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Hermeneutik

HERMENEUTIK

Man kann ohne Übertreibung sagen, dass die Entwicklung der Hermeneutik in den ersten Jahrhunderten der Kirchengeschichte von einer allmählichen Aufgabe der allegorischen Auslegung geprägt war, was letztendlich zu einem Triumph der normalwörtlichen Auslegung führte. Obwohl diese Entwicklung später immer wieder Rückschläge erlitt (insbesondere während des Mittelalters), gehörte die antiochenische Schule zu den wichtigen Gruppen in der Geschichte der Kirche, die diese fortschreitende Entwicklung unterstützten. Die Katechetenschule, im dritten und vierten Jahrhundert in Syrien gegründet, entwickelte eine systematische Hermeneutik, die darauf abzielte, die Ungereimtheiten der allegorischen Methode von Origenes und der alexandrinischen Schule aufzudecken.


HERMENEUTIK

Die alexandrinische Schule

Die alexandrinische Schule wurde vom jüdischen Ausleger Philo beeinflusst, der die allegorische Methode benutzte und ihr zum Durchbruch verhalf. Damit konnte er die anthropomorphen Darstellungen Gottes, d. h. die bildhafte Übertragung von menschlichen Eigenschaften auf Gott, in den Heiligen Schriften des Judentums wegerklären, die platonischen Philosophen so anstößig waren. Clemens von Alexandria, der Gründer der alexandrinischen Schule, übernahm Philos allegorische Methode als apologetischen Kunstgriff, um Bestandteile der Schrift wegzuerklären, die griechische Kritiker des christlichen Glaubens beanstandeten: anthropomorphe Darstellungen Gottes, frühisraelitische Ausdrücke, die für Empfindungen der Griechen anstößig waren, das niedrige moralische Niveau vieler Israeliten und die Ausrottung der Kanaaniter. Außerdem wollte er unter Beweis stellen, dass die christliche Theologie, die wahre Philosophie, mit der griechischen Philosophie vereinbar sei. So legte Clemens beispielsweise die beiden Fische bei der Speisung der Fünftausend allegorisch als Bild für die Verschmelzung der griechischen Philosophie mit der christlichen Theologie aus. Nach Clemens hat Gott dem Leser beim Herausfinden der wörtlichen Bedeutung eines biblischen Textes bewusst Hindernisse in den Weg gelegt, um den Verstand des Betreffenden aufzuwecken. Er solle die verborgenen Wahrheiten erkennen, die unter der Oberfläche des Textes vergraben seien. Indem er die allegorische Methode für sein apologetisches Anliegen benutzte, verfälschte er leider die Bedeutung der Schrift.

Origenes (254 gestorben), den einflussreichsten Lehrer der alexandrinischen Schule, zog es zur allegorischen Methode Philos, weil sie ihm gestattete, die Schrift mit dem Platonismus zu vereinbaren. Diese Vereinbarkeit war die grundlegende Voraussetzung, die seinem ganzen Denken zu Grunde lag. So wie Philo die allegorische Methode verwandte, um die Heiligen Schriften des Judentums mit der platonischen Philosophie zu vereinbaren, gebrauchte Origenes die Allegorese, um das Neue Testament mit dieser Philosophie in Einklang zu bringen.

Obwohl Origenes glaubte, dass die geistliche Wahrheit widerspruchsfrei und genau sei, behauptete er, dass die historischen Berichte manchmal doch Widersprüche und Ungenauigkeiten enthielten. (So beschreibe z. B. das erste Buch Mose Tage vor der Erschaffung der Sonne; Satan zeige Jesus alle Reiche der Welt von einer Bergspitze aus; und auch die Evangelien wichen in der Reihenfolge der aus dem Leben Jesu berichteten Ereignisse voneinander ab.) Vom modernen hermeneutischen Standpunkt aus gesehen, scheinen diese Fragen eher naiv zu sein, während sie für Origenes mit Hilfe der wörtlichen Methode unlösbar waren. Origenes versuchte, diese angeblichen Widersprüche und andere historischexegetische Probleme durch die allegorische Methode zu lösen: Die entsprechenden Berichte müssten nicht dem Wortlaut nach verstanden werden, ihre wirkliche Bedeutung liege auf der allegorischen Ebene. Nach Origenes deuten die Schwierigkeiten der Schrift auf das Vorhandensein einer tieferen Bedeutung hin: »Wo immer in [der Schrift] besondere Taten beschrieben werden, die mit der intellektuellen Wahrheit nicht übereinstimmen, haben die Schriften in den Bericht etwas hineingewebt, das nicht geschehen ist, zuweilen etwas, das nicht geschehen konnte, und gelegentlich etwas, das hätte geschehen können, aber in Wirklichkeit nicht passiert ist (Vier Bücher von den Prinzipien 4,2,9).

Origenes war der Erste, der eine systematische Methode der biblischen Auslegung und eine hermeneutische Theorie vorlegte, und zwar auf der Grundlage der allegorischen Methode (Vier Bücher von den Prinzipien 4). Ausgehend von Spr 22,20-21 (»Zeichne sie dreimal auf ... dass du mit Worten der Wahrheit antworten kannst«, vertrat er die Lehre vom dreifachen Schriftsinn: vom buchstäblichen, moralischen und allegorischen (geistlichen) Sinn. Nach Origenes muss die Bibel auf besondere Weise ausgelegt werden, weil sie göttlich inspiriert ist. Inspiration bedeute demnach nicht, dass die in der Schrift aufgezeichneten Worte und wiedergegebenen Ereignisse die wahre göttliche Botschaft seien, sondern vielmehr sei damit gemeint, dass hinter den Worten und in den Einzelheiten des Textes eine verborgene, tiefere Bedeutung zu finden sei, die das wahre Wort Gottes sei.

Die allegorische Methode wurde zu einem weit verbreiteten apologetischen Werkzeug, das in der Auseinandersetzung mit jüdischen Gegnern des christlichen Glaubens benutzt wurde, um verborgene alttestamentliche Jesusprophetien ans Licht zu bringen. Die Grundlage für die Einheit von Altem und Neuen Testament war die allegorische Methode. So wurde beispielsweise der Bericht von Noah und der Taube zu einer prophetischen Allegorie auf Christus und den Geist. Der in Ps 1 zu findende, an Wasserbächen gepflanzte Baum war eine prophetische Allegorie auf das Kreuz Christi und die christliche Taufe. Rahabs scharlachrote Schnur und die beiden Kundschafter stellten eine prophetische Allegorie auf die Dreieinheit und das Werk Christi dar. Die griechischen Ziffern der Zahl 318 (entsprechend der Anzahl der Knechte Abrams) waren eine prophetische Allegorie auf den Tod Christi: Die ersten beiden Ziffern entsprachen den beiden Buchstaben im griechischen Namen für Jesus, während die dritte eine anschauliche Darstellung des Kreuzes war.


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Die antiochenische Schule

Die von Origenes und anderen Alexandrinern gelehrten Extreme riefen viele führende Kirchenvertreter der Frühzeit auf den Plan, die den allegorischen Ansatz als legitime, zuverlässige Methode der Schriftauslegung ablehnten. Als Reaktion auf die allegorisierenden Methoden der alexandrinischen Schule gründeten Kirchenführer im syrischen Antiochien im dritten bzw. vierten Jahrhundert eine Schule, deren Lehrkonzept die normalwörtliche Auslegung hervorhob und bewusst der von der alexandrinischen Schule gelehrten Methode entgegentrat.

Die frühesten Vertreter der antiocheni-schen Exegese waren Theophilus (ca. 115-188), Bischof von Antiochien, und Dorotheus (ca. 240-312), die den Weg für die Gründung der Schule ebneten. Die zweite und einflussreichste Zeit der Schule begann im vierten Jahrhundert unter Diodor von Tarsus (393 gestorben), dem Lehrer des Theodor von Mopsuestia (ca. 350-428) und des Johannes Chrysostomus (ca. 347- 407). Chrysostomus wurde später Bischof von Konstantinopel und gilt als größter Prediger in der Kirche der Frühzeit. Seine Verkündigungen lassen eindeutig erkennen, wie diese antiochenische Methode in der Predigtpraxis angewandt wurde. Theodor wurde der bedeutendste Exeget der Kirche in der nachapostolischen Zeit, indem er neben Theodoret (ca. 393-460) als Lehrer der antiochenischen Schule wirkte.

Obwohl alle Antiochener die gleiche grundlegende Methode gebrauchten, hat Wallace-Hadrill gezeigt, dass es zwischen ihnen lehrmäßig durchaus Unterschiede gab. Theodor war derjenige, der die historische Exegese am entschiedensten vertrat, während Chrysostomus die wörtliche Methode nicht konsequent benutzte, wenn er in seinen Auslegungen auch Anwendungen machte. Die antiochenische Schule begann, die historischgrammatische Methode zu entwickeln: Sie betonte die Bedeutung der Analyse der hebräischen bzw. griechischen Sprache und der Wichtigkeit der geschichtlichen Hintergründe und bildlichen Redensarten. Die allegorische Methode führte für die Antiochener zu vielen verschiedenen Bedeutungen, jedoch hatte jede Bibelstelle eine einfache, klare Bedeutung, die durch die entsprechenden Wörter und die Grammatik vermittelt wurde. So wie die Alexandriner von Philo beeinflusst wurden, standen die Antiochener unter dem Einfluss der bedeutenden jüdischen Gemeinschaft in Antiochien, deren Exegese sich meist an den einfachen Wortsinn hielt. Statt die Schrift in ein Korsett vorgefasster platonischer Meinungen zu zwängen, legten sie das Wort Gottes unter dem Blickwinkel des eigenen semitischen Denkens aus.

Die Alexandriner behaupteten, dass der Wortsinn eines Textes nicht dessen metaphorische Bedeutung einschließe, die Antiochener meinten aber, dass die wörtliche Bedeutung die bildhafte Rede nicht ausschließe. Obwohl die Alexandriner die Allegorie benutzten, um die Einheit des Alten und Neuen Testaments zu verteidigen, gründeten die Antiochener diese Einheit auf direkte voraussagende Prophetie und indirekt auf voraussagende Typologie, die wegen der fortschreitenden Offenbarung in der Rückschau gesehen wurde. Ironischerweise praktizierten sie oft eine extreme Typologie, die der von ihnen so energisch abgelehnten allegorischen Methode sehr nahe kam. So sind beispielsweise einige der christologischen Typologien Theodorets von alexandrinischer Allegorie praktisch nicht zu unterscheiden. Er behauptete, dass der »Tau des Himmels« und das »Fette der Erde« ( 1Mo 27,39 ) eine prophetisches Bild auf die göttliche und menschliche Natur Christi sei. Leider haben solche Extreme in der typologischen Exegese die Kirche belastet, bis die hermeneutische Frage des sensus plenior kontra sensus unum - d.h., ob es einen tieferen Sinn der Schrift oder nur einen gibt - im 19. und 20. Jahrhundert besser thematisiert wurde.

Obwohl die Antiochener normalerweise eine saubere historischgrammatische Exegese betrieben, gebrauchten sie in ihren populären Auslegungen gelegentlich eine hinter den Anforderungen des Wortsinns zurückbleibende Methode. So glaubte Theodor, der in seinem Angriff auf die allegorische Auslegung unnachgiebig war, in seiner Auslegung von Ps 45 beträchtliche Freiheit in der Auslegung zu besitzen. Auch Chrysostomus, der die historische Exegese betonte, wich gelegentlich von der geschichtlichen Bedeutung des Textes ab, um Anwendungen vorzunehmen, wie z. B. in seiner Predigt über die Hochzeit zu Kana. Bei Chrysostomus findet sich oft ein methodologischer Bruch, wenn er von der Exegese zur Anwendung übergeht - eine Schwierigkeit, der sich jeder Verkündiger gegenübersieht, der von der historischen Exegese ausgeht, dann aber wichtige Anwendungen aufzeigen will. Leider wurde der hermeneutische Übergang von der historischen Exegese (Sinn des Textes in der damaligen Situation) zur heutigen Bedeutung (Sinn des Textes in unserer Zeit) erst nach der Entstehung der Bewegung für biblische Theologie im 20. Jahrhundert sachgerecht angesprochen.


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Die antiochenische Schule

Vertreter der antiochenischen Schule

Im Gegensatz zur allegorischen Methode der Alexandriner hob Theophilus von Antiochien (ca. 115-188), der Bischof dieser syrischen Stadt, die historisch-grammatische Exegese hervor.

Im auffallenden Unterschied zu den Alexandrinern, welche die Historizität der alttestamentlichen Geschichten bestritten, betonte Theophilus unter dem Einfluss der bedeutenden jüdischen Gemeinschaft in dieser Stadt, dass das Alte Testament eine geschichtlich authentische Wiedergabe des Handelns Gottes mit dem Volk Israel sei. Um seine Überzeugung von der Historizität der Bibel zu begründen, erarbeitete er in seiner Abhandlung An Autolychus eine Chronologie von der Schöpfung bis in seine Zeit hinein. Er bekräftigte die Einheit von Altem und Neuen Testament, indem er darauf hindeutete, dass der Logos von Johannes 1 durch Mose gesprochen habe und die Quelle des in 1.Mose erschaffenen Lichts gewesen sei, bevor Gott die Sonne erschuf. Während die Alexandriner alttestamentliche Gesetze allegorisierten, legte Theophilus die Gesetze historisch-grammatisch aus und benutzte viele Teile des Gesetzes als Richtlinien für das christliche Leben.

