerne auf und fügten neue Frisuren hinzu. In ntl. Zeit trug die Frau in mehreren Reihen gedrehte Löckchen, teilweise mit hohen Toupets kombiniert, mit Nadeln aus Edelmetall oder Elfenbein hochgesteckt. Natürlich kannte man das gefärbte Haar, und selbst die Perücke war schon erfunden. Schon früh hatte das Haar auch religiöse (Haaropfer, Nasiräat) und symbolische Bedeutung, indem Länge und Frisur der Haare etwas über ihren Träger aussagten. In der Frühzeit war das ungekürzte Haar Erkennungszeichen der Freien. Spätestens seit dem 5. Jh. v.Chr. erkennt man die Sklaven durchweg am abgeschnittenen Kurzhaar, wobei dieses damals bei den freien Männern ebenfalls üblich war. Bei den Frauen aber blieb der Unterschied noch länger erhalten.

Auch die Geschichte menschlichen Schmucks lässt sich mindestens bis ins 3. Jt. zurückverfolgen. Verwendung fanden vor allem die edlen, aber auch andere Metalle, daneben Holz, Elfenbein, Glas, Bernstein, Perlen, Edelsteine u.a. Fast alle heute verwendeten Schmuckformen waren im Altertum bereits bekannt (Ringe, Ketten, Bänder, Anhänger, Kränze, Gürtelschnallen, Medaillons). Für unser Gebiet (Griechenland/Kleinasien) ist der Aufschwung von besonderer Bedeutung, den Schmuckherstellung und -verwendung in hell. Zeit nahmen. Der Hellenismus als eine Mischkultur neigte natürlich dazu, traditionelle Elemente aus West und Ost miteinander zu verbinden. Er brachte neue Formen und Techniken, aber auch neue Materialien (z.B. die Perle) in den Westen. Dadurch wurde der Schmuck „ins Prunkhafte gesteigert und mit vielfältigen Verzierungsarten überladen“384. Er war schon längst für Männer und Frauen zum Prestigeobjekt geworden, dessen Besitz oder Nichtbesitz (Sklaven durften z.B. in Rom keine Goldringe tragen) zu den Statussymbolen zählte. Die Perle gehörte in römischer Zeit zu den meistbegehrten Schmuckstücken. Dass der Schmuck über den sozialen Bereich hinaus von Bedeutung war, belegt sehr schön eine atl. Stelle. Nach der Geschichte vom goldenen Stierbild und der Bestrafung des Volks dafür kündigt Gott an, nicht selbst mit nach Kanaan ziehen zu wollen, um das Volk nicht auf dem Wege zu vertilgen. Nachdem die Israeliten dies gehört hatten, „trugen sie Leid, und niemand tat seinen Schmuck an“ (Ex 33,4; vgl. 33,6). Im folgenden Vers sagt Gott zu Mose: „… Und nun lege deinen Schmuck ab, dann will ich sehen, was ich dir tue“ (Ex 33,5). Das Tragen von Schmuck war offenbar auch äußeres Zeichen einer inneren Hochstimmung, eines starken Selbstwertgefühls und das Ablegen desselben signalisierte Betroffenheit, Reue, Demütigung, Umkehrbereitschaft.

Neben Haartracht und Schmuck, wofür Gold und Perlen stehen, spricht Paulus von der Kleidung. Auch sie eignet sich hervorragend, um Standesunterschiede auszudrücken, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und Bewunderung zu erlangen. Anders als bei Haartracht und Schmuck fügt der Vf. hier ein Adjektiv hinzu, das die „normale“ Bekleidung von der „sehr kostbaren“ (πολυτελής) unterscheidet. Kleidung ist unverzichtbar, allerdings muss mit ihr kein Luxus getrieben werden.

Überblicken wir V. 9f insgesamt, dann wird deutlich, worauf der Apostel hinaus will: Es soll verhindert werden, dass die am Gemeindegebet teilnehmenden Frauen (in Ephesus!) durch äußeren Luxus auf sich aufmerksam machen und ihren sozialen Status (etwa im Vergleich mit zur Gemeinde zählenden Sklavinnen) in den Vordergrund stellen, der ihnen dann vielleicht auch größeres Ansehen und damit mehr Einfluss in der Gemeinde sichern würde. Wie Gritz gezeigt hat, spielten die hier von Paulus angesprochenen Dinge in Ephesus im Rahmen des Magna-Mater-Kultes eine nicht unbedeutende Rolle.

10 Dem Negativbild stellt der Apostel an die Seite, wodurch sich Frauen auszeichnen sollen, und dabei überschreitet er den Bereich des Gebets in Richtung des allgemeinen Verhaltens: Die Frauen sollen sich bei der Gemeindeversammlung nicht durch äußere Pracht hervortun; ihr „Schmuck“ soll vielmehr in guten Werken bestehen. Der Apostel spricht hier von dem, was sich ziemt (ὃ πρέπει), argumentiert also vom konventionell Üblichen oder vom natürlichen Empfinden her, freilich nicht ohne den geistlichen Standort der angesprochenen Frauen in Rechnung zu stellen. Sie sind solche, die sich zur Gottesfurcht bekennen (vgl. Gen 20,11 LXX, wo θεοσέβεια Übersetzung von יִרְאַתְ אֱלו̇הים ist). Gottesfurcht hat ja im biblischen Sinn durchaus nichts mit „Angst vor Gott“ zu tun hat. Sie meint ganz schlicht, dass der Mensch Gott Gott sein lässt und sich ihm gegenüber entsprechend verhält. Im griechischen Sprachraum wurde θεοσέβεια zur stehenden Bezeichnung für die „Religion“ im Unterschied zum „Aberglauben“, im hell. Judentum für die jüdische als die eigentliche Religion. In diesem Sinne wird der Begriff auch an unserer Stelle zu verstehen sein: Den Frauen, die sich zur wahren (nämlich christlichen) Religion bekennen, gebührt es, sich mit guten Werken zu schmücken. Schlatter weist auf die Unbefangenheit hin, mit der Paulus (wer von den Epigonen hätte das gekonnt?!) hier die guten Werke (διʼ ἔργων ἀγαθῶν) fordert. Warum diese Forderung? Weil sie der positive Beitrag der (vornehmen) Frauen zum Gemeindeleben sein konnten, die mangels sonstiger Tätigkeit sich im Reden erschöpfen würde. Kein Gedanke daran, durch gute Werke könnten sie sich Gottes Heil erwerben!

11 Der Abschnitt V. 11–15 weitet das Thema „Frauen in der Gemeindeversammlung“ über den Bereich „Gebet“ hinaus aus und versieht es mit einem schöpfungstheologischen Hintergrund. Die Mitwirkung am Gebet war ihr ja bereits in V. 9 zugesprochen, aber auch das Lernen bot der Apostel ihr an. Das war durchaus keine Selbstverständlichkeit, denn das Frühjudentum erlaubte und ermöglichte den Mädchen und Frauen zwar eine elementare Schulbildung, duldete sie aber nicht auf der darauf aufbauenden Stufe, der Ausbildung in der Schriftauslegung: „Wer seine Tochter Thora lehrt, der lehrt sie Ausschweifung“, konnten die Rabbi Eliezer ben Hyrkanos sagen (Sot 3,4; ca. 90–130 n.Chr.). Schon in dieser frühen Zeit gingen die Meinungen der Rabbinen über das Frauenstudium aber auseinander, denn Rabbi Eliezer widersprach damit seinem Zeitgenossen Rabbi Schimon ben Azzai, der in bestimmtem Zusammenhang gesagt hatte: „Ein Mensch ist verpflichtet, seine Tochter Thora zu lehren, damit, wenn sie trinkt, sie wisse, dass das Verdienst es ihr aufschiebt“ (Sot 3,4). „Lernen“ (לִמַּד) bezieht sich für sie letzten Endes immer auf Gott und seinen geoffenbarten Willen, den zu erkennen und zu tun für Juden letztes Ziel allen Lernens ist. Paulus dagegen bietet der christlichen Frau diese Möglichkeit an, freilich nicht, ohne zwei Orientierungspunkte anzugeben: Das Lernen der Frau soll in Ruhe und in aller Unterordnung erfolgen. Das Bauer’sche Wörterbuch bietet für ἐν ἡσυχίᾳ die Übersetzung „stillschweigend“ an. Ist das wirklich gemeint? Gritz schreibt: „‘Silence,’ however, is not the primary meaning of ἡσυχία. Neither does it fit the context here. ἡσυχία does not refer to speech, nor to the ‘quiet of the home’, but to manner, attitude, or demeanor.” Richtiger weist Wagener auf die philosophische Tradition hin, gemäß der es bei dem Stichwort ἡσυχία „um die friedliche Eintracht der Bürger [geht], wozu das Sich-Einfügen aller in die gegebene Ordnung gehört.” Sie selbst zieht die Linie hinüber zu Paulus, dem der Gedanke an sich nicht fremd ist (1Thess 4,11).

In Verbindung mit der Aufforderung zur Unterordnung kann damit hier nur der Ausschluss der Frauen vom theologischen Lehrgespräch und vom aktiven Lehramt in der Gemeinde gemeint sein, eine Behandlung, die im griechischen Kulturkreis, zumal in Ephesus, Widerspruch provozieren musste (vgl. oben zu V. 9), denn gerade im Artemis-Kult taten sich Frauen verbal hervor. Auch für Gnostiker war das Geschlecht eines Menschen zweitrangig bis irrelevant. Frauen konnten hier aufgrund einer anderen Gewichtung durchaus Leitungsfunktionen übernehmen.396

Die Härte der Aussage des Paulus wird abgeschwächt, wenn man beachtet, wie früher (besonders im Judentum) dieses „Unterordnen“ verstanden wurde (vgl. zu 1,9). Es handelt sich ursprünglich um einen „Ordnungsbegriff, der das Verhältnis zu anderen Größen betont“. Dabei wird an unserer Stelle keine Person genannt, der die „Unterordnung“ gelten soll, auch nicht der Mann. Ein Blick in das AT, sonderlich etwa in das Buch Leviticus, lehrt, dass der Ordnungsgedanke bei den Israeliten schon sehr früh eine wichtige, und zwar eine positive Rolle gespielt hat. Fern vom Individualismus der Neuzeit, sah man im Eingefügtsein in die geordnete Gemeinschaft viel mehr den positiven, lebensbewahrenden, Geborgenheit bietenden Aspekt als den die persönliche Freiheit einschränkenden, die eigene Würde mindernden. Wohl dem Menschen, dem Mann und der Frau, die sich an diese Ordnung hielten und in ihr eine Gabe, keine Last sahen! Entsprechend werden die sich einordnenden Frauen des AT gewürdigt (1Petr 3,5). Freiwillige und erzwungene Unterordnung müssen daher unterschieden werden. Hierher gehört auch die Verwendung von ὑποτὰσσειν für das Einhalten einer gottgewollten Ordnung (Eltern-Kinder Lk 2,51; Mann-Frau Eph 5,22–24; Staat-Bürger Röm 13,1ff; Herren-Sklaven Tit 2,9). Die positive Seite kommt zum Ausdruck, wenn das Verhältnis zwischen Gott-Vater und Gott-Sohn in 1Kor 11,3 der Sache nach ebenso beschrieben wird.

12 Der Aufforderung zum προσέρχεσθαι (V. 9) und zum μανθάνειν (V. 11) tritt das Verbot des διδάσκειν an die Seite. Warum ging der Apostel nicht auch hier über das Judentum hinaus? Immerhin gründet er sein Verbot auf seine eigene Autorität (οὐκ ἐπιτρέπω). Der eine Grund liegt nach dem über das Lernen der Frauen im Judentum Gesagten (s.o.) auf der Hand: Wenn διδάσκειν im Judentum „die Auslegung des Gesetzes als der Zusammenfassung des geoffenbarten göttlichen Willens“ und wenn sein Merkmal im Urchristentum „das ständige Zurückgreifen auf die Schrift“ ist, die Frau im Judentum aber in aller Regel nicht in die Methoden der Schriftauslegung eingeführt wurde, dann fehlten ihr und erst recht den heidenchristlichen Frauen schlicht die Voraussetzungen für eigenes Lehren. Den zweiten Grund spricht der Apostel in dem eng und fest mit dem Lehrverbot verbundenen anderen Verbot aus, dass die Frau nämlich ohne den (Ehe-)Mann nicht eigenmächtig handeln (αὐθεντεῖν) solle. „Paulus schaltet aus dem Leben der Gemeinde alles aus, was die Ehen brüchig machen würde. Die Ehe zerbricht, wenn nicht Willensgemeinschaft zwischen den beiden Gatten besteht“, schreibt Schlatter (z. St.). Durch Lehren geschieht Gemeindeleitung, und sie kommt der (Ehe-) Frau auch aus diesem Grunde nicht zu. Noch einmal (nach V. 11) stellt der Apostel das εἶναι ἐν ἡσυχίᾳ als Ziel des Verhaltens der Frau in der Gemeinde hin (vgl. oben zu 2,2).

Der kurze Abschnitt über die Frauen beschäftigt Theologie und Kirche seit längerer Zeit. Die Diskussion wird bekanntlich, wenn man den Blick über die deutschsprachigen Kirchen hinaus schweifen lässt und auch die Ökumene berücksichtigt, sehr kontrovers geführt. Es ist weder intendiert noch möglich, hier auch nur den Diskussionsstand darzustellen. Wir beschränken uns auf drei aktuelle evangelikale Positionen und skizzieren knapp ihre wichtigsten Argumente:

Schon 1991/2 haben Richard & Catherine Clark Kroeger sich in dem Band „I Suffer Not a Woman. Rethinking 1 Timothy 2:11–15 in the Light of Ancient Evidence“ś intensiv mit dem Abschnitt befasst. 2004 erscheint eine bearbeitete deutsche Ausgabe: „Lehrverbot für Frauen. Was Paulus wirklich meinte – Eine Auseinandersetzung mit 1. Timotheus 2,11–15“. Darin vertreten sie u.a. die Auffassung, das Verb αὐθεντεῖν sei mindestens an dieser Stelle im Sinne von „der Ursprung von etwas sein“ wiederzugeben. Sie übersetzen 1,12 dementsprechend: „Ich gestatte es einer Frau nicht zu lehren, noch von sich zu behaupten, sie sei der Ursprung des Mannes“: „Dann verstehen wir, dass Paulus mit seinem Verbot auf bestimmte Lehrinhalte abzielte, jene Lehre nämlich, die den Anspruch erhebt, die Frau sei für die Erschaffung des Mannes verantwortlich“, „der Mann [sei] im Ursprung durch die Aktivität der Frau entstanden“.407 Auch das εἶναι ἐν ἡσυχίᾳ wird neu interpretiert im Sinne einer Konformität der von den betreffenden Frauen vertretenen Lehre mit der Heiligen Schrift. Im Hintergrund dieser in der Gemeinde aufkeimenden Lehrmeinungen sehen sie u.a. Elemente aus den Mysterienkulten sowie gnostische Gedanken und belegen dies mit verschiedenen Texten.409 2,13f wird bewusst „nicht als eine Begründung“ verstanden, „den Frauen den Zugang zu einem Verkündigungsdienst zu verwehren“, sondern als das Bemühen, „eine weit verbreitete Irrlehre zu bekämpfen. Insbesondere scheint sich diese Passage gegen bestimmte gnostische und proto-gnostische mythologische Vorstellungen zu richten, die Eva glorifizieren.“ Clark Kroeger sehen in dem Text nicht eine „Verdammung“ Evas (und mit ihr der Frauen), sondern vielmehr ihre „Verteidigung“ und begründen dies vor allem mit religionsgeschichtlichem Material. 2,15 bringen sie in Verbindung „mit der Abwehr der Irrlehren in der Gemeinde“. Das Kindergebären verstehen sie so: „Andere [sc. gnostische] Texte bekunden, es sei ausgeschlossen, dass eine Frau, die Kinder gebären könne, das ewige Leben erlangt.“412 Demgegenüber und vor dem Hintergrund der gnostischen Meinungen über Körperlichkeit und (weibliche) Sexualität sehen Clark Kroeger in 2,15 geradezu eine „Bestätigung der Weiblichkeit“ und übersetzen (indem sie διὰ im Sinne von „durch etwas hindurch“ verstehen): „Sie soll in ihrer Rolle als Frau, die Kinder gebärt, gerettet werden.“

In einer Gemeinschaftsarbeit haben sich Steven M. Baugh, H. Scott Baldwin, Andreas J. Köstenberger, Thomas R. Schreiner und Robert W. Yarbrough mit unserer Frage beschäftigt. 1999 ist ihr Sammelband auch in deutscher Sprache erschienen: „Frauen in der Kirche. 1. Timotheus 2,9–15 kritisch untersucht“. Ihre Ausführungen zeigen, dass ihr Band explizit in Auseinandersetzung mit deren Buch geschrieben ist. Aufgrund der Auswertung archäologischer, inschriftlicher und anderer antiker Quellen entwirft Steven Baugh ein in vielen Punkten von Clark Kroegers abweichendes Bild des antiken Ephesus, seiner Kulte und vor allem der Rolle, die Frauen dort spielten. Mit Blick auf die Göttin Artemis Ephesia kommt er zu dem Ergebnis, dass es sich bei ihr nicht um eine Fruchtbarkeits- und Muttergöttin handelte, „die die religiöse oder soziale Überlegenheit von Frauen über Männer in Ephesus angeblich förderte.“ Auch Ephesus als Stadt war „keine außergewöhnliche Gesellschaft“, erst recht „keine feministische Gesellschaft.“ Leitende öffentliche Ämter hatten Frauen dort (wie auch anderswo in der Antike) fast ausschließlich als Priesterinnen.418 Mit dem Schlüsselwort αὐθεντεῖν in V. 12 beschäftigt sich Scott Baldwin wortanalytisch, während Andreas Köstenberger die Syntax des Verses untersucht, beide mit dem Ziel den tatsächlichen Sinn von αὐθεντεῖν zu klären. Am Ende bleibt als Übersetzung: „Ich erlaube es einer Frau nicht, einen Mann zu lehren oder Autorität über ihn auszuüben.“ Thomas R. Schreiner unternimmt dann den Versuch einer Interpretation der gesamten Perikope im Gespräch mit der Fachliteratur. Sein Ergebnis: „Überdies sollen Frauen nicht eine Lehrrolle für sich in Anspruch nehmen, wenn Männer und Frauen in öffentlichen Versammlungen zusammenkommen; sie sollen in stiller Unterordnung lernen. Eine Lehrtätigkeit oder Autorität auszuüben ist Frauen aufgrund der Schöpfungsordnung untersagt.“

Was sagen die Kommentare zu diesem Thema? Schlatter sieht die Frauen in Gefahr, dass sie „dann das Wort nehme, wenn eine leidenschaftliche Aufregung sie treibt. Das ergäbe eine von der eigenen Stimmung getrübte und wortreiche Rede. Die Frau soll nicht reden, bis sie ruhig reden kann.“ „… der Lehrer stellt nicht nur sein Denkvermögen aus, sondern er gebietet. Die lehrende Frau geböte also dem Mann, und dazu gibt Paulus ihr die Erlaubnis nicht, weil sie nicht über den Mann herrschen soll. Da Paulus erwägt, ob er Frauen das Lehren gestatten wolle, ist es wahrscheinlich, dass in seiner Gegenwart auch die Männer nur dann sprachen, wenn Paulus es ihnen ‚erlaubte‘ und das Wort ihnen übergab. Zugleich bringt die persönliche Fassung des Sätzchens den Gedanken herbei, dass andere anders verfahren; von Timotheus wird aber erwartet, dass er sich das Urteil des Paulus aneigne.“422 Jeremias weist darauf hin, dass die Frauen in den christlichen Gemeinden (anders als in der Synagoge) grundsätzlich zu Worte kommen konnten, allerdings mit Folgen: „Es hatte sich gezeigt, dass das eigene Haus von solchen prophetisch wirkenden Frauen leicht vernachlässigt wurde (…) und dass zum Enthusiasmus neigende Frauen den Halt verloren (1. Tim 5,13), was von Irrlehrern ausgenutzt wurde (2. Tim 3,6f). Es musste daher solchen ungesunden Emanzipationsbestrebungen energisch entgegengetreten werden.“ Hasler schreibt: „Es geht hier nicht um die allgemeine Unterordnung der Frau unter den Mann an sich, sondern um die Anerkennung und Respektierung des, besonderen Männern zugeordneten Amtes.“ Roloff: „Daß die Frau vollberechtigte Teilnehmerin am Gottesdienst ist, wird nicht bestritten, sie wird jedoch streng auf die ihr zukommende Rolle der gehorsam Lernenden verwiesen, wobei diese in Analogie zu ihrer Rolle im Haus gesehen ist. Vorausgesetzt ist dabei, dass sich die Rollen des lehrenden Mannes und der lernenden Frau in sinnvoller Zuordnung ergänzen. Der Gottesdienst ist nicht ein Stück Öffentlichkeit, in dem die Frau durch ihren Mann gleichsam vertreten wird; er ist vielmehr als Erweiterung des christlichen Hauses gesehen, weshalb in ihm die gleichen Regeln gelten wie dort.“ Merkel verweist als Hintergrund auf (möglicherweise gnostisierende) Emanzipationsbestrebungen in den Gemeinden, die bei Frauen besonders gut ankamen, andererseits aber auch des Apostels Zustimmung zur prophetischen Mitwirkung von Frauen im Gottesdienst. Interessant sind Oberlinners Überlegungen zur Bedeutung dieser Aussagen: „Dennoch ist die Frage nach der Verbindlichkeit solcher Aussagen zu stellen. Sie bieten ein Bild, eine Möglichkeit christlichen Gemeindelebens. Wir dürfen darüber nicht vergessen, dass Paulus ein anderes Bild bietet. Natürlich lässt sich das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen … Es reichte offensichtlich in dieser Zeit nicht mehr aus, sich einfach auf Paulus zu berufen und das paulinische Gemeindemodell als das ein für allemal gültige einfach nur zu übernehmen, es einer späteren Zeit und Situation überstülpen zu wollen.“

Und die englischsprachige Forschung der letzten Jahre? Fee schreibt: „By saying, ‚I am not permitting,‘ Paul focuses particularly on the situation in Ephesus. Such language as this, as well as the ‘I want’ in v. 8, lacks any sense of universal imperative for all situations.” Knight: “The clause as a whole describes the status of a woman not in relation to every aspect of the gathered assembly (i.e., praying, prophesying, singing, etc.; cf. again 1 Cor 11:5) but specifically in respect to that with which it is contrasted, i.e., teaching (and the exercise of authority), …” Towner: “Thus verses 11–12 aim to restore peace in the worship service by placing certain limits on the role of women. Probably as a result of the influence of the false teaching, some women had assumed the role of teacher. This step led Paul to invoke a subordination rule, it seems to have precluded women from teaching men, since to do so constituted authenteô – that is, the wrongful appropriation of authority over men.” Marshall: “First, there is a specific prohibition of the women teaching in a way that involves the assertion of authority over men (including their husbands). Second, in what is syntactically something of a parenthesis the author rejects their claims to any superiority over men by insisting that Adam was created first an that it was not Adam who was the first to be deceived (and sin) but Eve. Third, although women might regard teaching as an appropriate, even necessary, accompaniment or means of salvation, he states hat in their case childbearing fulfils this function, always provided that they persevere in the qualities of character which are expected in all believers. It is possible that teaching was seen as the alternative to a traditional, domestic pattern of life; in any case, the false teaching discouraged women from giving themselves to motherhood.” Mounce fasst seine Auslegung zu V. 12 zusammen: „Paul does not want women to be in positions of authority in the church; teaching is one way in which authority is exercised in the church. … It may be added as a hermeneutical observation that the specificity of the application does not relegate the principle to the halls of cultural relativity.” Schließlich Johnson, der zur hermeneutischen Seite der Auslegung von V. 12 bemerkt: “… to engage the words of Paul in a dialectical process of criticism within the public discourse of the church, both academic and liturgical. Such readings should note the peculiar features of the text that make it problematic as normative: that it is gratuitous in context, going beyond what is required for the situation; that it is based solely on Paul’s individual authority (…), rather than on a principle intrinsic to the good news; and that the warrant for the injunction is, in fact, a faulty reading of Torah. …”

13 Ganz in den Bahnen jüdischer Exegese, sonderlich jüdischen Schriftbeweises bewegt sich die Begründung (V. 13f). Mit γάρ führt der Apostel auch sonst oft den Schriftbeleg ein. In doppelter Weise unterscheiden sich Adam und Eva: Ihm gehört der Vorrang, von Gott 135

zuerst geschaffen worden zu sein (V. 13; vgl. Gen 2,7), weshalb er die zuverlässige Tradition über Gott weitergeben kann, und der Vorzug, dass nicht er (zuerst) verführt wurde, sondern Eva (V. 14; vgl. Gen 3,6.13). Orientalischem Denken entstammt die Regel, die in die jüdische Exegese Eingang gefunden hatte, das Ältere sei auch das Wertvollere, eine Regel, die Paulus noch in Kol 1,15 christologisch gebraucht (vgl. auch Eph 1,4; Joh 1,1). Πρῶτος für den ersten von zweien verwendet er auch Röm 1,16; 1Kor 15,47; 2Thess 3,18. Πλάσσειν speziell für den Schöpfungsakt ist Terminus der LXX, den der Apostel übernahm (Röm 9,20; vgl. Gen 2,7 LXX). Er begründet die Ein- bzw. Unterordnung der Frau im Verhältnis zum Mann innerhalb des öffentlichen Gottesdienstes schöpfungstheologisch.

14 Auch für die zweite Begründung, die mit καὶ … οὐκ adversativ daneben gestellt wird, konnte sich Paulus, der übrigens 1Kor 11,8f (vgl. 2Kor 11,3) ähnlich argumentierte, auf jüdische exegetische Tradition berufen: Schon Sir 25,24[LXX] heißt es, der „Anfang der Sünde“ sei „von der Frau“, und „ihretwegen sterben wir alle“. Neben das Auslegungsschema „älter bzw. ursprünglicher = besser“ tritt das andere Schema „positiv – negativ“ bzw. „richtig – falsch“, d.h. Adam verhielt sich „richtig“, indem er sich (zunächst und von der Schlange!) nicht verführen ließ, die Frau dagegen „falsch“, indem sie sich verführen ließ (auch ἐξαπατάω steht Gen 3,13 LXX im Geständnis der Frau!). Wir tun uns schwer, diese Sätze zu verstehen, die davon ausgehen, dass Evas Schuld über die Jahrtausende hinweg das weibliche Geschlecht unter einen Schatten gestellt hat. Im Hintergrund könnte die Auffassung stehen, Eva habe sozusagen „eine Schleuse geöffnet“, die zu schließen dem Menschen nicht mehr möglich war und die zu regulieren Gott sein Liebstes kostete.

15 Auch hier (wie Gen 3,15 das „Protevangelium“) bleibt der biblische Autor nicht beim Negativen stehen. Neben die Erklärung des Ist-Zustandes tritt das positive Wort an die Frau. Ihr wird nicht nur eine Entfaltungsmöglichkeit genommen, sondern auch eine andere zugewiesen, und zwar im Bereich des 1. Glaubensartikels, des Kreatürlichen, den manche der „hochgeistigen“ und „hochgeistlichen“ Frauen damals (wie heute?) wohl schon zu den Akten gelegt haben mögen. Unser Blick bleibt besonders gern an der (in soteriologischem Sinn verstandenen) „rettenden“ Aufgabe des Kindergebärens hängen, und wir fragen dann, wie dies denn ein Ersatz für die (verlorene) geistliche Aufgabe sein könne. Sehen wir genauer hin, dann wird erstens deutlich: Auch der ihr oben genommenen Art der Beteiligung am Gottesdienst könnte Paulus keine soteriologische Qualität zuschreiben. Es wird also im eigentlichen Sinne kein „Ersatz“ angeboten. Der christliche Glaube bleibt damit unverwechselbar geschieden von den Fruchtbarkeitsreligionen aller Zeiten. Zweitens schafft das Kindergebären nur die Voraussetzung (ἐάν) für die dann einsetzende Aufgabe einer „Erziehung im Glauben“. Denn das μένωσιν bezieht sich m.E. (mit Jeremias und gegen Schlatter) auf die Kinder, sonst wäre der Wechsel des Numerus vom Singular σωθήσεται zum Plural μένωσιν nur schwer zu erklären. Jawohl, sagt Paulus, die (Ehe-)Frauen haben auch einen Auftrag, der mit der Auslegung und Lehre des Gotteswortes zu tun hat, und zwar zunächst und in erster Linie an denen, die ihnen der Schöpfer primär zugeordnet hat: ihren eigenen Kindern. Überflüssig zu sagen, dass sich ein Epigone mit einer so verstandenen rechtfertigungstheologischen Aussage natürlich sehr schwer getan hätte, bei seiner Gemeinde Zustimmung zu finden, erst recht wenn die Person des Paulus es war, die ihm Autorität verschaffen sollte! Drittens sollte angesichts der damals in Ephesus stattfindenden Auseinandersetzung die antignostische Tendenz dieser Aussage nicht übersehen werden. Es gab gnostische Richtungen, deren zeitliche Einordnung allerdings schwierig ist und die für die Mitte des 1. Jh.s nicht als existent vorausgesetzt werden dürfen, in denen „die Zeugung von Kindern … abgelehnt [wird], da dies nur das leidvolle Schicksal des Lichtsamens verlängert und nur dem Weltschöpfer dient.“

3,1a Die Zuordnung der kurzen Formel wurde oben bereits diskutiert und begründet. Ist sie wirklich nur als „Kurzformel“ von 1,15 im Sinne eines „Platzhalters“ zu verstehen, der im Zusammenhang von 2,15 (σωθήσεται) an 1,15 erinnern soll, dann setzt Paulus damit einen Akzent gegen das (antike) Missverständnis, Erlösung könne für Frauen tatsächlich durch Kindergebären geschehen, also auf dem Weg des 1. Artikels. 2,15 ist – wie alle Aussagen des 1Tim – im Kontext des ganzen Evangeliums und der gesamten Theologie des Apostels zu lesen.


IV

In dem Abschnitt finden wir in komprimierter Form eine Fülle theologischen „Materials“, das zur exegetischen Aufbereitung geradezu einlädt:

1. Der Apostel nimmt dem christlichen Gebet die Enge des Kreisens um die eigene „Befindlichkeit“ und um die Gemeinde, indem er es in Anknüpfung an atl.-jüdische Linien auf die nichtchristliche Gesellschaft und den Staat hin öffnet. Er tut das nicht als eine Möglichkeit, für oder gegen die sich die Beter entscheiden könnten, sondern als verpflichtende Aufgabe der Gemeinde. Zugleich weist er auf das ganze Spektrum christlichen Betens hin, das ausgehend von der Bitte über die Fürbitte bis zum Dank einen großen Bereich von Lebens- und Gemeindesituationen abdeckt. Vermutlich steht jede Generation in der Gefahr, einen Bereich über Gebühr zu bevorzugen, in unserer Zeit etwa die Anbetung, die ja ihren guten Sinn hat und gewiss häufig vernachlässigt wurde. Paulus macht aber deutlich, dass zum christlichen Gebet immer mehrere Akzente gehören, inhaltlich und formal.

2. Man mag fragen, wie Christlichkeit und Bürgerlichkeit sich zueinander verhalten. Das „ruhige und stille Leben“, „Frömmigkeit und Ehrbarkeit“ klingen in unseren Ohren wie typisch bürgerliche Ideale, wie der Ausdruck einer Bürgerlichkeit, die sich die Christlichkeit zur Erlangung ihrer Ziele dienstbar macht. Historisch gesehen ist es vermutlich gerade umgekehrt: Indem das Christentum den Siegeszug durch die europäische Kultur antrat, führte es dazu, dass seine Vorstellungen von einem christlichen Leben als bürgerliche Ideale übernommen wurden. Christsein heißt aber: nicht bürgerlich sein, aber auch nicht schwärmerisch (Otto Michel)! Es geht letztlich darum, die Prioritäten nicht zu verwechseln, sensibel zu bleiben für Gottes Willen und Ruf, der auch ein Ruf heraus aus traditionell Hergebrachtem sein kann.

3. Auch wenn Paulus in seinen Briefen die Christologie besonders ausführlich darstellt, hat er doch auch eine Gotteslehre. Dass Gott, der Vater, es ist, von dem die Aktion zur Errettung der Menschen ausgeht, leidet für den Apostel deshalb keinen Zweifel. Betont spricht er von der „Einzigartigkeit“ Gott-Vaters und des göttlichen Mittlers Jesus Christus. Zeugt dies von einer nur begrenzten Sicht des Paulus, die wir Heutigen durch mehr Informationen über andere Religionen und durch das nahe Zusammenleben mit ihren Anhängern hinter uns lassen müssten, wie die Vertreter einer „pluralistischen Theologie der Religionen“ verlangen? Wir sollten die Meinung an der Garderobe der Geschichte abgeben, wir hätten den Menschen des Altertums viel voraus. Paulus kannte und beachtete die religiöse Fülle seiner Zeit. Für ihn waren die Vertreter anderer Religionen ernstzunehmende Gesprächspartner, weil sie Geschöpfe des einzigen Gottes waren. Er ließ sich auf einen Dialog mit ihnen ein, allerdings mit einem festen Fundament und einem klar definierten Ziel (V. 3).