Auf Diodor von Tarsus (393 gestorben) gehen drei wichtige Beiträge zurück: (1) Er schrieb die erste systematische Abhandlung, welche die wörtliche historisch-grammatische Methode verteidigte und erläuterte. (2) Er bekräftigte die Gültigkeit der historisch-typologischen Methode und widerlegte die Argumentation des Origenes, wonach Paulus in Galater 4,21-31 die allegorische Methode im Sinn der Alexandriner benutzt habe. (3) Er war der Lehrer des Theodor von Mopsuestia und des Johannes Chrysostomus, die zu den bedeutendsten Vertretern der antiochenischen Schule auf dem Gebiet der Exegese und Auslegung wurden.

Diodors wichtigste, auf Griechisch verfasste Veröffentlichung (Was ist der Unterschied zwischen Betrachtung und Allegorie ?) brandmarkte die alexandrinische Methode und legte Grundsätze der historisch-grammatischen Methode dar. Nach Diodor ist nicht Allegorie (bildhaftes Reden), sondern theoria (Betrachtung) der Schlüssel zur Schriftauslegung.

Die Betrachtung umfasst die Fähigkeit, sowohl die im Text zu findenden historischen Fakten als auch die geistliche (theologische) Realität wahrzunehmen, worauf diese Fakten hindeuten. Diodor spielte nicht wie die Alexandriner den Wortsinn zu Gunsten einer verborgenen geistlichen Bedeutung herunter. Vielmehr sagte er, dass die historische Bedeutung direkt dem geistlichen (theologischen) Sinn entspreche. Sein Begriff theoria besagte, dass der vorliegende historische Text mehr aussagt, als was der Prophet sah und der Ausleger erkennt.

Der biblische Text führt den Leser zu geistlichen (theologischen) Wahrheiten hinauf, die nicht unmittelbar zu erkennen sind, die aber ein umfassenderes Verständnis des Heilsplans Gottes liefern. Anders als die Alexandriner unterschied Diodor nicht scharf zwischen der vom menschlichen Verfasser beabsichtigten Bedeutung und dem, was Gott damit gemeint hatte. Für sich genommen enthalte das Alte Testament keine geistlichen Bedeutungen und keine messianischen Hinweise. Diese könnten jedoch gefunden werden - nicht durch Allegorie, sondern durch Betrachtung, indem man die enge Beziehung zwischen der geschichtlichen und der theologischen Textbedeutung untersucht.

Diodor legte den Grundstein zu einer Formulierung, die von der geistlichen Erleuchtung spricht. Sie gestattet dem Ausleger, die allumfassende theologische Einheit der Schriften und ihre Relevanz für seine Zeit wahrzunehmen. Origenes hatte argumentiert, dass die Vorgehensweise des Paulus in Gal 4,21-31 mit der Geschichte Abrahams und Hagars ein Allegoriebeispiel im Sinn der Alexandriner sei. Er behauptete, dass Paulus die Historizität der Geschichte leugne. Diodor sagte dagegen, dass Paulus die Geschichtlichkeit dieses Berichts nicht bestreite - was auch immer seine sonstige Absicht gewesen sei, als er auf Abraham und Hagar hinwies. Paulus argumentierte typologisch, er bekräftigte die Historizität der Geschichte, erkannte aber auch die in den Ereignissen liegende theologische Bedeutung. Diodor wies darauf hin, dass die Frage der Historizität das unterscheidende Merkmal zwischen der typologischen Methode des Paulus und dem allegorischen Ansatz des Origenes ist.

Die historischtheologisch vorgehende typologische Methode hat ihre Berechtigung, der die Historizität verwerfende allegorische Ansatz jedoch nicht. Jeder Vertreter der Antiochener behandelte die Frage der alttestamentlichen Prophetie anders. In seinem Psalmenkommentar legte Diodor Ps 2 als direkten prophetischen Hinweis auf die Tatsache aus, dass Jesus von den Juden an Herodes und Pilatus ausgeliefert wurde. Er verwarf jedoch die weit verbreitete Ansicht, dass Ps 22 eine direkte Prophetie auf die Passion Christi sei; die Leiden des Psalmisten entsprächen nicht den von Christus erduldeten.

Viele sehen Theodor von Mopsuestia (ca. 350-428) als größten Ausleger der antiochenischen Schule an. Er lehnte die von Origenes und den Alexandrinern praktizierte allegorische Methode am hartnäckigsten ab. Außerdem vertrat er die historischgrammatische Auslegung am entschiedensten und kam daher in seinen exegetischen Schlussfolgerungen der ursprünglichen Bedeutung am nächsten. Obwohl er die analytische Exegese betonte, war ihm auch die Synthese - d. h. die Gesamtschau der Stelle auf dem Hintergrund ihrer Bestandteile - wichtig. Sein Kommentar zu den Paulusbriefen ist das erste und fast letzte exegetische Werk, das in der alten Kirche entstand und Ähnlichkeiten mit den heutigen exegetischen Kommentaren aufweist.

Wie Diodor lehnte er in Wider Origenes: Zur Allegorie und Geschichte , dem letzten seiner fünf auf Griechisch verfassten Bücher, den unhistorischen Ansatz der allegorischen Methode ab. Er sagte, dass Origenes die biblische Geschichte ihrer Realität beraube, was am deutlichsten darin erkennbar sei, dass er die Historizität Adams leugne. Theodor fragte: »Wie kam die Sünde in die Welt, wenn Adam keine tatsächlich existierende Person war?« Theodor meinte weiter, Origenes mache dadurch, dass er die Realität des Sündenfalls Adams leugne, die Wirklichkeit der Erlösung zunichte. Paulus habe all diese Ereignisse jedoch als historische Fakten ausgelegt. Im Gegensatz zu den Behauptungen des Origenes habe Paulus in Galater 4,21-31 keine allegorische Auslegung im Sinn der Alexandriner benutzt, sondern vielmehr Abraham und Hagar als Beispiel bzw. Veranschaulichung gebraucht.

Theodor war der erste, der die übertragene Bedeutung eindeutig und ausdrücklich als Teil der wörtlichen Bedeutung sah. Anders die Alexandriner: Sie bezogen die metaphorische Bedeutung nicht in den Wortsinn eines Textes mit ein. Nach den Alexandrinern bestand beispielsweise die wörtliche Bedeutung des Begriffs »der Arm Gottes« darin, dass Gott wirklich einen Arm hat. Statt dies als metaphorischen Anthropomorphismus anzusehen, allegorisierten die Alexandriner den Text, so dass ein völlig zusammenhangloser Sachverhalt entstand. Theodor argumentierte jedoch, dass der Wortsinn einer Stelle die jeweilige Metapher und ihre nahe liegende Bedeutung einschließt. Nach seiner Ansicht hat jede Stelle eine wörtliche Bedeutung - ganz gleich, ob im normalen oder übertragenen Sinn.

In seiner Reaktion auf die extremen alexandrinischen Allegorien wich er von traditionellen Ansichten über die Messiasprophetie ab, indem er die Anzahl der alttestamentlichen Texte, die christologische Hinweise enthalten, drastisch verkleinerte. In seinem Kommentar zu den Kleinen Propheten versuchte er, in seiner Verpflichtung gegenüber der historisch-grammatischen Exegese konsequent zu bleiben und die Allegorie zu verwerfen. Sein entscheidender Grundsatz bestand darin, dass ein Text keine christologischen Merkmale aufweise, wenn er nicht tatsächlich im Neuen Testament zitiert werde. Einfache Anspielungen seien unzureichend, um nachzuweisen, dass ein Text messianische Voraussagen enthalte. Und selbst wenn das Neue Testament einen alttestamentlichen Text zitiere, geschehe dies oft nur zur Veranschaulichung und sei kein Hinweis auf eine unmittelbar prophetisch-messianische Voraussage. Selbst wenn Mt 2,15; Hos 11,1 zitiere, enthalte diese Stelle keinen direkten Christusbezug. Andererseits ließ Theodor gelten, dass Joel 3,1-5 die Ausgießung des Geistes voraussagte, wobei ihre eschatologische Bedeutung im Kommen Christi enthüllt worden sei. Er legte Wert auf die historisch-grammatische Auslegung und daher behauptete er, dass die meisten alttestamentlichen Prophezeiungen historischer Art seien und sich auf Ereignisse der israelitischen Geschichte bezögen. Nur sehr wenige seien wirklich christologisch ausgerichtet. Nach Theodor enthielten nur vier Psalmen direkte Prophezeiungen auf Christus ( Ps 2; 8; 45; 110 ). Der apostolische Gebrauch anderer alttestamentlicher Texte im Blick auf Christus seien keine Beispiele unmittelbarer prophetischer Voraussagen, sondern vielmehr analoge Anwendungen oder typologische Veranschaulichungen. Viele der im Neuen Testament zitierten Psalmen enthielten keine Voraussagen, sondern lediglich analoge Beispiele von Schwierigkeiten, die sowohl der Psalmist als auch Jesus erfahren hätten. Zahlreiche alttestamentliche Texte eigneten sich für den analogen Gebrauch, weil ihre Metaphern hyperbolisch (in der Übertreibung) für den Psalmisten gälten, im wörtlichen Sinne aber in der Anwendung auf Christus zuträfen. Theodor behauptete, dass die Apostel diese Stellen vom Wortlaut der Originaltexte her an analoge Orte der christlichen Offenbarung angepasst hätten. Er verwarf auch die allegorischen Auslegungen des Hohen Liedes. Es rede nicht von Christus und der Gemeinde, sondern es ein Liebesgedicht, das von Salomo anlässlich seiner Hochzeit mit einer ägyptischen Prinzessin geschrieben worden sei. Obwohl Theodor die alexandrinische Methode konsequent ablehnte, waren einige Antiochener der Meinung, dass er zu weit gehe. Theodoret, einer seiner Schüler, kritisierte ihn sogar dafür, dass er mehr jüdisch als christlich eingestellt sei. Er sagte, dass er zu sehr unter dem Einfluss der jüdischen Gemeinschaft in Antiochien gestanden und daher die Zahl der christologischen Prophetien im Alten Testament verringert habe. Obwohl Theodor tatsächlich die Anzahl direkter christologischer Weissagungen verringerte, entwickelt er den Gedanken des Typologischen, wie ihn Irenäus verstand, weiter. Er begrenzte jedoch den Geltungsbereich dieser Vorbilder, indem er sagte, sie enthielten historische Übereinstimmungen, aber keine voraussagende Prophetie.

Nach Theodor bietet die Schrift, wenn sie wörtlich und historisch ausgelegt wird, eine einheitliche Darstellung von Gottes Erlösungswerk in der Geschichte. Auf diese Einheit werde manchmal durch typologische Merkmale im Alten Testament hingewiesen, deren vollständige Bedeutung erst im Neuen Testament klar werde. Der ursprüngliche Textsinn entspreche jedoch seiner historischen Bedeutung. Im weiteren Verlauf der Erlösungsgeschichte habe man historische Entsprechungen feststellen können, die von immer wieder auftretenden Merkmalen in Gottes Plan herrührten. Somit müsse Ps 22 historisch ausgelegt werden; er berühre Christi Leiden nur am Rande - und zwar so, wie er für jeden Leidenden gelte. Wenn er in überzeichneten Bildern die Leiden ganz auf Christus anwende, wolle er nicht seinen prophetischen Charakter, sondern Christi Stellung als allergrößter Dulder nachweisen. Typologische Entsprechungen deuteten nicht darauf hin, dass ein prophetisches Element vorhanden sei. Vielmehr spiegelten sie lediglich die Kontinuität des Werkes Gottes in seinem einheitlichen geschichtlichen Heilsplan wider. Obwohl Theodor die alexandrinische Allegorisierung theoretisch strikt ablehnte, waren die Ergebnisse seiner Auslegung im Grunde nicht so weit von denen des Origenes entfernt. Theodor gebrauchte die Typologie in ähnlicher Weise wie andere die Allegorisierung. Der Hauptunterschied bestand darin, dass er die Historizität der biblischen Berichte bekräftigte und die historische Bedeutung als den vorrangigen Sinn des Textes hervorhob. So betonte er z.B. in seiner Auslegung zu Ps 45 die geschichtliche Bedeutung einer von Salomo tatsächlich gefeierten Hochzeit, erkannte aber auch die typologische Übereinstimmung mit Christus und der Gemeinde. Leider wurde sein positiver Einfluss, den er als Hermeneutiker auf die Kirche hatte, dadurch geschmälert, dass er in anderer Hinsicht ziemlich unkonventionell vorging. Er wurde zum Häretiker erklärt, was z. T. an den Ansichten seines Schülers Nestorius lag, dann aber auch daran, dass er mehrere kanonische Bücher als nicht inspiriert verwarf (die Weisheitsliteratur, die Chronikbücher, Esra und Nehemia).

Johannes Chrysostomus (ca. 354-407) war Erzbischof von Konstantinopel, dem Zentrum der Ostkirche. Die antiochenische Methode wird in seinen Kommentaren und seinen mehr als sechshundert Predigten, die historische Exegese mit praktischen Anwendungen verbinden, gut veranschaulicht. Seine Schriften übten später einen großen Einfluss auf Johannes Calvin aus, der ihm nachzueifern suchte. Obwohl Chrysostomus die Wichtigkeit der wörtlichen Auslegung betonte, sagte er, dass damit keineswegs das Vorhandensein einer bildlichen Sprache in der Schrift geleugnet werde. Er versuchte, einen Mittelweg zwischen den Alexandrinern, die alles allegorisierten, und den Verfechtern einer einfachen wörtlichen Auslegung zu finden, die das Vorhandensein einer sinnbildlichen Sprache in der Schrift nicht anerkannten. »Wir dürfen nicht die Worte als bloße Begriffe untersuchen, weil sonst viel Unsinn entsteht. Vielmehr müssen wir die Gedanken des Schreibers beachten.« Obwohl er die alexandrinische Methode verwarf, die historische Berichte in absurde Allegorien umwandelte, erkannte er ebenso an, dass die Schrift manchmal Allegorien verwendet, die sinnvoll ausgelegt werden müssen. »Wir sind in dieser Angelegenheit keine verantwortungslosen Verfechter von Gesetzen, können das System allegorischer Auslegung aber nur anwenden, wenn wir den Gedanken der Schrift folgen ... und darin besteht das allgemeine Gesetz der Schrift, wenn sie in allegorischer Weise redet, nämlich darin, dass sie uns auch die Auslegung der Allegorie liefert.« Chrysostomus betonte die relative Klarheit der Schrift, wenn sie mit Hilfe der historischgrammatischen Methode ausgelegt wird. Er begrenzte jedoch ihre durchgängige Verständlichkeit auf die wichtigen Punkte des Glaubens: Alles, was notwendig ist, das ist offenbar! Obwohl er durchaus christologische Voraussagen im Alten Testament fand, beschränkte er sich gewöhnlich auf die historische Typologie. Seine typologische Sicht des Alten Testaments beruhte auf dem Schlussvers von Ps 117 : »Die Wahrheit des HERRN währt ewig.« Alttestamentliche Geschichte sei für alle Zeitalter relevant. Die historische Bedeutung des Alten Testaments beinhalte, dass sie einen Entwurf der göttlichen Wahrheit darstelle, während sich die endgültige Form im typologischen Sinn finde, mit dessen Hilfe die alttestamentliche Bedeutung vollständiger herausgestellt werde.


HERMENEUTIK

Die antiochenische Schule

Einfluss der antiochenischen Schule

Leider begann die antiochenische Schule im vierten und fünften Jahrhundert wegen theologischer Kontroversen ihren hermeneutischen Einfluss zu verlieren. Als einigen ihrer Lehrer im nestorianischen Streit - dort ging es um die menschliche und göttliche Natur Christi - vorgeworfen wurde, die Rechtgläubigkeit aufzugeben, verlor die Schule teilweise ihre Glaubwürdigkeit. Ihr hermeneutischer Einfluss nahm weiter ab, als sich die Kirche in die Ost- und Westkirche spaltete. Da für die alexandrinische Schule nun das Korrektiv der ihr entgegenstehenden antiochenischen Schule wegfiel, vergrößerten sich ihre Macht und ihr Einfluss, sodass die allegorische Methode die Vorherrschaft eroberte. Bis zum Mittelalter war die allegorische Methode zum dominierenden hermeneutischen Ansatz geworden. Die Kirche würde sich erst in der Reformationszeit von ihrem beherrschenden Einfluss wieder lösen können. Der Todesstoß wurde ihr erst nach der Reformation und in der Neuzeit versetzt.

Siehe auch: Origenes ; Philo Judaeus .

Gordon H. Johnston

Raymond E. Brown, The Sensus Plenior of Scripture (Baltimore: St. Mary´s University, 1955), 45-51; Johannes Chrysostomus, Commentary on Saint John the Apostle and Evangelist: Homilies 1-4 7; Übersetz. T. A. Goggin (Washington, D.C.: Catholic University of America Press, 1957); D. S. Dockery, Biblical Interpretation Then and Now: Contemporary Hermeneutics in the Light of the Early Church (Grand Rapids: Baker, 1992); Frederic W. Farrar, History of Interpretation (Grand Rapids: Baker, 1961), 181-222; Karlfried Froehlich, Biblical Interpretation in the Early Church (Philadelphia: Fortress Press, 1984), 82-94; Daniel P. Fuller, »Interpretation, History of« in International Standard Bible Encyclopedia , rev. Ausg. (Grand Rapids: Eerdmans, 1982), 2,863-874; Robert M. Grant, »History of the Interpretation of the Bible: Ancient Period« in The Interpreter´s Bible (Nashville: Abingdon Press, 1952), 1,106-114; Robert M. Grant und David Tracy, A Short History of the Interpretation of the Bible (Philadelphia: Fortress Press, 1984), 63- 74; K. Grobel, »Interpretation, History and Principles of« in Interpreter´s Dictionary of the Bible (Nashville: Abingdon Press, 1962), 2,718-724; Robert J. Kepple, »An Analysis of the Antiochene Exegesis of Galatians 4:24-26« in WJT 39,239-249 (1976-1977); Bertrand de Margerie, Introduction à l´histoire de l´exégèse (Paris, Cerf, 1980-1983), 1,188-213; Bernard Ramm, Protestant Biblical Interpretation (Grand Rapids: Baker, 1979); A. R. Roberts und J. Donaldson, Hg., The Ante-Nicene Fathers , 10 Bd. (New York: Charles Scribner´s Sons, 1913); J. W. Rogerson, »Interpretation, History of« in The Anchor Bible Dictionary (New York: Doubleday, 1992), 3,424-433; John R. Walchenbach, »John Calvin as Biblical Commentator: An Investigation into Calvin´s Use of John Chrysostom as an Exegetical Source« (Dissertation, University of Pittsburgh, 1974); D. S. Wallace-Hadrill, Christian Antioch: A Study of Early Christian Thought in the East (Cambridge: Cambridge University Press, 1982); M. F. Wiles, »Theodore of Mopsuestia as Representative of the Antiochene School« in The Cambridge History of the Bible (Cambridge: University Press, 1970), 1,489- 510; Dimitri Z. Zaharopoulos, »Theodore of Mopsuestia´s Critical Methods in Old Testament Study« (Dissertation, Boston University, 1964).


HERMENEUTIK
mittelalterliche

Die logischen, grammatikalischen Grundsätze, die man zur Auslegung und Erklärung der Bibel im Mittelalter benutzte, wurden von allegorischen Überzeugungen und der verbindlichen Lehrgewalt des Papsttums beherrscht. Infolgedessen widersprachen viele Lehren, die man während dieser Zeit aus der Schrift ableitete, der ursprünglichen Absicht der vom Heiligen Geist inspirierten Schreiber. Der Wechsel von der wörtlichen Schriftauslegung der Gemeinde des ersten Jahrhunderts zur allegorischen Methode setzte bereits im dritten Jahrhundert ein.

Origenes war der erste Theologe, der das kommende Reich vergeistigte bzw. wegerklärte und es als gegenwärtige Herrschaft Christi im Herzen der Menschen deutete. Augustin vergeistigte die wichtigsten prophetischen Ereignisse, wobei seine Auslegungen die Grundlage der allgemeinen Eschatologie bis zur Reformation bildeten. Bis zum fünften Jahrhundert war wegen des Einflusses von Origenes und Augustin der Glauben an ein Tausendjähriges Reich im wörtlichen Sinn weit gehend verschwunden. Während des Mittelalters wurde der Millenarismus (die Lehre von der Erwartung eines Tausendjährigen Reiches) im Allgemeinen als ketzerisch angesehen.

Um das Jahr 1000 entstand eine Bewegung, die später als Scholastik bekannt wurde. Als ihre einflussreichsten Führer galten Anselm von Canterbury und Thomas von Aquin. Indem sich diese Bewegung fast ausschließlich auf die allegorische Methode stützte und die Bedeutung des ursprünglichen Wortlauts biblischer Texte nicht anerkannte, entstellte sie die Schriftwahrheit immer mehr. Diese Auslegungsmethode war im Mittelalter vorherrschend und zeichnete sich durch unbegrenzte Spekulation sowie dadurch aus, dass ihr ein objektiver, einheitlicher Maßstab für Richtigkeit fehlte. Die mittelalterliche Auslegung wurde durch drei Faktoren beeinflusst und begrenzt: durch das Vorherrschen des Analphabetentums sowohl unter Geistlichen als auch unter Gemeindegliedern; durch die Tatsache, dass das Schriftstudium hauptsächlich auf Klöster beschränkt war, und durch das Bestreben, die Dogmen Roms zu untermauern.

Eines des bedeutsamsten Dogmen, die sich aus der mittelalterlichen Hermeneutik entwickelten, war die Transsubstantiation. In dieser von Innocenz III. 1215 zum Dogma erklärten Lehre wurde verfügt, dass Priester die Macht hätten, Brot und Wein in den Leib, das Blut, die Seele und die göttliche Natur Jesu Christi zu verwandeln. Die bildliche Sprache Christi im Johannesevangelium ( Kapitel 6 ) und bei seinem letzten Mahl legte man wörtlich aus, um den Vollzug der Transsubstantiation belegen zu können. Aus diesem Dogma ergaben sich viele bedenkliche Konsequenzen. Wenn Christus im Mahl wirklich substanziell gegenwärtig ist, dann muss die Hostie verehrt und angebetet werden. Außerdem empfangen die, welche die Hostie zu sich nehmen, Christus nicht durch den Glauben und aufgrund des Willens Gottes, sondern infolge eines menschlichen Entschlusses. Das Opfer Christi, das in der Hostie auf kirchlichen Altären dargebracht wurde, sei - so verfügte man - die Fortsetzung des Opfers von Golgatha zur Besänftigung des göttlichen Zorns.

Im Mittelalter entstand auch das Dogma vom Fegefeuer. Danach ist eine zeitliche Strafe und durch Feuer bewirkte Läuterung von Sünden notwendig, um in den Himmel zu kommen. Obwohl diese Lehre durch keine Schriftstelle belegt wird, trat sie auf Betreiben Roms an die Stelle des gerechten Gerichtes Gottes über die Sünde. In Verbindung mit dieser Lehre entwickelte sich schließlich die Praxis des Ablassverkaufs. Die Kirche begann, Ablässe als Straferlass von Gott zu spenden: Den Empfängern werde die zeitliche Strafe wegen ihrer Sünden zum Teil erlassen, denn ihre Zeit im Fegefeuer werde verkürzt. Die Kirche belegte alle mit dem Bann, die sagten, dass Ablässe nutzlos seien oder dass die Kirche nicht die Macht habe, sie zu gewähren.

Die Verschmelzung der päpstlichen Ideologie mit der biblischen Auslegung ging 1302 sogar so weit, dass die Bulle Unam Sanctam von Bonifatius VIII. verfügte, der Gehorsam gegenüber dem Papst »ist absolut heilsnotwendig«. Päpstliche Erlasse ersetzten bindende Beschlüsse der Konzilien als übliche Form autoritativer Auslegung. Da Rom das Reich Gottes im Sinn der Kirche auslegte, übte der Papst die dogmatische Kontrolle über das ewige Geschick der Menschen aus. Als Besitzer der »Schlüssel des Reiches« nahm er die Macht in Anspruch, die Tore des Reiches zu öffnen und zu schließen - je nachdem, wie treu ihm Menschen ergeben waren. Wer vom Papst exkommuniziert wurde, hatte keine Hoffnung auf Rettung mehr. Ein solcher Mensch galt in der Gesellschaft als Geächteter.

Am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts, in der Zeit eines großen geistlichen Tiefstandes, entwickelte sich eine Bewegung, die zu einer wörtlichen Schriftauslegung und zur Suche nach lehrmäßiger Reinheit zurückkehrte. Aus diesem Bestreben, die eigentliche Bedeutung der Schrift herauszufinden und sie sachgerecht zu erklären, entstand eine geistliche Erweckung und schließlich die Reformation.

Siehe auch Hermeneutik, reformatorische .

Michael P. Gendron

Louis Berkhof, The History of Christian Doctrines (Grand Rapids: Baker, 1937); Mark S. Burrows und Paul Rorem, Biblical Hermeneutics in Historical Perspective (Grand Rapids: Eerdmans, 1991); David S. Dockery, Biblical Interpretation Then and Now (Grand Rapids: Baker, 1992); William Webster, The Church of Rome at the Bar of History (Carlisle, Pa.: The Banner of Truth Trust, 1995).