4. Die Pastoralbriefe haben gerade keine „Christologie von oben her“, wie wir es bei einer Spätdatierung um das Jahr 100 oder später wohl erwarten dürften. Sie sprechen von Jesu „Kommen“ (1,15), damit also von seiner Präexistenz, aber ebenso von seinem Menschsein (2,5). Die Versöhnungslehre greift – freilich in einem wohl schon traditionellen Stück, aber deshalb doch nicht weniger gültig! – die stellvertretende Sühne in Gestalt der ὑπέρ-Formel und sogar das Bild vom „Loskauf“ (vgl. Mk 10,45) der Sache nach explizit auf. Sie lässt sich insgesamt in die paulinische Theologie einzeichnen, behält dabei aber ihre Eigenarten.

5. In die Gotteslehre und die Anthropologie zugleich gehört die Frage nach dem Verhältnis von Gotteswillen und der Reaktion des Menschen, die Paulus hier anspricht (V. 4). Viele sehen darin ein Problem, weil nach ihrer Ansicht Gott bewirkt, was er will – ohne oder auch gegen das Tun des Menschen (vgl. etwa Röm 9,16). Wir haben es hier mit einem Paradoxon zu tun, mit einem (scheinbaren) Widerspruch, den auszuhalten uns schwer fällt. Anders als Paulus und Luther gelingt es uns meist nicht, das jeweilige Gefälle zu unterscheiden, wo aus Gottes Perspektive und wo aus der Sicht des Menschen argumentiert wird. Beide konnten nämlich andererseits sehr wohl davon sprechen, dass des Menschen Aneignung der göttlichen Gnadenwahl von Bedeutung sei. Gottes Wollen führt nämlich durchaus nicht unbedingt zum entsprechenden menschlichen Sein bzw. Tun. Der menschliche Wille wird von Gottes Willen nicht einfach überwältigt, sondern erst recht aktiviert und zur Ver-Antwortung herangezogen. Es handelt sich dabei auch um eine anthropologische Frage, insoweit mit der Erschaffung des Menschen als „ein Bild, das uns gleich sei“ (Gen 1,26), die Antwortfähigkeit des Menschen, seine Würdigung als Gottes Gegenüber gemeint ist. Nicht Marionette sollte der Mensch sein, sondern (wohlverstanden und bei aller grundsätzlichen Unterschiedenheit) Partner Gottes.

6. Schließlich geht es um die Stellung der Frau in der Gemeinde. Auch hier sind die verschiedenen Situationen bzw. Argumentationsrichtungen der Paulusbriefe zu vergleichen und zu unterscheiden, außerdem die unterschiedlichen Gemeindegruppen (Ehefrauen, ledige Frauen). Von einem prinzipiellen Redeverbot für alle Frauen innerhalb der christlichen Gemeinde kann keine Rede sein, denn mindestens zum Gebet sind sie ausdrücklich zugelassen. Die Tatsache, dass Frauen die ersten Zeuginnen der Auferstehung waren, wie auch die Existenz von Prophetinnen (Apg 21,9; 1Kor 11,5; Offb 2,20) steht außer Zweifel. Ihre Aufgabe war die aktualisierende Auslegung des (atl.) Gottesworts von der in Jesus erschienenen Gottesoffenbarung her und auf sie hin. Schlatters Vermutung, die Zurückweisung besonders in Korinth habe dem Herrschaftsanspruch lediger, „emanzipierter“ Frauen und dem dadurch provozierten Hervortreten auch der verheirateten Frauen gegolten und habe den Schutz der Ehen zum Ziel gehabt, hat m.E. immer noch viel für sich. Wichtig in unserem Zusammenhang ist, dass der Apostel es nicht mit der Begrenzung bewenden lässt, sondern den christlichen Frauen über den jüdischen Brauch hinaus auch geistliche Aufgaben zuweist.


5. Über die Gemeindeleiter (1Tim 3,1b–7)


I

1b Wenn jemand das Amt eines Gemeindeleiter anstrebt, dann begehrt er eine gute Stellung. 2 Der Gemeindeleiter soll deshalb untadelig sein, der Mann einer Ehefrau, nüchtern, besonnen, ordentlich, gastfreundlich, lehrfähig, 3 nicht aus Trunksucht liederlich, kein Raufbold, sondern mild, nicht streitsüchtig, nicht geizig, 4 dem eigenen Haus mit ganzer Ehrbarkeit gut vorstehend, mit Kindern, die sich einfügen, 5 (wenn aber einer seinem eigenen Haus nicht vorzustehen weiß, wie soll er dann die Aufsicht über die Gemeinde Gottes führen?), 6 nicht neubekehrt, damit er nicht aufgeblasen ins Gericht des Teufels falle. 7 Er muss aber auch von denen draußen ein gutes Zeugnis haben, damit er nicht ins Gerede komme und in die Schlinge des Teufels falle.


II

Ging es in Kap. 2 zuletzt um die beiden „biologischen“ Hauptgruppen der Gemeinde, um Männer und Frauen, um ihr Verhalten und ihren Beitrag beim Gottesdienst, so kommen nun die für die Gemeinde verantwortlichen Personen in den Blick, allen voran Bischöfe (3,1–7) und Diakone bzw. Diakoninnen (3,8–13). In der Forschung wird oft auf die in populärer hellenistischer Philosophie verbreitete Berufsständelehre verwiesen, für die auch einige Beispiele vorliegen.

Ausgangspunkt des „Bischofsspiegels“ ist dabei interessanterweise nicht der schon im Amt befindliche Gemeindeleiter, vielmehr der Fall, dass jemand dieses Amt anstrebt bzw. dafür gewonnen werden soll. Es geht um Eignungsprofile. In einer knappen, kasuistisch formulierten Exposition (V. 1) wird dies umrissen. Es folgt eine gemischte, formal an Tugend- und Lasterkataloge erinnernde Liste von Eigenschaften und Verhaltensweisen, die für das Gemeindeleitungsamt erforderlich sind bzw. die für dessen Inhaber nicht zutreffen dürfen (V. 2–7). Eine ähnliche, wenn auch viel knappere Liste mit ausschließlich positiven Kriterien findet sich im Zusammenhang einer vergleichbaren Situation im Vorfeld der Einsetzung der sieben Armenpfleger (Apg 6,3).


Historischer Hintergrund

Wie nicht anders zu erwarten, hatten die urchristlichen Gemeinden keine bis ins Einzelne einheitlichen Ordnungen und Strukturen. In der Jerusalemer Urgemeinde gaben zunächst „die Zwölf“ (d.h. in der frühen Zeit zugleich: „die Apostel“) den Ton an, wobei sich aufgrund verschiedener Umstände eine kleinere Gruppe mit Petrus und den beiden Zebedaiden Jakobus und Johannes als die eigentlichen Leiter herausschälten. Sie wurden vermutlich „die Säulen“ (Gal 2,9) genannt. Später, nach der Ermordung des Jakobus und der Flucht des Petrus etwa im Jahr 41/42 übernahm der Herrenbruder Jakobus die Führung (Apg 15,13;21,18ff). Neben diese genannten Gemeindeleiter traten dann aber schon bald die „Ältesten“ (πρεσβύτεροι; Apg 15,6.23; 21,18), wobei deren Kompetenz und Bedeutung hier nicht explizit behandelt werden. Im Frühjudentum war der Älteste „der Repräsentant der Tradition, der seine Erfahrung mit dem Gesetz weitergab und so die Kontinuität der gemeinschaftlichen Lebensform garantierte“. Diese Ordnung ergab sich einerseits aufgrund der Einsetzung der Apostel durch Jesus von selbst, andererseits hatte sie ihr Vorbild in der jüdischen Religionsverfassung mit dem Hohenpriester und dem „Hohen Rat“ als Leitungsgremium.

Anders sah es im Bereich der (paulinischen) Heidenmission aus: Hier hatte der Missionar während seines Aufenthalts an einem Ort selbst die Gemeindeleitung. Er gab sie aber spätestens zum Zeitpunkt seiner Weiterreise (und das war bei Paulus oft ziemlich bald!) an – und das ist nun der entscheidende Unterschied zum palästinischen Bereich – einen Gemeindeleiter ab (vgl. 2Tim 2,2), in vielen Fällen vielleicht den „Erstbekehrten“, der dann ἐπίσκοπος („Bischof“) genannt wurde. Dies bedeutete aber zunächst lediglich eine Delegation der Funktion, denn der Apostel behielt sich vor, durch autoritative Weisungen in Briefen und durch Vertreter oder bei seiner Rückkehr persönlich wieder die Leitung der Gemeinde zu übernehmen (z.B. 1Kor 5,3–5). Vorbild dieser Struktur waren die jüdischen Diaspora-Synagogengemeinden mit ihrem „Synagogenvorsteher“ an der Spitze, möglicherweise aber schon die pharisäischen bzw. essenischen Gemeinschaften. Von Letzteren wissen wir, dass es in ihnen das Amt des מְבַקֵּר gab, der – wie die Damaskusschrift sagt – umfassende Aufgaben hatte (CD 13,7–11). Diese Ordnung begegnet uns Mitte der 50er-Jahre in der Abschiedsrede des Paulus vor den „Ältesten“ (Apg 20,17) aus Ephesus (!). Dort fällt aber zweierlei auf: Erstens werden dieselben Personen (von Lukas!) zuerst als πρεσβύτεροι und später (von Paulus) ἐπίσκοποι (V. 28) bezeichnet, und zweitens geht Paulus offensichtlich von einer Mehrzahl von Gemeindeleitern (vgl. Phil 1,1!) aus, sodass man überlegen muss, ob hier nicht unter der Metropole Ephesus auch die umliegenden örtlichen Gemeinden oder gar alle Gemeinden der Provinz Asia mit ihren Leitern mit gemeint sind. Möglicherweise gab es in der Stadt selbst mehrere Gemeinden, die wir uns eher als Hausgemeinden vorzustellen haben. Im Philipperbrief, der, wenn er aus der römischen Gefangenschaft geschrieben wurde, vermutlich nur relativ kurze Zeit (ca. 2 Jahre) vor 1Tim entstanden ist, werden „Bischöfe“ und „Diakone“ bereits nebeneinander genannt. Der Sprachgebrauch von διάκονος ist in der frühen Zeit aber noch verschwommen. In Apg 6, bei der Wahl der sieben sog. „Armenpfleger“, umgeht Lukas das Wort anscheinend bewusst. Er will hier nicht beschreiben, wie das Diakonenamt entstanden ist, sonst bliebe unverständlich, warum er den Begriff in seinem Doppelwerk überhaupt nicht verwendet. Im Umfeld der christlichen Gemeinde kann Paulus sich selbst, seine Mitarbeiter und auch andere Missionare als „Diener“ bezeichnen. Mitte der 50er-Jahre gewinnt der Begriff in der uns bekannten frühchristlichen Literatur technische Bedeutung, indem in Röm 16,1 Phoebe als διάκονος der Gemeinde von Kenchreä bezeichnet wird. Rund 2 Jahre zuvor werden Diakone in der Liste der Ämter von Paulus nicht einmal erwähnt (1Kor 12,28f), was mit dem (nicht-charismatischen?) Charakter des Diakonenamts zu tun haben könnte. Im 1Tim aber etwa 12 Jahre später hat sich die Struktur der Dienste anscheinend in Ephesus schon so weit verfestigt, dass Paulus regelrechte „Berufsbilder“ geben kann, wie es hier geschieht.


III

1b Offensichtlich war das Amt des verantwortlichen Gemeindeleiters trotz mancher damit verbundener Gefahren ein Gegenstand des Begehrens geworden. Im Griechischen werden hier zwei verschiedene Wortstämme verwandt, nämlich ὀρέγομαι und ἐπιθυμέω. Das erste Wort beleuchtet den Vorgang des Erstrebens mehr unter dem Aspekt des Sich-nach-oben-Ausstreckens, also der damit verbundenen Mühe, während das zweite mehr ein dieses Streben auslösendes und motivierendes „leidenschaftliches Verlangen“ ins Auge fasst, das aber im NT in den meisten Fällen nicht negativ gemeint ist. Immerhin sieht der Apostel solches Streben nicht unbedingt als negativ an, sofern es mit bestimmten Voraussetzungen verbunden ist, die er sogleich nennt (V. 2–4).

2 Dabei geht es um mehr als um seine subjektive Meinung. Das griech. Wort δεῖ steht sonst oft im Zusammenhang mit heilsgeschichtlich notwendigen Ereignissen (Lk 24,26 u.ö.). Es bezeichnet demnach ein göttliches „Muss“, eine göttliche Voraus-Setzung. Schwarz möchte alle nachfolgenden Punkte als „Konkretisierungen des ἀνεπίλημπτος“ ansehen. Im Einzelnen geht es um 14 Kriterien:

Untadelig soll er sein, das heißt wohl: ohne dunkle Vergangenheit, die der kritischen Durchleuchtung durch Außenstehende nicht standhalten könnte und den Gemeindeleiter und dadurch die Gemeinde selbst in ihrem Umfeld, in der Öffentlichkeit, in Misskredit bringen könnte.

Einer Frau Ehemann soll er sein. Was bedeutet das? Dass sich die Bestimmung gegen Polygamie richtet, kommt angesichts 1Tim 5,9 kaum infrage. Höchstens könnte an Männer gedacht sein, die aufgrund ihrer heidnischen Biographie noch in Polygamie lebten oder nach damaliger Gewohnheit eine Geliebte hatten – ein Problem, vor dem manche „jungen“ christlichen Gemeinden etwa in Afrika auch heute noch stehen. Gegen den Verzicht auf Wiederheirat nach dem Tod der Ehefrau spricht 1Tim 5,14. Zudem war sie im Judentum, an dem sich die urchristliche Ethik weitgehend orientierte, erlaubt. Oder ist an den Verzicht auf Scheidung und Wiederheirat gemäß Mk 10,11; Mt 19,9 gedacht? Johnson sieht zwei Gesichtspunkte als mögliche Interessen der Gemeinden: Auch nur der Schein unmoralischer Verhältnisse sollte vermieden werden, und der Gemeindeleiter sollte in gefestigten Familienverhältnissen leben. Zu Letzterem passt die Überlegung, dass er tatsächlich verheiratet (und nicht ledig) sein solle. Marshall sieht in der Bestimmung, die positiv sei und nicht kämpferisch gegen Missbräuche, eine Spitze gegen die Paulus-Gegner. Eine definitive Entscheidung der Frage ist kaum möglich.

Nüchtern soll er sein. Vermutlich geht es hier zuerst um die Klarheit des Urteils, nicht so sehr um den Weingenuss (vgl. V. 3!), was aber kein Gegensatz sein muss; besonnen, d.h. mit Weisheit zum Reden und Handeln, zum Schweigen und Abwarten ausgestattet; ordentlich soll er sein, wobei für den Griechen die äußere Ordentlichkeit ein Spiegel der inneren Ordnung ist. Gastfreundlichkeit gehört zu den Tugenden des Gemeindeleiters, wozu dabei möglicherweise nicht nur die Bereitschaft zählte, reisende Missionare und Beauftragte anderer Gemeinden (Röm 16,1f; 1Kor 16,10f; Phlm 17; 3Joh 8) aufzunehmen, sondern auch notleidende, hilfesuchende und besonders verfolgte Christen (vgl. Hebr 13,2!).

Erst an 7. Stelle wird, als letztes positives Glied der Kette und damit doch hervorgehoben, die Befähigung zur Lehre genannt, die wir vielleicht gleich an den Anfang stellen würden.

3 Hatte Paulus die Anforderungen an einen Gemeindeleiter in V. 2 positiv beschrieben, so folgt in V. 3 schwerpunktmäßig die Negativliste von Eigenschaften und Verhaltensweisen, die mit dem Leitungsamt unvereinbar sind. Wieder ist zu bedenken, dass unter den soziologischen Voraussetzungen jener Zeit das Amt eines Gemeindeleiters für weniger charakterfeste Leute der unteren Schichten durchaus erstrebenswert erscheinen konnte. Nicht aus Trunksucht liederlich soll er sein. Alkoholmissbrauch bei Männern und Frauen war in der Antike nicht unbekannt. In dem hier verwendeten griechischen Begriff πάροινος schwingt die Bedeutungsnuance „aus Trunksucht liederlich“ mit, die für das Gesamtbild der Persönlichkeit des Gemeindeleiters von Bedeutung ist. In Eph 5,18 sagt Paulus selbst, was ihm dabei wichtig ist, nämlich dass daraus „ein unordentliches Wesen folgt“ (Lutherübersetzung). Da passt die Warnung vor dem „Bischof“ als Raufbold ins Bild (Tit 1,7). Stattdessen soll der Gemeindeleiter mild und nicht [zu] kämpferisch sein, eben jemand, der auch eigenen Nachteil in Kauf nehmen und darin Vorbild sein kann. Kein „Freund des Geldes“ (so wörtlich für nicht geizig) soll er sein, denn das würde ihn in Versuchung führen und erpressbar machen. Nicht erst in seiner Häufung wie in unseren oft reichen Kirchen ist das Geld und der Besitz eine Gefahr. Schon in den ärmlichen Anfängen (und da vielleicht erst recht!) konnte der „Blitz des Goldes“ die Klarheit des Verhaltens nach innen und nach außen vernebeln (vgl. V. 8 für die Diakone). Ähnliche Probleme schildert übrigens auch der Jak (Jak 2,1ff), der den Pastoralbriefen möglicherweise zeitlich nicht fern ist.

4 Außerdem soll der Gemeindeleiter seinem eigenen Haus gut vorstehen. Die (Groß-)Familie dient im NT gelegentlich und im 1Tim besonders als Paradigma für die Gemeinde im Sinne eines Vergleichs zwischen einem Element des 1. und des 3. Glaubensartikels: Wer nicht in der Lage ist, seine ihm von der Schöpfungsordnung her gegebene Aufgabe (nämlich die Verantwortung für seine Familie) wahrzunehmen, darf nicht denken, er sei für die Leitung einer Gemeinde geeignet (vgl. V. 5!). Dies entsprach auch heidnisch-philosophischer Auffassung im Blick auf die Übernahme von politischen Ämtern.

Dass das „Haus“ auch im 1Tim eine ekklesiologisch relevante Bedeutung hat, ist seit Langem erkannt. Ulrike Wagener hat sich in ihrer 1994 erschienenen Dissertation unter dem Aspekt der Partizipationsmöglichkeiten bzw. -einschränkungen von Frauen in der Gemeinde mit ihm befasst. Sie steigt mit einem Überblick über die neuere Forschungsgeschichte seit Martin Dibelius ein, der die ntl. Haustafeln als jüdisch-hellenistische Fortentwicklungen vor dem Hintergrund der stoischen Pflichtenlehre verstanden hatte. Nach verschiedenem Widerspruch leitete David Schroeder sie dagegen aus dem apodiktischen Recht des AT ab. Einen Neuansatz brachte der Versuch von David L. Balch, die Haustafel im 1Petr aus der antiken Ökonomik, konkret von Aristoteles, herzuleiten. Er erfuhr (besonders in der deutschsprachigen Forschung) verschiedene Weiterführungen. Schließlich ist Klaus Berger zu nennen, der die griechische Gnomik als Wurzelboden der Haustafeln ausgemacht hat. Wagener analysiert und kritisiert die von ihr dargestellten Modelle und kommt zu folgendem Ergebnis: „Traditionsgeschichtlich ist von einer Neu-Rezeption paganer Literatur auszugehen, wobei die eigenständige Adaption auch Korrektur früherer christlicher Adaptionen sein kann. Hatten also Kol und Eph, …, aus dem Spektrum damaliger sozialethischer Stellungnahmen eine gemäßigte Mittelposition übernommen, so rezipieren die Pastoralbriefe ebenso wie die Apostolischen Väter mehr die konservativeren Positionen der zeitgenössischen Debatte.… Ich werde die These zu belegen versuchen, dass die Pastoralbriefe sprachlich wie inhaltlich eine besonders enge traditionsgeschichtliche Beziehung zum neopythagoreischen Schrifttum, insbesondere zu den Frauenspiegeln und Briefen an Frauen, aufweisen.“ Später schreibt sie zur Ekklesiologie: „Ich formuliere deshalb an dieser Stelle die Hypothese, dass die Οἶκος–Ekklesiologie der Pastoralbriefe auf dem Hintergrund eines Interessenkonflikts zwischen Männern und Frauen verstanden werden muß: Sie spiegelt eine Konkurrenz um kirchliche Führungspositionen wider, in der die Erhebung des οἶκος zur ekklesiologischen Leitmetapher eine Strategie männlicher Führungsschichten darstellt, Frauen aus solchen Leitungsfunktionen auszuschalten.“

Diesen emanzipatorischen Aspekt beiseite lassend, ist in dem Zusammenhang des Themas „Haus“ noch einmal auf Roger W. Gehrings Untersuchung über „Hausgemeinde und Mission“ hinzuweisen (s. Literaturverzeichnis).

Der Zusatz mit ganzer Ehrbarkeit (vgl. zu 3,8) dürfte die achtunggebietende Art und Weise des Vorstehens beschreiben, wogegen der Hinweis auf die Kinder, die sich einfügen, eine exemplarische Konkretion, nämlich eine wichtige Auswirkung der Leitungskompetenz in der eigenen Familie ist. Rechtlich gesehen verfügte der Familienvater im römischen Reich über weitestgehende Autorität, unter Umständen bis hin zum Kapitalrecht. Die Frage war, wie er damit umging und wie sich die Kinder dazu verhielten. Auch hier ist aber wieder grundsätzlich an das positive Verständnis von Unterordnung im Sinne von „Einordnung in eine Geborgenheit gebende Gemeinschaft“ zu erinnern.

5 Wie sich einer im eigenen Bereich verhalten hat, so wird er es vermutlich auch mit der Gemeinde halten. Erstmals stoßen wir hier auf den besonders für Paulus (und Lukas) sehr wichtigen Begriff der ἐκκλησία θεοῦ (in den Pastoralbriefen nur noch 3,15; siehe auch dort!). Stuhlmacher unterstreicht dazu den dieser urchristlichen Selbstbezeichnung schon vom Frühjudentum her anhaftenden eschatologischen Charakter. In den Qumranschriften meint das hebr Äquivalent קֽהָל אֵל nämlich „die Gemeinde Israels als ‚Aufgebot‘ Gottes im letzten Kampf gegen die Gottesfeinde“. Trifft dies auch das Selbstverständnis der Gemeinde des 1Tim, dann wird noch einmal verständlicher, warum Paulus an den Gemeindeleiter besondere charakterliche Erwartungen hat. Verhält es sich so, dann wird die Erwartung einer „Sonderethik“ für geistlich Leitende (Pfarrer, Pastoren u.a.) weniger problematisch. Auch hier ist allerdings zu differenzieren zwischen biblisch begründeten ethischen Erwartungen, die mit der Vorbild- und Leitungsfunktion zusammenhängen, und lediglich zeitgeschichtlich-kulturell-soziologisch bedingten Anforderungsprofilen.

6 Für das Gemeindeleitungsamt kommt aber auch kein Neubekehrter (wörtlich: kein „Neugepflanzter“) in Frage. Es kommt nicht selten vor, dass sich „Greenhorns“ des Glaubens schon eine ganze Menge zutrauen und durch ihr soziales Prestige und ihr Auftreten, auch durch fachliche Qualifikation, unter Umständen die Gemeindeversammlung für sich einnehmen können. Paulus schiebt dem einen Riegel vor. Im Grunde finden wir schon hier die Wurzel für die später im (Neu-)Pietismus entstandene gute Formel, von Bewerbern vier Voraussetzungen zu verlangen: Sie sollen „bekehrt, bewährt, begabt, berufen“ sein. Der Apostel nennt auch den Grund: damit er nicht aufgeblasen in die Schlinge des Teufels falle. Wer in jugendlichem Alter – auch geistlich – zu hohem Ansehen kommt, steht umso mehr in der Gefahr, aufgeblasen, töricht, verblendet und eitel zu werden. Der Satan ist ja schon im AT der „Verkläger“ der Frommen vor Gott (Hiob!), sozusagen der „Staatsanwalt“ im Endgericht. Mit unbewährten Gemeindeleitern, auf die eine besonders strenge Beurteilung wartet (vgl. Jak 3,1 für die Lehrer), hätte er leichtes Spiel.

7 Stattdessen unterstreicht der Apostel noch einmal die Forderung (δεῖ) nach einem guten Zeugnis von denen draußen, also einen guten Ruf bei den Nichtchristen, um die Gefahr der Verleumdung auszuschließen. Auf diese Weise könnte nämlich dem Teufel eine „Schlinge“, also eine Waffe in die Hand gegeben werden, um den wichtigsten Repräsentanten der Gemeinde zu Fall zu bringen. Παγίς ist „alles, was festmacht“. Auch die Qumraner kannten dieses Bild. Nach ihrer Auffassung sind Unzucht, Reichtum und Befleckung des Heiligtums die drei Netze Belials, mit denen er Israel fangen möchte (CD 4,17–20). Paulus bezieht diese Vorstellung hier auf die Gefährdung des Gemeindeleiters, in 2Tim 2,26 auf widerspenstige, vom gemeinsamen Glauben abgewichene Gemeindeglieder.


IV

Welches Bild des Gemeindeleiters zeichnet der Apostel hier? Wir können verschiedene Beobachtungen machen:

1. Einige Gaben und Fähigkeiten, die wir gewiss nennen würden, erwähnt er überhaupt nicht: Die Gabe überzeugender Rede (Predigt!) und hingebungsvoller Seelsorge, die Fähigkeit zu guter Organisation. Offenbar hatte Paulus nicht die Illusion, in der Person des Gemeindeleiters müssten alle Aufgabenbereiche der Gemeinde zusammengefasst sein können.

2. Überhaupt hebt er viel weniger auf geistliche Qualitäten ab, die erwartet werden müssen, als vielmehr ganz äußerliche. Damit wird nicht gesagt sein, dass der Leiter einer Gemeinde geistliche Qualitäten nicht brauche. Sie sind vielmehr als selbstverständlich vorausgesetzt. Dafür steht der Lebenswandel, stehen die menschlich-charakterlichen Eigenschaften im Mittelpunkt, ebenso die Bewährung in anderen Leitungsaufgaben.

3. Von unserem Text her ist es falsch zu sagen, der persönliche Lebensstil eines Gemeindeleiters gehe die Gemeinde nichts an. Hier gibt es durchaus Kriterien, die beachtet sein wollen. Zu fragen ist nur, warum die Kirche nicht mehr den Mut hat sie anzuwenden, denn erstaunlicherweise kann von keinem der genannten Kriterien gesagt werden, es sei „nur zeitbedingt“ und deshalb heute so nicht mehr relevant.

4. Zugleich müssen wir uns aber auch die Unterschiede zwischen damals und heute klar machen: Damals gab es noch keine „Amtskirche“ mit bis ins Kleinste gehenden Vorschriften und einklagbaren Anstellungsverhältnissen. Er wird autoritär (und nicht demokratisch) von Paulus selbst oder eben von einem Mitarbeiter eingesetzt worden sein und dann weitgehend auf sich selbst gestellt gewesen sein. An Aus-, Weiter- und Fortbildung war nicht zu denken, auch nicht daran, dass es sich jemand zum beruflichen Lebensziel machte, Gemeindeleiter zu werden.


6. Über Diakone und Diakoninnen (1Tim 3,8–13)


I

8 Diakone sollen ebenso Achtung gebietend sein, nicht doppelzüngig, sich nicht vielem Wein ergeben, nicht gewinnsüchtig, 9 sondern sollen das Geheimnis des Glaubens in reinem Gewissen haben. 10 Auch sie sollen aber zuerst geprüft werden; wenn sie dann unbescholten sind, soll man sie zu Diakonen machen. 11 [Die] Frauen [sollen] ebenso Achtung gebietend [sein], nicht Verleumderinnen, nüchtern, in allem zuverlässig. 12 Die Diakone sollen Männer einer Frau sein, den Kindern und ihren eigenen Häusern in guter Weise vorstehen. 13 Die aber gut dienen, verschaffen sich eine gute Stufe und viel Freiheit im Glauben, der im Christus Jesus ist.


II

Der Abschnitt knüpft deutlich an den voraufgehenden an, ist aber auch nach vorne (V. 11) angebunden. 8–10 geht es um die männlichen, 11 um die weiblichen, 12f wieder um die männlichen Diakone.


Historischer Hintergrund

„Dienen“ war, sofern es nicht als Dienst am Staat geschah, für den Griechen der klassischen Zeit etwas Verächtliches, des freien Mannes unwürdig. Ausgehend von der vermutlichen Grundbedeutung dessen, der „bei Tisch bedient“, umfasst der Begriff διάκονος schon in vorntl. Zeit eine gewisse soziologische Breite. Er kann nämlich sowohl für den zu Tisch dienenden Sklaven als auch für die Dienerin einer Gottheit verwendet werden. Von anderen griech. Begriffen für „dienen“ (deren gibt es etliche) unterscheidet sich διακονέω dadurch, „daß es die ganz persönlich einem anderen erwiesene Dienstleistung bezeichnet.“ Weiser kontrastiert es dem Terminus δουλεύειν: Während dieses das Abhängigkeitsverhältnis und die Unterordnung hervor hebt, kommt in jenem der Aspekt des Dienstes zugunsten einer Person zum Ausdruck. So konnte διακονέω „in bestimmten Schichten des NT zum zentralen Ausdruck für die christl. Grundhaltung, die sich an Jesu Wort und Verhalten orientiert, und zur Bezeichnung spezifisch christl., innergemeindlicher Funktionen, nämlich des karitativen Einsatzes, der Wortverkündigung und der Führungsaufgaben“ werden. Wem dienen die Diakone und Diakoninnen? Gott bzw. Christus oder den Mitchristen? Die Antwort gibt Apg 6,1ff, wo aufgrund ungerechter Verhältnisse innerhalb der Gemeinde die ersten Armenpfleger, die Vorläufer späterer Diakone, eingesetzt werden. Es geht in erster Linie um einen Dienst an den Mitchristen (Apg 6,2)! Dadurch u.a. unterscheiden sich Gemeindeleiter und Diakon jedenfalls in dieser frühen Zeit, dass die Aufgabe des einen schwerpunktmäßig im geistlichen Bereich verortet ist, die des anderen schwerpunktmäßig im materiellen – ein Umstand, der allerdings schon Stephanus nicht davon abhielt, sich auch in der Verkündigung des Evangeliums zu betätigen (Apg 6,8ff). Schon Jesus selbst hatte seinen Jüngern das Dienen als Ideal vorgegeben (Mk 9,35; 10,43) und hatte dabei an seinem eigenen erlösenden Dienen Maß genommen (Mk 10,45). Für Paulus gehörte διάκονος zum festen Bestand der Bezeichnungen, die er auch nicht-titular für sich selbst oder seine Mitarbeiter verwandte, um ihr Verhältnis zu Gott bzw. Christus zu beschreiben (z.B. 1Thess 3,2; 1Kor 3,5 u. ö.). Im Gegensatz zur griech. Umwelt war das Wort also im Christentum zu einem Würdetitel geworden.


III

8 Neben den Gemeindeleiter stellt der Apostel sogleich die Diakone (s.o. S. 140f). Wie stand es damals mit ihrer Funktion? Ihr Name deutet zunächst auf eine untergeordnete Stellung hin:471 διάκονοι nennt Joh schon bei der Hochzeit zu Kana (Joh 3) die für den Service bei Tisch zuständigen Sklaven. Nun war daraus die Bezeichnung eines gemeindlichen Amts geworden. Ein Stück weit geht ihre „Dienstbeschreibung“ mit jener der Gemeindeleiter parallel: Sie sollen Achtung gebietend sein. Durch die enge Verknüpfung mit dem voraufgehenden Text und mit V. 11 (jeweils durch ὡσαύτως) gewinnt σεμνότης den Charakter einer verschiedene Aspekte zusammenfassenden Tugend. Sie wird dadurch zugleich zu einer unscharfen Eigenschaft, die am ehesten das Beeindruckende, das Achtung Gebietende akzentuiert. Konkreter sind da schon die Vorgaben, sie sollten nicht doppelzüngig sein. Zumal in angefochtener Situation stehen Mitarbeiter der Gemeinde stets in der Gefahr, sich nach außen und nach innen unterschiedlich zu äußern. Verlässliche, klare Aussagen sind gewünscht. Die Warnung vor Alkohol und Geld als Dingen, die das Leben wie das Denken in Anspruch nehmen können, war schon den Bischöfen zuteil geworden (V. 3).