HERMENEUTIK
moderne biblische

Der Geltungsbereich dieses Begriffs

Der Geltungsbereich der evangelikalen biblischen Hermeneutik weitete sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus. Infolgedessen schloss er bald die Disziplin der biblischen Theologie ein, weil man den innerbiblischen, über die Zeit fortschreitenden (diachronischen) Prozess von der alttestamentlichen zur neutestamentlichen Offenbarung erkannte. Grammatische Studien gingen über Sprache und Satzbau hinaus und bezogen auch literarische Aspekte ein, weil man erkannte, wie wichtig Form, Rhetorik und literarische Interpretation waren. Zu der historischen Auslegung gehörten der geschichtlichkulturelle Kontext und die rhetorische Situation der ursprünglichen Zuhörer. Dies hat neue Perspektiven eröffnet, die sich früheren Generationen nicht boten.

Diese Entwicklungen spiegeln sich in einer veränderten Beschreibung der biblischen Hermeneutik wider. Sie entwickelte sich von der traditionellen historisch-grammatischen (Ramm 1956, Ryrie 1965) zur historisch-grammatisch-rhetorischen (Mickelsen 1963) und zur historisch-grammatisch-literarisch-theologischen Auslegung (Kaiser 1981; McKim 1986; Mc-Knight 1989; Johnson 1990; Osborne 1991; Klein, Blomberg und Hubbard 1993; Blaising und Bock 1993; Kaiser und Silva 1994). Weil damit kein radikaler Paradigmenwechsel verbunden ist, wird dies nicht immer in der neueren Literatur dargelegt. So verwendet z. B. »Die Chicago-Erklärung zur biblischen Hermeneutik« (1982) weiterhin die traditionelle Überschrift »historisch-grammatisch« (Artikel XV), obwohl sie anerkennt, dass man bei der Exegese literarisches Einfühlungsvermögen braucht (Artikel XIII).


HERMENEUTIK
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Biblische Theologie als Analogie zu vorher entstandenen biblischen Texten

Welcher Methode kann sich die analogia scripturae (Analogie der Schrift) bedienen? Mehrere Gelehrte unserer Zeit schlagen vor, dass »die biblische Theologie« bei der Exegese als theologisches Element genutzt werden kann (Childs 1970; Kaiser 1978, 1981; Johnson 1990; Osborne 1991; Blaising und Bock 1993). Anders als die systematische und die historische Theologie verfolgt die biblische Theologie die Langzeitthemen, die in all den verschiedenen Perioden der Heilsgeschichte in dem Maße geoffenbart wurden, wie diese vom Alten zum Neuen Testament fortschritt. Kaiser schlägt vor, dass die biblische Theologie als »Analogie zuvor verfasster Schrift« verstanden wird (Kaiser 1978, 1981). Diese Vorstellung von der »theologischen Exegese« unterscheidet sich von der »Analogie des Glaubens«, weil sie sich auf die diachronische Entfaltung der wichtigsten biblischtheologischen Themen im Offenbarungsfortschritt der Heilsgeschichte stützt. Die »Analogie zuvor verfasster Schrift« ist die »Informations-Theologie«, die sich aus ähnlichen Aussagen (manchmal nur im Ansatz) in früheren Phasen der fortschreitenden Offenbarung ergibt. Jeder Bibeltext hat eine bestimmte theologische Fassette als festen Bestandteil seines inhaltlichen Gefüges. Diese geht oft auf Wurzeln zurück, die bereits in historisch vorausgehenden Texten angelegt sind. So spielen beispielsweise Jesajas Verheißungen, dass Gott die Nachkommen Israels segnen wird, indem er den Geist auf sie ausgießt ( Jes 44,3 ), auf die Zusage an, die Abraham gegeben wurde. Ihr zufolge sollte seine Nachkommenschaft gesegnet werden ( 1Mo 12,2-3 ). Jesaja erweitert jedoch diese allgemeine Verheißung, indem er die geistlichen Segnungen des neuen Bundes einbezieht ( Jer 31,31-34; Hes 36,24-32 ).

Nach Kaiser besteht die Rolle der biblischen Theologie in der Hermeneutik darin, Grundlagen einer »Informations-Theologie« für die Auslegung zu schaffen, indem sie die theologischen Hauptthemen sammelt, sie den diachronischen Perioden des Offenbarungsfortschritts zuordnet und sie um das kanonische Zentrum herum anordnet (1981, 139-139). Wegen des jüngsten Wiederauflebens und Wachstums dieser Disziplin kann diese Integration von biblischer Theologie und biblischer Hermeneutik sowie das Zusammenspiel beider Bereiche jetzt nutzbar gemacht werden.


HERMENEUTIK
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Die Entwicklung der biblischen Theologie im 20. Jahrhundert

Während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wurde das Interesse an alttestamentlicher biblischer Theologie und ihr Einfluss auf die biblische Hermeneutik durch folgende Faktoren gemindert: (1) der destruktive Einfluss der Quellenscheidung, welche die Einheitlichkeit der Religion und Theologie Israels leugnete; (2) die Sichtweise, dass alt und neutestamentliche Theologie voneinander unabhängige und getrennte Disziplinen seien; und (3) die Entstehung der klassischen Lehre von den Heilszeitaltern, welche die Gemeinde als Einschub in der Heilsgeschichte betrachtete und einen radikalen Unterschied zwischen Gottes Plan für Israel und seinem Plan für die Gemeinde machte und die praktische Relevanz des Alten Testaments im Leben des neutestamentlichen Gläubigen bestritt.

Während der 30er und 40er Jahre des letzten Jahrhunderts nahmen das Interesse an alttestamentlicher biblischer Theologie und ihr Einfluss auf die biblische Hermeneutik wieder zu: (1) Die Quellenscheidung wurde in der kritischen Bibelwissenschaft von der Form- und Redaktionskritik abgelöst, welche die Einheitlichkeit der Theologie Israels in der endgültigen Textform berücksichtigte; (2) die Bekräftigung der grundsätzlichen Einheit der Schrift; (3) die Vorstellung, dass die alttestamentliche biblische Theologie auf die biblische Theologie des Neuen Testaments abgestimmt werden kann; (4) die Rückkehr zur reformatorischen Betonung der Wichtigkeit des Alten Testaments für den christlichen Glauben; und (5) die Entstehung einer revidierten Lehre von den Heilszeiten, die mehr Kontinuität zwischen den Haushaltungen sah als die klassische Lehre von den Heilszeiten. Diese Faktoren stellten die Kontinuität innerhalb der biblischen Theologie des Alten Testaments sowie ihren lückenlosen Zusammenhang mit der neutestamentlichen Theologie heraus, und die biblische Hermeneutik sah größere Kontinuität zwischen alt- und neutestamentlichen Themen.

Während der 50er bis 70er Jahre des 20. Jahrhunderts erlebte die alttestamentliche biblische Theologie in der »Bewegung für biblische Theologie« eine durch mehrere Merkmale gekennzeichnete Blütezeit: (1) Als Reaktion auf das Gedankengut, das von Rad (1901-1971) vertrat, wurde neu die Zuverlässigkeit des biblischen Berichts betont. (2) Durch den Einfluss der von W. F. Albright geführten »Bewegung für biblische Archäologie« wurde man sich neu der Rolle der Geschichte in ihrer Beziehung zur Theologie bewusst. (3) Es gab neue Versuche, das integrierende Zentrum der gesamten biblischen Theologie des Alten Testaments zu finden.


HERMENEUTIK
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Wichtige Fragen der modernen Hermeneutik

Die Rolle des Heiligen Geistes bei der Auslegung

Während der Reformations- und nachrefomatorischen Zeit wurde geistliche Erleuchtung im Allgemeinen als Prozess verstanden, der im kognitiven Bereich wirksam ist (insbesondere von Luther, den Pietisten und den Brüdern): Der Nichtwiedergeborene kann das Evangelium nicht verstehen. Es fehlt ihm die Erleuchtung durch den Heiligen Geist. Auch kann kein Gläubiger ohne diese Erleuchtung die Schrift richtig auslegen. Diese Ansicht wird heute noch immer von vielen vertreten. Einige gehen noch weiter und behaupten gar, dass Hermeneutik bedeutungslos sei, da ja der Geist wirken müsse.

Mehrere Ausleger der Neuzeit haben aus 1Kor 2,14-16 gefolgert, dass geistliche Erleuchtung vorrangig im Willensbereich und weniger auf kognitivem Gebiet wirkt. Die Schrift verdeutlicht als Grundsatz, dass selbst die Nichtwiedergeborenen biblische Wahrheiten verstehen, diese aber bewusst ablehnen. Die Wirkung des Geistes ist nicht so sehr, dass ihnen Wahrheiten auf kognitive Weise geoffenbart werden, sondern dass er die Betreffenden willig macht, das Evangelium anzunehmen, und seinen Wert, seine Kostbarkeit, Bedeutung und Vollmacht in ihrem eigenen Leben, ihrer Situation und ihrem Umfeld wahrzunehmen. Die Erleuchtung durch den Geist bietet dem Auslegenden keine Patentlösung, mit deren Hilfe er die schweißtreibende Exegese umgehen kann (Ramm 1958, 1959; Fuller 1978, 1980; Kaiser 1980-81; Klooster 1984; Zuck 1984; Johnson 1990; Klein, Blomberg und Hubbard 1993).


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Wichtige Fragen der modernen Hermeneutik

Typologische Auslegung

Bereits die Ausleger der antiochenischen Schule (3.-5. Jahrhundert n. Chr.), welche die historisch-grammatische Exegese benutzten, sahen die Typologie vorwiegend im Bereich der voraussagenden Prophetie als Grundlage für die Einheit zwischen Altem und Neuem Testament an. Am Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Typologie von Vertretern der klassischen Lehre von den Heilszeiten beherrscht, die hermeneutisch zweigleisig vorgingen, indem sie eine geistliche (typologische) und eine wörtliche (historisch-grammatische) Auslegung sahen. Weil jede Heilszeit in sich abgeschlossen war, verstand man Typologie vertikal (Himmel-Erde- Richtung) und nicht horizontal (historisch). Irdische Gegenstände waren Darstellungen oder Sinnbilder himmlischer Sachverhalte, sagten aber keine heilsgeschichtlichen Details voraus.

Foulkes (1958) wies nach, dass die typologische (theologisch-eschatologische) Auslegung der Geschichte im Alten Testament ihren Ursprung hat. Die typologische Auslegung des Alten Testaments beruht auf der theologischen Kontinuität (Unwandelbarkeit Gottes, Natur des Menschen und Kontinuität in der grundlegenden Beziehung zwischen Gott und Mensch). Weil sich das, was Gott in der Vergangenheit getan hat, wiederholt, und weil Gott unwandelbar ist, kann man die Zukunft, von der Vergangenheit her gesehen, voraussagen. Die Propheten stellten Gott als den dar, der zukünftig handelt, wie er es in der Vergangenheit getan hat (z.B. Berufung Abrahams, Auszug aus Ägypten, Herrschaft Davids), jedoch auf einer höheren und noch nie dagewesenen Ebene (z.B. neuer Auszug, neuer Tempel, neuer Bund, neue Schöpfung). Der Messias wird dargestellt in Begriffen von großen Führern und Befreiern der Vergangenheit (neuer Mose, neuer Josua, neuer David). Diese typologischen Beschreibungen im Alten Testament dienten als Grundlage für die neutestamentliche Auslegung der Geschichte des Alten Testaments im typologischen Sinn.

Progressive Vertreter der Heilszeitenlehre unserer Zeit sehen die Typologie als Aspekt der historisch-literarischen Auslegung an (Blaising und Bock, Saucy). Gott handle zu verschiedenen Zeiten auf ähnliche Weise, sodass das ursprüngliche Ereignis einem späteren Geschehen zugrunde liege und ihm als Modell diene. Ein Ereignis tritt ins Blick-feld und erklärt somit das andere. Doch auf lange Sicht scheint dies gegen die grammatisch-historische Auslegungsmethode zu verstoßen, die bisher ein Grundpfeiler der evangelikalen Welt gewesen ist, wenn es um überzeugende, solide Hermeneutik ging. Und dies ist auch das Kennzeichen der Leh-re von Heilszeiten gewesen. Die progressi-ven Vertreter der Heilszeitenlehre haben ei-nen wichtigen Wechsel vollzogen, der sich auf ein eindeutiges Bibelstudium und ein klares schriftgemäßes Verständnis negativ auswirken könnte.

Zu dem Ansatz der progressiven Heils-zeitler scheinen noch andere Faktoren hin-zuzukommen: z.B. der historische Kontext des Auslegers, die Frage der Tradition, die Rolle des Vorverständnisses des Auslegers und die so genannte »hermeneutische Spi-rale«. Blaising und Bock bezeichnen dies als den »historisch-grammatisch-litera-risch-theologischen« Ansatz, der ihnen anspruchsvoller erscheint und sich somit von der einfachen grammatischhistorischen Auslegung stark unterscheidet.

Viele glauben, dass die Lehre von den Heilszeiten aufgrund des Ansatzes der progressiven Heilszeitler viel von ihrer Geschlossenheit und Stärke - einer einheitlichen Methode der Schriftauslegung - verlieren wird. Durch die progressiven Heilszeitler wird in der Hermeneutik ein größerer Bereich der Subjektivität hinzukommen. Daraus ergibt sich - wenn auch vielleicht ohne Absicht - ein vielschichtiges Lesen des Bibeltextes. Das Ergebnis ist eine »komplementäre« Bedeutung. Es kann bis zu drei Schichten beim Lesen eines Textes geben. Bock schreibt dazu: »Eine solche Hermeneutik bringt bei einem Text verschiedene Sinnschichten und Besonderheiten hervor, da der Ausleger vom unmittelbaren Kontext zu weiter entfernten Aspekten wandert.« Viele meinen, dass sich die progressiven Heilszeitenlehre wegen ihrer Kompliziertheit unter den Hermeneutikern kaum halten wird.

Siehe auch: Dispensationalismus, progressiver .

Gordon H. Johnston und Mal Couch

D. L. Baker, »Typology and the Christian Use of the Old Testament« in SJ T, 29,137-157 (1976); A. Berlin, Poet i cs and Interpretation of Biblical Narrative (Sheffield: The Almond Press, 1983); C. A. Blaising und D. L. Bock, Progressive Dispensationalism (Wheaton: Victor Press, 1993); D. A. Carson und J. D. Woodbridge, Hg., Hermeneutics, Authority, and Canon (Grand Rapids: Zondervan, 1986); D. P. Fuller, »The Holy Spirit´s Role in Interpretation« in Scripture, Tradition, and Interpretation , Hg. W. W. Gasque und W. S. LaSor (Grand Rapids: Eerdmans, 1978), 189-191; E. E. Johnson, Expository Hermeneutics: An Introduction (Grand Rapids: Zondervan, 1990); W. C. Kaiser jun., »Legitimate Hermeneutics« in Inerrancy , Hg. N. Geisler (Grand Rapids: Zondervan, 1979), 117-147; Toward an Exegetical Theology (Grand Rapids: Baker, 1981), und The Uses of the Old Testament in the New (Chicago: Moody Press, 1985); W. C. Kaiser jun. und M. Silva, An Introduction to Biblical Hermeneutics (Grand Rapids: Zondervan, 1994); W. W. Klein, C. L. Blomberg und R. L. Hubbard, Introduction to Biblical Hermeneutics (Dallas: Word, 1993); R. Knierim, »Criticism of Literary Features, Form, Tradition, and Redaction«, in The Hebrew Bible and Ist Modern Interpreters , Hg. D. A. Knight und G. M. Tucker (Philadelphia: Fortress Press, 1985), 126-127; T. Longman III, »The Literary Approach to the Study of the Old Testament: Promise and Pitfalls« in JET S, 28,385 (1985); D. McCartney und C. Clayton, Let the Reader Understand (Wheaton: Victor, 1994); D. K. McKim, Hg., A Guide to Contemporary Hermeneutics (Grand Rapids: Eerdmans, 1986); G. Osborne, The Hermeneutical Spiral (Downers Grove, Ill., InterVarsity, 1991); B. Ramm, Protestant Biblical Interpretation (Grand Rapids: Baker, 1970); E. D. Radmacher und R. D. Preus, Hg., Hermeneutics, Inerrancy, and the Bible (Grand Rapids: Zondervan, 1984); R. L. Thomas, »The Hermeneutics of Progressive Dispensationalism« in TMSJ 6,79-95 (1995); R. B. Zuck, »The Role of the Holy Spirit in Hermeneutics« in BibSa c, 141,120-129 (1984).


HERMENEUTIK
nachreformatorische (1650-1800)

Die nachreformatorische Zeit wies eine Vielfalt von hermeneutischen Ansätzen auf. Die historische Entwicklung der Hermeneutik wurden von acht wichtigen Einflüssen bestimmt, und zwar: Konfessionalismus, Pietismus, Historizismus, Textkritik, Rationalismus, wissenschaftlicher sowie philosophischer Empirismus und Bibelkritik.

Der Konfessionalismus schuf das hermeneutische Problem der Beziehung zwischen der Verteidigung der lehrmäßigen Orthodoxie und der exegetischen Freiheit. Der Pietismus zeigte das hermeneutische Problem der Beziehung zwischen persönlichem und gottesdienstlichen Verständnis der Schrift auf. Der Historizismus konzentrierte sich auf hermeneutische Fragen im Zusammenhang mit der Methode der historisch-grammatischen Exegese im Licht der ursprünglichen historischen Bibeltexte (Textkritik) und ihrer ursprünglichen Bedeutung im jeweiligen geschichtlichen Kontext ihrer Entstehung. Der Rationalismus warf das hermeneutische Problem auf, in welcher Beziehung Glaube und Vernunft bei der Schriftauslegung zueinander stehen. Der Empirismus forderte die empirische Überprüfung theologischer Wahrheiten. Die Bibelkritik erfand eine hermeneutische Methode, die sich allein darauf konzentrierte, Verfasserschaft und Aufbau der biblischen Texte zu bestimmen, um so die Echtheit des Inhalts einschätzen zu können (Quellen- und Literarkritik).


HERMENEUTIK
nachreformatorische (1650-1800)

Hermeneutik der dogmatischen Theologie

Nach dem Konzil von Trient (1543-1563) begannen die Protestanten, ihre eigenen Glaubensbekenntnisse zu verfassen, um ihre Ansichten zu verteidigen. Diese Periode wurde eine Zeit des theologischen Dogmatismus, der Verfolgung von Ketzern und des streng bekenntnisorientierten Protestantismus. Die Exegese wurde durch Dogmatismus, die Freiheit durch Tradition abgelöst. Der Konfessionalismus trennte sich von der freien theologischen Arbeitsweise, vollzog eine Abkehr von der Kultur, fand keinen Zugang zur erwachenden Wissenschaft und endete schließlich in innerkirchlichen theologischen Debatten.


HERMENEUTIK
nachreformatorische (1650-1800)

Hermeneutik der dogmatischen Theologie

Ablösung der exegetischen Hermeneutik durch die dogmatische Hermeneutik

Nach dem Konzil von Trient kehrten die Reformatoren, um den Traditionalismus der römischkatholischen Kirche zu überwinden, zum Wortlaut der Schrift zurück, indem sie die Exegese betonten. Unter dem Druck des gegenreformatorischen Rückgriffs auf Glaubensbekenntnisse begann die nachreformatorische Kirche, ihren eigenen Dogmatismus einzuführen. Ironischerweise brachte genau die Bewegung, die aus der Ablehnung des Traditionalismus entstanden war, ihren eigenen Traditionalismus und Dogmatismus hervor. Die Hermeneutik der Reformation betonte die alleinige Autorität der Schrift und die vom katholischen Traditionalismus befreite historisch-grammatische Exegese. Die Ergebnisse der reformatorischen Exegese wurden nun in Aussagen von Glaubensbekenntnissen systematisch festgehalten, die bald die neue Orthodoxie der nachreformatorischen Kirche bildeten. Die Hermeneutik der nachreformatorischen Zeit war fast ausschließlich zur Methode einer Exegese herabgesunken, die auf der Grundlage der reformatorisch bedingten Annahmen nach Belegstellen suchte. Die biblische Hermeneutik war kaum mehr als eine raffiniert getarnte Theologie der Grundvoraussetzungen, welche die dogmatischen Annahmen der Glaubensbekenntnisse verteidigen sollte. Die Hermeneutik wurde auf ein Regelwerk reduziert, mit dem man den Text wörtlich so las, dass die dogmatischen Vorverständnisse der orthodoxen Theologen bestätigt wurden.

Als Reaktion auf das Konzil von Trient ließ M. Flacius in seinem Werk Clavis Scripturæ Sacræ (1567) durchblicken, dass die Katechismen und Glaubensbekenntnisse der Reformation der entscheidende Maßstab für die protestantische Auslegung waren. Daher beruhte die nachreformatorische protestantische Auslegung nicht auf exegetischer historischgrammatischer Hermeneutik, sondern auf dogmatischer Hermeneutik. Sie sollte Glaubensbekenntnisse untermauern und bediente sich bestimmter, von Grundannahmen ausgehender Folgerungen, die man aus nicht zusammenhängenden Belegtexten gewann. Das entscheidende hermeneutische Prinzip war die dogmatische, von Grundannahmen ausgehende Exegese. Eine durch Belegstellen gestützte Theologie beherrschte die Exegese, was im Gegensatz zum reformatorischen Ideal - der Vorrangstellung der Exegese gegenüber der Theologie - stand. Dadurch kam der hermeneutische Fortschritt zum Stillstand. Außerdem gingen wegen des Ballasts erstarrter Dogmen die Originalität in der Exegese und viele neue theologische Einsichten verloren.


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nachreformatorische (1650-1800)

Hermeneutik der dogmatischen Theologie

Ausweitung des Konfessionalismus und der dogmatischen Hermeneutik

Während der Reformationszeit wurden eifrig exegetische Kommentare veröffentlicht, nachdem sich die Gelehrten von der starren Vorherrschaft des katholischen Traditionalismus gelöst hatten. Während der nachreformatorischen Zeit entstand jedoch eine Vielzahl von streng bekenntnisorientierten Abhandlungen. Die Zunahme des Konfessionalismus wurde durch zwei Faktoren bestimmt. Erstens begannen die nachreformatorischen Protestanten als Reaktion auf das Konzil von Trient ihre Glaubensbekenntnisse zu verfassen, um ihre Lehren zu verteidigen. Zweitens förderte die durch die Reformatoren gewonnene exegetische Freiheit das individuelle Schriftstudium, was zu einer Fülle neuer Auslegungen und unterschiedlicher theologischer Schlussfolgerungen führte. Der Grundsatz der Reformatoren, »Die Bibel legt sich selbst aus«, funktionierte so lange gut, wie jedermann zu den gleichen Auslegungen kam. Doch statt exegetische Freiheit zu gestatten und das gegenseitige theologische Gespräch zu fördern, spaltete sich der nachreformatorische Protestantismus in miteinander streitende Lager, wobei sich jedes als Verfechter der neuen Orthodoxie von den anderen streng abgrenzte.

Damals veröffentlichte fast jede bedeutende Stadt und protestantische Gruppierung ihr eigenes Glaubensbekenntnis, so z.B. die Marburger Artikel (1529), das Augsburger Bekenntnis (1530), die Confessio Tetrapolitana (1530), die Wittenberger Konkordie (1536), die Schmalkaldischen Artikel (1537), die Confessio Helvetica posterior (1566), die Konkordienformel (1580), die 39 Artikel (1562) und das Westminster-Bekenntnis (1643). Jedes Mal verband sich damit die Hoffnung auf lehrmäßige Einheit im Rahmen formaler Übereinstimmung. Statt Kontroversen zu schüren oder zu mehren, wollte man sie auch dadurch, dass man Glaubensbekenntnisse bis ins Kleinste ausformulierte, beenden. Die erstarrten Glaubensbekenntnisse und die fehlende Toleranz unter den Gruppierungen führten jedoch zur Zersplitterung des Protestantismus. Die lutherischen und reformierten Kirchen verbrauchten ihre geistliche Kraft in Lehrstreitigkeiten, die nur Theologen bekannt waren und an Haarspaltereien grenzten.


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Hermeneutik der dogmatischen Theologie

Die Hermeneutik des Westminster-Bekenntnisses

Die Zunahme des Konfessionalismus wirkte sich in vielerlei Hinsicht negativ auf die exegetische Hermeneutik aus. Das Westminster-Bekenntnis bestätigte die exegetischen Ideale der Reformatoren und verbesserte die exegetische Hermeneutik. Es wurde 1647 vom englischen Parlament und 1649 vom schottischen Parlament angenommen als Zusammenfasssung der Glaubenssätze des britischen Calvinismus. Unter all den Glaubensbekenntnissen ging es die Frage der Hermeneutik am unmittelbarsten an, indem es die hermeneutischen Lehrsätze von Luther und Calvin bestätigte und verbesserte. Die Erleuchtung des Geistes sei notwendig, um die grundlegende Botschaft der Schrift zu verstehen: »Wir erkennen die innere Erleuchtung des Heiligen Geistes als notwendig an, um die Dinge, die im Wort geoffenbart sind, zu verstehen.« Diese Erleuchtung führe zu einer grundsätzlichen Verständlichkeit der Schrift: »In der Schrift sind weder alle Dinge in sich selbst klar noch gleich verständlich für jeden; doch sind die Dinge, die notwendig sind zu wissen, zu glauben und zu halten, so deutlich vorgestellt und eröffnet an der einen oder anderen Stelle der Schrift, dass nicht nur der Geschulte, sondern auch der Ungeschulte beim rechten Gebrauch der normalen Mittel zu einem ausreichenden Verständnis dessen gelangen kann« (Artikel 1.7). Dieses »normale Mittel« zum Verständnis unklarer Schriftstellen ist die »Analogie der Schrift«: »Die unfehlbare Regel der Schriftauslegung ist die Schrift selbst. Deswegen muss, wenn eine Frage über die wahre und volle Bedeutung einer Schriftstelle vorliegt (die nur einen Wortsinn zulässt), das mit Hilfe anderer Stellen, wo deutlicher davon die Rede ist, erforscht und erkannt werden« (Artikel 1.9).