9 Dafür sollen die Diakone das Geheimnis des Glaubens in reinem Gewissen haben. Nach Oberlinner erinnert die Wendung „Geheimnis des Glaubens“ beim „Gebrauch von μυστήριον an Paulus“, er sieht allerdings in der vorliegenden Verbindung mit πίστις „eine noch stärkere Formalisierung von μυστήριον“ als in den sog. Deuteropaulinen. Es wird „die Unverfügbarkeit des Glaubens im Sinne einer von Gott her kommenden Offenbarung betont … Das vorrangige Interesse liegt in der hier gegebenen Redewendung μυστήριον τῆς πίστεως aber darauf, die Verantwortung der Diakone für den ‚Besitz‘ (ἔχοντας) des Glaubens und dessen treuer Bewahrung zu unterstreichen.“ Jeremias versteht mit anderen unter dem Geheimnis des Glaubens das Evangelium selbst und und meint, der Diakon mache diese Botschaft lächerlich, wenn er durch seine Person, durch sein Verhalten etwas anderes signalisiere. Interessant ist, dass sich Paulus selbst und seine „Konkurrenten“ Apollos und Kephas in 1Kor 4,1 als „Diener (ὑπηρέτας) Christi, nämlich als Verwalter der Geheimnisse Gottes“ bezeichnet. Also besteht ihr Dienst im verantwortlichen Umgang, d.h. wohl im Bild des Ökonoms: im bewussten Verteilen oder auch Verweigern der Botschaft, die ihnen anvertraut ist. Dazu könnte dann im Bereich der Seelsorge das Binden und Lösen nach Mt 16,19; 18,18; Joh 20,23 gehören. Es dürfte kaum möglich sein, den Begriff μυστή- ριον einlinig zu definieren. Dass die Diakone bereits mit der Verkündigung beauftragt oder am Abendmahl beteiligt gewesen wären, lässt sich m.E. aus dieser Stelle eher nicht ableiten, wird das Geheimnis des Glaubens doch in Beziehung zu ihrem Gewissen gesetzt, also ihrem persönlichen geistlichen Leben zugewiesen. Die Verkündigung (nach Lukas genauer: die an ihn herangetragenen Diskussionen) des Armenpflegers Stephanus (Apg 6,9f) erscheint implizit als etwas Besonderes, nicht zu seinem Dienst gehörendes, ja als eine Aufgabe, der sich jeder Christ zu stellen hätte (im Sinne von 1Petr 3,15).

10 Vor ihrer Zulassung zum Diakonat sollen sie zuerst geprüft werden. Noch einmal wird unterstrichen, dass es (zunächst) nicht um eine Beurteilung bestehender Amtsinhaber geht, sondern um die Einsetzung künftiger. Gab es zwar schon „Älteste“ in Ephesus (1Tim 5,17ff), aber noch keine Bischöfe und Diakone? Und werden sie vielleicht deshalb in dem „Ämter-Kapitel“ 3 nicht thematisiert? In diese Richtung scheint auch das Wort an Timotheus über die Handauflegung (gemeint ist wohl die Einsetzung in ein Amt) zu deuten. Das griech. Wort für die Prüfung denkt an einen „Härtetest“, der zeigt, ob etwas oder jemand auch unter schweren Bedingungen seine Aufgabe erfüllen kann. Ob hier an eine Art „Examen“ gedacht ist, an eine Durchleuchtung ihrer Vergangenheit oder an eine „Probezeit“, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Vermutlich eher Letzteres.478

11 Paulus wendet sich den Diakoninnen zu. Das griech. Wort διάκονος ist ja in der männlichen und weiblichen Form identisch. Es gab also sprachlich keine Entsprechung zu unserem Wort „Diakonin“. Wenn der Apostel nun von den Frauen spricht, will er deutlich machen, dass es jetzt um die weiblichen Diakone geht – und eben nicht um die Ehefrauen der Diakone. Auch von ihnen wird verlangt, dass sie Achtung gebietend sein sollen. Der Hang zur verleumderischen Rede wird verboten, vielleicht in Parallele zum Verbot der Doppelzüngigkeit bei den männlichen „Kollegen“. Zuverlässig sollen sie in allen Belangen sein.

12 Im nächsten Vers geht es deutlich wieder um die männlichen Diakone. Ähnlich dem Gemeindeleiter sollen auch sie nur mit einer Frau verheiratet (gewesen) sein und der eigenen Familie gut vorstehen. Zu dem oben (S.150f) über Bischöfe und Diakone im Vergleich Gesagten passt, dass mit Blick auf die Diakone nicht von der Befähigung zur Lehre gesprochen wird.

13 Mit dem Diakonenamt wird (wiederum ähnlich dem des Gemeindeleiters) eine angesehene Stellung innerhalb der Gemeinde erreicht, sofern dieser Dienst in guter Weise (καλῶς) ausgeübt wird, wie Paulus noch deutlich macht. Die Ehr-Würdigkeit hängt also nicht am Innehaben eines Amtes an sich, sondern auch an der Art und Weise, wie es gefüllt und ausgeübt wird. Überhaupt geht es nicht darum, von Menschen angesehen zu sein und geehrt zu werden. Dies bringt viel Freiheit im Glauben an Christus Jesus mit sich. Freiheit (παρρησία) als Rechtsbegriff meint bei den Griechen das Rederecht des (freien) Bürgers in der Volksversammlung. Im christlichen Bereich wird dieses Bild auf das Endgericht angewandt: Wer an Jesus glaubt, der hat „Freiheit im Gericht“ (z.B. 1Joh 4,17), d.h. der muss sich vor dem Gericht nicht fürchten. Insgesamt bedeutet das alles für das Amt der Diakonen und Diakoninnen: Es ist weniger der Verkündigung und „Sakramentsverwaltung“ zugewiesen, sondern wohl eher der sozialen Betreuung und Gemeindeorganisation. Dieser „Dienst für die Armen und Hilfsbedürftigen“ gehört aber damals wie heute „zu den Grundfunktionen des christl. Gemeindelebens“.481


IV

Eine Ämtervielfalt ohne gleichen hat sich in den vergangenen fast 2000 Jahren in christlichen Kirchen und Gemeinden um die „Ur-Ämter“ von Gemeindeleiter, Ältesten und Diakon(in) kristallisiert. Diese drei haben sich, sicher mit zeitbedingten Veränderungen, erhalten. Das konkurrierend-komplementäre Nebeneinander einer Einzelperson, die „das Sagen hat“, und eines Gremiums, in dem ein Ausgleich der Interessen und Ansichten gesucht werden muss, das aber auch mehr Überblick und Erfahrungen für sich reklamieren kann, also strukturell gesagt das Nebeneinander von „Monarchie“ und „Demokratie“ hat die Kirche durch ihre Geschichte begleitet. Welches wirklich die bessere Lösung für eine Gemeinde oder Kirche ist, hängt stark von den jeweils handelnden Personen ab. Das hat schon Paulus gewusst und durch seine „Amtsprofile“ als Problem möglichst zu entschärfen versucht. Übrigens besitzen die Großkirchen die angedeuteten Probleme nicht allein. Sie finden sich mutatis mutandis auch in anderen Zusammenschlüssen von Christen, und das hat vor allem menschliche Gründe.


7. Der Zweck des Briefes (1Tim 3,14–16)


I

14 Dies schreibe ich dir in der Hoffnung, in Kürze zu dir zu kommen. 15 Für den Fall aber, dass ich säumig bin, [schreibe ich es dir,] damit du weißt, wie man sich in Gottes Haus verhält, das die Gemeinde des lebendigen Gottes ist, Säule und Fundament der Wahrheit. 16 Und das Geheimnis der Frömmigkeit ist bekanntermaßen groß:

der erschienen ist im Fleisch,
gerechtfertigt im Geist,
den Engeln gezeigt,
verkündigt bei den Heidenvölkern,
geglaubt im Kosmos,
aufgenommen in Herrlichkeit.


II

Mit 3,14–16 kommen wir zu einem weiteren christologischen Höhepunkt des Briefs, ja zum Zentrum des Briefes überhaupt. Unser Abschnitt gliedert sich deutlich und durchaus programmatisch in zwei Teile:

V. 14f
Der Zweck des Briefes
V. 16
Christushymnus

Die vorangegangenen Weisungen im Blick auf Bischöfe, Diakone und Diakoninnen sollen die ordnende Anwesenheit des Apostels nicht ersetzen. Sie sollen ledigleich eine Hilfe für die Zeit bis zu seinem Eintreffen in Ephesus sein. Dies aber sieht Paulus unter gewissen Vorbehalten.

Die Erwartung, dass er seine Zusagen einlöse, seine Pläne unbedingt in die Tat umsetze, scheint ihn begleitet zu haben (Röm 1,13; 15,22). Schon die Gemeinde in Korinth (2Kor 1,15–18) ließ sich von Leuten verwirren, die das nicht erfüllte Versprechen des Apostels zum Anlass nahmen, seine Vertrauenswürdigkeit und damit seine „Geistlichkeit“ in Zweifel zu ziehen nach dem Motto: „Wenn er schon in solchen äußerlichen Dingen unzuverlässig ist, wie wird es dann erst in den geistlichen Fragen sein?“ Es ging ihnen um das überzeugende Auftreten, wir würden heute sagen: um Echtheit, um Authentizität, eine durchaus verständliche Erwartung. Paulus hat diese Vorwürfe mit dem Hinweis abgewehrt, dass sich die Vollmacht eines Apostels auf andere Weise zeigen müsse. Er kannte die Begrenztheit menschlichen Planens.

Jedenfalls war er zur Entstehungszeit des 1Tim in dieser Hinsicht längst sensibilisiert und konnte Bedenken seitens der Gemeinde in Ephesus vorbeugen. Er setzt dies in Sprache um in dem (relativierenden) Wort ἐλπίζων, das in diesem Fall eine in die Zukunft gerichtete Erwartung ausdrückt.

Äußerlich betrachtet haben wir es mit sechs parallel aufgebauten Zeilen zu tun, die jeweils aus zwei Gliedern bestehen: einem Verb im Aorist Passiv und einer Bestimmung, wo bzw. wem gegenüber sich das Geschehen vollzogen hat. Vergleichen wir die sechs Zeilen inhaltlich, dann stellen wir eine interessante Struktur fest: Je zwei Zeilen (Stichoi) bilden ein Gegenüber mit Aussagen über Irdisches und Himmlisches, und zwar im chiastischen Wechsel (a b / b a / a b). In der Exegese des 20. Jh.s wurde der religions- und traditionsgeschichtliche Hintergrund der Verse weitgehend in altägyptischen bzw. altisraelitischen Texten gesucht und gefunden. Im alten Ägypten wurde nach dem Tod des alten Königs der neue Pharao in sein Amt als Gott-König eingesetzt. Dies geschah in drei Schritten:

Erhöhung zum Gott
Vorstellung im Kreise der Götter
Thronbesteigung und Übernahme der Herrschaft.

In den biblischen Psalmen gibt es eine Reihe von sog. „Thronbesteigungspsalmen“ (Ps 47; 93; 96; 97; 99), die ebenfalls als Vorbilder herangezogen wurden. In der Zwischenzeit hat sich in der Forschung manches geändert, woraus Konsequenzen für den Hymnus zu ziehen sind. Stettler sieht in dem Hymnus einen Beleg für „die Erwartung der Inthronisation des – nach jüdischer Ansicht bei Gott verborgenen – messianischen Menschensohns, welche im Judentum in der Zeit Jesu besonders stark war, als kein Davidide mehr herrschte“, eine Vorstellung, die auch in Tit 1,2 und 2Tim 1,9f zu finden ist. Im Hintergrund steht dabei die Tradition vom Gottesknecht (Jes 49,2), die dann etwa in äthHen 48,6; 62,7 u.ö. reflektiert wird. Die Auferstehung Jesu und die sie begleitenden Ereignisse wurden von den Christen ja schon bald im Sinne seiner Inthronisation nach Ps 110,1 verstanden.Trifft dies alles zu, dann wäre der Christushymnus in der Tat ein Beleg für die im 1Tim immer noch zu findende Naherwartung der Gemeinde.


III

14f Zusammenfassende Formulierungen mit ταῦτα (dies) scheinen in verschiedenen Zusammenhängen eine beliebte Redewendung in den Pastoralbriefen (und auch im 1Kor!) zu sein. Ob ἐν τάχει in Kürze (vom Zeitpunkt des Kommens) oder (weniger wahrscheinlich) „in Eile“ (von der Geschwindigkeit des Kommens) meint, ist letztlich nicht zu entscheiden. Bei seinen persönlichen Planungen, etwa bei der Organisation seiner Reisen, rechnet der Apostel durchaus mit eigenen Fehleinschätzungen: für den Fall aber, dass ich säumig bin – und gibt Weisungen für diesen Fall.

Warum kann Paulus hier so selbstverständlich davon sprechen, er komme in Kürze nach Ephesus, wenn er sich doch schon Jahre vorher ausdrücklich von dort verabschiedet hatte (Apg 20,25)? Dies ist die entscheidende Frage, an der sich die Datierung des Briefes schärfen und bewähren muss. Eine mögliche Antwort hatte etwa van Bruggen gegeben: weil 1Tim doch schon vor Apg 20 geschrieben wurde. Diese Möglichkeit ließen wir schon in der Einleitung als solche stehen, schlossen uns ihr aber aus den dort genannten Gründen nicht an. Wir vertreten die Auffassung einer späteren Abfassung des 1Tim, nämlich nach der Freilassung aus einer ersten Haft in Rom vermutlich im Jahr 64, aber noch vor dem Brand Roms und der dann alsbald einsetzenden Christenverfolgung unter Kaiser Nero. Beide Optionen, so ist unumwunden zuzugeben, sind mit spekulativen Elementen behaftet (m.E. allerdings weit weniger als Hypothesen, die den Brief erst nach dem Tod des Paulus ansetzen), weil die spärlichen historischen Texte keine präzisen Zuordnungen zulassen. Im Blick auf Apg 20,25 spricht allerdings folgende Beobachtung für unsere spätere Datierung: Der Apostel fand nach Apg 19,1 in Ephesus bereits „einige Jünger“ vor, die sich allerdings auf die Johannestaufe beriefen. Unter dem Einfluss des Paulus ließen sie sich taufen und empfingen durch ihn auch den Heiligen Geist. Es scheint also in der Stadt schon eine wenn auch theologisch „primitive“, so doch schon strukturierte Gemeinde gegeben zu haben. Wenn wirklich unser Brief schon im Zusammenhang der „Rundreise“ von Apg 19,21f geschrieben wäre, wenn weiter Timotheus sich an die Anweisungen seines Lehrers gehalten und einen Gemeindeleiter (oder mehrere!?) eingesetzt hätte, warum werden dann in Apg 20,17 ausdrücklich nur die „Ältesten“ nach Milet gerufen? Und warum spricht Paulus diese in seiner Abschiedsrede ebenso explizit auf ihre Einsetzung als „Bischöfe“ an (übrigens das einzige Vorkommen von ἐπίσκοπος in der Apostelgeschichte!)? Wenn es sich nicht um einen Anachronismus handelt, kann es nur zwei Gründe geben: Entweder ist „Älteste“ der Oberbegriff für die damaligen kirchlichen Leitungsämter insgesamt, oder Paulus und Lukas weichen in ihrer Terminologie voneinander an, was Lukas in Apg 20,28 bewusst signalisiert hätte. Die Antwort auf die oben gestellte Frage nach Apg 20,25 könnte sein: Paulus konnte in Milet (und Lukas bei Abfassung der Apg während der 1. Gefangenschaft in Rom) noch nicht ahnen, dass es doch ein Wiedersehen geben würde – freilich gegenüber Apg 20 unter völlig veränderten Umständen. Und Lukas hat diesen „Irrtum“ des Apostels wahrheitsgemäß festgehalten.

Hier wird noch einmal verständlich, warum Jeremias die ntl. „Haustafeln“ vom Verständnis der Gemeinde als dem „Haus Gottes“ her verstehen will. Paulus spricht darüber, wie man sich in Gottes Haus verhält. Dieses Bildwort Haus Gottes (vgl. 1Kor 3) hat seine Wurzeln bereits im AT, wo im eigentlichen Sinne der Tempel als „Haus Gottes“ bezeichnet wird (Ps 69,10; Jes 56,7) und parallel dazu das ganze Volk als „Haus Israel (Jakob, David)“ bezeichnet werden kann. In übertragenem Sinn begegnet es uns im NT in Hebr 10,21 und 1Petr 4,17, zwei Schriften, die etwa gleichzeitig mit 1Tim entstanden sein könnten. Haus (οἶκος) meint über die materielle Bedeutung eines Gebäudes hinaus alle, die miteinander in ein Haus gehören, also zunächst Eltern und Kinder, unter Umständen auch die Großeltern und weitere Familienangehörige bis hin zu den Sklaven und (im griech.-röm. Bereich) freigelassenen Sklaven, den libertini. Verständlich, dass eine in Alter, Geschlecht und sozialer Stellung derart vielfältig strukturierte Gemeinschaft eine klare Ordnung brauchte. Das traf in noch größerem Maße für die Gemeinde zu. Der Apostel verwendet hier wieder das griech. Wort δεῖ, das eine göttliche Notwendigkeit ausdrückt. Die Art, wie man sich in Gottes Haus verhält (ἀναστρέφεσθαι), ist nicht dem individuellen Belieben überlassen; sie unterliegt festen Regeln. Warum das so ist, erläutert Paulus in einem Relativsatz: das die Gemeinde des lebendigen Gottes ist, Säule und Fundament der Wahrheit. Zum zweiten Mal (nach 1Tim 3,5) fällt hier die für Paulus typische Bezeichnung einer örtlichen Christenschaft: ἐκκλησία. Das Wort ist aus den beiden griech. Wörtern ἐκ („aus, heraus“) und καλεῖν („rufen“) zusammengesetzt und bezeichnet die aus einer noch größeren Gemeinschaft „Herausgerufenen“. Im Griechischen ist diese anschauliche Bedeutung allerdings im Laufe der Zeit verblasst und der technischen Bedeutung „Volksversammlung“ oder „Heeresversammlung“ gewichen. Dabei handelte es sich aber tatsächlich bei diesen „Herausgerufenen“ um eine Teilmenge der gesamten Bevölkerung einer Stadt, denn nur die freien, stimmberechtigten Vollbürger waren Mitglieder der ἐκκλησία. In diesem Sinne kann man mit Paulus in der christlichen (Orts-) Gemeinde die Sammlung der von Gott durch das Evangelium zum Glauben herausgerufenen Bewohner eines Ortes sehen. Es ist zu fragen, ob und inwieweit unsere Kirchen dieses Selbstverständnis als eines herausgelösten Gegenübers für die Zeitgenossen noch teilen – doch nicht im Sinne einer Verachtung aller anderen. Darüber hinausgehend kann Paulus den Begriff aber auch für die Gesamtheit der christlichen Gemeinden verwenden. Roloff weist darauf hin, dass dies mit dem grundsätzlich theologischen und nicht organisatorischen Verständnis von ἐκκλησία im NT zu tun hat. Das bedeutet: Für die Verfasser des NT war die „Gemeinde Jesu“ mehr als eine soziologische Größe, sie hatte theologische Qualität in heilsgeschichtlichem Zusammenhang. Inhaltlich wird sie näher beschrieben als „Leib Christi“, als „Brautgemeinde“ usw.

Sehr wahrscheinlich hat sich die frühe Urgemeinde aufgrund ihres Berufungs- bzw. Erwählungsbewusstseins bereits im Anschluss an atl. Vorbilder als ἐκκλησία τοῦ θεοῦ verstanden und bezeichnet. Neben den beiden schon genannten Bedeutungen (für die Ortsgemeinde 1Kor 4,17 und die Gesamtheit der Gemeinden 1Kor 6,4) kann ἐκκλησία bei Paulus auch die Gemeindeversammlung (konkret vielleicht auch den Gottesdienst) bezeichnen (1Kor 11,18). Diese Gemeinde ist nach dem Apostel Säule und Fundament der Wahrheit. Das Bild aus der Politik von der „Herausgerufenenschaft des lebendigen Gottes“ wird also erläutert und veranschaulicht durch zwei (genauer: drei) Bilder aus dem Bereich des Bauwesens: Haus Gottes und Säule und Fundament der Wahrheit. Setzen wir mit dem Begriff der Wahrheit ein. Griechen und Hebräer hatten ein sehr unterschiedliches Wahrheitsverständnis: Für den Griechen klang in ἀλήθεια das Wort λήθη mit. So hieß der „Strom des Vergessens“, in dem nach den griech. Sagen die Taten eines Menschen nach seinem Tode verschwinden. Ἀ-λήθεια mit α privativum ist gerade der Gegensatz: nicht „vergessen werden“, sondern „im Bewusstsein lassen“, nicht „ver-bergen“, sondern geradezu „ent-bergen“. „Wahrheit“ ist das, was (irgendwann eben doch) ans Licht kommt. Ganz anders bei den Hebräern: In ihrem Wort אֱ‍ֽמוּנָה steckt die Wortwurzel mit der Bedeutung „fest, zuverlässig, tragfähig sein“, ein Wort, das schon bald zum Beziehungsbegriff wurde. In diesem Sinne kann ein Mensch „wahr“ sein, wenn er zuverlässig und treu ist, wenn man sich auf ihn verlassen kann. In besonderer Weise aber trifft das Wort auf Gott zu, der „der Wahre“, „der Treue“, der „Zuverlässige“ schlechthin ist. Und in diesem Sinne hatte ja auch Jesus von sich gesagt, er sei „die Wahrheit“, eben „die Vertrauenswürdigkeit“ in Person und sein Wort, das Evangelium, sei „die Wahrheit“. Ein ähnliches Bild verwendet Paulus in seinem Brief an die Epheser (! 2,19–22).

In knapper Folge sind zwei Arbeiten über „Die Christologie der Pastoralbriefe“ von Karoline Läger und Hanna Stettler erschienen. Läger sprach (wie schon erwähnt) in ihrer Einleitung aufgrund neuerer Arbeiten von einer „Neuentdeckung“ der Pastoralbriefe, weist zugleich auf die unbefriedigende Art seitheriger Wahrnehmung des Themas hin und „unternimmt demgegenüber den Versuch, durch eine Änderung der Perspektive einen neuen Zugang zum Verständnis der Pastoralbriefe zu gewinnen.… Die Analyse ihrer christologischen Aussagen und Traditionen, die Frage nach der inhaltlichen Ausprägung dessen, was die Pastoralbriefe über Jesus Christus, über den Grund ihres Glaubens, mitzuteilen haben, soll in der Wahrnehmung der drei Schreiben einen neuen Aspekt ergeben.“490 Damit ist u.a. gemeint, die (diachrone) Frage nach der Herkunft durch die (synchrone) nach der Funktion vor allem des in den Pastoralbriefen verwandten überlieferten Materials zu ergänzen. Zugleich will Läger den (historischen und literarischen) Kontext der christologischen Aussagen stärker in den Blick nehmen und „zu einem Gesamtbild der Briefe und damit zum Verständnis der Eigenheiten einer ‚paulinischen Gemeinde in nachpaulinischer Zeit‘ und ihrer besonderen Christologie“ gelangen. Mit Blick auf 1Tim als Ganzes résummiert sie, „dass die christologischen Aussagen des Briefes an jeweils ganz zentralen Punkten zu stehen kommen“, insofern etwa 3,16 in seinem jetzigen Kontext „gleichsam den Mittelpunkt des Schreibens“ bildet. Zudem werden wichtige Aussagen des Briefes „mit christologischer Tradition begründet“.493 Auch sonst haben christologische Aussagen, wie sie an den einzelnen Stellen belegt, eine tragende Funktion. Insgesamt sieht Läger in den Pastoralbriefen neben einer Hochschätzung der christologischen Tradition eine eigene soteriologische Konzeption in Verbindung mit einer „Epiphaneia-Terminologie“. Abweichend von der traditionellen Sicht meint sie gezeigt zu haben, „dass ein traditionsgeschichtlich hohes Alter der christologischen Texte in den meisten Fällen nicht nachgewiesen werden kann“, obwohl der Verfasser der Briefe daran interessiert war, „den Eindruck des Altertümlichen für seine christologischen Aussagen (…) zu erwecken.“495 Durch die Art, wie nichtpaulinische Sätze „paulinisiert“ würden, erweise sich gerade der nachpaulinische Charakter. Und weiter: „Christologische Sätze und Aussagen werden nach Art eines Katechismus zusammengestellt, ohne dass sie zueinander ins Verhältnis gesetzt würden. Eine systematische Christologie wird nicht angestrebt; wesentlich ist das Festhalten an der Einzelaussage.“497

Vom Ansatz her gar nicht weit davon entfernt ist die Arbeit von Stettler. Ihr Ausgangspunkt ist die früher geläufige Bestreitung der Existenz einer Christologie der Pastoralbriefe. Sie möchte das christologische Überlieferungsgut in den Pastoralbriefen auf die Intention und dem Umgang mit ihm hin untersuchen und auf diese Weise die eigene Position des Verfassers erheben. Ergebnis: „… dass der Verfasser zwar keine neue Christologie vertritt, in dem Sinn, dass er neue Christologumena schafft, wohl aber eine eigene. Nicht als Pionier neuer Vorstellungen, sondern als Lehrer wollte er wirken …“499 Gegenüber Läger eigene Wege geht Stettler, indem sie stärker diachron, nämlich traditionsgeschichtlich arbeitet, also nach der Herkunft und den Wurzeln der Christologie in den Pastoralbriefen fragt. Dabei akzentuiert sie die Eigenständigkeit der Christologie gegenüber der Soteriologie deutlicher und beurteilt die Bedeutung der „apostolischen Vergangenheit“ anders. Ausführlicher versucht sie, die Christologie der Pastoralbriefe darzustellen und inhaltlich zu bestimmen (S. 328ff), u.a. mit folgenden Ergebnissen: 1. Wir haben es mit einer „Präexistenz- und Inkarnationschristologie“ zu tun, nicht mit einer adoptianischen Form von Christologie.501 Dass Jesus hier nicht als „Sohn Gottes“ bezeichnet wird, könnte im heidnischen Umfeld ein Schutz gegen ein „polytheistisches Missverständnis“ sein. Der Sache nach besteht nämlich zwischen den christologischen Titeln ein so enger „Zusammenhang, der bis zur Konvergenz der Titel untereinander führt“.503 Ausgeführt wird diese Christologie u.a., indem das „Epiphanieschema“ eingebracht wird (im 1Tim explizit freilich nur 6,14, dort allerdings an markanter Stelle), die Inkarnation (3,16) und Jesu Gottheit (1,1; 2,5) ausgesagt wird. 2. In den Rahmen einer „Gottesknechtschristologie“ stellt der Verfasser der Pastoralbriefe nach Stettler „die Vorstellungen von stellvertretender Lebenshingabe des Gottesknechts (Jes 53,11f), Loskauf (Jes 43,3f) und Sühne“ dar, „um die Bedeutung des Todes Jesu zu erfassen.“ Im 1Tim konkretisiert sich dies vor allem in dem (traditionellen?) Wort vom ἀντίλυτρον ὑπὲρ πάντων (2,6), der Aussage über Jesus als den μεσίτης des neuen Bundes (2,5) und als den gekommenen und wiederkommenden σωτήρ (1Tim 1,15). 3. Nach Stettler zitiert „der Verfasser der Past von den Jesusworten der Evangelien vor allem Menschensohnworte“ (im 1Tim: 1,15 // Mt 9,13, Lk 19,10; 2,6 // Mt 20,28). Diese Tradition gehört „zu den selbstverständlichen Voraussetzungen der Christologie der Past“.508 Sie kennen Jesus als den messianischen Menschensohn, was sein Weg belegt (im 1Tim: 2,6; 6,15). 4. Stettler spricht von einer „Kerygmatisierung der Christologie“ im Sinne einer Akzentverschiebung „von der Christusoffenbarung hin zu deren Frucht, der Verkündigung des Evangeliums“ (vgl. etwa 1Tim 2,4–7). Sie wurzelt bereits in der paulinischen Theologie (2Kor 2,14f; 4,2–4; 5,20; 13,3) und könnte (in Ephesus!) auf johanneischen Einfluss zurückzuführen sein. 5. Der irdische Jesus hat seinen Platz in der Christologie der Pastoralbriefe (vgl. 1Tim 1,15; 2,6; 3,16; 6,3; 6,13). Aufs Ganze gesehen bewahrt der Verfasser die zentralen urchristlichen Elemente der Auferstehungsbotschaft „in neuen sprachlichen Formen“ und übermittelt sie „den von Häresie bedrohten Gemeinden in einprägsamen Formeln, so Stettler zusammenfassend.

16 An diese Überlegungen über die Gemeinde schließt Paulus einen Christushymnus an, ein urchristliches Lied, das nach Jeremias der Höhepunkt des ganzen Briefes ist. Entsprechend würdevoll wird er auch eingeführt, weil er das Geheimnis der Frömmigkeit beschreibt. Geheimnis (μυστήριον) verwendet Paulus viel und vielfältig (s.o. zu 3,9), u.a. im Sinne einer nur Gott und den Gläubigen (und oft nicht einmal ihnen) einsichtigen Tatsache, die aller weltlichen Wirklichkeit und menschlichen Lebenserfahrung entgegen steht. (1Kor 2,1). Im 1Tim steht es nur in 3,9 und 3,16. Hier ist umfassend “wie im Eph und Kol das ganze Christusgeschehen, welches in der Verkündigung offenbart wird, dessen endgültige Offenbarung aber noch aussteht”, gemeint. Frömmigkeit meint hier wohl nicht so sehr die christliche Lebensführung, sondern den zentralen Inhalt christlichen Glaubens (vgl. oben zu 2,2), wie er im nachfolgenden Hymnus beschrieben wird. Dieses dem menschlichen Verstand prinzipiell unzugängliche Heilsgeschehen ist bekanntermaßen (ὁμολογουμένως) groß. Ὁμολογεῖν (sofern es sich wie hier auf das Christusbekenntnis bezieht) trägt in sich „die den griech. Termini eigenen Aspekte des Bejahens und Anerkennens sowie der öffentlichen und verbindlichen … Erklärung.“ Bekanntermaßen meint demnach nicht eine einer großen Zahl von Menschen bekannte Tatsache, sondern ein Faktum, das „allgemein anerkanntes Glaubensgut der Kirche“ ist und deshalb auch zum Bekenntnis verpflichtet, das aber vielleicht von den Irrlehrern bestritten wurde. Ob die Ergänzung groß einen tieferen Sinn hat, bleibt unsicher. Immerhin wird die Göttin Artemis in Apg 19,34 demonstrativ vom Volk so gepriesen, Schon in Apg 8,9 wird von Simon Magus gesagt, er habe von sich gesagt, er sei im messianischen Sinne „jemand Großer“ (λέγων εἶναί τινα ἑαυτὸν μέγαν). Vom Volk wird das ausdrücklich aufgenommen und Simon als „die Kraft Gottes, die sogenannte große“ akklamiert (8,10). Dies könnte an unserer Stelle im Hintergrund mitschwingen, wo der selbsternannten Größe die wirklich große, aber eben nicht publikumswirksame („Geheimnis“) gute Nachricht gegenüber gestellt wird.

Was ist aber im Einzelnen gemeint? Der Hymnus, der sich sprachlich sofort als solcher zu erkennen gibt (sechs an das maskuline Relativpronomen ὃς520 angeschlossene, gleichmäßig aufgebaute Verbalsätze), setzt unter Auslassung des eigentlichen (vermutlich lobpreisenden oder zum Lobpreis auffordernden) Hauptsatzes mit einer Aussage über Christus als Relativsatz ein.

Die erste Zeile spricht von dem irdischen Geschehen der Menschwerdung: Christus ist erschienen im Fleisch. Fleisch ist die Weise, wie alle Menschen existieren. Zu ihr gehört die Vergänglichkeit (Jes 40,6), aus ihr folgt das Eingebundensein in einen geschichtlichen Zusammenhang (Röm 1,3). Ähnlich manchen Aussagen bei Johannes (programmatisch Joh 1,14!) ist hier Jesus als „wahrer Mensch“ hervorgehoben – vielleicht in Abgrenzung zu Kreisen, die schon damals die menschliche Natur Jesu zugunsten der göttlichen verflüchtigen wollten. Der Hymnus hält fest: göttliche Erscheinung und Offenbarung kann nicht nur in geistig-geistlicher Weise geschehen. Eine größere Ehre konnte Gott den Menschen gar nicht antun, als dass er selbst Fleisch wurde. Die Menschengestalt kann durchaus eine Erscheinungsform Gottes sein, wenngleich sie in ihr nicht aufgeht. Paulus setzt also mit der frühen Christenheit die Gottessohnschaft Jesu schon mit der Geburt an. Er vertritt auch hier keine „adoptianische“ Christologie. Röm 1,3f bindet er die beiden Existenzweisen des Christus (σάρξ und πνεῦμα) zusammen zu einem Christusbekenntnis. Eine konkordante Untersuchung des Begriffs φανεροῦν allerdings lässt noch einmal Zweifel daran aufkommen, ob Zeile 1 wirklich nur von der Menschwerdung Christi spricht. Das Wort dient sehr häufig als terminus technicus für Gottesoffenbarungen. Paulus, vom Sprachgebrauch der LXX herkommend, verwendet es bedeutungsgleich mit ἀποκαλύπτειν, denkt aber dabei oft an die Offenbarung im Evangelium. In den johanneischen Schriften des NT findet es auch für die Erscheinungen des Auferstandenen Verwendung. Dies und einige andere Gründe, vor allem auch die gelegentliche Betonung der leiblichen Auferstehung etwa bei Joh, haben manche Ausleger dazu geführt, Zeile 1 auf die Osteroffenbarung des Auferstandenen zu beziehen. Ich sehe nicht, warum beide Optionen eine Alternative darstellen müssten. Gerade die 2. Zeile weist m.E. eher in Richtung „Inkarnation“.