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Die Entstehung des Pietismus

Die erste Bewegung, die dem nachreformatorischen Konfessionalismus kritisch gegenüberstand, war der Pietismus, der die dogmatische und formalistische Art der Schriftauslegung missbilligte. Die protestantische Kirche war in ihre eigene Form der Scholastik zurückgefallen. Intellektuelle Übereinstimmung mit dem protestantischen Dogma war wichtiger als persönliche Frömmigkeit und Heiligung. Als Reaktion auf diesen sterilen Dogmatismus hob der Pietismus persönliche Frömmigkeit und inneres geistliches Leben hervor. Im Gegensatz zum ausgelaugten intellektuellen Dogmatismus der protestantischen Scholastik und dem sterilen Formalismus protestantischer Gottesdienste griff er wieder den praktischen Vollzug des christlichen Glaubens als Lebensstil auf, der sich in Hausbibelkreisen, Gebet und der Pflege einer persönlichen Sittlichkeit niederschlug. Um seine Ziele zu untermauern, schuf der Pietismus eine neue Hermeneutik, bei der er die persönliche Erfahrung des Bibelauslegers hervorhob. Somit ließ der Pietismus das hermeneutische Problem der Beziehung zwischen persönlichem und gottesdienstlichen Verständnis der Schrift entstehen.


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Die Entstehung des Pietismus

Jakob Böhme

Der Pietismus entstand im 17. Jahrhundert in Deutschland und breitete sich später in Westeuropa und Nordamerika aus. Seine Wurzeln lagen jedoch in der Mystik von Jakob Böhme (1575-1624). Er lehrte, dass man unabhängig von der Schrift Gott unmittelbar erkennen und durch subjektive Erfahrung mit ihm direkt Gemeinschaft haben könne. Er betonte die Überlegenheit persönlicher Erfahrung gegenüber bekenntnismäßiger Übereinstimmung. Die Subjektivität trat an die Stelle der objektiven exegetischen Hermeneutik der Reformatoren und der erstarrten dogmatischen Hermeneutik der Konfessionalisten.


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Die Entstehung des Pietismus

Philipp Jakob Spener

Philipp Jakob Spener (1635-1705), ein deutscher Pastor lutherischer Prägung, war der Begründer des Pietismus. Er missbilligte den toten Formalismus und erstarrten Konfessionalismus der protestantischen Scholastik, die zu einer Theologie der bloßen Worte verkommen war und der persönliche Frömmigkeit und individuelle Gemeinschaft mit Gott fehlten. In Pia desideria (1675) und Das Geistliche Priestertum (1677) betonte er die Notwendigkeit einer persönlichen Bekehrung zu Christus und einer innigen persönlichen Beziehung zu Gott, die Notwendigkeit eines heiligen Lebenswandels, das Priestertum aller Gläubigen und ein von Bibelstudium und Gebet geprägtes Leben. Spener reagierte auf die dogmatische Hermeneutik, der es nur um lehrmäßige Interessen ging, und hob das erbauliche und praktische Bibelstudium hervor. Er befürwortete eine exegetische, historisch-grammatische Hermeneutik, deren Ziel darin bestand, die erbaulichen und praktischen Auswirkungen des Schriftstudiums im Leben des Gläubigen umzusetzen.


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Die Entstehung des Pietismus

August Hermann Francke

August Hermann Francke (1663-1727) betonte das unmittelbare persönliche Bibelstudium. Obwohl Kommentare hilfreich seien, sollten sie das Schriftstudium selbst nicht ersetzen. Während der Einzelne das Recht habe, persönliche Auslegungen zu finden, hob Francke auch die Notwendigkeit einer historisch-grammatischen Exegese - insbesondere die Sprachwissenschaft - hervor. Er betonte ebenso, dass nur der Wiedergeborene die Bibel verstehen könne und dass die geistliche Erleuchtung für die richtige Auslegung notwendig sei.


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Die Entstehung des Pietismus

John Wesley

John Wesley (1703-1791) war der Führer der pietistischen Bewegung in England, deren Anliegen die Förderung einer lebendigen individuellen Frömmigkeit und Heiligkeit durch persönliches Bibelstudium und Gebet war. Wesley betonte stark, dass die Schrift verständlich sei. Nicht nur die grundlegende Heilsbotschaft sei klar, sondern auch die ganze Bibel: Sie könne vom einfachen Gläubigen erfasst und verstanden werden - allerdings je nachdem, wie ernst der Betreffende sein Glaubensleben nehme. Wesley verteidigte die vollständige Verständlichkeit der Schrift und sagte, dass die Bibel in ihrer Gesamtheit den Leser zu Christus weise. Wenn irgendetwas nicht klar zu sein scheine, solle man einfach Christus in die jeweilige Stelle einbeziehen.


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Die Entstehung des Pietismus

Jonathan Edwards

Jonathan Edwards (1703-1758), die führende Gestalt des Pietismus in Nordamerika, erreichte eine Ausgewogenheit, die anderen Pietisten fehlte. Im Gegensatz zu Spener und Wesley wollte er beim Schriftstudium nicht nur praktische Anwendungen, sondern auch lehrmäßige Unterweisung finden. Seine Hermeneutik war durch die typologische Exegese im Alten Testament gekennzeichnet, mit deren Hilfe er christologische Prophetien und praktische Anwendungen ableiten konnte. So seien beispielsweise die sieben Jahre harter Arbeit, die Jakob aus Liebe zu Rahel ertrug ( 1Mo 29,20 ), ein Bild von der Tat Christi, der aus Liebe zu der Gemeinde das Kreuz erlitt.


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Die Entstehung der historischen Kritik

In früheren Zeiten hatten Theodor von Mopsuestia, Chrysostomus und die Reformatoren bis zu einem gewissen Grad versucht, die Schrift historisch auszulegen. Mit der Entwicklung der empirischen Wissenschaften nahm das Verständnis für das genaue Wesen einer historischen Wissenschaft zu. Die Schrift wurde in historischer Hinsicht gründlicher untersucht als je zuvor. Man erkannte immer mehr, wie wichtig Abfassungszeitpunkt, historischkultureller Hintergrund und geschichtlicher Anlass für die biblischen Bücher sind. Diese neue Betonung der dem biblischen Text zu Grunde liegenden historischen Situation entlarvte die Unzulänglichkeit der Methode, die Schrift lediglich als Quelle von Belegtexten zu verwenden, die aus ihrem literarischen und geschichtlichen Zusammenhang gerissen wurden. Die Entstehung des Historizismus führte zu einem Niedergang der dogmatischen, sich auf Belegstellen stützenden hermeneutischen Methode des Konfessionalismus und leitete die Zeit der historisch-kritischen Forschung ein. Die historische Kritik führte zu einem Verständnis der fortschreitenden Offenbarung (Coccejus, 1603-1669) und zur Entwicklung einer historisch-biblischen Theologie (Gabler, 1753-1826).


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Die Entstehung der historischen Kritik

Vertreter der historischen Kritik

Einen wesentlichen Impuls für die Entwicklung der historischen Kritik gab Hugo Grotius (1583-1645). Er stellte eine historische Auslegung vor, die ausschließlich die geschichtlichen Verhältnisse der Schreiber berücksichtigte. So behauptete Grotius beispielsweise, dass der Knecht in Jesaja 53 nicht Jesus, sondern Jeremia gewesen sei, der während der babylonischen Gefangenschaft zu Unrecht leiden musste.

Jean-Alphonse Turretin (1671-1737), reformierter Theologe in Genf, veröffentlichte 1728 eine systematische Hermeneutik, die auf eine historisch-literarische Schriftauslegung abzielte:

Die Schrift sollte wie jedes andere Buch ausgelegt werden. Da derselbe Gott, der in der Schrift Offenbarungen gab, Menschen auch mit Vernunft begabt hat, mit deren Hilfe man Mitteilungen verstehen kann, ist der Mensch imstande, die Schrift ebenso wie jede andere Mitteilung zu erfassen.

Da sie ein geschichtliches Buch ist, muss die Schrift vom historisch-kulturellen Hintergrund der biblischen Autoren und nicht von irgendeinem modernen Standpunkt aus verstanden werden. Die Worte und Meinungen der heiligen Schreiber muss man in ihrem Bezug zu ihrem eigenen historisch-kulturellen Hintergrund verstehen.

Das Ziel der Auslegung besteht darin, die ursprüngliche Absicht des Autors in ihrem historisch-literarischen Kontext zu bestimmen.

Die Schrift muss im Licht des Gesetzes der Widerspruchslosigkeit (ein Sachverhalt kann nicht gleichzeitig wahr und falsch sein) ausgelegt werden. Daher trifft keine Auslegung zu, die sich nicht mit einem bereits als wahr bekannten Sachverhalt vereinbaren lässt.

Der Ausleger sollte (in Anlehnung an Thomas von Aquin) das Licht des natürlichen Verstandes gebrauchen, um scheinbare Widersprüche miteinander zu vereinbaren.

Da man die Schrift wie jedes andere Buch für sich selbst sprechen lassen sollte, muss sich der Verstand - der dem Gesetz des Widerspruchs unterliegt - frei von jeglichen modernen Grundannahmen der Bibel nähern, als sei sie ein unbeschriebenes Blatt.

Im Jahr 1750 betonte Johann Wettstein (1693-1754) die Bedeutung des historisch-kulturellen Umfelds der biblischen Autoren. Die Auslegung sollte im Licht der Weltsicht, der Denkgewohnheiten und der sprachlichen Besonderheiten der antiken Welt erfolgen, in der die biblischen Autoren zu Hause waren. So zeigte Wettstein beispielsweise, dass für die Exegese der Evangelien das Studium rabbinischer Literatur hilfreich ist.

Johann Ernesti (1707-1781) war einer der hervorragendsten Exegeten des 18. Jahrhunderts und veröffentlichte ein Lehrbuch zur Hermeneutik, das über einhundert Jahre lang für die neutestamentliche Auslegung maßgeblich sein sollte. Er betonte die Bedeutung der Exegese im Licht des historisch-kulturellen und literarischen Hintergrunds der biblischen Autoren.


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Einfluss der Textkritik

Textkritik des Alten Testaments

Als das während der Renaissance erneut einsetzende Studium antiker Texte auf die Heilige Schrift angewandt wurde, stellte man fest, dass der biblische Text, historisch gesehen, den gleichen Einflüssen ausgesetzt gewesen war wie andere Dokumente. Obwohl das Studium der alttestamentlichen Texte durch den Mangel an Textmaterial erschwert wurden, kam man voran, als die Gelehrten bemerkten, dass die masoretischen Vokalzeichen erst spät auftraten und dass die masoretischen Konsonanten an bestimmten Stellen nicht immer zuverlässig waren. Elia ben Ascher (1469-1549) brachte die gelehrte Welt 1538 aus der Fassung, als er nachwies, dass die Vokalzeichen und Akzente des masoretischen Textes erst einige Zeit nach Abfassung des konsonantischen Textes gesetzt wurden (frühestens im 6. Jahrhundert n. Chr.). Die Ansicht, dass die Konsonanten des masoretischen Textes unantastbar waren, ebnete schließlich den Weg zu den Veröffentlichungen von Louis Cappel (1585-1658), Jean Morin (1659) und Richard Simon (1678), die Unterschiede zwischen der Septuaginta (LXX) und dem masoretischen Text aufzeigten. In einer Veröffentlichungsreihe wies Louis Cappel, der oft als »Vater der alttestamentlichen Textkritik« bezeichnet wird, nach, dass die Schlussfolgerungen ben Aschers bezüglich der masoretischen Vokalzeichen richtig waren. Außerdem zeigte er, dass der masoretische Text selbst alles andere als zuverlässig war. In seinem epochalen Werk Critica Sacra (1650) untersuchte Cappel die Kethiv-Qere-Lesarten, den samaritanischen Pentateuch, die Septuaginta und alttestamentliche Zitate im Neuen Testament.


HERMENEUTIK
nachreformatorische (1650-1800)

Einfluss der Textkritik

Textkritik des griechischen Neuen Testaments

Ähnliche Forschungen gab es zum Neuen Testament. Schon früh hatten die ersten Ausgaben des griechischen Textes durch Erasmus (1516), Ximénes (Complutenser Polyglotte, 1522) und Simon de Colines (1534) aufgezeigt, dass die verschiedenen griechischen Handschriften untereinander große Unterschiede aufwiesen. In seiner dritten Ausgabe des griechischen Textes (1551) verglich Robert Estienne erstmals die Varianten des griechischen Neuen Testaments von Erasmus' vierter (1527) und fünfter (1535) Ausgabe, die Lesarten der Fußnoten der Complutenser Polyglotte und fünfzehn andere Handschriften miteinander. Bei seinen zahlreichen Ausgaben des griechischen Neuen Testaments benutzte Theodor Beza mehrere alte Übersetzungen. Lucas Brugensis (1580) hob die Bedeutung der neutestamentlichen Zitate in der Literatur der Kirchenväter hervor. Die weitere Entwicklung der neutestamentlichen Textkritik wurde jedoch durch die weit verbreitete Bindung an den Textus Receptus behindert. Dieser erschien in England in der 1550 von Estienne veröffentlichten Ausgabe und 1663 in der für das übrige Europa bestimmten Ausgabe der Gebrüder Elzevir.