Zweite Zeile: Dem irdischen Ereignis entspricht bei lokalem Verständnis von ἐν der (himmlische) Vorgang in der πνεῦμα-Sphäre: Er wird gerechtfertigt im Geist. Jes 53,11[LXX] bildet hier den Hintergrund, deutlicher gesagt: ein adäquates Verständnis unseres Hymnus ist ohne das Gottesknechtslied in seiner griechischen Fassung kaum möglich. Der Vers lautet in der Übersetzung so: „… und der HERR will wegnehmen von der Mühe seiner Seele, ihm Licht zeigen und ihn für Einsicht schaffen, gerecht machen den Gerechten, der vielen auf gute Weise dient, und er [der Knecht] wird sich ihre Sünden aufladen.“ Betz hat auf eine weitere parallele Aussage in der alttestamentlichen Literatur hingewiesen. Danach hat unsere Zeile eine „alttestamentliche Analogie in der Entrückung Henochs (Gen 5,24). Von dorther bedeutet die Aufnahme durch Gott eine Rechtfertigung des von der Welt verworfenen Frommen (1Tim 3,16; Joh 16,10; Röm 4,25; vgl. Josephus, Ant IV,326)“. Schließlich ist eine Stelle in der apokryphen Schrift Weisheit Salomos (1. Jh. v.Chr.) zu beachten, wo 2,13–18 (und 3,1–9) im Munde der Gottlosen gesagt wird, was sie „dem Gerechten“ antun werden und wo Gottes Beistand für ihn geradezu zum Beweis dafür wird, dass er Gottes Sohn ist (V. 18).

Ἐν kann aber auch instrumental verstanden werden, d.h. Gottes Geist wäre das Medium der Rechtfertigung (vgl. Röm 1,4; 8,11). Hier ist wohl an die Gerechtsprechung durch Gott zu denken, der sich durch den Akt der Auferweckung zu dem von Menschen für schuldig befundenen, verurteilten und hingerichteten Jesus von Nazareth als seinem Sohn bekannt hat und ihn nun rehabilitiert und sogar zu sich in den Himmel aufnimmt.

Neben die „Erhöhung“ tritt (noch einmal als himmlischer Vorgang) die „Vorstellung“ im Himmel und auf Erden. Um sie geht es in der

dritten und vierten Zeile: Der auferweckte Gottessohn wird den Engeln als dem himmlischen Hofstaat Gottes gezeigt (Phil 2,10f; Eph 1,20f; 1Petr 3,22) und (auf der Erde) bei den Heidenvölkern verkündigt. Ὤφθη (bzw. ὠφθῆναι) ist in der LXX geläufiger Terminus für die Offenbarung Gottes (z.B. Ex 16,10; Num 14,10), im NT wird er gelegentlich für Erscheinungen des Auferstandenen verwendet (z.B. Lk 24,34; 1Kor 15,5–8. Ἄγγελος meint ja zunächst den (menschlichen) „Boten“ und erst in der Spezifizierung den himmlischen Gottesboten. Auch in den Osterberichten finden wir im synoptischen Vergleich die „schillernde“ und die „eindeutige“ Version (vgl. Mt 28,2–5 mit Mk 16,5 und Lk 24,4; siehe auch Apg 1,10). Es ist aufgrund dieses Befunds verständlich, wenn Schlatter u.a. in Zeile drei die Erscheinung des Auferstandenen vor den Aposteln und in Zeile vier deren Mission sehen wollen. Stettler weist aber mit Recht auf die Struktur des Liedes hin, die in Zeile drei „ein Äquivalent … in der himmlischen Welt erwarten“ lässt. Traditionsgeschichtlich kann man dies sehr deutlich etwa in Dan 7,13ff, der Präsentation des Menschensohns in der himmlischen Thronversammlung, finden. Auch dem NT ist die Verbindung des Erhöhten mit den Engeln und seine Erhöhung über sie nicht unbekannt (1Petr 3,22; Hebr 1,4ff; 2,7–9; Phil 2,10). So gesehen fügen sich Zeile drei und vier zwanglos ins Gesamtbild ein. Die Verkündigung des Evangeliums von Jesus, dem erhöhten Christus (Zeile 4), ist irdisches Abbild des himmlischen Vorgangs (Zeile 3) und demnach selbst Proklamationsgeschehen, d.h. Bekanntmachung der Tatsache, dass Gottes Christus die Herrschaft angetreten hat. Zeugen dafür sind die Engel, vor denen sich die Gottesoffenbarung Jesu zuerst vollzogen hat. Sie werden ihn bei seiner Rückkehr auf die Erde begleiten (Mt 16,27).

Paulus benutzt κηρύσσειν gern, wenn er von seinem Auftrag und Dienst spricht (z.B. Röm 10,8; 1Kor 1,23). Roloff nennt es gar ein „heilsgeschichtliches Schlüsselwort“ und verweist auf Offb 5,6–14, wo sich das Motiv einer himmlischen Proklamation des Erhöhten in Verbindung mit missionstheologischem Impuls und in heilsgeschichtlicher Zuspitzung finden. Der κῆρυξ ist der mit der Bekanntmachung amtlicher Erlasse beauftragte Bote, der in Erfüllung seines Auftrags von Stadt zu Stadt reist. Die Verkündigung unter dem Volk Israel ist an dieser Stelle, in einem Brief an eine vorwiegend heidenchristliche Gemeinde, ausgeblendet. In Ephesus ist im Blick, was ἐν ἔθνεσιν passiert.

In den Zeilen fünf und sechs wird vorwegnehmend die Konsequenz der Proklamation aufgezeigt: geglaubt in der Welt / aufgenommen in Herrlichkeit. Hier wird deutlich: „Glauben“ an Jesus ist mehr als bloßes „Für-wahr-Halten“ seines Leidens, seiner Auferstehung und Himmelfahrt. Es bedeutet zugleich individuell die Anerkennung seiner Herrschaft durch Menschen und kosmisch die Erfüllung des Willens (1Tim 2,4) und des Heilsplanes Gottes hinsichtlich der Menschen, wie sie etwa im Jesajabuch ausgesprochen sind.

Himmlisches Pendant der glaubenden Annahme durch die Heidenvölker und zugleich ein Akt der Re-Habilitierung (im wahrsten Sinn des Wortes) ist die Heraufnahme des von Menschen abgelehnten und verurteilten Gottessohns (Jes 53,5; Weish 2,20) in Gottes Herrlichkeit, wovon die Verklärung (Mt 17,5) bereits einen Vorgeschmack darstellte. Nicht zufällig ist ἀναλαμβάνειν bzw. ἀνάλημψις in den lukanischen (!) Schriften das Hauptwort für die Himmelfahrt Jesu, nachdem es schon in LXX (AT und Apokryphen) mehrfach für den Vorgang der Aufnahme eines Menschen (Mose, Elia, Henoch) in Gottes Sphäre verwendet worden war.

In der Schwebe bleibt wiederum, ob ἐν δόξῃ ebenfalls instrumental oder lokal zu verstehen ist. Δόξα steht für hebr. כָּבו̇ד, den infinitivus absolutus von כָּבֵד. Gemeint ist damit zunächst das materielle „Schwersein“, übertragen dann auch das „Gewicht“, die „Bedeutung“, die jemand oder etwas hat, und zwar beim Substantiv nur in positivem Sinn. Als Israel (vertreten durch Mose) den Offenbarungsberg Sinai betritt, „bedeckte die Wolke den Berg, und die Herrlichkeit des HERRN ließ sich nieder auf dem Berg Sinai …“ (Ex 24,15f). Die Wolke schirmt Gottes maiestas ab, damit das Volk durch die unmittelbare Begegnung mit Gott-selbst keinen Schaden erleidet. Noch klarer wird in Ex 33,22f, dass die „Herrlichkeit“ Gott-selbst in seiner Erscheinung vor den Menschen meint. Die Berichte von Jesu Verklärung, wo Lk 9,31 Mose und Elia aus Gottes Welt heraus ἐν δόξῃ erscheinen und die Wolke als sichtbares Zeichen der Gottesgegenwart hinzu kommt, und von der Himmelfahrt (Apg 1,9), wo die Wolke Jesus aufnimmt, und von der Vision des sterbenden Stephanus (Apg 7,55) bestätigen dies für das NT. Jesu Aufnahme in Gottes ureigene Sphäre kommt von Ps 110,1 her einer Thronbesteigung gleich. Mit Recht sieht Stettler deshalb „in 1Tim 3,16 geradezu eine Umschreibung dessen, was der Sohnestitel besagt“ und hat damit eine Erklärung für das Fehlen des Sohnestitels für Jesus in den Pastoralbriefen gefunden.

Auch hier möchte ich allerdings lokales und instrumentales Verständnis um vordergründig-räumlicher Überlegungen willen nicht als Alternative ansehen. Vordergründiges und Hintergründiges lassen sich hier nicht trennen. Für das lokale Verständnis spricht nämlich noch einmal die Parallele ἐν κόσμῳ - ἐνδοξῃ. Um dieses Strukturelement durchzuhalten, geht der Hymnus stilistisch an die Grenzen des sprachlich Möglichen, wenn πιστεύειν in Zeile fünf passivisch mit direktem Objekt konstruiert wird. Wie die Propheten des AT im perfectum propheticum als schon geschehen darstellten, was sie erst ankündigten, so wird hier Jesu Missionsbefehl Mt 28,19a als erfüllt angesehen, weil an der Erfüllung kein Zweifel besteht. Κόσμος meint hier die Welt, genauer wohl die Menschheit (also ganz im Sinne, wie Paulus das Wort sonst mit anthropologischer Konnotation gebraucht).

Woher könnte der Text des Hymnus stammen? Eine Reihe von Vorschlägen wurden gemacht. Stenger befürwortet am ehesten das von Gundry vorgelegte Modell einer Entstehung im syrischen Antiochia, und zwar im Raum der im Zuge der Stephanus-Verfolgung aus Judäa vertriebenen (hellenistischen) Judenchristen. Auf sie treffen nach Gundry die drei Merkmale zu, die der Text erkennen lässt: universalistische Weite, von der Herkunft her jüdisch und unter Verfolgung stehend.

Hingewiesen sei noch auf die traditionsgeschichtliche Verbindung des Hymnus zum Gottesknechtslied Jes 52,13–53,12 in der griechischen Fassung der LXX. An mehreren Punkten gibt es Berührungen: Erhöhung (Jes 52,13); Verkündigung an die Heiden (52,15); Offenbarung (53,1); Aufnahme (Jes 53,8); Licht/Doxa (53,11); Rechtfertigung (53,11) und mehr.


IV

Wir sehen insgesamt:

1. In der frühen Christenheit gab es Leute, die sich intensiv theologische Gedanken über Jesus gemacht und die den Willen und die sprachliche Fähigkeit gehabt haben, dies in angemessener, kunstvoller Weise auszudrücken. Auch in diesem Punkt bewegt sich unser Brief im Rahmen dessen, was auch die übrigen Paulusbriefe sagen können, und sie tun es sogar formal gleich, indem sie vermutlich (wie Phil und Eph) auf geprägte Stücke zurückgreifen, die in den Gemeinden bereits vorhanden waren. Die Nähe zur Sprache (und theologischen Berichterstattung) des Lukas wird kein Zufall sein.

2. Gewiss nicht zufällig endet die „Gemeindeordnung“ mit dem Christushymnus. Mit dem Mittel der Gliederung – das Zentrale steht in der Mitte des Briefes – wird der Blick der Christen über die oft so belastenden Formalitäten und das Kompetenzgerangel des Gemeindealltags hinaus und wieder zurück auf das Wesentliche gerichtet, auf Weg und Werk Christi und auf die kommende Herrlichkeit.

3. Auf der Suche nach verwandten christologischen Aussagen bei Paulus stoßen wir zuerst auf den Philipperhymnus (Phil 2,5–11), wo der Apostel sich die Worte ebenfalls „leiht“. Dort wird (in ethischem Kontext) der Weg Jesu von oben nach unten und wieder nach oben beschrieben – mit der Begrifflichkeit, die wir auch im 1Tim finden: aus der πνεῦμα–Sphäre in die σάρξ–Sphäre und wieder in die πνεῦμα–Sphäre, also auch im „Pendeln“ zwischen diesen beiden. Der jeweilige Akzent ist verschieden, die Aussagen aber sind komplementär. Paulus hat nicht immer alles sagen wollen.

4. Christologie und Missiologie sind miteinander verbunden und ineinander verschlungen. Das kann auch nicht anders sein, stellt doch das Wissen um Christus, den Gottessohn, Grund und Anlass für die Kommunikation dieses Sachverhalts dar, während umgekehrt jede christliche Mission, aus der die Person des Christus Jesus entfernt wird, nur noch Demagogie ist. In jeder Zeit hat es für Christen gute Gründe gegeben, Jesus Christus als Zentrum ihres Glaubens wenn nicht aufzugeben, so doch wenigstens möglichst in „zeitgemäßen“ Verkleidungen zu verstecken. Das war im Altertum so, als die griechische Philosophie keinen Raum für ihn hatte; in der Renaissance, als die Welt der gebildeten Kulturmenschen von Halbgöttern und Heroen nur so überquoll; im Zeitalter der Aufklärung, als dieser Eine, in dem sich alles konzentrieren sollte, zum Problem wurde; im 20. Jahrhundert, als der moderne Mensch meinte, alles machen zu können.

5. Was den Stil angeht, verbinden sich semitisierende mit typisch griechischen Sprachmerkmalen, wobei gute Gründe für eine ursprüngliche Abfassung in griechischer Sprache sprechen. Es spricht viel für ein jüdisch-hellenistisches Milieu als Entstehungshintergrund dieser Verse.

6. In der kirchlichen Perikopenordnung hat 1Tim 3,16 seinen Platz als Predigttext der 6. Reihe bei der Christvesper gefunden. Hier wird besonders deutlich, dass die Inkarnation mit dem weiteren Weg Jesu untrennbar verbunden ist. Der Fleischgewordene ist derselbe wie der Erhöhte (vgl. Offb 1,17bf).




2. Teil: Wie Timotheus die Gemeinde ordnen soll


8. Endzeitliche Verirrungen (1Tim 4,1–5)


I

1 Der Geist sagt aber ausdrücklich, dass in späteren Zeiten manche vom Glauben abfallen werden, indem sie verführerischen Geistern und Dämonenlehren anhängen werden 2 aufgrund der Heuchelei von Lügnern, die ihr eigenes Gewissen brandmarken, 3 verbieten zu heiraten, sich von Speisen enthalten, die Gott geschaffen hat, damit sie von den Gläubigen und denen, die die Wahrheit genau kennen, mit Dank[gebet] empfangen werden. 4 Denn alles, was Gott geschaffen hat, ist gut, und nichts ist verwerflich, was mit Dank[gebet] empfangen wird. 5 Es wird nämlich durch Gottes Wort und Gebet geheiligt.


II

Mit dem Christushymnus 3,16 endete diese frühe(ste) Gemeindeordnung. Sie hatte u.a. den Sinn, der Gemeinde ein Gerüst zu geben, das ihr hilft, Einbrüche von Irrgeist zu überstehen. Folgerichtig kommt Paulus nun noch einmal auf die Irrlehrer zu sprechen, die die Gemeinde in Ephesus damals bedrohten, die er in dem strukturell betrachtet parallelen Text 1,3ff bereits grob charakterisiert hatte und deren Bekämpfung durch Timotheus zu dem gehört, was diesem im 2. Teil des Briefes aufgetragen wird. Schon bei seinem Abschied von den „Ältesten“ der Gemeinde (Apg 20,29f) hatte Paulus ja – ebenfalls im Zusammenhang kirchenordnender Anweisungen – angekündigt, dass solche Geister sich einstellen würden. Aus dem bisher von uns ausgelegten Text ergab sich für diese Irrlehrer zunächst ein jüdischer Hintergrund. Es ging in Kap. 1,3–6, also am Beginn des 1. Hauptteils des Briefs, zunächst um ihre Lehre. Jetzt, am Beginn des 2. Hauptteils, bekommen wir weitere Informationen, die sie unter einem anderen Aspekt beleuchten und unter den besonderen Prämissen dieses 2. Teils, den konkreten Handlungsanweisungen an Timotheus, neue Facetten sichtbar machen. Sie zeigen nämlich, welche ethischen Konsequenzen diese Leute von ihren Anhängern erwarteten. Anfang, Mitte und Ende des Briefs (6,20f) ergänzen sich auch in dieser Hinsicht.

Der Text beginnt mit einer zitierenden Einleitung im Präsens (V. 1a), an die sich die Prophetie (im Wortlaut?) anschließt (1b). Das δε macht die innere Verbindung zwischen dem Ende von Kap. 3 (Christushymnus) und der nun folgenden Beschäftigung mit der Irrlehre als Gegensatz unübersehbar. Vermutlich ist die kurze Liste von Verhaltensweisen vom Verfasser konkretisierend angehängt (2–3). Den Abschluss bildet eine feierliche, chiastisch-hebraisierende Begründung für die Unangemessenheit der von den Irrlehrern gepredigten Verhaltensweisen (4) sowie eine christlich-liturgische Begründung für deren Unschädlichkeit (5).


III

1 Offenbar erlebte die frühchristliche Gemeinde das Reden des Geistes in noch ganz anderer, direkterer Weise als wir heute. An verschiedenen Stellen der Apg und auch der Paulusbriefe ist von einem unmittelbaren Reden des Geistes durch Propheten die Rede (z.B. Apg 11,28 / Gal 2,2; Apg 21,4.11; 1Kor 14; 1Thess 5,19–21 u.ö.). Dazu gehörten (wie bei den atl. Propheten) Weisungen für das Verhalten in der Gegenwart, aber der Geist öffnete den Christen auch die Augen für zukünftige Entwicklungen. Nun gibt es ja auch unter uns noch „Propheten“ oder solche, die sich dafür halten. Sie treffen mit ihrem Wort manchmal dem Nagel auf den Kopf – oder auch völlig daneben. Damals wie heute braucht der Zungenredner neben sich den Übersetzer (1Kor 14,27–29), braucht der Prophet neben sich den, der „die Geister unterscheiden“ kann (vgl. 1Thess 5,19–22).

Paulus weiß von klaren, ausdrücklichen (ῥηθῶς) Aussagen des Geistes, die über die Entwicklung in den Gemeinden Auskunft geben. Und zwar sieht er die angekündigten Verführungen nicht unter eschatologischem Aspekt im Zusammenhang mit den Endereignissen wie etwa 2Thess 2, sondern erst in späteren Zeiten angesiedelt, also in der Zukunft. Eine Zwischenzeit tut sich auf zwischen der damaligen Gegenwart und den Geschehnissen, die schließlich das Ende einleiten. Auch dies könnte ein Anzeichen für das Alter des Apostels sein, dessen frühere Hoffnung, die Wiederkunft Jesu noch lebend zu erleben, ihm zwischen den Händen zerrinnt, und damit zugleich ein Argument für eine Datierung des Briefs in den 60er-Jahren. Dafür spricht auch, dass Paulus in Apg 20,29 das Auftreten von Irrlehrern und Irrlehren (noch) „nach meinem Abschied“ erwartete, während er jetzt (schon) eher unbestimmt redet. Andererseits kann er sie und ihre Lehre jetzt schon konkreter beschreiben, weil sie nämlich inzwischen da sind.

Worum geht es dabei im Einzelnen? Manche werden vom Glauben abfallen. Das griech. Wort ἀφίστημι meint ein zunächst Äußerliches, dann im übertragenen Sinn zu verstehendes inneres „Abstandnehmen“, „Auf-Distanz-Gehen“. Das Wort diente schon im griech. AT zur Beschreibung des Abfalls von Gott, der über „das schuldhafte Sich-Trennen vom Volk“ geschieht (Deut 32,15; Jer 3,14 u.ö.). Auch Jesus hatte auf bevorstehenden Abfall angesichts von Glaubensproben hingewiesen (Lk 8,13).

Diese „Distanzierung“, die sich vollziehen wird, wird nun noch eingehender beschrieben: Die Abfallenden finden an verführerischen Geistern und an Dämonenlehren Gefallen und hängen ihnen an. Jeremias schreibt: „Ja! Satan schafft eine neue Religion! Das ist die Versuchung der letzten Zeit“. In unserer von Geistern schwirrenden, für Okkultismus (vgl. Apg 19,12–20) und Satanismus, für Esoterik, „Patchwork-Religion“ und Religionsvermischung offenen Zeit können wir das noch besser verstehen. Diese Geister versprechen Frieden und Harmonie, Einklang mit der Natur usw. und kommen damit tief verwurzelten menschlichen Grundbedürfnissen entgegen – aber alles ohne Gott, ja geradezu gegen Gott und mehr noch gegen Christus. Mit den Worten διδασκαλίαις δαιμωνίων ist vermutlich nicht eine christliche „Dämonologie“ gemeint, sondern tatsächlich Lehrelemente, die widergöttlichen Ursprungs sind und die doch von den sich selbst als „Gesetzeslehrer“ verstehenden (christlichen) Irrlehrern vertreten werden. „The opponents are the agents of demons“, kommentiert Mounce knapp und präzis.

2 Woran erkennt man aber das Wirken solcher Geister? Zu ihnen gehört die Heuchelei von Lügnern (Jeremias z. St. denkt an geheuchelte Frömmigkeit), durch die sie ihr Gewissen gebrandmarkt haben. In der hebr. Anthropologie, die den Begriff noch nicht kennt, wird das Gewissen mit dem Herzen als dem zentralen Empfindungs-, Entscheidungs- und Willensorgan des Menschen in Verbindung gebracht (z.B. 1Sam 24,6; 25,31; 2Sam 24,10). Auch in den zwischentestamentlichen Schriften und in der Verkündigung Jesu fehlt er fast völlig, obwohl sich die Funktion findet (vgl. etwa Mt 21,29). Paulus dagegen, der im griechischen Sprachraum zu Hause ist, spricht an vielen Stellen vom Gewissen „als einer Instanz im Menschen, also nicht nur als Bewusstsein oder als rein affektives, aktuelles G. im neutralen und speziell im negativen Sinn von ‚Gewissenspein‘, ‚Gewissensbiß‘. Diese Instanz Syneidesis hat nach Paulus die Funktion, das eigene oder auch gelegentlich das Verhalten anderer Personen (2Kor 4,2; 5,11) nach vorgegebenen und anerkannten Normen zu kontrollieren, zu beurteilen und bewußtzumachen. … Die Syneidesis ist bei Paulus nicht ‚vorangehendes‘, sondern ‚nachfolgendes Gewissen‘ … [Es ist] kein spezifisch theologischer, sondern ein anthropologischer Begriff …; als allgemeinmenschliches Phänomen ist das G.[ewissen] hier wie im übrigen NT nicht als ‚Stimme Gottes’, vox dei, oder als Heiliger Geist im Menschen verstanden. … Das Verhältnis des Menschen zu seinem eigenen G., das ihn unausweichlich und unvoreingenommen beurteilt, ist also das der Verantwortlichkeit …“ Im tiefsten Innern weiß ein Mensch, ob sein Denken und Fühlen, seine Motive ehrlich und echt sind oder nicht, jedenfalls solange er die Stimme des Gewissens nicht zum Schweigen gebracht hat. Ist dies richtig, dann spielt Paulus an unserer Stelle genau darauf an. Das Bild von der Brandmarkung hat seinen Haftpunkt entweder im Leben der Sklaven (und der Kriegsgefangenen), die zur untilgbaren Kennzeichnung ihres Zustands für sie selbst und für andere ein Brandzeichen erhielten. Der Sinn wäre dann, die Schande für den Betroffenen zu unterstreichen. Oder es ist die Kennzeichnung von Zwangsarbeitern und Soldaten gemeint, die dadurch an der (Fahnen-)Flucht gehindert werden sollten. Schließlich wurden in der Antike auch Wunden zu Desinfektionszwecken „ausgebrannt“, was die entsprechende Körperstelle zugleich gefühllos machte. In diesem Falle würde Paulus auf die Unansprechbarkeit der Irrlehrer seitens gesunder Lehre abzielen. Da die Brandmarkung des Gewissens ja für Außenstehende nicht wahrnehmbar ist, spricht manches für diese z.B. von Marshall z. St. vertretene Auslegung. Ähnlich hatte sich der Apostel bereits in Eph (!) 4,19 geäußert.

3 Dazu kommen in erstaunlicher Kombination konkrete asketische Verhaltensweisen, die jeder erkennen kann: das Eheverbot und das Essverbot. Nicht nur Exzesse können die Wirkung widergöttlicher Mächte in einem Menschen sein, sondern auch das gerade Gegenteil! Es ist bedenklich, vom äußeren Verhalten unmittelbare Schlüsse darauf zu ziehen, „wes Geistes Kind“ ein Mensch ist – so oder so!

Grundsätzliche Vorbehalte gegen die Ehe sind im Judentum an sich (außer bei den Essenern) unbekannt. Es gab aber im Umfeld des frühen Christentums und auch an seinen Rändern solche Tendenzen. Die Gnosis lehrte den Vorrang des Geistes vor allem Leiblichen und kam dadurch zur Forderung des Verzichts auf die Ehe. Aber auch von Nikolaos (Apg 6,5), dem vermutlichen Begründer der ebenfalls in Kleinasien entstandenen Nikolaitensekte, wissen die Kirchenväter zu berichten, dass er die Verachtung des Fleischlichen lehrte – was bei ihm und seinen Anhängern dann allerdings ins gerade Gegenteil umschlug, nämlich in sexuellen Libertinismus. Auch in Korinth gab es offenbar Tendenzen zur Verachtung der Ehe (1Kor 5–7). Es hat sich in der Kirchengeschichte immer wieder gezeigt, dass die Herabsetzung des Kreatürlichen nicht ungestraft bleibt.

Das Essverbot lässt sich dagegen gut im jüdischen Bereich einordnen, wo vom AT her eine ganze Reihe von Speisevorschriften bestanden. Spätestens seit dem babylonischen Exil waren sie zu einem der Erkennungszeichen der Juden geworden und hatten auch die Funktion, das Volk vor der Vermischung zu bewahren – was auch geschah. Andererseits aber waren sie Teil der jüdischen Gesetzesreligion geworden, gegen die Paulus seit seiner Bekehrung kämpfte. Wie die Apostelgeschichte zeigt, hatte es über dieses Problem heftige Auseinandersetzungen gegeben, die dann zu Regelungen (Apg 15,29) und seelsorglichen Empfehlungen (Röm 14,1–4.14–23; 1Kor 10,23–33) führten, um ein Zusammensein von Judenchristen und Heidenchristen zu ermöglichen. Inzwischen waren seit dem Apostelkonzil zwar fast 20 Jahre vergangen; die Korintherbriefe zeigen aber, dass das Problem an sich immer noch virulent war.

Was die Paulus-Gegner in Galatien Ende der 40er-Jahre und in Korinth Mitte der 50er-Jahre verlangten, brachten nun auch die Irrlehrer in Ephesus zehn Jahre später auf den Tisch. Konkret wird es um den Fleischgenuss (vgl. Tit 1,10–15; Röm 14,1ff), möglicherweise auch um den Verzicht auf Wein (1Tim 5,23!) gegangen sein. Paulus setzt dieser Anschauung ein schöpfungstheologisches Argument entgegen: Die Speisen hat Gott für die Gläubigen geschaffen, damit sie mit Dank[gebet] empfangen werden (d.h. doch: zum Lob des Schöpfers). In jüdischen Familien gehörte die Segnung der Nahrung vor dem gemeinsamen Essen (wir würden heute sagen: das Tischgebet) zur Selbstverständlichkeit. Es war rückblickender Dank für das Empfangene und in die Zukunft gerichtete Vertrauenserweis in einem. Dies so zu sehen ist freilich (nur) den Gläubigen gegeben, die die Wahrheit genau kennen (V. 3) – möglicherweise eine versteckte Spitze gegen frühgnostische Überheblichkeit – und eben nicht in Verirrung (πλάνη) leben. Das καὶ ist explikativ zu verstehen, d.h. Paulus spricht nicht von zwei Gruppen, etwa der Gruppe der (gläubigen) Christen und der Gruppe derer, die abgesehen von ihrer Beziehung zu Gott eine Wahrheitserkenntnis hätten. Das personale Wahrheitsverständnis von Jesus als der „Wahrheit-in-Person“, besonders deutlich im Joh ausgeprägt (Joh 14,6), das schon in 1Tim 2,4.7 zum Tragen kam, greift auch hier wieder.

4 Paulus beendet seine Argumentation mit einem zusammenfassenden, recht kunstvoll positiv und negativ formulierten Satz, dessen sprachliche Gestaltung ihn aus dem Zusammenhang hervorhebt und ihn damit als Kernaussage kennzeichnet: Denn alles, was Gott geschaffen hat, ist gut, und nichts ist verwerflich, was mit Dank[gebet] empfangen wird. Das einleitende ὅτι kann als ὅτι recitativum verstanden werden mit der Konsequenz, dass Paulus noch einmal (vgl. V. 1) einen ihm vorliegenden Satz zitiert. Dafür spricht neben den schon genannten Beobachtungen das Fehlen des Hilfsverbs ἐστίν. Der Doppelsatz (ein antithetischer Parallelismus membrorum?) hat einen weisheitlichen Ton. Es wäre nicht zu verwundern, wenn er aus jüdischem Hintergrund adaptiert wäre – vielleicht gerade zur Abwehr von Irrlehrern, die aus dem Judentum kommen.

In der Sache kann sich der Apostel auf das Urteil des Schöpfungsberichts berufen, der das Geschaffene am Ende jedes Schöpfungstages mit „und Gott sah, dass es gut war“ und am Ende der Schöpfung sogar „siehe, es war sehr gut“ beurteilt. Dazu stimmt auch Jesu Wort (Mk 7,15). Eine Aufteilung der Schöpfung in an sich Gutes und Böses wird abgelehnt. Es kommt darauf an, was der Mensch daraus macht! Andererseits ist „das Natürliche … noch nicht durch sich selbst heilig, da das, was die Natur aus dem Menschen macht, ihn noch nicht mit Gott verbindet“, wie Schlatter schreibt. Es muss hereingenommen werden in die Sphäre Gottes, in der sich ja auch der Christ (als ἅγιος) befindet. Dies geschieht durch das Dankgebet, im Judentum regelmäßiger Bestandteil der Mahlzeit vor Beginn des Essens (s.o.). Der Dank (hebr. תּו̇דָה) ist nach Westermann „die Antwort auf eine Handlung oder ein Handeln“, in unserem Fall also auf Gottes Handeln in der Schöpfung, durch das er dem Menschen Nahrung bereit stellt.

5 zeigt, worum es den Irrlehrern eigentlich geht: Ein eindrucksvolles Wort, ein von allen Christen anzustrebendes Ziel haben sie auf ihre Fahnen geschrieben: Heilig (ἅγιος) soll alles im Leben des Christen sein – eine durch und durch richtige und fromme Vorstellung. „Heilig“ ist das aus dem großen profanen Bereich der Schöpfung speziell für Gott Herausgenommene und Ausgegrenzte, und „Heilige“ nennt ja auch Paulus die Christen (z.B. Röm 1,7)! Nur erliegen seine Gegner einem folgenschweren Irrtum: Sie teilen auch die Dinge der Welt von vornherein in „heilige“ und „profane“ ein, eine Trennung, die Paulus so nicht mitvollziehen kann. Ähnlich antwortete Jesus den Pharisäern (Mk 7,15): Nichts sei an sich unrein und deshalb für Gottes Leute ungeeignet, sondern es wird vom Menschen durch falschen Gebrauch unrein gemacht, oder es wird (wie Paulus schreibt) durch Gottes Wort und Gebet geheiligt. Dreimal spricht Paulus vom Tischgebet (V. 3.4.5), das im Judentum gang und gäbe war und ist. Es ist mehr als nur ein Sich-bewusst-Machen, dass unsere Nahrung von Gott kommt. Darüber hinaus stellt es die Nahrung unter Gottes Segen, d.h. es bittet darum, dass Gott durch sie den Menschen unterstützen, ihm Kraft und Gesundheit zu seinem Leben und Tun geben möge.


IV

Unser Bild von den Gegnern des Timotheus und damit auch des Paulus in Ephesus wird ein wenig schärfer: Bestätigt wird die Annahme, es handle sich (mindestens auch!) um Leute mit jüdischem Hintergrund. Indem sie sich in äußeren Dingen sehr konsequent geben, erwecken sie den Anschein großer Frömmigkeit und beeindrucken Christen, die es mit ihrem Glauben sehr ernst nehmen, aber regelmäßig an die Grenzen ihrer Möglichkeiten stoßen – ein Schein, den Paulus zerstören will. In Wirklichkeit sieht er hier Leute am Werk, die insofern „vom Glauben abgefallen“ sind, als sie die Erlösung allein aus Gnade durch Glauben und eben nicht aufgrund eigener Gerechtigkeit verlassen und zu einer jüdischen Gesetzlichkeit zurückgekehrt sind. Das bedeutet: Es geht dem Apostel auch im 1Tim letztlich (wie im Gal) um die Verteidigung des Zentrums seines Evangeliums, um die Rechtfertigungslehre. Trotzdem bleibt er seiner Linie von Röm 7,12 treu und bezeichnet das Gesetz in 1Tim 1,8 als „gut“. Es ist ihm gelungen, sich weder von seinen Gegnern, noch durch die manchmal auf Messers Schneide stehende Situation von seinem gut austarierten Verständnis des Gesetzes abbringen zu lassen. Auf der anderen Seite ist der gnostische Einfluss auf die Paulus-Gegner nicht zu übersehen.

Unser Abschnitt 4,1–5 ist Predigttext zum Erntedankfest in der 4. Predigtreihe. Damit wird ein interessanter Akzent gesetzt. Der „Erntedank“ erhält eine Ausweitung auf andere Gaben des Schöpfers, etwa die Ehe (V. 3), und warnt davor, sie aus einer „Hypergeistlichkeit“ heraus zu missachten. Aber auch schlichte Riten wie das Tischgebet erfahren eine Aufwertung und werden für Christen zur Selbstverständlichkeit.


9. Weisung an Timotheus (1Tim 4,6–16)


I

6 Indem du dies für die Brüder zugrunde legst, wirst du ein guter Diener des Christus Jesus sein, genährt mit den Worten des Glaubens und der guten Lehre, der du nachfolgst. 7 Aber die heillosen und altweiberhaften Mythen weise zurück! Übe dich aber auf Frömmigkeit hin! 8 Denn die körperliche Übung ist zu wenig nützlich, aber die Frömmigkeit ist zu allem nützlich, weil sie die Verheißung des jetzigen und des kommenden Lebens hat. 9 Zuverlässig ist das Wort und aller Annahme wert. 10 Denn dazu plagen wir uns und kämpfen wir, weil wir auf den lebendigen Gott hoffen, der der Retter aller Menschen ist, besonders aber der Gläubigen. 11 Gebiete dies und lehre [es]! 12 Niemand soll dich wegen deiner Jugend verachten, sondern werde ein [prägendes] Vorbild für die Gläubigen im Wort, in der Lebensführung, in der Liebe, im Glauben, in der Reinheit. 13 Bis ich komme, halte an der Lesung fest, an der Ermahnung, an der Lehre. 14 Vernachlässige das Charisma in dir nicht, das dir durch Prophetie mit Handauflegung des Ältestenrats gegeben wurde! 15 Übe dich darin, beschäftige dich damit, sodass dein Fortschritt allen offenbar werde. 16 Achte auf dich und die Lehre, bleib bei ihnen! Denn wenn du dies tust, wirst du dich retten und die dich hören.


II Aufbau

Auch dieser Text bildet wie der voraus gegangene eine strukturelle Parallele zum 1. Teil. Dort hatte der Apostel im Anschluss an die Schilderung der Bedrohung der Gemeinde von sich und seinem Auftrag gesprochen, nun spricht er über Timotheus und erteilt ihm Anweisungen für seinen Dienst.

Das Stichwort Brüder bildet eine Klammer von 4,6 zu 6,2, rahmt also in etwa den 2. Teil des Briefes. Der vorliegende Abschnitt lässt sich so gliedern:

6
Zwischenfeststellung mit Blick auf Timotheus
7–10
Ermahnung zu echter Frömmigkeit
9
Formel
10c
Doxologie?
11–16
Verschiedene Ermahnungen
11
ταῦτα-Formel
12
Kleiner Tugendkatalog

Roloff weist auf Ähnlichkeiten mit Kol 1,24–29 hin, was, wenn er recht hätte, bereits ab V. 6 den mitgedachten Hintergrund bildet und worauf sich die Bekräftigungsformel V. 9 beziehen soll. „Pseudo-Paulus“ würde sich also seinen Lesern gegenüber durch Rückbezug auf „Pseudo-Paulus“ Gewicht verschaffen wollen – eine eigenartige Vorstellung!


III

6 Der Schreiber des Briefes verwendet dies (ταῦτα) im 2. Briefteil (Kap. 4–6), genauer: ab dem Zentrum 3,14, in dem er Timotheus sagt, was dieser gemeindeintern anordnen soll, gern für zusammenfassende (Rück-)Verweise (3,14; 4,6.11.15;5,7.21; 6,2.11; vgl. auch 2Tim 2,2.14; Tit 2,15; 3,8) auf eben das, was angeordnet werden soll. In diesem Falle soll es der grundlegenden Belehrung der Christen in Ephesus dienen. Hält sich Timotheus daran, trifft auf ihn die positive Beurteilung des Apostels zu. Allerdings ist Timotheus auch nicht mehr als ein διάκονος, freilich nicht ein Mitarbeiter einer Gemeinde wie z.B. Phoebe (Röm 16,1), sondern ein guter Diener des Christus Jesus, wobei „gut“ bei Personen m.E. die Erfüllung vorgegebener Erwartungen und Vorstellungen bezeichnet und also den Charakter einer Beurteilung des Dienstes erhält.561 An solchem guten Dienst erweist sich, was dahinter steht, nämlich mit Hilfe welcher Mittel Timotheus geworden ist, was er ist: Genährt mit den Worten des Glaubens und der guten Lehre, der du nachfolgst. Das Bild der Nahrung für das Angereichertwerden mit christlicher Überlieferung ist der Bilderwelt des Paulus (1Kor 3,1f) und urchristlichem Denken nicht fremd (vgl. Hebr 5,12–14). Von den Worten des Glaubens ist im NT nur hier die Rede. Gemeint ist wohl die Überlieferung, aufgrund deren gehorsames Vertrauen auf Gott bzw. Jesus entsteht und die solchen Glauben erhält. Auffällig ist der bestimmte Artikel und der Plural bei τοῖς λόγοις. Der Artikel deutet auf eine schon relativ fest umgrenzte und geformte Überlieferung hin. Immerhin befinden wir uns (wenn unsere Datierung zutrifft) etwa in der Zeit, als die synoptischen Evangelien im Ganzen in ihre uns vorliegende Form gebracht wurden. Λόγος als Sammelbegriff für die christliche Botschaft wird sonst meist im Singular gebraucht. Der Plural signalisiert das Vorliegen unterscheidbarer Reden, Berichte oder Sätze, etwa solcher, die im Taufunterricht vermittelt wurden. An die Sätze einer frühen regula fidei zu denken wäre Spekulation, aber immerhin nicht völlig abwegig.

7 Dem, was für Christen hilfreich ist, stellt Paulus nun gegenüber, was schadet, und er warnt Timotheus davor. Noch einmal greift er das heidnisch-griechische Stichwort Mythen (vgl. 1,4) auf, die hier als heillos und altweiberhaft (d.h. nur für alte Frauen geeignet) beschrieben werden. Timotheus wird Einübung mit dem Ziel auf Frömmigkeit hin (γυμνάζειν πρός εὐσέβειαν), in den Pastoralbriefen ein Begriff mit hohem Stellenwert, empfohlen. Paulus verwendet γυμνάζειν sonst nicht, in anderen ntl. Schriften wird das Verb allerdings für das Einüben einer Haltung gebraucht (Hebr 5,14;12,11; 2Petr 2,14).

8 stellt denn auch (mit Stichwortanschluss der Wortgruppe γυμνάζειν, die voraufgegangene Beschreibung der Irrlehrer wieder aufnehmend) nebeneinander, was wirklich nützlich ist und was nicht. Wirklich nützlich ist, was in diesem und im kommenden Leben etwas bringt. Dies aber gilt nicht für die körperliche Übung (gemeint ist hier wohl das in V. 3 Aufgezählte). Will sagen: Eheverzicht und Speiseverzicht betreffen den Körper und sind (wenn überhaupt) nur für dieses irdische Leben von Nutzen, haben aber im Blick auf das ewige Leben keine Bedeutung – eine Behauptung, der die Irrlehrer und (im Blick auf die Speisegebote auch das orthodoxe Judentum) wohl heftig widersprochen hätten. Der Apostel hatte in 1Kor 7,1–9.25–39 im Grunde ähnlich argumentiert, hatte dort allerdings die möglichen positiven Auswirkungen der Ehelosigkeit auf den geistlichen Bereich deutlicher hervorgehoben.

9f Zur πιστὸς-ὁ-λόγος-Formel vgl. auch zu 1,15; 3,1a. Die Formel wirkt hier wie eingeschoben, unterbricht sie doch den gedanklichen Faden von V. 8 zu V. 10, wo die Begrifflichkeit des zielstrebigen (εἰς τοῦτο) sportlichen Wettstreits (ἀγωνιζόμεθα) und des angestrengten Bemühens (κοπιῶμεν) wieder aufgenommen wird (vgl. auch Phil 2,12). Hier erhält das „kommende Leben“, die „Frömmigkeit“ und die „Verheißung“ auch eine inhaltlich-theologische Füllung: auf den lebendigen Gott hoffen Christen. Angestrengtes Bemühen wird also keineswegs abgelehnt (Phil 2,12 klingt der Sache nach an), doch es wird in die richtigen Bahnen verwiesen. Erneut wird Gott als der Retter (σωτήρ) bezeichnet (vgl. zu 1,1), von 2,4 her nicht zu verwundern, und zwar hier als Retter aller Menschen, besonders aber der Gläubigen. Die Zeitgenossen des Paulus hatten auf vielen Inschriften seit der Zeit der Diadochen vor Augen, dass sich die Herrscher als „Retter“ preisen ließen. Allerdings war ihnen auch die Kehrseite dieser Medaille, nämlich deren tatsächliches Gebaren bis hin zu Herrschern wie Caligula und Nero bestens bekannt. Das griechisch sprechende Judentum nannte Gott längst auch so, meist jedoch mit Blick auf die eigene Errettung. Hier aber wird die Universalität des allen Menschen geltenden Rettungswirkens Gottes betont, vielleicht in Abwehr eines sich anbahnenden (früh-)gnostischen Elitismus. Mit μάλιστα wird ein Teil einer an sich gleichgeordneten Menge hervorgehoben (vgl. Gal 6,10b).

Inwiefern ist Gott der Retter aller Menschen, besonders aber der Gläubigen? Zwei Auslegungen sind möglich: Entweder ist er tatsächlich der Retter für alle Menschen, von denen aber die gläubig Gewordenen besonders erwähnt werden sollen. Warum geschieht dies? ist dann zu fragen. Oder Gott ist der potenzielle Retter aller, aber nur für die Gläubigen ist er auch zum tatsächlichen Retter geworden. Wir kommen hier in die bekannte Diskussion, ob Gott tatsächlich stets tut und durchsetzt, was er will, oder ob dem Menschen die Freiheit zu Annahme und Ablehnung bleibt. Nach unserem Verständnis von 2,4 her legt sich die zweite Variante nahe.

Die Möglichkeit, dass am Ende doch noch alle Menschen in Gottes Herrlichkeit aufgenommen werden, wird seit der frühesten Zeit des Christentums vertreten und diskutiert. Es gibt eine (allerdings überschaubare) Reihe von biblischen Aussagen im AT und NT, die diesen Gedanken nahe legen. Dem stehen allerdings deutliche Gerichtsaussagen in allen Schichten der Bibel gegenüber, nicht zuletzt in den entsprechenden Worten Jesu – m.E. zu viele, um aus der Hoffnung auf „Allversöhnung“ einen Bestandteil christlicher Lehre machen zu können. Andererseits ist Gott größer als unser Herz, und als Gegenstand unserer Hoffnung und unseres Wünschens dürfen wir diese Option wohl festhalten.

11 Noch einmal wird Timotheus ans Herz gelegt, dies alles (und nichts anderes), nämlich das vorher in V. 6 bereits Zusammengefasste und das nun Hinzugefügte, zu gebieten und zu lehren. „Gebieten“ und „lehren“ sind zwei „Gattungen“ urchristlicher Verkündigung. Möglicherweise entspricht das erste der persönlichen Seelsorge, das zweite der öffentlich-offiziellen Vermittlung von Glaubens- und Nachfolgelehre.

12 Dass auch 1Tim mehr ist als nur ein persönliches Schreiben an Timotheus, zeigt noch einmal V. 12. Paulus hält seine Hand schützend über den „jungen“ Mitarbeiter, der es wegen seines Alters offenbar nicht leicht hatte sich durchzusetzen. Um das Jahr 50 herum hatte der Apostel ihn im lykaonischen Derbe kennen- und schätzen gelernt und ihn zu seinem Mitarbeiter gemacht (Apg 16,1ff). Inzwischen waren rund 15 Jahre vergangen, Timotheus war aber für damalige Verhältnisse immer noch kein „älterer“ Mann (vgl. das Gegenüber von νεώτεροι und πρεσβύτεροι in 5,1!).

Das 40. Lebensjahr könnte einen Altersstufenschritt vom „Jüngling“ zum „Mann“ markiert haben, sofern sich Paulus hier an jüdischen Vorstellungen orientiert hat. Folgte er griechischen oder römischen Einteilungen, die viel differenzierter waren, so könnte (nach Varros Einteilung [1. Jh. v.Chr.]) Timotheus als iuvenis (30- bis 45-Jähriger) von den seniores (45- bis 60-Jährige) unterschieden sein. War Timotheus in Apg 16,1 Anfang bis Mitte zwanzig, so war er jetzt Ende dreißig, also nach diesen Vorstellungen noch nicht „alt“.

Nicht auf seine „Amtsautorität“ soll er pochen. Überzeugender ist im Zusammenhang einer christlichen Gemeinde, wenn es ihm gelingt vorbildlich als Christ zu leben. Vorbild (τύπος) nimmt im Griech. ursprünglich den „Vorgang des Schlagens als Prägen und Formen“ etwa von Münzen u.Ä. auf. Das Wort kann interessanterweise sowohl die prägende Form selbst, das dadurch erzeugte Ergebnis oder auch den Schlag oder Druck, durch den es zustande kommt, meinen,572 was ihm eine schillernde Bedeutung verleiht. Wenn Timotheus für die ihm anvertraute Gemeinde zum τύπος werden soll, dann ist er für sie entweder die Prägeform, die ihre Spuren hinterlässt, oder das von Gott bzw. Christus geprägte Modell, an dem man sich orientieren soll. Im Wort, in der Lebensführung, in der Liebe, im Glauben, in der Reinheit, also umfassend, soll er zum Vorbild werden. Gemeint ist wohl eher das (auch ganz alltägliche) von Timotheus gesprochene Wort, nicht nur das Gotteswort, in dessen Handhabung er sich hervortun soll. Die Sprache ist ja das wichtigste Instrument, das ihm für seine Aufgabe zur Verfügung steht. Allerdings schließt das die Auslegung des Gottesworts nicht aus, sondern gerade ein. Ebenso hat die Lebensführung des Gemeindeleiters eine weltliche und eine geistliche Dimension. Mit der Liebe wird das Verhalten gegenüber den Mitchristen spezifischer ins Auge gefasst. In diesem Sinne könnte hier auch der Glaube verstanden sein, sofern er nämlich „eine die ganze Existenz bestimmende Haltung, das eigtl. christl. Verhalten“ meint - also ein Verständnis, das als Teilaspekt auch sonst bei Paulus zu finden ist.576 „Worte“ (τὰ λέχθεντα) und „Taten“ (τὰ πράχθεντα) als Gesamtansicht menschlichen Verhaltens waren ein schon in der Antike geläufiges Schema, die ganze Persönlichkeit in ihrer öffentlichen Wirkung zu charakterisieren. Mit Reinheit ist nur teilweise wiedergegeben, was ἁγνεία ursprünglich meint. Es ist „die Scheu erregende Heiligkeit der Götter und ihres Bereiches“, aus der dann (zunächst kultisch) ein diesem Gegenüber entsprechendes Verhalten folgte. Allmählich verblasste auch hier das Konkrete zur Bedeutung einer untadeligen Lebensführung – was auch immer die Kriterien dafür gewesen sein mögen: bei den Griechen sicher in früherer Zeit die religiöse Verpflichtung gegenüber den νόμοι der Stadt (Sokrates!), später einfach das, was in der Gesellschaft als moralisch akzeptabel galt. In unserem Kontext wird an einen vor Gott verantworteten Lebenswandel gedacht sein, wie in Korinth konkretisiert im Umgang mit Frauen (5,2). Ist das Substantiv im NT auf zwei Vorkommen beschränkt (1Tim 4,12; 5,2), so benutzt Paulus andere Teile der Wortgruppe durchaus. Vorbild und (ihm verliehene) eigene Autorität des Timotheus hindern Paulus jedoch, wie die nächsten Abschnitte zeigen, nicht daran, ihn im Blick auf die Gemeinde, einzelne problematische Gruppen und Personen zu seinem Sprachrohr zu machen, durch das der Apostel seine eigenen Weisungen übermittelt.

13 Paulus plant nun seine Rückkehr nach Ephesus. Er trägt seinem Schüler auf, bestimmte Teile seines Aufgabenbereichs (jedenfalls bis dahin) fortzuführen. Die Frage ist, wo der Akzent dieser Aussage liegt:
Geht es um eine durch die apostolische Autorität des Paulus zu klärende prinzipielle Infragestellung von Lesung, Seelsorge und Lehre von Seiten der Gemeinde? Oder nur, sofern sie durch Timotheus wahrgenommen wird? Oder sind die Worte des Apostels als ermutigende „Durchhalteparole“ gemeint, was umgekehrt auf Widerstände dagegen schließen ließe? Oder deutet er an, dass der Schüler nur bis zum Eintreffen des Lehrers und nicht länger in dieser Hinsicht tätig sein wird? Und dass Paulus selbst dann Änderungen in Lesung, Seelsorge und Lehre vornehmen wird? Dafür spricht die Gattung des Briefs (Einleitung!).
Ist προσέχειν dagegen im Sinne von „auf etwas achten, sich um etwas kümmern“ zu verstehen, ergibt sich ein anderes Auslegungsspektrum, das von der Person des Timotheus als Subjekt von Lesung, Seelsorge und Lehre auch absehen kann. Er hätte dann die Aufgabe darauf zu achten, dass diese Aufgaben richtig wahrgenommen werden.

14 Zur Klärung des Verständnisses trägt V. 14 bei, wo Timotheus auf das ihm einst verliehene Charisma hingewiesen und verpflichtet wird. Vernachlässigen (ἀμέλειν) geht nämlich in die Richtung von „sich nicht um etwas kümmern“. Vor Vernachlässigung seiner Dienstgabe wird er gewarnt. „Anvertraute Pfunde“ sind nicht für den bloßen Besitz bestimmt, der möglicherweise zu entsprechendem Stolz führt (1Kor 14,4.12.26). Sie sind Gabe und Aufgabe zugleich (Lk 19,22f). Ihr Einsatz ist demnach nicht ins Belieben dessen gestellt, der sie hat. Das wird unterstrichen durch den „Aufwand“, mit dem die Begabung erfolgt war: durch Prophetie mit Handauflegung des Ältestenrats. Ganz offensichtlich handelt es sich in diesem Fall nicht um eine aufgrund natürlicher Begabung ohnehin vorhandene Fähigkeit, die zum Einsatz für die Gemeinde kommen sollte. Geisteswirken (damit könnte die prophetische Designierung gemeint sein) und Amtswirken (Einsetzung unter Handauflegung durch den Ältestenrat), praeparatio interna und vocatio externa haben Timotheus miteinander sein Charisma gezielt für den Einsatz in seiner Aufgabe in Ephesus verschafft (ähnlich bei Paulus selbst Apg 13,1–3). Auch in anderem Zusammenhang hatte Paulus (wie Roloff betont) χάρισμα im Sinne von „Amtsauftrag“ gebraucht (z.B. Röm 12,6; 1Kor 12,4.9.28–30). Es ist hier also nicht nur oder mindestens nicht in erster Linie von einer Geistesgabe im „charismatischen“ Sinn (Zungenrede, Wunderheilung etc.) die Rede. Die Ausübung eines Amtes, in das Timotheus ordentlich berufen und eingesetzt wurde, steht zur Debatte. Das schließt das Vorhandensein besonderer Geistesgaben nicht aus, sondern als Möglichkeit ein, aber darum geht es hier nicht.

Nicht einzusehen vermag ich, warum Oberlinner (I 209; vgl. auch Oberlinner II 28f zu 2Tim 1,6) aus der „Tatsache, dass der Begriff [in den Pastoralbriefen] nur zweimal verwendet wird, und zwar immer bezogen auf den Amtsträger und in Verbindung mit der Handauflegung, also der Ordination“ offenbar auf eine theologische Distanz und Weiterentwicklung des paulinischen Charisma-Begriffs schließt. 1Tim ist ein Schreiben in eine ganz bestimmte Situation hinein. Das sollten wir nicht vergessen.

Handauflegung begegnet im AT u.a. bei Segenshandlungen (z.B. bei Jakob Gen 48,13–20) und Amtseinsetzungen (z.B. bei Josua Num 27,15–23). In Deut 34,9 wird Josuas Geistbesitz ausdrücklich auf die erfolgte Handauflegung zurückgeführt. Hermann Gunkel könnte recht haben, wenn er meint, die älteste Vorstellung sei gewesen, dass bei der Handauflegung „durch die Hand eine geheime Kraft übergeht“. Allerdings sollte das nicht im magischen Sinne missverstanden, sondern im atl.-biblischen Sinn als an den Geber von Vollmacht oder Kraft, also als an Gott selbst, gebunden verstanden werden. Es wird vielmehr eine „Handgreiflichmachung“ von Gottes Handeln gemeint sein, wie sie uns als Entgegenkommen des unsichtbaren Gottes an unser Bedürfnis nach Anschauung auch in Taufe und Abendmahl gegeben ist.

Die Kommentare gehen oft davon aus, in 1Tim 4,14 sei an das Presbyterion der Gemeinde (Ephesus?) zu denken, für die Timotheus im 1Tim eingewiesen wird. Das ist zwar möglich, aber nicht zwingend anzunehmen (s.u.). Es steht nicht einmal fest, dass mit der Handauflegung eine Ordination im Sinne einer als rechtsgültig anerkannten, geordneten Einsetzung in ein Amt gemeint ist. Dies anzunehmen liegt zwar nahe, steht aber bei genauem Hinsehen nicht im Text. Diesem geht es lediglich darum, Timotheus an seine Ausstattung mit einer „Fähigkeit“ zu erinnern, die er zur Ausübung seines Amtes braucht und die durch ein (offensichtlich dafür zuständiges) Gremium erfolgt ist.

Die frühe christliche Gemeinde, und zwar Juden- wie Heidenchristen, haben sich in (Ausdrucks-)Formen ihres Glaubens und Gemeindelebens nicht selten am jüdischen Vorbild orientiert. Dies gilt (vom Herrnmahl als einer christlichen Besonderheit abgesehen) etwa für Elemente und Ablauf des Gottesdienstes, eingeschränkt auch für die Gemeindeämter. Was lag dann näher, als dieses Vorbild auch bei der Einsetzung in ein Amt heranzuziehen, die es in irgend einer Form gegeben hat? Die atl.-frühjüdischen Wurzeln und Vorbilder der christlichen Ordination wurden oft genug benannt. An ihnen ist nicht zu zweifeln. Dann aber, wenn eine solche Handlung durchaus naheliegend war, muss doch gefragt werden, warum nicht tatsächlich die Einsetzung der ersten uns bekannten „Amtsträger“ neben den Aposteln, der sieben Armenpfleger von Apg 6,6, auf ähnliche Weise vorgenommen worden sein könnte; und ob der Rabbi Jesus, der doch auf Wunsch der Mütter einigen kleinen Kindern segnend die Hände auflegte (Mk 10,16), nicht möglicherweise auch die von ihm ausgesandten Jünger so in ihr „Amt“ eingesetzt haben könnte (vgl. Lk 24,50. Auch Paulus selbst wurden nach Lukas sowohl bei seiner „allgemeinen“ Beauftragung für das Amt des Heidenmissionars in Damaskus (Apg 9,17), als auch bei der konkreten Aussendung durch die antiochenische Gemeinde (Apg 13,3) die Hände aufgelegt. Es war eben nicht alles Ungreifbares, Rein-Geistiges, „senkrecht von oben“ Geschehendes, was sich in der frühen Christenheit ereignete! Gerade jüdisches (und später römisches) Denken hatte eine starke Tendenz zur Ordnung und damit zur Leiblichkeit und zum Ritus. Warum sollte der Jude Paulus in seiner eigenen Praxis und in den von ihm gegründeten Gemeinden nicht darauf zurückgegriffen haben?

Von einem Ältestenrat (πρεσβυτέριον) ist im NT nur an drei Stellen die Rede: Lk 22,66 nennt zweifelsfrei die „Ältesten“ als Teil des (jüdischen) Synhedrion, Apg 22,5 ist der (ebenfalls jüdische) Jerusalemer Ältestenrat (hier pars pro toto für das Synhedrion?) gemeint. Im Corpus Paulinum wird der Begriff nur hier verwendet. Auch von πρεσβύτεροι ist außerhalb der Pastoralbriefe bei Paulus sonst nicht die Rede.

Eine Textvariante liest an dieser Stelle πρεσβυτέρου statt πρεσβυτέριου, denkt also an die Einsetzungshandlung durch einen Einzelnen, was nach Jeremias jüdischem Brauch eher entsprechen würde. Die Bezeugung der Lesart ist allerdings schwach, die Auslassung eines Jota kann leicht passieren (Jeremias weist selbst auf einen Parallelfall bei Josephus, CAp II 206) und auch innere Gründe sprechen eher gegen die Variante (vgl. auch Johnson und Knight z. St.!). Jeremias hat in einem Aufsatz „Zur Datierung der Pastoralbriefe“ (ZNW 52,1961,101–104) ohnehin die Frage aufgeworden, ob der Terminus πρεσβυτέριον hier nicht besser mit „Ältestenwürde“ zu übersetzen sei. Besonders schwer wiegt für ihn die jüdische Praxis der Ordination nicht durch ein Gremium, sondern durch den „Lehrer des Ordinanden“ (a.a.O. 103 Anm. 11). Nach dieser Anschauung entspräche nämlich die ἐπίθεσις τῶν χειρῶν τοῦ πρεσβυτερίου dem hebräischen Ausdruck סְמִיכַת זְקֵנִים und wäre darum als genitivus finalis mit „Handaufstemmung (zur Verleihung) der Ältestenwürde“ wiederzugeben (102; vgl. auch ders., NTD 35). Dieser Vorschlag würde auch das in jener frühen Zeit doch als störend empfundene „Presbyterium“ und damit ein Problem der Frühdatierung beseitigen. Leider trifft er vermutlich nicht das Richtige, zumal die Übersetzung als genitivus subjectivus grammatisch näher liegt. Sein Vorschlag hat sich in der Forschung nicht durchsetzen können.

Man kann freilich fragen, ob es nicht nahe lag, die Struktur der Gemeinden mit ihrem Übergang von der Hausgemeinde zur Ortsgemeinde jener der Diasporasynagoge (und damit auch der judenchristlichen Gemeinden) anzupassen und neben den Gemeindeleiter (ἐπίσκοπος) die „Ältesten“ zu stellen. Das geschah m.E. allerdings erst in viel späterer Zeit. Ob ihnen (wie oft angenommen) an unserer Stelle tatsächlich eine leitende Funktion zukommt oder vielleicht „nur“ eine geistliche im Sinne der Übertragung einer Befähigung für ein Amt, mag man fragen. Was Timotheus von den übrigen von Paulus persönlich eingesetzten Gemeindeleitern unterschied, war die Tatsache, dass er nicht der „Erstbekehrte“ oder „Erstgetaufte“ von Ephesus war, ja dass er dieser Gemeinde ursprünglich überhaupt nicht angehört hatte. Insofern könnte die Mitwirkung der einheimischen „Ältesten“ als ein faires Entgegenkommen an die Vorstellungen der Ortsgemeinde gewertet werden. Dabei ist stillschweigend vorausgesetzt, die an unserer Stelle angesprochene Ausstattung mit der Dienstgabe sei vor Ort erfolgt und nicht schon früher und bei anderer Gelegenheit (etwa Apg 16,1–3), was ja auch denkbar wäre. 2Tim 1,6 muss weder im Widerspruch zu unserer Stelle stehen, denn eine mehrfache Handauflegung ist erwiesenermaßen denkbar, möglich und sinnvoll, noch müssen beide zwei verschiedene Zeitebenen reflektieren, nämlich die paulinische Zeit (2Tim 1,6) und die Zeit der Pastoralbriefe (1Tim 4,14),wie Hanson meint.

15f führt wieder vom Konkreten zum Grundsätzlichen. Es handelt sich um eine eher allgemein gehaltene Ermunterung, all das Genannte (ταῦτα, τοῦτοις) wichtig zu nehmen. Die zweite Vershälfte, die den Zweck solchen Bemühens angibt, signalisiert gleichzeitig indirekt die Notwendigkeit, sich vor der ganzen Gemeinde (πᾶσιν) auszuzeichnen und zu beweisen. Paulus sieht seinen Schüler nicht unberührt über aller Kritik stehend. Es ist nötig, den Kritikern zu begegnen, allerdings auf die richtige Weise: durch Fortschritt in den angesprochenen Bereichen. Das Wachstümliche christlichen Glaubens und Lebens wie auch des Reiches Gottes insgesamt und an einem Ort betont nicht nur Paulus (vgl. Hebr 5,11ff).

16 Selbstkontrolle (vgl. Apg 20,28!) und Festhalten an der Lehre wird Timotheus empfohlen. Ungewöhnlich erscheint die Zusage: Wenn du dies tust, wirst du dich retten und die dich hören. Ist es denn ein Mensch, der sich selbst oder andere (vgl. 2,15!) retten könnte? Ist es der Gemeindeleiter, der sich und seine Hörer rettet, und nicht mehr der Herr Jesus Christus? Wie für das „Gerettetwerden durch Kindergebären“ gilt auch hier rechtfertigungstheologisch: Gewiss nicht! Der Gedanke, dass das Ergebnis der Arbeit eines Apostels mit σῷζειν beschrieben werden kann, ist Paulus allerdings nicht fremd (1Kor 9,22–27!). Der Satz ist im Licht von 2Kor 5,20f zu lesen.


IV

Bevor sich der Apostel ab 5,1 den Gemeindegruppen und den mit ihnen verbundenen und durch sie hervorgerufenen Problemen zuwendet, fasst er noch einmal für Timotheus zusammen. Persönliches und Amtliches, Apologetisches, Seelsorgliches und „Pastoraltheologisches“ verbinden sich dabei. Und wieder stellen wir fest: So sehr viel hat sich in 2000 Jahren nicht verändert:

Immer noch üben attraktive, am Zeitgeist orientierte Gedankengebäude eine hohe Anziehungskraft aus. Nicht nur Gemeindeglieder, sondern auch Amtsträger sind für sie und für die, die sie vertreten, Angriffspunkte. Es kommt stets gut an, „voll im Trend“ zu sein. Das gilt z.B. für die Akzentsetzung im sensiblen Beziehungsfeld von Körper, Seele und Geist (Betonung des Emotionalen; Esoterik; Machbarkeitswahn; „wellness-Welle“) ebenso wie für politische Einschätzungen oder für die Ethik.

Immer noch ist diszipliniertes Leben und Arbeiten nötig, um dem widerstehen zu können, vor allem aber Vertrauen auf Gott, der abseits dessen, was geistesgeschichtlich gerade „in“ ist, sein Erlösungswerk durchführt.

Immer noch ist es nicht leicht eine christliche Gemeinde zu leiten. Gründe, die gegen den Leiter oder die Leiterin sprechen, sind schnell bei der Hand: Es mag das Lebensalter sein – zu jung / zu alt; es mag die geistliche Aktivität sein – zu „charismatisch“ / zu wenig „charismatisch“. Am Ende kommen hinter vielem doch menschliche Triebkräfte zum Vorschein: Neid, Missgunst, Geltungsbedürfnis, der Wille zur Macht.


10. Der Umgang mit Gruppen der Gemeinde (1Tim 5,1–16)


I

1 Einen Älteren schilt nicht, sondern ermahne [ihn] wie einen Vater, Jüngere wie Brüder, 2 ältere [Frauen] wie Mütter, jüngere [Frauen] wie Schwestern in aller Reinheit.

3 Sorge für Witwen, die wirklich Witwen sind! 4 Wenn aber eine Witwen Kinder oder Enkel hat, sollen sie zuerst ihrem eigenen Haus beibringen, gottesfürchtig zu sein und ihren Vorfahren zu geben, was ihnen zusteht. Dies ist nämlich wohlgefällig vor Gott. 5 Die aber wirklich eine Witwe und Alleingelassene [ist], hat auf Gott gehofft und bleibt beharrlich in Bitten und Gebeten bei Nacht und Tag; 6 die Schwelgerin aber ist gestorben, obwohl sie [noch] lebt. 7 Und dies befiehl, damit sie tadellos seien. 8 Wenn aber einer für seine Angehörigen, besonders für die Hausgenossen nicht sorgt, der hat den Glauben verleugnet und ist schlimmer als ein Ungläubiger. 9 Als Witwe soll [in die Liste] eingetragen werden, [wenn sie] nicht weniger als sechzig Jahre alt [ist], eines Mannes Ehefrau [war], 10 durch gute Taten bezeugt, wenn sie Kinder aufgezogen hat, wenn sie Gäste aufgenommen hat, wenn sie die Füße der Heiligen gewaschen hat, wenn sie den Bedrückten beigestanden hat, wenn sie jedem guten Werk nachgegangen ist. 11 Jüngere Witwen aber weise zurück; sobald sie nämlich begehrlich werden gegen Christus, wollen sie heiraten 12 und haben das Urteil, dass sie den früheren Glauben außer Kraft gesetzt haben. 13 Zugleich aber lernen sie, als Unbeschäftigte in den Häusern umherzulaufen – nicht nur untätig aber, sondern auch geschwätzig und [sich um Dinge kümmernd, die sie nichts angehen], reden sie Dinge, die sich nicht ziemen. 14 Ich will nun, dass die Jüngeren heiraten, Kinder gebären, das Haus regieren, dem Widersacher keinen Anlass zur Schmähung geben. 15 Denn schon einige haben sich abgewandt hinter dem Satan [her]. 16 Wenn eine Gläubige Witwen hat, soll sie ihnen beistehen, und die Gemeinde soll nicht beschwert werden, damit sie denen beistehen kann, die wirklich Witwen sind.