Als der Codex Alexandrinus 1628 in England auftauchte, erwachte neues Interesse an der Textkritik. Dies ebnete den Weg für wissenschaftliche Versuche im 17. und 18. Jahrhundert, den Wortlaut des Urtextes zu rekonstruieren. Damals wurden große Fortschritte bei dem Vorhaben erzielt, den Urtext des Neuen Testaments zu bestimmen. Johann Albrecht Bengel (1687-1752), als Vater der modernen neutestamentlichen Textkritik bekannt, war der erste, der das Bestehen von Textfamilien auf der Grundlage gemeinsamer Merkmale erkannte. Bengel veröffentlichte 1734 eine kritische Ausgabe des griechischen Neuen Testaments, der ein kritischer Kommentar beigefügt war. Er wählte seine Lesarten in seinem griechischen Neuen Testament nach der Einteilung von Handschriften in Textfamilien und dem Prinzip aus, dass man der schwierigeren Lesart den Vorzug geben müsse. Johann Jakob Wettstein (1693-1754) verglich viele neutestamentliche Handschriften und veröffentlichte im Jahr 1751 ein zweibändiges griechisches Neues Testament mit einem Textkommentar. Die 1633 vorgenommene Defacto-Kanonisierung des griechischen Textus Receptus durch den Protestantismus wurde aufgrund der gründlicheren Bemühungen von Bengel und Wettstein schließlich hinfällig. Andere Gelehrte folgten ihrem Beispiel und klassifizierten und bewerteten neutestamentliche Handschriften. Dabei wurden sie sich immer mehr bewusst, wie viel man noch tun musste, um all die Varianten an den verschiedenen Textstellen zu katalogisieren und zu entscheiden, welche Variante die beste ist.


HERMENEUTIK
nachreformatorische (1650-1800)

Der Einfluss des Rationalismus

Als man sich in der Renaissance zunehmend auf die menschliche Vernunft verließ, entstand eine intellektuelle Bewegung, die sich auf die biblische Hermeneutik in der nachreformatorischen Zeit drastisch auswirkte - der Rationalismus. Ironischerweise liegen die Wurzeln des Rationalismus im christlichen Humanismus von Gelehrten wie Erasmus. Im Dienst der Kirche hatten sie mit ihrer Vernunft die Bibel in den Urtextsprachen studiert. Sie glaubten auch, dass die Vernunft bei der Erforschung der Bibel Christen helfe, ihren Glauben zu festigen. Im 17. und 18. Jahrhundert wurde die Waffe der Vernunft nicht nur gegen die Autorität der Kirche, sondern auch gegen die Schriftautorität eingesetzt. Dies bereitete den Boden für eine völlige Infragestellung der biblischen und kirchlichen Autorität im 19. Jahrhundert.

Die führenden Rationalisten waren Thomas Hobbes (1588-1679), René Descartes (1596-1650), John Locke (1632-1703) und Baruch Spinoza (1632-1677). Sie stellten die hermeneutischen Grundlagen der traditionellen Orthodoxie in Frage, als sie behaupteten, dass die menschliche Vernunft das Glaubens- und Wahrheitskriterium werden müsse. Der menschliche Intellekt sei imstande zu entscheiden, was wahr und falsch ist. Er tue dies, indem er über alles nachdenke, was dem Geist in einer Raum-Zeit-Welt begegne, und nicht aufgrund der Offenbarung eines transzendenten Gottes. Die Bibel sei dort wahr, wo sie den Schlussfolgerungen der unabhängigen menschlichen Vernunft entspreche. Was jedoch nicht mit den Vernunftschlüssen übereinstimme, könne ignoriert oder abgelehnt werden. Für den Rationalismus war der Glaube der traditionellen Orthodoxie mit der Vernunft unvereinbar. Im Gegenzug verwarfen John Wesley und andere Protestanten die menschliche Vernunft, die nichts als verdorben und gefallen sei.

Von der konfessionellen Orthodoxie enttäuscht, schälten die Rationalisten aus dem, was sie als theologische Hülle der Schrift ansahen, den schlichten Kern biblischer Wahrheit heraus, den sie mit Hilfe der historischen Forschung und der menschlichen Vernunft zu finden suchten. Hobbes schloss aus dem inneren Sachverhalt der fünf Bücher Mose, dass Mose lange vor der Vervollständigung des Pentateuchs gelebt habe und daher nicht sein Verfasser sein könne. Spinoza lenkte die Aufmerksamkeit auf die angeblichen literarischen Ungereimtheiten, historischen Widersprüche und chronologischen Schwierigkeiten im ersten Buch Mose. Er meinte daher, dass nicht Mose, sondern Esra den Pentateuch sowie die Bücher Josua und Richter und auch die Samuelund Königebücher geschrieben habe. Spätere Redaktoren hätten die Bücher von der Genesis bis zu den Königebüchern revidiert, während die Chronikbücher nach 164 v. Chr. geschrieben worden seien.

Die rationalistische Auffassung, die Thomas Hobbes (1588-1679) über die Offenbarung vertrat, führte zu einer subjektiven Hermeneutik mit rein politischen Zielen. Er leugnete zwar nicht, dass Gott sich direkt oder indirekt durch Vermittlung eines menschlichen Werkzeugs offenbaren könne. Man könne jedoch nicht wissen, ob sich Gott offenbart hat oder nicht. Daher könne man auch nicht wissen, ob man die theologische Autorität der Schrift akzeptieren solle oder nicht. Folglich machte sich Hobbes nur die Schriftabschnitte mit praktischem bzw. pragmatischem Wert zu eigen. So seien beispielsweise die Zivilgesetze nützlich für die politischen Institutionen.

Baruch Spinoza (1632-1677), der aus Holland stammende jüdische Philosoph, versuchte, das Gebiet der Philosophie von den Ansprüchen der Theologen zu befreien, indem er behauptete, dass Theologie (Offenbarung) und Philosophie (Vernunft) voneinander getrennte Bereiche seien. Die Schrift solle der Autorität menschlicher Vernunft unterworfen werden, und nicht umgekehrt. In seinem ursprünglich anonymen Tractatus Theologico-Politicus (1670) trat Spinoza für die Vormachtstellung der Vernunft bei der Schriftauslegung ein. Die Schrift solle wie jedes andere Buch studiert werden - indem man die Regeln der historischen Forschung benutzt. Aus Sicht der Vernunft liege immer dort, wo nach biblischem Anspruch Gott in die Geschichte direkt eingegriffen hat, einfach eine übliche jüdische Ausdruckweise und keine Offenbarung vor. Wundergeschichten seien weiter nichts als eine überzeugende Methode, unwissende Menschen zum Gehorsam zu bewegen. Somit solle man die Bibel nur von ihren historischen Anliegen her studieren. Spinoza legte mehrere hermeneutische Regeln für die historische Auslegung fest. Sie betreffen u.a. die Bedeutung des Hebräischen und Griechischen, den geschichtlichen Hintergrund, hebräische Redensarten und die antiken Weltsichten. Richtige Auslegung sei unmöglich, wenn keine Textkritik durch die Vernunft dazukomme. Um die Bibel zu verstehen, müsse der Ausleger sie genau so betrachten, wie ein Naturforscher die Phänomene der Natur beobachtet. Hören auf die Schrift sei Sache der menschlichen Vernunft und nicht der Mahnrufe bei den orthodoxen Konfessionalisten.


HERMENEUTIK
nachreformatorische (1650-1800)

Der Einfluss des Rationalismus

Die englischen Deisten

Der Einfluss des Rationalismus auf die Hermeneutik spiegelt sich in den exegetischen Abhandlungen der Deisten wider. Sie übernahmen die Vernunft als oberste Instanz in Fragen der Wahrheit und des Glaubens. Ihrer Meinung nach müssten Teile des Alten Testaments verworfen werden, weil sie grausame Sachverhalte enthielten. Leben und Lehre Jesu könne man auf der Grundlage der natürlichen Religion und nicht der geoffenbarten Religion erklären. Thomas Woolston (1669-1731/33) tat die Wunderberichte als bloße »romantische Erzählungen« ab.


HERMENEUTIK
nachreformatorische (1650-1800)

Einfluss des wissenschaftlichen Empirismus

Während des 17. und 18. Jahrhunderts wurden neue wissenschaftliche Entdeckungen gemacht, die mit der Weltsicht der Orthodoxie unvereinbar waren und ihre hermeneutischen Grundlagen in Frage stellten. Als Europäer China und seine alte Kultur entdeckt hatten, bestritt man die traditionelle Auffassung über das Alter der seit Adam existierenden Menschheit und geriet dabei mit der Weltchronologie von Erzbischof Ussher, der den Zeitpunkt der Schöpfung auf das Jahr 4004 v. Chr. festlegte, und seinem hermeneutischen Ansatz bei den Genesis-Stammbäumen in Konflikt. Die astronomischen Beobachtungen von Kopernikus (1473-1543), Bruno (1548-1600), Kepler (1571-1630) und Galilei (1564-1642) entfremdeten die Naturwissenschaftler der biblischen Lehre. Nach Meinung zahlreicher Bibelausleger damals konnte man nicht behaupten, dass die Bibel ein wissenschaftlich exaktes Bild vom Kosmos vermittle. Angesichts der Vorherrschaft des wissenschaftlichen Empirismus standen viele jeder theologischen These kritisch gegenüber, die nicht durch Sinneswahrnehmung oder empirische Bestätigung nachgewiesen werden konnte.

Leider verweigerte sich die konfessionelle Orthodoxie sowohl protestantischer als auch katholischer Prägung der wissenschaftlichen Diskussion. Stattdessen griffen sie die Wissenschaftler an, die ihre bekenntnisorientierten Aussagen über den Kosmos angefochten hatten. Anstatt ihre naive Hermeneutik der speziellen Offenbarung zu modifizieren, um den neuen wissenschaftlichen Entdeckungen auf dem Hintergrund der allgemeinen Offenbarung Rechnung zu tragen, vollzogen sie einfach eine Abkehr von der wissenschaftlichen Revolution. Als beispielsweise Calovius (1612-1686) mit dem wissenschaftlichen Beweis konfrontiert wurde, dass sich die Erde um die Sonne drehe und nicht der Mittelpunkt des Universums ist, erklärte er nur, dass dies »schriftwidrig« sei. Indem sie dachten, dass die neuen wissenschaftlichen Entdeckungen die Schriftautorität und nicht die Unzulänglichkeiten ihrer kleinlichen hermeneutischen Methoden in Frage stellen würden, schufen die Konfessionalisten einen Antagonismus zwischen Glauben und Wissenschaft, der jahrhundertelang Bestand haben sollte. Unter ihrem Einfluss wurden Glauben und Wissenschaft zu Gegensätzen, sodass eine unnötige Zweiteilung (Dichotomie) entstand, welche die Schriftautorität in den Augen der wissenschaftlichen Welt im Lauf der Zeit ernsthaft untergrub.

Ironischerweise machten die lutherischen, reformierten und katholischen Tra ditionalisten gemeinsame Sache bei dem Anliegen, die Weltsicht der Orthodoxie zu verteidigen. Nur wenige Protestanten nahmen die Herausforderung an, die biblische Weltsicht und die Grundlagen der neuen Vernunft miteinander zu vereinbaren. Dazu gehörten Balthasar Bekker (1643-1698) und Christoph Wittich (1625-1687). Die meisten nahmen jedoch eine Abwehrhaltung ein: Vertreter der Orthodoxie zogen sich einfach in ihre Gräben zurück und blieben umso hartnäckiger bei ihren Aussagen. Die simplifizierende nachreformatorische Hermeneutik des Konfessionalismus konnte wegen ihrer Unzulänglichkeit die Rationalisten nicht ansprechen und war außerstande, ihre Fragen zu beantworten. Die biblische Hermeneutik wurde auf ein Regelwerk reduziert, das den Text wörtlich las - und zwar so, dass die dogmatischen Vorverständnisse der orthodoxen Theologen bestätigt wurden. Die Unfähigkeit der Orthodoxie, die betreffenden Probleme anzusprechen, führte schließlich zu den vernichtenden Angriffen der Bibelkritik.


HERMENEUTIK
nachreformatorische (1650-1800)

Einfluss des philosophischen Empirismus

David Hume (1711-1776) sagte, dass Tatsachen nicht durch eine Apriori-Begrün-dung nachgewiesen, sondern durch die Erfahrung entdeckt oder aus ihr gewonnen werden können. Alle Erkenntnis leite sich ab aus der Sinneserfahrung und vom Nachdenken darüber, was sich durch die Sinne dem Geist erschließt. Im Geist gibt es nichts, was nicht zuvor in den Sinnen war. Will man die Stichhaltigkeit eines Gedankens prüfen, muss man fragen, welche Sinneseindrücke ihn veranlasst haben. Es gibt kein Licht der Vernunft, das diesen von den Sinnen vermittelten Eindruck durchdringt und das zu einem wesenhaften Verständnis der bestehenden Dinge führt. Die menschliche Existenz wird auf ein physisches (externes) Objekt reduziert, das untersucht werden muss wie andere physische Objekte auch. Das menschliche Sein ist ganz Materie und Substanz, eine immaterielle Seele gibt es nicht. Gottes Existenz, der Ursprung der Welt und andere Themen, die über die begrenzte menschliche Erfahrung hinausgehen, sind nicht beweisbar und daher bedeutungslos.