II

Paulus hatte zunächst der Forderung der Irrlehrer nach gesetzesgemäßer Lebensweise die Ermutigung zu Glauben und guter Lehre entgegengestellt (4,5–11), um dann die Autorität des Timotheus zu stärken (4,12–16). Nun folgen Anweisungen, wie er mit bestimmten (Problem-)Gruppen der Gemeinde umgehen soll, und zwar zunächst mit Alten und Jungen (5,1–2), dann mit den Witwen (5,3–16). Was wir schon früher bei der Frage nach dem Verhalten der Frau im Gottesdienst beobachtet hatten, wird nun bestätigt: Die Gemeinde in Ephesus (und wohl nicht nur sie) war weitgehend durchstrukturiert, ähnlich wie es viele Jahrhunderte später der Graf Zinzendorf mit seinen „Chören“ und „Banden“ in Herrnhut machte.

Der Aufbau:

1+2
Der Grundsatz: Umgang mit Geschlechtern und Altersstufen
3–10
Der Umgang mit älteren Witwen
11–16
Der Umgang mit jüngeren Witwen

V 10: Die Reihe von kasuistischen εἰ-Sätzen weist auf einzelne offenbar in der Gemeinde vorgekommene „Fälle“ hin, die nun geregelt werden sollen.


III

1 Ein eher allgemein-zusammenfassender Satz (V. 1f), in dem der Grundsatz für den Umgang des Timotheus mit der Gemeinde nach Alter und Geschlecht strukturiert wird, leitet zu speziellen Problemen eben mit diesen Gruppen über. Obwohl hier dasselbe griechische Wort steht (πρεσβύτερος), ist an dieser Stelle der ältere Mann nicht in seiner Funktion als „Gemeindeältester“ angesprochen (sofern er dieses Amt inne hat), sondern eben im natürlichen Lebenszusammenhang seiner Altersgruppe, was der parallele V. 2 bestätigt. Dass das Alter zu ehren sei, war für die Antike (trotz selbstverständlich gelegentlich vorkommender Kritik etwa in der Komödie) keine Frage. Ἐπιπλήσσειν trägt den Akzent des scharfen, tadelnden Anfahrens und ist demnach mit einer ehrenden Haltung gegenüber dem Älteren nicht zu vereinbaren. Doch ist das Tadeln in dieser Weise auch bei Jüngeren nicht angebracht. Ermahnen soll Timotheus sie. Παρακαλεῖν kann die ganze Bandbreite von „ermahnen“ über „zusprechen“ bis „trösten“ und „ermutigen“ haben. Damit ist der Umgangston in der Gemeinde umrissen: nicht das Kommando, nicht die vernichtende Kritik ist gefragt, sondern das helfende, wenn auch kritische Wort, das allein der Liebe innerhalb der familia Dei mit Vätern und Brüdern entspricht.

2 Zu dieser „Familie“ gehören auch die Frauen, zu denen die Beziehung differenziert zu sehen ist. Zu älteren Frauen soll sich der Gemeindeleiter wie zu Müttern verhalten, den jüngeren gegenüber wie Schwestern. Im Bewusstsein, dass hier besondere Probleme lauern, fügt Paulus gleich hinzu: in aller Reinheit. Der griech. Begriff kommt wie das verwandte ἅγιος von ἅζομαι „[sich] in Ehrfurcht scheuen“ und „bezeichnet … (seit Homer) in bezug auf Personen und Dinge das Fehlen jeder die Heiligkeit verletzenden Befleckung wie Blutschuld oder Geschlechtsverkehr …, also bes. rituelle Reinheit.“ Gedacht ist wohl an ein Verhalten, das die Öffentlichkeit nicht scheuen muss (vgl. 4,12). Unendlich viel hat sich in den rund 2000 Jahren seit Abfassung des 1Tim geändert. Heute gilt es kaum noch als schändlich, eher als chic, Tabus zu brechen und sich damit auch noch öffentlich darzustellen. Christen werden an dieser und anderen Stellen gern darauf verzichten, als „voll im Trend“ angesehen zu werden. Gottes Ordnungen bricht niemand und zu keiner Zeit ohne Folgen, zeitlich und ewig.

3 Die Witwen werden als eigene weibliche Gemeindegruppe behandelt, und zwar gleich nach dem zusammenfassenden Einleitungssatz. Dies geschieht durchaus differenziert und in einem Textumfang, der auf den ersten Blick Erstaunen auslösen muss. Ihr Anteil an den frühchristlichen Gemeinden muss wohl „nicht gerade als gering einzuschätzen“596 gewesen sein, ihre Bedürftigkeit hoch (vgl. schon Apg 6,1ff). Obwohl andererseits ihre Unterstützungswürdigkeit vom AT her hoch eingeschätzt wurde, waren sie doch in der Wirklichkeit des Zusammenlebens häufig ganz in der Hand derer, von denen sie abhängig waren (vgl. Lk 18,1–5). Hintergrund der Anweisungen sei an unserer Stelle die Belastung der Gemeinde durch die Notwendigkeit sie zu unterstützen.598 Dies wird freilich erst später (V. 4ff) thematisiert. Das erste Wort über die Witwen ist die Aufforderung sie zu ehren. Machen wir uns bewusst, dass כבד pi. „ehren“ im Hebräischen nicht eine rein psychologische, sondern im Sinne von „für jem. sorgen“ (4. Gebot!) eine sehr materielle Bedeutung hat und dass in dem griech. Wort τιμή auch die Bedeutung „Wert“ steckt, dann ist die Brücke von V. 3 zu V. 4ff schnell geschlagen. Offensichtlich wird aber für Paulus eine Frau noch nicht einfach dadurch zu einer wirklichen (ὄντως) Witwe, dass ihr Ehemann verstorben ist. Auch in der christlichen Gemeinde sind Verstellung und Heuchelei keine Fremdworte. Der „alte Adam“ (und die „alte Eva“) bestimmen das Verhalten immer noch viel zu sehr, weshalb bei Ansprüchen und Wünschen Vorsicht geboten sein kann. Hierauf vor allem (vgl. aber die Definition in V. 5!) ist das Adverb der Art und Weise ὄντως wirklich zu beziehen, nämlich auf tatsächlich vorhandene Bedürftigkeit.

4 Dies ergibt sich aus den nachfolgenden Anordnungen: Paulus unterscheidet nämlich nun wirkliche Witwen von solchen, die eigentlich ihre Versorgung in ihrer Familie finden könnten und die Gemeinde(kasse) dadurch entlasten würden. Er weist sie mit ihren Ansprüchen zunächst an die nahen Verwandten, Kinder oder Enkel, und erinnert diese wiederum an das Gebot der Dankbarkeit gegenüber den Eltern – eine Art antiker „Generationenvertrag“. Vorausgesetzt ist dabei, dass das 4. Gebot auch für die Nachkommen Gültigkeit hat, dass sie also entweder dem Judentum oder (schon) dem Christentum angehören. Dabei berücksichtigt man am besten den schon in der οἶκος-Formel der Apg vorausgesetzten „kollektiven“ Übertritt, der seinerseits den Übertritt ganzer Familien zum Judentum zum Vorbild haben dürfte. Zudem weist auch die erwähnte Lernbedürftigkeit der Angehörigen in dieser Frage auf eine Situation, in der christliches Verhalten (wohlgefällig vor Gott) noch nicht selbstverständlich geworden ist. Freilich: Hat sich daran je grundsätzlich etwas geändert?

5–7 Nun definiert der Apostel, was wirklich eine Witwe ist, in einer Mischung aus äußeren und inneren Kriterien: Hebraisierend, nämlich in der Art eines Parallelismus membrorum, wird das den Begriff Witwe erläuternde Partizipialadjektiv μεμονωμένη mit και angehängt und nachgestellt und die Witwe als eine tatsächlich „allein Gelassene“ oder „Vereinsamte“ im Gegensatz zu V. 4 aufgrund der äußeren Lebensumstände näher beschrieben. Es gibt aber auch eine innere, geistliche Seite, die sich in ihrer Beziehung zu Gott zeigt: Eine solche hat nämlich ihre Hoffnung auf Gott gesetzt (und nicht auf Unterstützung aus der Gemeindekasse!). Hier wird sehr deutlich, wie existenziell christliche Hoffnung werden kann und wie eng sie dann mit dem Glauben (= Vertrauen auf Gott) in Verbindung steht. Hoffnung und Glaube konkretisieren sich in solchen Fällen in sehr speziellen Bitten und allgemeineren Gebeten bei Nacht und Tag. Mit den Zeitangaben sind nicht nur die Gebetszeiten gemeint, sondern der die ganze Existenz umgreifende Charakter des Gebets. „Bedingung der Zugehörigkeit zum Witwenstand ist also einmal die soziale Situation der Hilfsbedürftigkeit, zugleich aber das deutliche christliche Zeugnis“ schreibt Brox. Diesem Bild einer wirklichen Witwe stellt Paulus das einer Frau gegenüber, die das Leben (wieder?) in vollen Zügen genießt, die schwelgt und üppig lebt. Von einer solchen Frau sagt er, sie sei gestorben, obwohl sie [noch] lebt. Deutlich den Gedankengang abschließend macht der Apostel das eben Geschriebene ausdrücklich zum Gegenstand der παραγγελία. Das Wort bezeichnet ja einen Befehl, „dessen Ausführung sich von selbst versteht“, ein „Gebieten in Vollmacht“606, mithin einen Akt zwischen Seelsorge und Gemeindezucht. Auch hier (wie beim Gemeindeleiter 3,2 und be 1Timotheus selbst 6,14) geht es um das Bild, das die Gemeinde in der Öffentlichkeit abgibt.

8 Wie in V. 4 beginnt mit εἰ δέ τις ein weiterer „Fall“, der zur Kommentierung durch Paulus ansteht, und zwar nun auf der anderen Seite, bei jenen, die Versorgungspflichten haben. Nur wenn sich beide an die „Spielregeln“ halten, kann die Solidargemeinschaft sinnvoll sein. Der Schreiber wendet sich ihnen zu, ohne die Witwen aus dem Auge zu verlieren. Versäumt es nämlich ein Gemeindeglied, für seine Angehörigen, allen voran für jene, die mit ihm in einem Haushalt leben, zu sorgen, dann sieht der Apostel darin eine Verleugnung des Glaubens. Die Verknüpfung von Glauben und Verhalten weist hier eine gewisse Nähe zum Jakobusbrief auf, wo ja ganz ähnlich argumentiert wird (Jak 2,14–17), und auch zum 1Joh (4,20f): nicht nur defizitär ist solcher Glaube, sondern überhaupt nicht vorhanden. Auch der Begriff ἀρνέομαι weist ja, wie seine spätere Geschichte im Zusammenhang mit den Christenverfolgungen zeigt, in Richtung einer öffentlichen Absage des Glaubens.

9f Der ursprüngliche Faden, nämlich die definierende Bestimmung dessen, was eine Witwe ist (V 5f), wird hier wieder aufgenommen: Es geht immer noch um die Witwen in der Gemeinde, hier nun konkret um ihre (verwaltungstechnische) Aufnahme in die Gruppe der Witwen. Diesen Vorgang beschreibt καταλέγεσθαι: die Eintragung in eine Liste von Personen, die alle zu einer Kategorie gehören. Durch die Eintragung erhielt eine Witwe gemeindeoffiziell den Status sozialer Bedürftigkeit. Die in V. 5f genannten Kriterien werden nun durch weitere äußerliche ergänzt: ein Mindestalter von 60 Jahren, die Ehe mit nur einem Mann, der Nachweis guter Werke, die Erziehung der (eigenen) Kinder, ein für Gäste offenes Haus, die Bereitschaft zu niederem Dienst, Hilfsbereitschaft gegenüber Bedrängten (Christen?) und das Verrichten guter Taten – eine für uns nicht leicht nachvollziehbare Liste.

Das Mindestalter wird in V. 11 begründet (s.u.). Mit 60 beginnt für Römer das Greisenalter. Die Voraussetzung der Einehe könnte darin ihren Grund haben, dass (nacheinander) mehrmals verheiratete Frauen in ihrer größeren Verwandtschaft eher auf soziale Unterstützung hoffen durften. Paulus hatte den Witwen in Korinth geraten, nicht wieder zu heiraten (1Kor 7,8f;39f), die Weisung liegt also durchaus im Duktus paulinischer Seelsorge, die allerdings verschiedene Situationen (etwa die älterer von der junger Witwen; s.u.) zu unterscheiden wusste.

In V. 10 schließen – im Sinne einer inclusio – zwei Aussagen über die Werke eine Kette von fünf εἰ-Sätzen ein, die diese Werke inhaltlich bestimmen. Der Verfasser verwendet zwei Adjektive in Verbindung mit ἔργον: καλός am Anfang, ἀγαθός am Ende. Καλός nennt Paulus häufiger ein richtiges, Gottes Willen entsprechendes Verhalten (z.B. Röm 14,21; 1Kor 7,1.8.26), und auch das Gesetz selbst bezeichnet er so (Röm 7,16). Die Taten solcher Frauen, für die das Verhalten der Tabita eine Matrix gewesen sein könnte (Apg 9,36), sprechen für sich: dass sie Kinder aufgezogen hat, Gäste aufgenommen, die Füße der Heiligen gewaschen, den Bedrückten beigestanden. In konzentrischen Kreisen schreitet Paulus den Wirkungsbereich einer christlichen Frau ab: Die Ehe und als ihre konsequente Folge die Erziehung der Kinder (vgl. 2,15!), dann die Betreuung von Gästen des Hauses, der Dienst der Liebe an Mitchristen in der Gemeinde,612 schließlich die Unterstützung Bedrängter. Weist Letzteres schon in Richtung auf die gegenseitige Hilfe der Christen in der Verfolgungssituation (Nero!), so könnte die zuvor erwähnte Gastfreundschaft sich ebenfalls auf die Aufnahme und das Verstecken flüchtiger Christen beziehen.

11 Jüngere Witwen gab es offenbar auch in solcher Zahl, dass sie ein eigenes Problem darstellten. Im ausdrücklichen Gegenüber zu den (mindestens 60-jährigen) Witwen werden hier jene gemeint sein, die dieses Alter noch nicht erreicht haben. Dabei ist die relativ frühe Sterblichkeit in der Zeit des Römischen Reichs zu beachten. Das häufigste auf Grabsteinen angegebene Sterbealter lag demnach bei 30 Jahren, woraus folgt, dass es einen größeren Bevölkerungsanteil von verwitweten Menschen gab. Die gebotene Zurückweisung dieser Gruppe, also ihre Nicht-Aufnahme in den als hilfebedürftig anerkannten Witwenstand, wird in einem futurischen Temporalsatz begründet, hinter dem sich eine Erfahrungstatsache in Gestalt einer unter bestimmten Bedingungen immer wiederkehrenden Verhaltensweise verbirgt. In dem vorliegenden Fall ist es der Wunsch zu heiraten, der dadurch in ihnen reift, dass sie (als von der Gemeinde geförderte Witwen) in die Lage versetzt werden, ein ausschweifendes Leben zu führen (Offb 18,9 στρηνιάω neben πορνεύω!). Ob damit „nur“ an Essen und Trinken gedacht ist oder auch an die Teilnahme an (Götzen-)Festen mit Orgiencharakter, etwa im Tempel der Artemis, muss offen bleiben. Dies wiederum führt (im Endgericht? In der Beurteilung durch die Gemeinde? Durch Außenstehende?) zu dem Urteil, sie hätten den früheren Glauben außer Kraft gesetzt, also aufgegeben. Ähnlich wie Offb 2,4 ist vermutlich an einen solchen Glauben gedacht, wie er bei ihnen in der Frühzeit ihres Christseins sichtbar war. Die Stelle zeigt zugleich wieder die enge Beziehung zwischen Glauben und Verhalten: Glaube ist zugleich Vertrauen auf Gott bzw. auf Christus und Gehorsam ihm gegenüber.

13–15 Die gesicherte soziale Situation der jungen Witwen führt demnach (so Paulus) dazu, dass sie ihre Energien in einer Weise umsetzen, wie es für sie selbst und für die Gemeinde abträglich ist: Nicht nur Untätigkeit wird ihnen dann zur Gefahr, sondern auch (damit in Zusammenhang) Geschwätzigkeit und Neugier, woraus Klatsch und Tratsch resultieren, ein Syndrom, das auch wir kennen, und nicht etwa nur bei Frauen. Mit einer klaren Willensäußerung begegnet der Apostel dem: Jüngeren Witwen empfiehlt er die Heirat, die sie in gute Aufgaben und Pflichten stellt: Kinder gebären, das Haus regieren.

Den Pastoralbriefen wird häufig (vor allem in der deutschsprachigen Exegese) vorgeworfen, sie propagierten ein gutbürgerliches Lebensideal, das zu Paulus nicht passe. Dabei wird ein bestimmtes Bild vorausgesetzt, wie es in unserer Zeit vorherrschend geworden ist. Dabei ist allerdings noch sehr die Frage, was hier Ursache, was Wirkung ist. Im jüdischen Bereich, wo die Frau gesellschaftlich und rechtlich keine eigenständige Stellung hatte, ja unter Umständen nicht einmal öffentlichkeitsfähig war, dadurch aber nicht ohne eigene Würde, galt Kindergebären als typische und selbstverständliche Aufgabe der Ehefrau, durch die sie keineswegs diskriminiert erscheint. Im Gegenteil. Bei den Griechen (und Römern) stellt sich die Sache anders dar. Hier hat die Hausherrin im Haus wie in der Öffentlichkeit mehr eigenes Gewicht, und das Gebären von Kindern konnte eher eine unangenehme Pflicht sein. Dafür lag der Akzent mehr auf dem Regieren des Hauses, womit wohl die Aufsicht über die Haussklaven und -sklavinnen und die Verantwortung für alle Vorgänge im Haus gemeint sein dürfte. Damit ist direkte oder indirekte Außenwirkung nicht ausgeschlossen. Das Wort οἰκοδεσποτεῖν, wieder ein Hapaxlegomenon, kommt aus der Astrologie und meint den Einfluss, den ein Planet ausübt – ein sehr anschauliches Wort für den Versuch, jüdische und griechische Tradition zu verbinden. Jedenfalls ist fraglich, ob das den Pastoralbriefen vorgeworfene gutbürgerliche Ideal nicht viel eher ein Resultat ihres Einflusses in der mitteleuropäisch-christlichen Kultur ist als eine Domestizierung des ursprünglich anders orientierten frühen Christentums.

Ob mit dem Widersacher der Teufel oder ein menschlicher Antipode der Gemeinde gemeint ist, lässt sich mit letzter Sicherheit nicht sagen. Wahrscheinlicher ist (wegen V. 15) die erste Version, zumal wenn mit dem Urteil in V. 12 das Urteil im Endgericht gemeint wäre. Interessanterweise käme an dieser Stelle das atl. Verständnis des Satan als Verkläger, wie es uns bei Hiob (Hi 1,6–12) und Sacharja (Sach 3,1) begegnet, wieder zum Vorschein (vgl. aber auch Offb 12,10). In diesem Zusammenhang wird Schmähung im Sinne einer gerichtsrelevanten Anklage zu verstehen sein, nicht (nur) im Sinne einer Beleidigung, also auch hier in objektivem Sinne, nicht nur subjektiv-psychologisch. Vers 15 schildert den Satan als den Gegenspieler Gottes, der im Kampf gegen Gott eine Gefolgschaft um sich sammelt (vgl. auch 1,20; 1Kor 5,5; Offb 3,9).

16 Den Abschluss der Witwen-Perikope bildet eine weitere kasuistische Weisung, die die Versorgung mancher Witwen betrifft, und zwar solcher, die zum Haushalt einer gläubigen Frau gehören. In einer Großfamilie konnten das Mütter bzw. Schwiegermütter, aber auch andere Verwandte sein, unter Umständen sogar Sklavinnen oder Freigelassene. Noch einmal betont Paulus sein Grundanliegen: die Gemeinde soll von der (finanziellen) Sorge für solche Gemeindeglieder frei gehalten werden, damit sie die Mittel hat, sich um die wirklichen Witwen (im oben dargestellten Sinn) zu kümmern.


IV

Viel seelsorgliche Erfahrung und viel Lebensnähe spricht aus dem kurzen Abschnitt. Die Ethik ist und bleibt das Bewährungsfeld der Dogmatik, weil sich der Glaube im Leben auswirkt („gute Werke“!). Wenn auch manche Elemente gewiss nicht einfach in unsere Zeit und unsere veränderten sozialen Verhältnisse übernommen werden können, finden sich doch manche Hinweise, die in vergleichbaren Situationen zu Rate gezogen werden können. Denn am Wesentlichen des Menschen hat sich in den vergangenen 2000 Jahren nicht viel geändert. Die von Bultmann und seinen Schülern gewiss einseitig verwendeten „Existenzialien“ (wie Hoffnung, Angst, Liebe usw.), die das Leben aller Menschen zu allen Zeiten bestimmen, haben an motivierender Kraft nichts verloren.


11. Über die Ältesten (1Tim 5,17–21)


I

17 Die Ältesten, die [der Gemeinde] in guter Weise vorstehen, sollen doppelter Entschädigung für wert gehalten werden, ganz besonders die, die sich in Wort und Lehre abmühen [oder: besonders weil/wenn sie sich in Wort und Lehre abmühen]. 18 Denn die Schrift sagt: „Einem dreschenden Rind wirst du nicht den Maulkorb anlegen“, und „Wert ist der Arbeiter seines Lohnes“. 19 Gegen einen Ältesten nimm keine Anklage an, außer wenn [sie] auf zwei oder drei Zeugen [beruht]. 20 Weise die, die sündigen, vor allen zurecht, damit auch die übrigen Furcht bekommen. 21 Ich beschwöre dich vor Gott und Christus Jesus und den auserwählten Engeln, dass du dies ohne Vorurteil bewahrst und nichts nach Zuneigung tust.


II

Der kurze Abschnitt bringt (wiederum eher kasuistisch) Anweisungen über den Umgang mit den Gemeindeältesten bzw. den Gemeindeleitern, auch wenn diese hier nicht ausdrücklich, sondern nur über die Erwähnung ihrer genuinen Aufgaben, genannt werden. Dem Grundsatz (V. 17) folgen zwei Schriftbelege (18) sowie Hinweise für den Umgang mit Ältesten, die sich tatsächlich eines Vergehens schuldig gemacht haben (19–21). Der Abschnitt endet eindrucksvoll mit einer Beschwörungsformel (21).


III

17 knüpft mit dem Stichwort τιμή an V. 3 an. Der Begriff trägt in sich die doppelte Bedeutung von „Ehre, Würdigung“ einerseits und von „Wert, Gehalt“ im materiellen Sinn andererseits. Von daher kam in der Auslegungsgeschichte mit Blick auf die doppelte Entschädigung die von neueren Kommentaren geteilte, durchaus erwägenswerte Überlegung auf, ob es hier vielleicht um das Einkommen oder die Aufwandsentschädigung gehen könnte, die Älteste und Gemeindeleiter erhielten. Dass nämlich jene Ältesten, die sich in Leitungs- und Lehramt doppelt abmühten, auch das Doppelte dafür erhalten sollten, und zwar gemessen an dem, was die Witwen erhielten (5,3). Alternativen der Auslegung wären, den Ausdruck auf die Wertschätzung für die doppelte Tätigkeit der Ältesten in Wort und Lehre zu beziehen oder es als Hebraismus in dem Sinne zu verstehen, dass an eine umfassende und wirkliche Würdigung der aufgewendeten Mühe gedacht ist. Denn dass diese Arbeit kein Vergnügen, sondern ein oft mühsames Unternehmen ist, daran gab es für Paulus keinen Zweifel (1Thess 5,12; 1Kor 16,16). Die in V. 18 gebrauchten Bilder, die sich eindeutig auf den Lohn für aufgewandte Mühe beziehen, sprechen stark für das erstgenannte Verständnis.

Als λόγος bezeichnet er mit der Urgemeinde gewöhnlich nicht nur die Christusbotschaft im engeren Sinn (vgl. Apg 6,7), also das Evangelium, sondern auch die Verkündigung desselben (Apg 6,2.4). Διδασκαλία, in den Pastoralbriefen ein häufig vorkommendes, programmatisch in 1,10 zum Schlüsselbegriff gemachtes Wort, konnte seine hebräische, in der Tätigkeit Jesu als διδάσκαλος (= hebr. רַבִּי Pirqe Abot I 6.16) verwurzelte Herkunft nie ganz abstreifen. Es steht in der Apostelgeschichte häufig für die missionierende Verkündigung. Bei Paulus liegt der Akzent auf dem Lehren innerhalb der Gemeinde (Kol 2,7; Eph 4,21; 2Thess 2,15). Dass es eine „Funktionsgruppe“, einen „Stand“ von Lehrenden gab, zeigen die Charismenlisten (1Kor 12,28f; Röm 12,7; Eph 4,11).

Was ist mit „Lehren“ konkret gemeint ist? Ist es die Weitergabe und Erklärung der (festgeprägten) Jesustradition durch Memorieren im Taufunterricht oder in den Gottesdiensten der Gemeinde? Oder handelt es sich bereits um erste Versuche theologischer Arbeit im Sinne von In-Beziehung-Setzen der Jesus-Tradition mit dem AT (entsprechend Apg 17,11)?

18 Zwei atl. Belege untermauern die Anweisung und weisen zugleich die Richtung für ihr Verständnis. Sie werden mit der Paulus auch sonst geläufigen Formel λὲγει γὰρ ἡ γραφή (Röm 4,2; 9,17; 10,17; Gal 4,30) eingeführt. Den ersten aus Deut 25,4 hatte der Apostel in ähnlichem Zusammenhang bereits 1Kor 9,9 verwendet. Es handelt sich um eine der in Deut 25 gesammelten sozialen Schutzbestimmungen, die hier sogar auf das Arbeitsvieh ausgedehnt werden. Anders verhält es sich mit dem zweiten Zitat, das der Aussendungsrede in Lk 10,7 (fast) wörtlich entnommen ist, sich aber so im AT nicht findet. Bezieht sich γραφή nur auf das erste Zitat aus der Tora, das seiner Würde gemäß voran gestellt ist, oder sollte der Apostel das Lukasevangelium auch schon als (heilige) Schrift ansehen, was voraussetzt, dass es ihm bereits vorgelegen hat? Letzteres muss als eher unwahrscheinlich, wenn auch nicht ausgeschlossen angesehen werden. Oder befindet er sich in einem Zwischenstadium, in dem die verbindliche Jesustradition bereits mit dem heiligen Gotteswort des AT auf einer Ebene gesehen wurde? Mit anderen Worten: als im Gottesdienst Jesusworte rezitiert oder aus einem Evangelium vorgelesen wurde?

Zum Inhalt: Wenn schon dem Vieh die verdiente Nahrung nicht vorenthalten werden darf, wenn schon Jesus selbst seinen Gesandten ausreichende Ausstattung an Nahrung zuspricht, dann wird dies ja wohl auch für die mit einer stabilitas loci ausgestatteten Leiter einer Gemeinde zutreffen. Dies gilt, obwohl der Apostel dieses Recht für sich selbst nicht (immer) in Anspruch genommen hat.

19f Die herausgehobene Stellung der Ältesten hat auch Auswirkungen auf den Umgang mit Klagen über sie. Aus dem Vers geht zunächst hervor, dass Timotheus als eine (Beschwerde-)Instanz über ihnen angesehen wird. Daraus wird verständlich, warum sein geringeres Lebensalter für manche ein Problem darstellte. Beschwerden gegen Älteste bedürfen, wenn ihnen nachgegangen werden soll, besonderer Glaubwürdigkeit, die (ganz im Sinne des atl. Zeugenrechts Deut 19,15) daran fest gemacht wird, ob außer dem Klageführer noch mindestens ein weiterer Zeuge die Anklage bestätigt. Dort (im AT und im jüdischen Recht) lag auf den Zeugen insofern eine besondere Verantwortung, als sie zur Ausführung der verfügten Strafe herangezogen werden konnten. Im Falle einer Falschaussage luden sie somit die Schuld an dem Fehlurteil auf sich.

20 knüpft unmittelbar an diese Bestimmungen über die Gemeindeältesten an, bezieht sich also (ausschließlich?) auf sie. Es handelt sich hier nicht um allgemeine Aussagen über Gemeindezucht, sondern um nachgewiesenes Fehlverhalten von Leuten in herausragender Verantwortung. Dabei geht es um Sünde, um Fehlverhalten vor Gott, das anhand der atl. Gebote und der Weisungen Jesu zu beurteilen ist. Ἁμαρτάνειν sieht dabei hinter dem offenkundigen Vergehen die Änderung der Lebensausrichtung, die sich von Gott, von Christus weg orientiert.

Die Betroffenen sollen von Timotheus in der Öffentlichkeit der Gemeindeversammlung (das ist sicher mit ἐνώπιον πάντων gemeint) zurechtgewiesen werden. Ἐλέγχειν könnte auch die „Überführung“ meinen, wenn die Klärung der Vorwürfe vor der ganzen Gemeinde erfolgen sollte. Die Behutsamkeit, zu der Paulus im Umgang mit Klagen über die Ältesten mahnt, deutet aber eher in Richtung einer öffentlichen Zurechtweisung nach erfolgter Klärung. Öffentlich wegen der erhofften abschreckenden Wirkung. Diese Regelung hat Auswirkungen durch die Kirchengeschichte hindurch, in manchen Kirchen bis heute. Pluralistisch zusammengesetzte Kirchen haben schon aufgrund rechtlicher Rahmenbedingungen (leider) kaum mehr die Möglichkeit sich daran zu halten.

21 Wie wichtig dem Apostel das Einhalten dieser Bestimmung ist, macht die abschließende Beschwörungsformel (V. 21) deutlich. Timotheus wird dafür in die Verantwortung genommen, nicht nur durch Paulus, seinen Lehrer, und nicht nur durch die Gemeinde, sondern vor Gott und Christus Jesus selbst. Erstaunlich (besonders, wenn es sich bei dem Brief um die Spätschrift eines Epigonen handeln würde) ist die Nichterwähnung des Heiligen Geistes, an dessen Stelle in der immerhin dreigliedrigen Formel die auserwählten Engel (τῶν ἐκλεκτῶν ἀγγέλων) erwähnt sind. Gott-Vater, der Christus Jesus und die Engel, das sind die im Endgericht (Mk 8,38) tätigen „Personen“: Gott ist der Richter, sein Gesandter Jesus der Verteidiger, die Engel die Zeugen (vgl. wieder die Gerichtsszenen bei Hiob und Sacharja). Vorurteil (πρόκριμα) und Zuneigung (πρόσκλισις) sollen in solchen Gemeindezuchtverfahren keine Rolle spielen. Grundsätze römischen Rechtsdenkens kommen zum Vorschein.


IV

Lebensunterhalt und Integrität der gemeindeleitenden Personen sind dem Apostel wichtig. Kein platter Sozialismus soll in der Gemeinde herrschen in dem Sinne, dass alle von ihr zu unterstützenden Mitglieder denselben Betrag zum Leben erhalten würden. Arbeitseinsatz, Vorbildung und Verantwortung waren offenbar Kriterien, die für die Höhe der Bezahlung herangezogen wurden. Was die Integrität dieser Menschen angeht, so geht Paulus erst einmal von der „Unschuldsvermutung“ aus, d.h., es ist ein besonders qualifizierter Nachweis nötig, um sie eines Vergehens zu überführen. Dahinter steht großes Vertrauen, ein Moment, das uns durch die Jahrhunderte aufgrund häufigen Missbrauchs grundsätzlich abhandengekommen ist.


12. Weisung an Timotheus (1Tim 5,22–25)


I

22 Lege niemand vorschnell die Hände auf und werde nicht Teilhaber fremder Sünden! Bewahre dich rein! 23 Trink nicht mehr [nur] Wasser, sondern nimm [auch] ein wenig Wein wegen des Magens und deiner häufigen Krankheiten. 24 Die Sünden mancher Menschen sind ganz offensichtlich und gehen [ihnen] ins Gericht voran, manchen aber folgen sie auch [erst] nach. 25 Ebenso sind auch die guten Werke offensichtlich, und was sich anders verhält, kann nicht verborgen werden.


II

Das oben schon angeklungene Stichwort „Sünde“ steht auch noch über diesem kurzen Abschnitt, der auf den ersten Blick ziemlich heterogen wirkt. Mit Jeremias, Roloff, Marshall u.a. sehen wir die Verse noch im Kontext der Aussagen über Menschen, die in Ämter eingesetzt werden sollen (s.u.), also im Zusammenhang mit der „Ordination“. Selbst V. 23 mit sehr persönlichem Charakter passt in diesen Duktus.


III

22 Wohl noch im Zusammenhang mit sündigenden Amtsträgern der Gemeinde wird Timotheus vor deren vorschneller Einsetzung durch Handauflegung gewarnt. In Situationen, in denen sich niemand leicht für Gemeindeämter zur Verfügung stellte, war die Versuchung groß, ohne langes Zaudern zu nehmen, wer sich anbot (vgl. oben zu 3,1b.6). Auf Prüfung, Auswahl und Bewährung der Kandidaten kann aber nicht verzichtet werden. Wie aber ist das werde nicht Teilhaber fremder Sünden zu verstehen? Kann sich bei der Handauflegung eine Übertragung auf den ereignen, der die Hand auflegt? Im AT geht die Bewegung eindeutig vom Einsetzenden zum Eingesetzten und nicht umgekehrt (vgl. auch 4,14). Beim Aufstemmen der Hände auf den Kopf geht geistliche Kraft (Segen) auf den über, der eingesetzt wird. Folglich kann es nur um jene Sünden gehen, die der nunmehr Eingesetzte in seinem Amt begeht – eben um Vorgänge, wie sie in V. 19f allgemein beschrieben wurden. Also ist wohl an die Mitverantwortung zu denken, die der Einsetzende für den von ihm Eingesetzten und dessen späteres Verhalten hat. Diese Auslegung entspricht durchaus dem Kontext. Der Gedanke solcher Teilhaberschaft ist Paulus, wie Schlatter mit Hinweis auf Eph 5,11 zeigt, nicht fremd. Johnson erwägt, ob Timotheus angesichts vorhandener Missstände (sündigende Älteste usw.) sozusagen „geschäftsführend“ auch die Aufgaben des Ältestenrats übernehmen musste und deshalb eine besondere Verantwortung trug.

Rechtlich verändert stellt sich die Frage heute dar, nachdem etwa die Einsetzung von Bischöfen, Bischöfinnen und anderen Amtsträgern auf demokratischem Wege von zuständigen Gremien beschlossen und nur in deren Auftrag von Einzelnen vorgenommen wird. Hat das Wahlgremium die Verantwortung (und von diesem möglicherweise nur jene, die die Mehrheit gebildet haben), oder auch jener, der den Beschluss rituell umgesetzt, sprich: den Gewählten mit Handauflegung eingesetzt hat?

Erst seit Mitte des 3. Jh.s war die Versöhnungshandlung bei der Wiederaufnahme Abgefallener mit der Geste der Handauflegung verbunden. Eusebius berichtet (HistEccl VII 2) von einer Auseinandersetzung in Rom über die Frage, ob zurückkehrende Häretiker (noch einmal) zu taufen seien und fährt fort: „Von früheren Zeiten her hatte nämlich der Brauch bestanden, solchen Leuten nur die Hände aufzulegen und für sie zu beten.“ Dies setzt fraglos voraus, es sei zuvor eine Handauflegung üblich gewesen. Allerdings gibt es dafür keine überzeugenden früheren Belege. Andererseits bestand, wie wir oben sahen, im frühen Christentum eine feste Verbindung zwischen Handauflegung und Einsetzung in ein Amt bzw. Beauftragung mit einer Aufgabe.

Die abschließende Mahnung Bewahre dich rein! dürfte über die äußerliche kultisch-rituelle Reinheit hinaus, die in der jungen Christenheit damals sicher noch eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt hat, die geistliche Reinheit von Sünden und damit auch die Lauterkeit des Lebenswandels meinen. Beachten wir dies, so fällt Vers

23 inhaltlich nicht aus der Reihe. Der sachliche Anschluss von V. 22 an V. 24 wäre zwar naheliegend, aber doch nicht zwingend. Welchen Grund hätte ein Späterer gehabt, so unzusammenhängend eine persönliche Notiz einzufügen, noch dazu an so ungeeigneter Stelle? In V. 23 einen späteren redaktionellen Einschub zu sehen, legt auch die Textgeschichte nicht nahe. Gibt es also eine Möglichkeit, ihn ungezwungen in diesem Kontext zu verstehen?

Die thematische Brücke von 22 zu 23 schlägt zweifellos das Thema „Reinheit“ bzw. „Sünde“. Den Priestern des AT war das Weintrinken verboten, wenn sie im Dienst waren (Lev 10,9 u.ö.). War jemand dem Trunk ergeben (man vgl. die erstaunlich häufige Erwähnung dieses Problems in unserem Brief), so war er kaum geeignet für eine Leitungsaufgabe innerhalb der christlichen Gemeinde, zumal wenn sie die Mitwirkung oder Leitung des Gottesdienstes und des Herrnmahls einschloss. Zudem gehörte der Weingenuss zu den oft ausschweifenden Festen im Götzentempel, sonderlich in den Mysterienreligionen. Der Artemiskult in Ephesus wird dabei keine Ausnahme gebildet haben. Wer sich dem Trunk ergab, rückte damit in die Nähe derer, die daran teilnahmen. Das Judentum jener Zeit kannte zwar keine grundsätzliche Ablehnung des Weintrinkens – immerhin war der (mit Wasser gemischte) Wein ein Hauptgetränk der Erwachsenen und beim festlichen (Passa-)Mahl unentbehrlich (Gen 14,18). Allerdings zeigt das AT die Folgen ungehemmten Alkoholgenusses (Noah Gen 9,20–27; Lot Gen 19,32) und die damit verbundenen grundsätzlichen Bedenken (Hanna 1Sam 1,14f; Jes 5,22). Jesus hat sogar Wein „hergestellt“ und damit eine Voraussetzung für die messianische Festzeit geschaffen, warum sollte es Christen wie Timotheus also verboten sein ihn zu trinken? Die naheliegende Antwort lautet: Timotheus verzichtete wegen seines Amts und wegen des Eindrucks, den er in Gemeinde und Öffentlichkeit machte, freiwillig auf den Wein, vielleicht auch aus Rücksicht auf asketische Kreise in Ephesus und auf die Rolle, die der Alkoholgenuss bei heidnischen Festen spielte. Nicht ohne gesundheitliche Folgen für ihn, und hier hakt Paulus ein. Als Stärkungsmittel spielte der Wein (schon) in der damaligen Medizin eine Rolle, auch als Desinfektions- und Betäubungsmittel (Lk 10,34 bzw. Mk 15,23). Hier also als Stärkungsmittel wegen des Magens und deiner häufigen Krankheiten, zur Stabilisierung des Gesamtzustands. Ob das και explikativ zu verstehen ist im Sinne von „und zwar wegen deiner häufigen Krankheiten“, lässt sich kaum entscheiden.

1Tim 5,23 ist m.E. ein typisches Beispiel für eine biblische Aussage, die tatsächlich „zeitbedingt“, also im Zusammenhang mit einer ganz bestimmten Situation zu verstehen ist: mit dem schwächelnden Timotheus nämlich, und die deshalb nicht einfach verallgemeinernd als gültige Anweisung für alle Christen zu übernehmen ist. Wären wir dann angesichts dieser Einsicht nicht berechtigt, den Vers aus der Bibel auszuscheiden, wie es häufig für „zeitbedingte“ Aussagen gefordert wird? Oder würde uns dann etwas Wichtiges verloren gehen? Wohl schon, und zwar etwas seelsorglich Wichtiges: Befreien sie doch etwa den überzeugten Anti-Alkoholiker, der alkoholhaltige Medikamente einnehmen soll, von seiner Gewissenslast.

24 Das erkennbare Verhalten von Menschen, es sei lobens- oder tadelnswert, bleibt für Paulus ein Thema. Alkoholismus kann zwar eine ganze Weile unbemerkt bleiben, wird aber doch irgendwann ans Licht kommen. Das gilt allgemein, wenn wir unter Sünde im Sinne hebr. wie griech. Termini „Zielverfehlung“ verstehen. Ändern sich die Lebensziele und Prioritäten, dann ändert sich das konkrete Verhalten; zwar nicht von heute auf morgen, aber doch unausweichlich im Laufe eines längeren Zeitraums. Umso schwieriger ist es deshalb, dem Betreffenden seelsorglich zu helfen, weil ja zunächst äußerlich alles so weiter läuft wie bisher. Daran denkt der Apostel wohl bei V. 24b, wenn er schreibt: manchen aber folgen sie auch [erst] nach. Ἐπακολουθεῖν steht für das Vorangehen Jesu und die Nachfolge der Jünger. Umgekehrt tragen andere ihre Gegnerschaft Gott gegenüber monstranzartig vor sich her (24a). Beide gehen auf das Endgericht zu und werden sich zu verantworten haben.

25 Was für sündhaftes Verhalten gilt, trifft umgekehrt auch für richtiges Verhalten zu: Auch die guten Werke sind offensichtlich. In den 60er-Jahren des 1. Jahrhunderts hatte die früher recht strenge Moral im römischen Imperium viel von ihrer das Leben prägenden Kraft verloren. Stoiker wie Seneca, der Erzieher des Kaisers Nero, konnten sich nicht mehr halten. Der beginnende Verfall einer Kultur war offensichtlich. Dem Ansturm unverbrauchter Völker konnte sie nichts mehr entgegensetzen. Für die junge Christenheit war dies eine Chance, indem sie durch ihren abweichenden und deshalb auffälligen Lebensstil auf sich aufmerksam machen und manche aufgrund ihres Lebens für den Glauben gewinnen konnte. Das 1Petr 3,15 formulierte „missionarische Minimum“, das von jedem Christen erwartet werden konnte, kam auch hier zum Tragen.


IV

Glaube und Lebensführung stehen in einem engen Zusammenhang. Christen müssen sich nicht jeden „Schuh“ anziehen, der ihnen hingestellt wird, d.h. die individuelle ethische Entscheidung bleibt ihnen nicht erspart. Über Recht und Grenzen solcher Freiheit und Entscheidung hat Paulus in Röm 14/15 unter der Überschrift „Starke und Schwache“ gehandelt.

Die Bedeutung und zersetzende Macht der Sünde darf aber dabei nicht unterschätzt werden. Was wir gewöhnlich als „Sünde“ bezeichnen – wenn jemand lügt, stiehlt, die Ehe bricht, tötet usw. -, ist bei (biblischem) Licht betrachtet „nur“ Symptom der inneren Sündhaftigkeit, nämlich der Tatsache, dass die Lebensausrichtung nicht auf Gott zielt. Wer mit und für Gott und auf Gott hin lebt, hat es nicht nötig zu lügen, zu stehlen, die Ehe zu brechen, zu töten usw. Nicht umsonst kann man den Dekalog aus dem Hebräischen auch einfach futurisch übersetzen: „Du wirst nicht töten“ usw., weil es der Zugehörigkeit zu Gott völlig widerspricht.


13. Sklaven und Herren in der Gemeinde (1Tim 6,1–2)


I

1 Jene, die unter dem Joch als Sklaven sind, sollen ihre eigenen Herren aller Ehre für wert halten, damit der Name Gottes und die Lehre nicht gelästert werden. 2 Die aber gläubige Herren haben, sollen sie nicht verachten, weil sie Brüder sind, sondern noch mehr dienen, weil sie gläubig sind und geliebt und sich der Wohltätigkeit befleißigen. Dies lehre und ermahne.


II

Ämter und Stände der Gemeinde hinter sich lassend, kommt nun eine andere Kategorie in den Blick, die schon vorher (vgl. 1Kor 7,21–24; Eph 6,5–9; aber auch Phlm) und vor allem in späteren frühchristlichen Schriften häufig thematisiert wurde: das mindestens ebenso problematische Verhältnis von Sklaven und Herren in der sozialen Hierarchie der damaligen Gesellschaft. Auch hier hat der Verfasser offenbar konkrete Konflikte in der Gemeinde von Ephesus im Auge. Er bietet in V. 1 eine grundsätzliche Verhaltensregel für Sklaven samt Motivation. In V. 2 geht es dann speziell um das Verhalten gegenüber christlichen Herren. Denn neben aller rechtlichen Diskrepanz konnte sich natürlich auch das persönliche Verhältnis zwischen dem Herren und seinem Sklaven, der Herrin und ihrer Sklavin in der Gemeinde schwierig gestalten. Wie sollte man miteinander umgehen? So, wie man es vom Alltag im Haus her gewohnt war, also u.U. eher aggressiv und gegeneinander? Oder gab es eine neue Form des Umgangs in der Gemeinde?

Nach Stegemann/Stegemann gliederte sich die Sozialpyramide damals in vier Blöcke: der unterhalb des Existenzminimums lebende Teil der Stadtbevölkerung, die nicht zur Elite zählende Untergruppenschicht, darüber die Gefolgsleute der Oberschicht und schließlich an der Spitze die (in sich differenzierte) Oberschicht selbst. Zur paulinischen Christenheit gehörten aus der Oberschicht und von deren Gefolgsleuten nur einzelne Mitglieder, während die Mehrheit in den Unterschichtgruppen oberhalb des Existenzminimums anzusiedeln ist.

Das Konfliktpotenzial zwischen Herren und Sklaven war zunächst nicht der Besitz oder der Mangel an materiellen Gütern. Für Sklaven war in der Regel gesorgt, was ihren Lebensunterhalt anging. So gesehen war die Stellung vieler Sklaven der eines freien Bauern an Sicherheit sogar überlegen. Das Problem war das rechtliche Verhältnis und dadurch in der Gemeinde die Frage des Umgangs miteinander. Insgesamt wurde die rechtliche Stellung der Sklaven im frühen Kaiserreich ständig verbessert. Schon unter Kaiser Augustus war die Freilassung in ein Klientenverhältnis in den Städten ein gewöhnlicher Vorgang, bei dem die Erlangung des römischen Bürgerrechts ein willkommenes Nebenprodukt sein konnte. Solange der Sklave allerdings Sklave war, galt für ihn das Sachenrecht, wie eine griechische Bezeichnung des Sklaven als ἀνθρωπο-πόδιον („Menschenfüßler“) anschaulich belegt.

Die Gattung der „Haustafel“ diente hier wohl als Hintergrund, wurde aber nicht schematisch übernommen.


III

1 Die eben skizzierte rechtliche Stellung der Sklaven macht ihre Beschreibung als die unter dem Joch deutlich. Das Joch (ζυγός), also der (ähnlich wie bei Tieren) über die Schulter gelegte Balken, an den beide Hände mit Ketten oder Stricken gefesselt waren, war ebenso wie die 4,2 erwähnte Brandmarkung Sinnbild und Kennzeichen des Untertanseins. Je nach Situation waren Sklaven tatsächlich bei der Arbeit gefesselt, wenn auch nicht mit dem Joch. Doch auch wenn sie sich frei bewegen durften, stand ihnen doch ihr Verhältnis der Abhängigkeit stets vor Augen. Es ist deshalb verständlich, wenn Sklaven, die sich in den Städten mit Ihresgleichen wie mit Freien „berufsständisch“ oder religiös (also etwa in der christlichen Gemeinde) organisieren durften, aus der befreienden Botschaft des Evangeliums das Recht ableiteten, ihren Herren (mindestens in der Gemeinde) als Gleichberechtigte begegnen und sich ihnen gegenüber entsprechend verhalten zu dürfen. Dass dadurch deren Ansehen in der Gemeinde und Autorität im eigenen Haus litt, bedarf keines Beweises. Es musste Paulus, der ja in seinen Briefen (Gal 3,28!) diese Gleichheit aller Menschen vor Gott selbst propagierte, klar sein, wie Sklaven darauf reagieren konnten. Deshalb schärft er ihnen ein, ihren eigenen Herren (δεσπότας) ehrerbietig zu begegnen. (Vermutlich nicht zufällig beschränkt er diese Anweisung auf die eigenen Herren vgl. Tit 2,9.) Denn die Folgen ungebührlichen Verhaltens für die christliche Gemeinde konnten immens sein, sofern die Herren kommunalpolitischen Einfluss ausübten. Wie es ist, wenn der Name Gottes und die Lehre von einflussreichen Leuten publikumswirksam gelästert werden, hatte Paulus oft am eigenen Leibe erfahren (gerade in Ephesus Apg 19,23ff; 13,50; 14,5; 16,20f). Diese Erinnerungen mögen Hintergrund der Motivation für die Sklaven gewesen sein, ihre eigenen Herren aller Ehre wert zu halten. „Ehre“ (πάσης τιμῆς)aber wurde damals nicht nur psychologisierend verstanden, sondern objektivierte sich in entsprechend konkretem Verhalten.

Der Text über die Sklaven erfährt eine interessante Beleuchtung von den (auch zeitlich einander relativ nahen) Aussagen des Paulus in Eph 6,5ff (um 60 n.Chr.), Tit 2,9f (um 65?) und (freilich aus anderem Blickwinkel) im Philemonbrief (ca. 60–62). In allen vier Texten ist von den Sklaven als von δοῦλοι gesprochen. Die Herren dagegen werden κύριοι (Eph 6,5) oder δέσποται (1Tim 6,1f; Tit 2,9) genannt. Κύριος war ja keine Exklusivbezeichnung für den göttlichen oder menschlichen Weltbeherrscher. Das Wort stand für „eine Person, die Kontrolle oder Herrschaft über eine andere Person oder eine Sache“ besaß, „verbunden mit Entscheidungsvollmacht.“ Dagegen meint δεσπότης „den Herrn im Gegensatz zum Sklaven“. Unterschiedliche Akzente finden sich auch hinsichtlich der Verhaltensanweisung an die Sklaven: Sollen sie ihre Herren nach 1Tim 6,1 aller Ehre für wert halten, geht es also tatsächlich um das die Ehre wahrende oder mindernde Verhalten ihnen gegenüber, so wird von ihnen Eph 6,5 „Gehorsam“ (ὑπακούετε), in Tit 2,9 „Unterordnung“ (ὑποτάσσεσθαι) erwartet. Die göttliche Dimension kommt ins Spiel, wenn Paulus in 1Tim 6,1 verhindern will, dass der Name Gottes und die Lehre gelästert werden (positiv gefasst in Tit 2,10), während er im Eph an das Dienstverhältnis Christus gegenüber erinnert. An diesen drei Stellen wird auch gesagt, wie sich die Sklaven nicht verhalten sollen: ihre gläubigen Herren sollen sie nicht verachten (1Tim 6,2), ihnen „nicht in Augendienerei [gehorchen] wie solche, die Menschen gefallen wollen“ (Eph 6,6), aber auch nicht widersprechen oder veruntreuen (Tit 2,9f).

2 Erstaunlich ist die Unterscheidung zwischen den eigenen Herren und den gläubigen Herren. Es geht also nicht nur um das Verhalten innerhalb der Gemeinde. Gerade die „Außenwirkung“, nämlich die Art, wie christlich gewordene Sklaven mit ihren heidnischen Herren umgingen, machte dem Apostel Sorge. Ehre war früher mehr als nur eine Gesinnung, die die Rechte und Fähigkeiten des andern anerkennt. Verehrung drückte sich im konkreten Verhalten aus. Fehlte dies (etwa weil christlich gewordene Sklaven ihre heidnischen Herren verachteten), so rückten sie in den Augen der Öffentlichkeit dadurch in die Nähe solcher, die eine gewaltsame Änderung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse anstrebten. Dies aber würde den Gott, den die Christen verehrten (der Name steht ja für die ganze Person), und die von ihnen vertretene Ethik in Verruf bringen. Paulus formuliert ähnlich in Röm 2,24 (im Anschluss an Jes 52,5).

Die andere Situation betrifft das Verhalten von Sklaven gegenüber ihren christlichen Herren, und zwar sowohl im Alltag als auch in der Gemeinde. Damals wie heute kannten Bedienstete gerade auch die charakterlichen Schwächen ihrer Herrschaft sehr genau, was einen Grund geben könnte sie zu verachten. Die Gleichstellung als Brüder coram Deo soll Verachtung verhindern und zu noch besserem (μᾶλλον bezeichnet die Qualität, nicht die Quantität) δουλεύειν führen – wohl im Sinne von Eph 6,6. Wurzel der Verachtung könnte nicht nur eine aus Solidarität erwachsende „Gruppenmentalität“ der Sklaven gewesen sein, sondern auch das Faktum, dass die Herren trotz ihrer Christseins immer noch „Sklavenhalter“ sein (wollten und) konnten. Zur Begründung wird die Tatsache angeführt, dass sie gläubig und von Gott und doch sicher auch von ihren Mitchristen geliebt sind und sich der Wohltätigkeit befleißigen. Christliche Bruderliebe wird also ebenso erwartet wie das Anerkennen der Erleichterungen, die christliche Sklavenhalter ihren Sklaven (hoffentlich!) zukommen ließen. Zu erwägen wäre, ob mit οἱ τῆς εὑεργεσίας ἀντιλαμβανόμενοι nicht gemeint sein könnte: „die an der (durch Christus geschehenen) Wohltat Anteil haben“. Die schon bekannte Formel bildet einen deutlichen Abschluss der Weisungen für den Umgang mit Gemeindegruppen.


IV

Unter veränderten sozialen Rahmenbedingungen hat sich das Problem der Beziehungen zwischen Christen, die sich im Beruf als Arbeitgeber und Arbeitnehmer gegenüber stehen, doch erhalten. Verbindendes und Trennendes, Miteinander und Gegenüber gibt es in der Beziehung der Tarifparteien, wenn auf beiden Seiten Christen sitzen. Müsste es dann nicht leichter sein sich zu einigen, wenn die Bereitschaft zu Solidarität und zu Verzicht auf persönliche Vorteile die Verhandlungspartner verbindet? Andererseits sind beide auch die Vertreter von Gruppeninteressen, die sie nicht einfach verraten dürfen. Das gemeinsame Christsein sollte die Verständigung erleichtern, wenn es auch nicht missbraucht werden darf, um den jeweils anderen zum Nachgeben zu zwingen.


14. Der Umgang mit dem Geld (1Tim 6,3–10)


I

3 Wenn einer anders lehrt, sich nämlich nicht zu den gesunden Worten unseres Herrn Jesus Christus und zu der der Frömmigkeit entsprechenden Lehre wendet, 4 der ist aufgeblasen und versteht nichts, sondern krankt an Auseinandersetzungen und Wortgefechten, woraus Neid, Streit, Verleumdungen, üble Verdächtigungen, 5 Reibereien von Menschen entstehen, die hinsichtlich des Verstandes verdorben und der Wahrheit beraubt sind, die[nämlich] meinen, die Frömmigkeit sei eine Erwerbsquelle. 6 Die Frömmigkeit ist aber in Verbindung mit Genügsamkeit ein großer Erwerb.

7 Wir haben nämlich nichts in die Welt hineingebracht,
deshalb können wir auch nichts hinausbringen.

8 Wenn wir aber Lebensunterhalt und Kleidung haben,
wollen wir uns damit begnügen.

9 Die jedoch reich sein wollen, fallen in Versuchung und Schlinge und viele unsinnige und schädliche Begierden, die die Menschen in Verderben und Untergang versenken. 10 Denn die Wurzel aller Übel ist die Geldgier, nach der trachtend einige vom Glauben abgeirrt sind und sich selbst mit vielen Schmerzen durchbohrt haben.


II

Noch einmal Hinweis und Mahnung im Blick auf die Irrlehrer. Wie ernst die Lage war, macht dieser „rote Faden“ des Briefes deutlich. Der Verfasser steuert nun merklich auf den Schluss seines Briefes zu. Er wird Timotheus noch einige grundsätzliche Dinge sagen, wobei sich der Horizont mehr und mehr auf die erwartete Wiederkunft Jesu richtet (6,14.19) und überhaupt eschatologische Themen in den Vordergrund treten.

In V. 4b haben wir es mit einem Lasterkatalog zu tun, V 7f bringt ein Zitat, das zwar inhaltlich verschiedene Paralellen in der atl. und jüdisch-hellenisti-schen Literatur (etwa Hi 1,21; Koh 5,14 [beide sind im NT graece am Rand vermerkt], aber auch bei Philo, SpecLeg I 295) und in stoischen Schriften hat (Seneca, Ep. 102,24f). Ob Paulus sich hier auf eine der genannten Stellen bezieht und wenn ja auf welche, lässt sich überhaupt nicht sagen.

Jukka Thurén hat gezeigt, dass und inwiefern diese Verse einen gewichtigen Teil des Briefs darstellen. Die innere Struktur und Logik des Abschnitts analysiert er so:

Mahnung
Warnung
2b Z[usammenfassung]
3–10
11a Z
11–19
20a Z
20b–21a

Sie ist nach seiner Auffassung „keineswegs chaotisch, durch Umstellungen und Interpolationen entstellt, sie ist vielmehr raffiniert.“


III

3 6,3–10 sowie 17–19 befasst sich substanziell mit dem Hauptthema des letzten Kapitels. Erneut und nun mit Vehemenz wendet sich der Blick in einer kasuistischen Formulierung (εἴ τις) denen zu, die anders lehren, also den schon eingangs (1,3.6f) erwähnten Irrlehrern und ihren Anhängern in der Gemeinde. Deutliche Worte findet der Apostel für sie – möglicherweise menschlich zu erklären durch sein zunehmendes Alter, in dem er Rücksichtnahme nicht mehr nötig hat und manches aufgrund von gemachten Erfahrungen klarer sieht. Die Indienstnahme durch Gottes Geist schließt ja (wie Burkhardt anhand der Inspirationslehre Philos gezeigt hat) den menschlichen, auch charakterlichen Anteil nicht aus, sondern ein.637 Freilich hatte er es auch schon viel früher nicht an klaren Aussagen fehlen lassen: Im Galaterbrief hatte er seinen Gegnern vorgeworfen, sie verkündigten ein „anderes Evangelium“ (Gal 1,6f; vgl. 2Kor 11,4). Im 2Kor nannte er seine Gegner „Lügenapostel“ (11,13) und sprach von „falschen Brüdern“ (11,26; Gal 2,4). Und die Verfluchung, die er 1Kor 16,22; Gal 1,8f über seine Konkurrenten ausspricht, war gewiss nicht harmlos gemeint. Deutlich ist: Es ging nicht um lebensferne, theoretische Wortklaubereien, sondern um elementare, existenzielle Auseinandersetzungen um alles oder nichts. Insofern haben wir es mit dem Begriff des ἐτεροδιδασκαλεῖν der Sache nach nicht mit etwas für Paulus Neuem zu tun.

Worum geht es inhaltlich? Anders lehren wird erläutert durch eine angefügte explizierende Konstruktion. „Richtig lehren“ heißt demnach: die unverfälschte, verbindliche Jesus-Tradition (konkret: die von Jesus überlieferten Reden, Worte und Berichte) und die Lehre des die Gemeinden verbindenden Glaubens zum Gegenstand der Beschäftigung machen – und nicht z.B. die Mythen und Genealogien (1,4!). προσέρχεσθαι kann im religiösen Gebrauch auch das (kultische) Hintreten zu einer Gottheit meinen.

Welches Gewicht diese Überlegungen für den Apostel haben, zeigt die ausführliche Titulatur: von unserem Herrn Jesus Christus spricht er. Heidenchristen verstanden darunter den Weltenherrn, Judenchristen dachten an den Messias Israels. Für die ganze Menschheit aus Juden und Heiden meint Paulus Jesus, den Menschen(sohn) aus Nazareth.

4 Eine Diagnose solcher Menschen schließt sich an: Wer das nicht tut, ist aufgeblasen (τετύφωται) und versteht nichts (nämlich von der gesunden christlichen Lehre). Zu dieser Kombination von benebelnder Selbstüberschätzung (τυφόω bedeutet ursprünglich „benebeln“) und Unverständnis passt die Vorliebe für Auseinandersetzungen und Wortgefechte (ζητήσεις καὶ λογομαχίας). Damit sind vermutlich gelehrt-intellektuelle Diskussionen über aktuelle, religiöse oder philosophische Streitfragen gemeint, aus denen (wie der anschließende Lasterkatalog zeigen soll) nur Nachteile im Blick auf die Beziehungen folgen. Denn Neid, Streit, Verleumdungen, üble Verdächtigungen verursachen Beziehungskonflikte bzw. sind deren Folge. Fragen des Einkommens standen ja vorher schon zur Debatte (Kap. 5). In einem Klima des Misstrauens, wenn einige meinen, sie kämen zu kurz, gedeihen Verdächtigungen, als deren Folge Verleumdung (φθόνος) und daraus dann Streit (ἔρις) vorzüglich.

Will Paulus die denkerische Beschäftigung mit Fragen des christlichen Glaubens unterbinden? Sicher nicht, zumal er selbst sich in seinen Briefen intensiv mit ihnen auseinander gesetzt hat. Es geht ihm wohl um die Motivation solcher Beschäftigung, die dann ja häufig auch das Ergebnis mit bestimmt: Wurzelt sie in ernsthafter Betroffenheit oder Anteilnahme oder ist sie nur Mittel zum Zweck der Selbstdarstellung? Das ist aber noch nicht alles. V. 5 vervollständigt das Bild solcher Menschen:

5 Paulus bezeichnet sie als hinsichtlich des Verstandes verdorben und der Wahrheit beraubt und meint damit wohl eine korrumpierte Art zu Denken und das Fehlen einer Lebensmitte, von der her sich die Dinge der Welt (ein-)ordnen lassen. Beide Linien, die des vernünftigen Denkens und die der Wahrheit im Sinne einer weltanschaulich-religiösen Lebensmitte, werden nun im Folgenden entfaltet. Solche Leute täuschen sich nämlich, wenn sie meinen, die Frömmigkeit sei eine Erwerbsquelle (πορισμός), man könne also durch sie Geld verdienen. Offenbar verband sich bei seinen Gegnern in Ephesus (nach Art der griechischen Sophisten) die falsche Lehre mit dem Versuch, ihre Erkenntnis der Gemeinde im doppelten Sinn des Wortes zu verkaufen. Übrigens äußert Paulus in 2Kor 2,17 denselben Gedanken, dort allerdings mit dem Hapaxlegomenon καπηλεύειν ausgedrückt und auf eine größere Anzahl (οἱ πολλοί) bezogen.

6–8 Allerdings bedeutet die Frömmigkeit, also die geordnete Gottesbeziehung, einen Gewinn, sofern sie nämlich mit Blick auf das Materielle mit Genügsamkeit verbunden ist. Anders herum gewendet bedeutet das: Wer seine Gottesbeziehung zu barer Münze machen möchte (wie es etwa die Philosophen mit ihren Lehren taten, aber im Grunde auch Simon Magus Apg 8,18ff), ist auf dem Holzweg. Εὐσέβεια galt auch den Stoikern als eine Tugend. Paulus scheut sich nicht, ihr sprachliches Material zu verwenden. Die beiden folgenden Verse (7f) klingen denn auch wie eine Mischung aus atl.-weisheitlichem und griechisch-stoischem Denken.

Wir haben nämlich nichts in die Welt hineingebracht,
deshalb können wir auch nichts hinausbringen.
Wenn wir aber Lebensunterhalt und Kleidung haben,
wollen wir uns damit begnügen.

Beide Sätze entspringen der Lebensweisheit (vgl. Hi 1,21!) und zielen auf Zufriedenheit mit dem ab, was man hat, mit dem status quo. Ein Unterschied zwischen Gemeindegliedern und Nichtchristen wird nicht gemacht. Im Bereich des Natürlich-Kreatürlichen ist die Verwandtschaft zwischen ihnen groß, wie wohl auch Paulus lernen musste.

Ganz anders dagegen jene, die dem nicht folgen wollen:

9f Auch hier schwingt weisheitliches Denken mit. So redet einer mit großer Lebenserfahrung, der den Weg von Leuten beobachtet hat, die reich sein wollen. Die Geldgier ist für ihn die Wurzel aller Übel. Sogar für den Glauben kann sie tödlich sein. Das Bild von der Wurzel, aus der Negatives heraus wächst und dies dann üble Auswirkungen hat, finden wir auch in Hebr 12,15, wo Deut 29,17 zitiert wird. In beiden Texten, 1Tim und Hebr, geht es um die Gefahr für das Ganze, nämlich für die Gemeinde, von einem einzelnen, irregeleiteten Mitglied ausgehen kann. Strobel denkt daran, „dass sich kein Glied der Gemeinde in Verbitterung abkehrt, um schließlich zum gemeinschaftsstörenden Unruhefaktor zu werden“ sowie an „eine heimliche Neigung zum Separatismus“.


IV

Der Abschnitt 1Tim 6,6–11 ist in der 6. Reihe Predigttext am 1. Mai, dem “Bittag für gesegnete Arbeit”. Ist es möglich, dass Christen trotz ihrer Einbindung in die gottferne, gottlose und deshalb meist am eigenen Vorteil orientierten Welt eine „Kontrastgesellschaft“ vorleben, die auch das Verhältnis von Arbeitgebern und Arbeitnehmern einschließt? Zwar konnte der Abschnitt in der Vergangenheit leider oft einseitig zum Niederhalten der Arbeitnehmerschaft missbraucht werden; für das biblische Wort typisch ist aber, dass er beide Tarifpartner im Blick hat. Wichtig ist, seine Mahnungen nicht nur der jeweils anderen Seite vorzuhalten, sondern sie selbst zu praktizieren, ohne Rücksicht auf Verluste.


15 Warnung und Ermutigung an Timotheus (1Tim 6,11–16)


I

11 Du aber, Mensch Gottes, fliehe dies!
Verfolge aber Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Glauben,
Liebe, Geduld, Gelassenheit.
12 Kämpfe den guten Wettkampf des Glaubens,
nimm das ewige Leben in Empfang, im Blick auf das du berufen bist
und das gute Bekenntnis abgelegt hast
vor vielen Zeugen.

13 Ich befehle [dir] vor Gott, der allem das Leben gibt, und Christus Jesus, der zur Zeit des Pontius Pilatus das gute Bekenntnis bezeugt hat, 14 dass du bis zum Erscheinen unseres Herrn Jesus Christus den Auftrag unbefleckt, unantastbar bewahrst, 15 das zu seinen eigenen Zeiten zeigen wird

der glückselige und einzige Herrscher,
der König derer, die als Könige regieren,
und Herr derer, die herrschen,
16 der Einzige, der Unsterblichkeit hat,
der unzugängliches Licht bewohnt,
den kein Mensch gesehen hat und nicht sehen kann:
dem [sei] Ehre und ewige Macht, Amen.


II

Das betonte σὺ δέ markiert deutlich einen Einschnitt im Gedankengang: Paulus wendet sich vom falschen Verhalten ab und kommt auf das Gegenteil (2-mal καλός in V. 12!) zu sprechen. Es folgen Anweisungen zu richtigem, angemessenem Verhalten unter eschatologischem Aspekt, die dann (wie auch sonst gelegentlich bei Paulus) in Anbetung übergehen. Zwei vermutlich traditionelle Stücke (11f und 15f), aus 7 bzw. 6 Zeilen bestehend, sind integriert.


III

11 Mit direkter Anrede wendet sich der Apostel an seinen Schüler. 6,11 korrespondiert im Briefrahmen mit 1,11, wo der Apostel als der mit der Mission Beauftragte in den Mittelpunkt trat. Hier nun ist es Timotheus, der „Organisator“ der Mission in Epheus. Paulus geht damit also zum positiven, richtigen Verhalten über: Du aber, Mensch Gottes, fliehe dies! Ähnlich formuliert er 2Tim 3,10.14 u.ö. und spricht dann 3,17 ebenfalls vom θεοῦ ἄνθρωπος. Dort fehlt allerdings der gehobene, fast poetische sprachliche Stil, den 1Tim 6,11f aufweist. Der Begriff ἄνθρωπος (τοῦ) θεοῦ selbst (hebr. אִישׁ אֱ‍ֽלו̇הִים), im AT ein Ehrentitel, begegnet uns bereits in der LXX, ist also keine Neuschöpfung. Er wird dort für Samuel (1Sam 9,6) und Mose (z.B. Deut 33,1) gebraucht, also für starke Gestalten im Volk Gottes. Überträgt Paulus ihn hier und 2Tim 3,17 auf Timotheus, und zwar nur auf ihn, ermutigt er ihn dadurch für seinen ebenso schwierigen und wichtigen Dienst.

Zugehörigkeit zu Gott ist mit den zuvor abgehandelten Verhaltenweisen (ab 6,3 oder schon vorher?) nicht in Einklang zu bringen. „Fliehen“ heißt ja: mit bewusstem Entschluss von etwas Abstand nehmen, „verfolgen“ (διώκειν) dagegen: sich einer Sache annähern, sie erstreben. Auch Letzteres gehört zum sprachlichen Inventar der Stoa und bezeichnet das Streben nach sittlichen und religiösen Haltungen, Gütern und Zielen.644 Die genannten Tugenden gehören mit Ausnahme von εὐσέβεια (das außerhalb der Pastoralbriefe nur bei Lukas, und zwar im Mund des Petrus, und im 2Petr vorkommt) und dem Hapaxlegomenon πραϋπαθία allesamt zum geläufigen paulinischen Sprachmaterial. Zwar beschreibt Paulus mit Gerechtigkeit sehr häufig die durch Christus neu geschenkte Gottesbeziehung; er weiß aber auch, dass diese Neuschöpfung den Menschen vor eine Aufgabe stellt, nämlich mit seinem Verhalten bei der Durchsetzung der Gerechtigkeit gegenüber der Macht der Sünde mitzuhelfen. Wie sonst könnte er von den „Waffen der Gerechtigkeit“ sprechen (Röm 6,13; 2Kor 6,7; vgl. Eph 6,14)? Gemeint ist wohl (in Anlehnung an den atl. Gebrauch) ein Verhalten, das dem (bei der Taufe) mit Gott geschlossenen Bund entspricht zu Frömmigkeit vgl. oben zu 1Tim 2,2!) Dass der Glaube eine tragende Grundwirklichkeit im Leben des Timotheus ist, hatte der Apostel schon eingangs 1,2 gesagt. Als solcher bestimmt er die Existenz, somit auch das Verhalten in der Lebenswirklichkeit. Auch hier schließt sich also ein thematischer Kreis.

Neben diese erste, mehr auf das Gottesverhältnis als Gestaltungselement christlichen Lebens abzielende Trias stellt Paulus eine zweite, die eher den Umgang mit den Menschen im Blick hat: Liebe, Geduld, Gelassenheit. Liebe hatte er als „Ziel der (in diesem Brief vorgelegten) Weisung“ bezeichnet (vgl. zu 1,5!). Geduld (im 1Tim nur in diesem geprägten Abschnitt) zielt auf das Durchhalten christlichen Glaubens und Lebens auch unter den schwieriger werdenden Bedingungen der neronischen Spätzeit, als sich die Wolken bereits drohend über der jüdischen ebenso wie der christlichen Glaubensgemeinschaft zusammenzogen, um sich alsbald etwa zeitgleich über beiden zu entladen: über den Juden im jüdischen Krieg, über den Christen in ersten regionalen Verfolgungswellen. In diese Richtung weist die Ermahnung zu Gelassenheit, einer Haltung, „die Unrecht ruhig hinzunehmen vermag“.

12 Auf Verben der Bewegung, die eine feindliche Auseinandersetzung beschreiben (φεύγειν/διώκειν) folgt das Bild des (sportlichen) Wettkampfs (ἀγωνίζου) in einem Satz, der Tausende Christen als Konfirmationsdenkspruch durch ihr Leben begleitet: Kämpfe den guten Wettkampf des Glaubens. Paulus verwendet gern Bilder aus dem Sport (vgl. 1Kor 9,24–27; Phil 3,13f; 2Tim 4,7f). Im griechisch-hellenistischen Kulturkreis konnte er von unmittelbarem Verständnis ausgehen, weil sportliche Wettkämpfe weit verbreitet waren und erfolgreiche Athleten hohes Ansehen genossen. 2Tim 4,7 wendet der Apostel das Bild rückblickend auf die eigene Tätigkeit als Apostel an.

Dass die Nachfolge Jesu tatsächlich für den Menschen eigene Aktivität und Initiative bedeutet, war für Paulus keine Frage. So sehr der Glaube Gottes Gabe ist, nimmt er doch auch in die Pflicht und führt zu Anstrengungen, die abgenötigt (apologetisch) oder aus innerem Antrieb (missionarisch) erfolgen. Wie er es auch sonst gern tut (vgl. etwa 1Kor 12,12–26), dreht er das einmal aufgegriffene Bild in andere Richtung: nimm das ewige Leben in Empfang, nämlich als Preis für den, der den Wettkampf erfolgreich abgeschlossen hat. Vom Motiv her wendet er den Gedankengang damit in Richtung auf die Eschatologie. In dem Wort ἐπιλαβοῦ648 kommt schön der doppelseitige Charakter des Erlösungsvorgangs zum Ausdruck, fasst doch einerseits das Verb λαμβάνειν treffend „das Verhältnis des Menschen zu Gott als das des Beschenkten zum Schenkenden“ ins Auge, während andererseits im Kompositum ἐπιλαμβάνομαι die Bedeutung von „sich aneignen“ sinnbestimmend ist. Die Nebensätze nehmen diese Ambivalenz auf, indem sie den Empfang des ewigen Lebens sowohl auf Gottes Berufung (passivum divinum!), als auch auf das annehmende Bekenntnis des Timotheus (bei seiner Taufe)651 beziehen. Der gute Wettkampf und das gute Bekenntnis sind deutlich aufeinander bezogen. Der eine gibt den äußeren Rahmen ab, das andere bestimmt das Verhalten von innen her. Bekennen (ὁμολογεῖν) meint eigentlich etwas, das man „gemeinsam sagen“ kann. Das Bekenntnis einer Gemeinde war der Glaubens-Inhalt, über den Übereinstimmung bestand und an dem z.B. bei Taufen neue Mitglieder gemessen wurden.

13 In gehobenem Stil (mit zwei parallelen prädikativen Partizipialkonstruktionen) knüpft Paulus seine persönliche Ermahnung an. Wo er sonst wohl παρακαλεῖν oder παραινεῖν verwendet hätte, findet hier erneut (wieder als inclusio) der in 1,3.5 bereits programmatisch (siehe dort!) eingeführte Wortstamm παραγγέλ- Anwendung. Gesteigert wird der Ernst durch die fast beschwörende Bezugnahme auf Gott, und zwar in dessen Funktion als Schöpfer, und den Christus Jesus in dessen Funktion als Erlöser. Konkret besteht ein Zusammenhang zwischen der (individuellen) Annahme des ewigen Lebens (V. 12) und dem Gott, der allem Leben gibt, desgleichen überdeutlich zwischen dem guten Bekenntnis des Timotheus und dem des Christus vor Pontius Pilatus. Gut ist das Bekenntnis dort wie hier, weil es mit Gottes Willen in Einklang steht.

14 Jetzt erst wird der Befehl ausgesprochen: Es geht (das Bild des Wettkampfs wieder aufnehmend) um das Bewahren des empfangenen Auftrags (so übersetzen wir ἐντολή hier) bis zum „Zieleinlauf“, der Wiederkunft Jesu. Das Stichwort ἐπιφάνεια (im 1Tim nur hier!) spielt in der Christologie der Pastoralbriefe, in denen es fünfmal vorkommt, eine gewisse Rolle. Die ursprüngliche Bedeutung des Wortstammes φαν- bezieht sich auf etwas, das „scheint“ oder „leuchtet“, eine Vorstellung, die den Theophanien des AT und den Christophanien des NT angehört. Stettler geht in ihrem umfangreichen Exkurs zu dem Begriff von der seit Deißmann geläufigen Meinung aus, ἐπιφάνεια gehöre zu den Termini, die „die christliche Botschaft hellenistisch bzw. mit Gedanken aus dem Kaiserkult überfremden.“ Dies hält Stettler (wie sie zeigt, mit Recht) für bedenklich. „Die Wortgruppe ἐπιφαν- tritt im NT (wie schon im AT) immer in soteriologischem Kontext auf, nicht für Offenbarung im allgemeinen. … Nicht zufällig sind die beiden Wurzeln (ἐπι)φαν- und σωτ- in den Past oft eng miteinander verbunden: vgl. 2 Tim 1,9f; Tit 2,11.13;3,4. … die entsprechende Terminologie ist auf Jesu heilvolles Kommen in die Welt (…) und seine Wiederkunft zum Gericht beschränkt; sie ist also in den Dienst einer heilsgeschichtlichen Konzeption gestellt.“ Für Marshall ist ἐπιφάνεια in den Pastoralbriefen „the appearance of the previously hidden divine figure who already existed“. Das ἐπιφάνεια-Schema habe der Verfasser der Briefe – ein jüdisch-hellenistischer Christ (wie ja auch Paulus einer war!!) – selbst entwickelt und sich dieser Terminologie bedient, weil seine Leser dies unmittelbar verstehen würden. Ein hellenistisches Missverständnis der Epiphanie Jesu als einer Apotheose nach dem Stil hellenistischer Göttergeschichten wird vermieden, indem das Wort ἐπιφάνεια bereits auf die Inkarnation Jesu angewandt ist und nicht erst auf die Wiederkunft. „Der Verfasser hat mit ἐπιφάνεια κτλ. eine Wortgruppe gefunden, die es ihm erlaubt, das Christusgeschehen umfassend zum Ausdruck zu bringen.“

15a Die Begrifflichkeit ist immer noch stark heilsgeschichtlich-eschatologisch bestimmt. Auch die καιροί gehören dazu, bezeichnen sie doch die von Gott bestimmten, also die ihm „eigenen“ Zeitpunkte (ähnlich Gal 6,9, dort freilich im Singular, und 1Tim 2,6, ebenfalls in einem Traditionsstück, in eschatologischem Zusammenhang und in Verbindung mit dem Stichwort ἀποκαλυφθῆναι sowie Tit 1,3). Paulus rechnete, als er 1Tim schrieb, offenbar durchaus bereits mit einem längeren Zeitraum bis zur Wiederkehr Christi (vgl. 4,1).

1 15b.16 Beim Gedanken an die Größe Gottes geht der Apostel wie auch sonst gelegentlich (z.B. Röm 11,33–36) unvermittelt zu Lobpreis und Anbetung im prädikativem Stil über und greift dabei vielleicht erneut auf traditionelles Gut der frühen christlichen Gemeinden zurück. Begriffe, die ein Herrschen bezeichnen, bestimmen nun das Bild: Gott ist δυνάστης, und zwar mehr als alle vergleichbaren irdischen Autoritäten (15bcd), denn er allein besitzt Unsterblichkeit und existiert ganz im Licht, ist nicht einmal menschlichen Augen zugänglich (16). Der Akzent liegt auf der Abgehobenheit Gottes, wie der für unsere Ohren „süßliche“ Begriff glückselig (μακάριος) zeigt: Bezeichnete er doch ursprünglich „den (überirdischen) Zustand der Götter wie auch von Menschen, die sich eines außergewöhnlichen Glücks erfreuen“, z.Zt. des Aristophanes (5. Jh. v. Chr) „die Reichen, die durch ihren Wohlstand über die gewöhnlichen Sorgen erhaben sind.“ Die übrigen Herrscherbezeichnungen stellen eine Steigerung von Machtfülle dar: δυνάστης konnte auch der äthiopische Finanzminister genannt werden (Apg 8,27), βασιλεῖς gab es immerhin viele, κύριος war eigentlich die Bezeichnung für den, der die Welt beherrschte, im Römischen Reich also allen voran für den Kaiser. Die zur Allgegenwart des Kaiserkults gerade in Kleinasien in Widerspruch stehende Verehrung Gottes als des Königs schlechthin machte das Gebet nicht zum Kaiser und seinen Vertretern, aber doch für sie nötig. Die „Leichtigkeit“, die Einzigkeit und die Erhabenheit Gottes wird hier gepriesen.

Neben diese bei allem Respekt doch noch immanent erreichbare Größe stellt der Apostel in V. 16 Eigenschaften, die nicht mehr von dieser Welt sind. Die Einzigkeit (μόνος) wird dabei erneut (V. 15b) betont. Wurde in V. 15 mit Titeln gearbeitet, die ein Sein beschreiben, so hier mit Partizipialkonstruktionen, die etwas ausdrücken, was einer hat, was zu seinem Wesen gehört: Unsterblichkeit ist dem Menschen von Natur aus gerade nicht zu eigen (1Kor 15,53f), sondern Gott, weil das Sterben-Müssen die selbstverständliche Konsequenz menschlichen Sündigens ist (Röm 6,23). Desgleichen ist Gott einer, der unzugängliches Licht bewohnt und den deshalb kein Mensch gesehen hat und nicht sehen kann. Das AT (z.B. Ex 19,21) und die jüdisch-hellenistische Tradition wussten um Gottes Unzugänglichkeit (Philo, VitMos 2,70; Josephus, Bell 7,280; Ant 3,76). Das Licht hat die Menschheit schon immer fasziniert und hat in manchen Religionen dazu geführt, Gott mit dem Licht oder den Lichtquellen, z.B. der Sonne oder dem Gewitter, zu identifizieren (polemisch dagegen etwa Hi 31,26–28). Auch in Israels Glauben spielt es eine wichtige Rolle, wird aber ausdrücklich als gottgeschaffen bezeichnet (Gen 1,3f). Sein Strahlenglanz ist Bestandteil von Gottes Umgebung (Ps 104,2), weshalb das Licht bei Theophanien im AT (Ex 19,16; Hi 41,10) und bei den Auferstehungsberichten und bei Christophanien im NT bedeutungsvoll ist (vgl. etwa Mt 28,3; Apg 9,3; 1Petr 2,9; 1Joh 1,5; Jak 1,17; Offb 21,23). Möglicherweise nicht zufällig berichten in der Gegenwart Menschen, die nach klinischem Tod reanimiert wurden, von einem strahlenden, und doch warmen Licht, auf das hin sie wie in einem Sog in Bewegung waren.

Dass man Gott nicht sehen kann, stellt erneut eine inkludierende Klammer vom Anfang des Briefes (1,17) zu seinem Schluss her. Gottes „Unsehbarkeit“ ist im AT ein festes Motiv (Ex 33,20; 1Kön 19,13f; anders Jes 6,5). Ins NT hat dieser Sachverhalt ebenfalls Eingang gefunden (vgl. vor allem Joh 1,18). Auch Paulus selbst spricht im Bericht über seine Paradiesvision 2Kor 12,2ff nicht davon, dass er Gott gesehen habe. Das gerade unterscheidet Israels Gott ja von den Göttern der Heidenvölker, dass er unsichtbar ist und bleibt, das heißt letztlich: dass er auf Glauben aus ist.

Der Sechszeiler endet mit einer relativisch angeschlossenen, das Ganze bündelnden und auf die Spitze treibenden anbetenden Zeile, die (wie auch sonst bei Paulus) in den Amen-Ruf mündet.


IV

1Tim 6,11–16 ist Predigttext der 2. Reihe bei der Konfirmation. Kein Wunder, liegt es doch bei diesem Ereignis nahe, die zu Konfirmierenden zu einem Leben zu ermuntern, das ihrem nun unmittelbar bevorstehenden Versprechen entspricht. Stehen wir dann Jahrzehnte später an den Gräbern derer, die diese Worte mitbekommen und mitgenommen haben, so ergibt sich im Rückblick oft ein spannungsreiches Bild. Wurde der „Wettkampf des Glaubens“ an- und aufgenommen? Standen Hindernisse im Wege?

Ein schöner Briefschluss! Aber der Brief geht erstaunlicherweise weiter, zurück noch einmal in die „Niederungen“ der Beziehungsprobleme der Gemeinde:


16. Mahnung an die Reichen (1Tim 6,17–19)


I

17 Den im jetzigen Äon Reichen befiehl, dass sie nicht nach hohen Dingen trachten und nicht auf die Unsicherheit des Reichtums ihre Hoffnung setzen, sondern auf Gott, der uns alles reichlich zum Genuss gewährt, 18 wohltätig sein, reich sein in guten Werken, freigebig sein, gemeinschaftsmäßig. 19 Dadurch sammeln sie sich Schätze als gute Grundlage für die Zukunft, damit sie das wahre Leben empfangen.


II

(Auch) in anderen Paulusbriefen findet sich am Ende eine mehr (Röm 16,25–27) oder weniger (2Kor 10,1ff) knappe Zusammenfassung des wichtigsten Briefinhalts, vielleicht aus des Apostels eigener Hand (Gal 6,11–17). Auch in früheren, zweifellos „echten“ Briefen hatte Paulus schon die Unaufgebbarkeit „seines“ Evangeliums betont (z.B. I Kor 15,1f; Gal 1,6–9). Kein Wunder, wenn er seinen Schüler in einer Spätschrift, als er um den Bestand seiner Arbeit bangen musste, mit umso mehr Entschlossenheit ermahnt daran festzuhalten.


III

17 Haben wir das eben zu V. 15 Gesagte noch im Kopf, so fällt der Schritt zu den im jetzigen Äon Reichen nicht ganz so schwer. Mit ἐν τῷ νῦν αἰῶνι, einer nur in den Pastoralbriefen vorkommenden Formulierung, ist ja nicht nur die zeitliche Ebene gemeint („solange diese Weltgeschichte abläuft“). Es ist auch an die beiden Sphären gedacht, die der Menschen und die Gottes, welchletztere die Menschen von sich aus nie erreichen können, eben weil es nicht um eine „nur“ geografische Trennung geht (vgl. V. 16). Sie, die meinten, ungefährdet über allem zu stehen, werden an den verwiesen, der unerreichbar auch über ihnen steht. Reichtum drückte sich damals vor allem in Grundbesitz aus, wenn auch „für die damaligen Verhältnisse … schon als reich gelten [konnte], wer genug zu essen hatte, gut gekleidet war und unter angenehmen Bedingungen wohnte.“

Noch einmal soll Timotheus befehlen und dabei eine klare Alternative aufstellen: Nicht nach hohen Dingen trachten sollen sie und nicht auf die Unsicherheit des Reichtums ihre Hoffnung setzen, sondern auf Gott. Das Motiv des „nach oben hin Denkens“ (τὰ ὑψηλὰ φρονεῖν) verwendet Paulus auch Röm 12,16 und der Sache nach auch Röm 12,3 (μὴ ὑπερφρονεῖν), an allen Stellen mit der Absicht, die Gemeinschaftlichkeit der Gemeinde zu sichern, hier mit dem deutlichen Akzent auf dem materiellen Besitz als möglichem Hindernis. Denn auf die Unsicherheit des Reichtums die Hoffnung setzen oder auf Gott, das ist eine Alternative, auf die schon Jesus hinwies (Mt 6,24–34). Hinter diesem Trachten nach Materiellem steht, bewusst oder unbewusst, die Überzeugung, Gott wolle seine Leute „kurz halten“. Dem widerspricht der Apostel deutlich: Gott gibt uns alles reichlich (πλουσίως). Der Kirchenvater Augustinus hat in dieser Spur Jahrhunderte später seine gesamte Glaubenslehre auf den Zweiklang von uti (sich einer Sache bedienen, weil man sie zum Leben braucht) und frui (sich an etwas erfreuen, weil es wirkliche Erfüllung bietet) gestimmt.

18f Immer noch ist die Aufforderung παράγγελε der Bezugspunkt des Satzes. Auf die verneinten Infinitive folgen nun Anweisungen, wie die Reichen sich positiv einbringen können. Paulus dreht die Stichworte, die die Reichen charakterisieren, so, dass sie ihnen den Weg weisen, ihre materiellen Möglichkeiten in Wohltätigkeit umzusetzen. Wohltätig sein (ἀγαθοεργεῖν) kommt im NT nur noch in einer Paulusrede in Apg 14,17 vor, wo es von Gott gebraucht wird, der auch die Heiden durch seine „Wohltätigkeit“ versorgt. Die Reichen erhalten durch ihre Wohltätigkeit Anteil an der Sorge Gottes für seine Menschen. Reich sein bekommt einen positiven Klang, wenn es mit einer reichen Liebestätigkeit einher geht. Wie die beiden ersten, so ergänzen und erklären sich auch die beiden nächsten Begriffe: als freigebig und gemeinschaftsmäßig (wir würden sagen: „sozial“) sollen sie sich erweisen, beides Verhaltensweisen, die man nicht nur bei Wohlhabenden nicht häufig findet. Κοινωνία eine der tragenden Säulen der Christenheit damals und heute, zeigt sich und ist angewiesen auf das gemeinschaftsgemäße Verhalten der Einzelnen. Die Wurzeln solchen Denken reichen bis tief ins AT.

Vom „Schätzesammeln“ im Himmel hatte schon Jesus gesprochen (Mt 6,20). Für Paulus entsteht dadurch eine gute Grundlage für die Zukunft. Die „Einnahme“ im Leben, die wirklich zählt, weil sie Wert für die Ewigkeit hat, ist das wahre (gemeint ist: das bleibende, das ewige) Leben (vgl. V 12!). Dieses Thema („Leben“) spielt im 1Tim doch eine Rolle: 1,16 nennt es der Apostel im Zusammenhang mit seiner eigenen Biographie als Ziel des Glaubens; 4,8 in einem zentralen Abschnitt über die Aufgabe des Timotheus und in indirektem Zusammenhang mit den Irrlehrern als der Frömmigkeit gegebene Zusage; 6,12 im Hymnus als durch christliches Leben zu ergreifendes Ziel; 6,19 schließlich als Zielvorgabe auch für die Reichen.


17. Briefschluss (1Tim 6,20–21)


I

20 Timotheus, bewahre das Anvertraute und geh dem ungeistlichen Geschwätz und den Antithesen der zu Unrecht so genannten „Erkenntnis“ aus dem Weg, 21 zu der sich einige, die hinsichtlich des Glaubens auf Abwege geraten sind, sich bekennen. Die Gnade sei mit Euch.


II

(Auch) in anderen Paulusbriefen findet sich am Ende eine mehr (Röm 16,25–27) oder weniger (2Kor 10,1ff) knappe Zusammenfassung des wichtigsten Briefinhalts, vielleicht aus des Apostels eigener Hand (Gal 6,11–17). Auch in früheren, zweifellos „echten“ Briefen hatte Paulus schon die Unaufgebbarkeit „seines“ Evangeliums betont (z.B. 1Kor 15,1f; Gal 1,6–9). Kein Wunder, wenn er seinen Schüler in einer Spätschrift, als er um den Bestand seiner Arbeit bangen musste, mit umso mehr Entschlossenheit ermahnt daran festzuhalten.


III

20f Mit einer dringlichen Aufforderung wird in direkter Anrede und unter Namensnennung der Briefschluss eingeleitet. Gal 3,1 hatte der Apostel die Galater in großer Sorge um sie ähnlich „dramatisch“ im Vokativ mit emphatisch vorgestelltem ὦ angesprochen. Noch einmal steht die Sorge im Vordergrund, der Schüler könnte das ihm von Paulus Anvertraute, die παραθήκη (sonst nur noch 2Tim 1,12.14) aufgeben und auf die Seite der Paulusgegner treten. Übrigens hatte der Apostel „seine“ Botschaft auch in früheren Briefen schon als unbedingt festzuhalten dargestellt (1Kor 15,1f; Gal 1,6–9). Die Gegner werden (wie in Kap. 1) nun noch einmal knapp charakterisiert, nämlich durch das, was sie (für Paulus) kennzeichnet (ungeistliches Geschwätz), und durch die Bezeichnung, die sie sich vermutlich selbst zugelegt haben (die zu Unrecht so genannte Gnosis). Erst jetzt, am Ende des Briefes, lässt Paulus „die Katze aus dem Sack“. Damit hat er hinsichtlich dieser Irrlehrer für uns spätere Leser den letzten Rest an Unklarheit beseitigt. Den ersten Lesern muss das längst klar gewesen sein. Ob allerdings wir und sie dasselbe damit verbanden, mag man fragen.

Ungeistlich (βεβήλους) meint das Profane im Gegensatz zu allem, was zu Gott gehört (vgl. 1,9). In der Gnosis als einer Intellektuellenreligion mögen hochgeistige, aber ganz ungeistliche Gedankengebäude eine wichtige Rolle gespielt haben. Leeres Geschwätz nennt derselbe Paulus, der doch immerhin der Auseinandersetzung mit Philosophen in Athen nicht aus dem Weg gegangen war, sondern sie gesucht hatte, so etwas. Immerhin haben diese Gedankengebäude einige Christen derart beeindruckt, dass sie im Blick auf den Glauben auf Abwege geraten sind. Gewiss lächeln wir heute über die antiken gnostischen Modelle – und fallen möglicherweise auf die „Gnosis“ des 21. Jahrhunderts herein! Was machte die Gnosis zum Problem? Sie bediente sich philosophischer Begriffe, die, wenn auch teilweise anders gefüllt, auch in den heiligen Schriften des Judentums und der frühen Christenheit zu finden waren. Sie konnte (wie später die „Deutschen Christen“) den Schöpfer- und Erhaltergott des AT nicht mehr mit dem Erlösergott des NT, dem Vater Jesu Christi, zusammen denken. Sie verharmloste die Sünde als Trennung von Gott und schlug einen anderen, für den Menschen weniger anstößigen Weg der Erlösung vor. Sie gab sich als „Kopf-Religion“, als Religion der Intellektuellen, und schuf dadurch zwangsläufig ein Zwei-Klassen-System unter den Menschen. Sie verließ (wie später die Aufklärung) die Geschichtlichkeit als Grundstruktur biblischen Denkens und entschwebte in höhere, allgemein-noetische Sphären. Aus diesen und anderen Gründen war sie für Christen damals eine große Verlockung, aber (laut Paulus) absolut inakzeptabel.

Die Gnade sei mit Euch. Der plötzliche Wechsel zur 2. Person Plural leuchtet nur ein, wenn es sich im 1Tim tatsächlich um ein Empfehlungs- bzw. Autorisierungsschreiben nach Art der Mandata-principis-Briefe handelt, das zwar an Timotheus gerichtet ist und in Anreden und Inhalten persönliche Färbung hat, aber doch von vornherein zur Verlesung vor der versammelten Gemeinde bestimmt war. Nur unter dieser Maßgabe ist auch das Fehlen eines Postskripts zu verstehen.

Mit Gnade wird erneut ein Stichwort vom Briefanfang (1,2) aus dem Abschnitt über die Wende im Leben des Paulus (1,12.14) aufgenommen.


IV

Die Sorge um das Lebenswerk war und ist bis heute ein typisches, besonders bei „Gründergestalten“ häufig zu beobachtendes Merkmal des Alters. Sie fürchten vielleicht mit Recht, die nachfolgende, manchmal von ihnen als geradezu nachdrängend empfundene Generation könne zerstören, was sie unter Mühen und Verzicht aufgebaut haben, und es könnten dabei ihre Grundsätze verloren gehen. Oft ist das Ergebnis solcher Gedanken, dass die Übergabe der Verantwortung so lange wie möglich hinausgezögert wird – der alte König David ist ein gutes biblisches Beispiel (1Kön 1). Tatsächlich ist es ja auch nicht leicht zu sagen, an welchen Punkten unbedingt am Weg der Vorgänger festgehalten werden muss und wo Anpassung an eine veränderte Zeit unabdingbar ist. Eine wichtige Kategorie ist die Unterscheidung von „Form“ und „Inhalt“, also von der Art und Weise, den Methoden der Darbietung einerseits und der „Sache selbst“ andererseits. Solange im Blick auf die inhaltliche Kernaufgabe und die Ziele der Arbeit Klarheit besteht, kann es m.E. in den Methoden eine große Weite geben – wobei natürlich der Inhalt auch die Methoden beeinflusst und deshalb ihre Auswahl mit bestimmt.









III. Verzeichnisse


1. Literaturverzeichnis

Kommentare werden mit Nennung von Autor und Seitenangabe zitiert, die übrige Sekundärliteratur mit dem Namen des Autors und evtl. abgekürztem Titel. Artikel aus Wörterbüchern und Enzyklopädien werden im Literaturverzeichnis nicht eigens aufgeführt. Für Abkürzungen konsultiere man S. Schwertner, Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete (Berlin ²1992, ³2014), sowie L. Coenen / K. Haacker, Theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament (Wuppertal 1997–2000) und H. Cancik, H. Schneider / M. Landfester, Der Neue Pauly (Stuttgart/Weimar 1996–2010).


Kommentare zum 1. Timotheusbrief

Brox, Norbert, Die Pastoralbriefe: 1 Timotheus, 2 Timotheus, Titus., RNT, Regensburg 51989
Dibelius, Martin, Die Pastoralbriefe, HNT 13, Tübingen 21931
Fee, Gordon D., 1 and 2 Timothy, Titus, New International Biblical Commentary (New Testament Series), Peabody/Carlisle 1995
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Holtz, Gottfried, Die Pastoralbriefe, ThHK 13, Berlin 51992
Jeremias, Joachim, Die Briefe an Timotheus und Titus, NTD 9,121981 [NTD]
Johnson, Luke Timothy, The First and Second Letters to Timothy, AncB 35A, New York 2001
Knight III, George William, The Pastoral Epistles. A Commentary on the Greek Text, NIGTC Grand Rapids 1992
Lock, Walter, A Critical and Exegetical Commentary on the Pastoral Epistles, ICC 13, Edinburgh 31952
Marshall, Ian Howard, The Pastoral Epistles, ICC, Edinburgh 1999
Merkel, Helmut, Die Pastoralbriefe, NTD 9/1,Göttingen 1991
Mounce, William D., Pastoral Epistles, WBC 46, Nashville 2000
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Roloff, Jürgen, Der erste Brief an Timotheus, EKK 15, Zürich/Neukirchen-Vluyn 1988
Schlatter, Adolf, Die Kirche der Griechen im Urteil des Paulus. Eine Auslegung seiner Briefe an Timotheus und Titus, Stuttgart 21958
Towner, Philip H., 1-2 Timothy & Titus, The IVP New Testament Commentary Series, Downers Grove/Leicester 1994


Weitere Literatur


Maier, G., Riesner, R., Schnabel, E. J., & Neudorfer, H.-W. (2018). Vorwort der Herausgeber. In G. Maier, H.-W. Neudorfer, R. Riesner, & E. J. Schnabel (Hrsg.), Der erste Brief des Paulus an Timotheus (3. Auflage, S. 1–236). Witten; Giessen: SCM R.Brockhaus; Brunnen Verlag.