Hume war ein Gegner des Offenbarungs- und Wunderglaubens. Da ein Wunder eine Verletzung eines Naturgesetzes oder eine Ausnahme davon darstellt, gehört es in den unteren Bereich der Wahrscheinlichkeit. Die Weisen werden ihren Glauben immer auf das gründen, was am wahrscheinlichsten ist. Daher glaubt ein Weiser nicht an Wunder. Humes Skeptizismus stellte die Grundfesten biblischer Hermeneutik als Studium objektiver, verständlicher und vertretbarer Wahrheit in Frage.

Immanuel Kants (1724-1804) Werk bildete eine Wasserscheide und einen Wendepunkt in der Philosophiegeschichte. Seine Wirkung war so umfassend und tief greifend, dass keine intellektuelle Disziplin davon unberührt blieb - nicht einmal die Hermeneutik, obwohl sich nur wenige Exegeten dessen bewusst waren.

Kant begann sein Wirken mitten in der Auseinandersetzung zwischen den beiden damaligen Methoden der Wahrheitsfindung: dem Rationalismus mit Anhängern in Kontinentaleuropa und dem Empirismus mit Befürwortern in Großbritannien. Er versuchte, eine Synthese zwischen dem Empirismus und Rationalismus zu finden, um bestimmen zu können, ob es möglich sei, metaphysische Erkenntnis über Gott zu gewinnen.

Obwohl Kant die Rolle des Empirismus akzeptierte, lehnte er seine skeptizistische Schlussfolgerung ab, dass die Überzeugungen, die außerhalb des Erfahrungsbereichs existieren, nicht gerechtfertigt seien. Kant verwarf jedoch die rationalistische Behauptung, dass objektive Wahrheiten über das, was existiert und was nicht, allein durch den Gebrauch des Verstandes nachgewiesen werden können. Im Grunde war Kant Agnostiker. Keiner kann irgendeine wahre Erkenntnis über die letzte Wirklichkeit gewinnen. Man ist außerstande, die von einem äußereren Erscheinungsbild gesteckten Grenzen zu überschreiten. Es ist nicht möglich, den Unterschied zwischen der Erscheinung und der Wirklichkeit, die unerkennbar ist, zu erkennen. Man hat oft gesagt, dass Hume Kant das Problem der Erkenntnis überlassen und Kant es zurückgegeben habe, als wäre es die Lösung. In vielerlei Hinsicht ist Kant ein einzelner Vorläufer derer, die darauf vertrauen, dass der Mensch durch die Macht seiner Vernunft mit den materiellen Dingen fertig wird, während er außerstande ist, irgendetwas jenseits des materiellen Bereichs zu bewältigen. Alles, was offensichtlich wirklich ist, kann man rational rechtfertigen, wohingegen alle letzten Dinge rational nicht verteidigt werden können

Kant beschäftigte sich mit der Spannung, die durch die Aufklärung und dem Rationalismus zwischen Wissenschaft/ Vernunft und Glauben entstanden war. Seine Lösung für dieses Problem bestand darin, die beiden Bereiche zu trennen, indem er die von beiden wahrgenommenen Funktionen eingrenzte. Die Religion muss ihre Beschränkungen anerkennen: Die grundlegenden Lehrsätze des Glaubens können nicht durch die theoretische Vernunft nachgewiesen werden. Auch die Wissenschaft unterliegt Grenzen: Beobachter sehen Dinge nie so, wie sie wirklich sind, da der Geist kein bloßes Behältnis ist, das durch äußere Sinneseindrücke geformt wird, sondern vielmehr ein aktives Organ darstellt, das in die Masse ungeordneter Daten, der es sich gegenübersieht, Ordnung bringt. Die uns bekannte Welt ist eine durch die Befehlsgewalt der Sinneseindrücke geschaffene Welt. Somit sollte der Exeget die Schrift entsprechend auslegen. Kants hermeneutischen Ansatz hat man als eine bloße Wiederbelebung der alten allegorischen Methode bezeichnet.


HERMENEUTIK
nachreformatorische (1650-1800)

Der Einfluss der Bibelkritik

Zahlreiche kulturelle und hermeneutische Entwicklungen haben dazu beigetragen, dass die Bibelkritik entstehen konnte.

1. Die Entwicklung neuer hermeneutischer Methoden (die Mystik von Böhme, der Pietismus von Spener und der von Coccejus betonte fortschreitende Charakter der Offenbarung) befreiten das Denken der protestantischen Theologen aus dem engen Korsett des Konfessionalismus und ermöglichte ihnen, die Schrift frei von dogmatischen Interessen zu studieren.

2. Die Entwicklung der Textkritik ebnete den Weg zur empirischen Erforschung von Autor, Abfassungszeit, Aufbau und Bedeutung eines jeden biblischen Buches. Da die historische Kritik genauere Erkenntnisse über den Urtext geliefert hatte, lag es auf der Hand, im Rahmen der historischen Forschung nach einem genaueren Verständnis des biblischen Inhalts zu suchen.

3. Zwischen 1640 und 1750 wurde die Verbindung zwischen dem Alten und dem Neuen Testament insoweit gelockert, als das Alte Testament nicht mehr nach dem hermeneutischen Schema ausgelegt wurde, das man aus dem Neuen Testament hergeleitet hatte.

4. Die Entstehung des wissenschaftlichen Empirismus und die Unfähigkeit der orthodoxen Theologie und Hermeneutik, den neuen Einblicken in die allgemeine Offenbarung Rechnung zu tragen, führte viele biblische Exegeten zu der Meinung, dass sie die Bibel nicht als wissenschaftlich exakt ansehen könnten.

5. Der Anbruch des Rationalismus und die Auswirkungen des Deismus beeinflussten das Denken vieler Bibelausleger, sodass sie sich mehr dem Gedanken öffneten, dass das Alte Testament Widersprüche enthalten könne und sogar die Schrift selbst vielleicht nicht inspiriert sei.

6. Gelehrte begannen, Aufbau und Verfasserschaft antiker Dokumente zu untersuchen - angestoßen durch ein Werk, das eine verheerende Wirkung hatte: Lorenzo Vallas Veröffentlichung über die so genannte »Konstantinische Schenkung« (1440). Dies ebnete der quellenkritischen Erforschung von Autorschaft und Aufbau der biblischen Bücher den Weg.

All diese Faktoren führten schließlich zu der Entwicklung der »historisch-kritischen Methode«. Traditionelle Überzeugungen von der Verfasserschaft und dem Aufbau der alttestamentlichen Bücher wurden angefochten, was die Entstehung und Vorherrschaft der Quellenkritik zur Folge hatte.


HERMENEUTIK
nachreformatorische (1650-1800)

Der Einfluss der Bibelkritik

Vertreter der Bibelkritik

Eine Quelle der kritischen Wissenschaft kam unerwarteterweise aus dem katholischen Frankreich. Es war Richard Simons Histoire critique du Vieux Testament (1678). Simon, ein französischer Katholik, wurde der Vater der Bibelkritik. Simon verwarf viele traditionelle Ansichten über die Verfasser alttestamentlicher Bücher. Sie seien nicht von Mose, Josua, Samuel oder David geschrieben, sondern vielmehr von Schreibstuben zusammengestellt worden. Simon sagte, dass es legitim sei, die Zusätze oder Berichtigungen, die in den ursprünglichen Schriften eventuell vorgenommen worden sind, zu untersuchen. Er behauptete, dass diese Zusätze und Änderungen eine genauso große Autorität besäßen wie die ursprüngliche Form des Textes. Teile des Alten Testaments enthielten chronologisch verwirrende Sachverhalte und Fehler.

Simon glaubte, dass ein Gelehrter die Freiheit habe, solche Fragen kritisch zu untersuchen, solange er die Lehrautorität der katholischen Kirche akzeptierte. Als theologisch konservativ Eingestellter griff Simon nicht die traditionelle Offenbarungsauffassung an, sondern wandte vielmehr das hermeneutische Prinzip Spinozas in einer Reihe gelehrter Abhandlungen auf die Schrift an. Er beanspruchte das Recht, die Bibel so zu erforschen, wie man jedes andere literarische Werk der antiken Welt betrachtet. Simons Ziel bestand darin, die Bibel im Gegensatz zu den vorgefassten Meinungen und Voraussetzungen der Katholiken und Protestanten möglichst objektiv zu studieren.

Der Wechsel der Gottesnamen YHWH (Jahwe) und Elohim war einer der Anhaltspunkte, die den Physiker Jean Astruc 1753 dazu veranlassten, im ersten Buch Mose zwei Hauptquellen, zwei untergeordnete Quellen und die Spuren von etwa zwölf anderen Dokumenten voneinander zu unterscheiden. Obwohl viele der Hypothesen Astrucs später aufgegeben wurden, muss man ihn als den ansehen, der den Anstoß zur Quellenscheidungstheorie über den Aufbau des Pentateuchs gab.

Siehe auch: Edwards, Jonathan .

Gordon H. Johnston

Frederic W. Farrar, History of Interpretation (Grand Rapids: Baker, 1961); Daniel P. Fuller, »Interpretation, History of« in International Standard Bible Encyclopedia , rev. Ausg. (Grand Rapids: Eerdmans, 1982), 2,863-874; R. M. Grant und D. Tracy, A Short History of the Interpretation of the Bible (Philadelphia: Fortress Press, 1984), 100-109; K. Grobel, »Interpretation, History and Principles of« in Interpreter´s Dictionary of the Bible (Nashville: Abingdon Press, 1962), 2,718-724; Werner G. Jeanroud, »History of Hermeneutics« in Anchor Bible Dictionary (New York: Doubleday, 1992), 3,433-443; William W. Klein, Craig L. Blomberg und Robert L. Hubbard jun., Introduction to Biblical Hermeneutics (Dallas: Word Publishing, 1993), 21-51; W. Neil, »The Criticism and Theological Use of the Bible, 1700-1950« in The Cambridge History of the Bible (Cambridge: University Press, 1970), 3,128-165; Bernard Ramm, Protestant Biblical Interpretation (Grand Rapids: Baker, 1979); J. W. Rogerson, »History of Interpretation« in Anchor Bible Dictionary (New York: Doubleday, 1992), 3,425-433; Samuel Terrien, »History of the Interpretation of the Bible: The Rise of Biblical Criticism (ca. 1650-1800)« in The Interpreter´s Bible (Nashville: Abingdon Press, 1952), 1,127-132.


HERMENEUTIK
rabbinisch-orthodoxe

Einige Gelehrte glauben, dass es bereits zur Zeit des Königs Salomo verschiedene Richtungen der jüdischen Bibelauslegung gab. Die Sadduzäer und Pharisäer sowie ihre unterschiedlichen Ansichten zur Schrift kann man auf die Rivalität Abjatars und Zadoks um das hohepriesterliche Amt zurückverfolgen. Die beiden jüdischen Parteien und ihre Auslegungsmethoden erlebten während der Zeit Esras und Nehemias ihre Blütezeit. Da das Wort Pharisäer von »absondern« hergeleitet ist (und somit »heiliger sein« bedeutet), verweisen einige auf Esr 6,21 . Dort heißt es: »... sowie jeder, der sich von der Unreinheit der Nationen des Landes zu ihnen [den Führern] abgesondert hatte.«

Während der hellenistischen Zeit waren die beiden Gruppen in politische Lager geteilt. Die Sadduzäer verkörperten die herrschende Priesteraristokratie, die Pharisäer dagegen die Mittelklasse. Die Pharisäer bauten um die biblischen Gebote viele Zäune und förderten damit die Entstehung einer ganzen Gelehrtenschule. Im Lauf der Zeit gewannen die Sadduzäer an Einfluss. Sie lehnten die göttliche Vorsehung ab und glaubten, dass Gott auf Erden das Gute belohnt und das Böse bestraft. Außerdem verwarfen sie ein Leben nach dem Tod.

Obwohl die Sadduzäer eine Bewegung bildeten, mit der man zur Zeit Christi rechnen musste, war das Pharisäertum dominierend, wenn es um die Auslegung des Gesetzes ging. Es ist interessant, dass Jesus mit den Pharisäern nicht wegen ihrer biblischen Lehren, sondern wegen ihrer Heuchelei und Gesetzlichkeit ins Gericht ging! Obwohl sie an einer im Wesentlichen wörtlichen Hermeneutik festhielten, zeichneten sich die Pharisäer vor allem dadurch aus, dass sie an die mündliche Tradition des Gesetzes glaubten. Dadurch wurde eine riesige, die eigentlichen Gesetze überlagernde Gesetzessammlung geschaffen. Sie vertraten diese Auffassung mit dem Hinweis auf Neh 10,33 : »Wir wollen uns als Gebot auferlegen ...«

Zur Zeit des Neuen Testaments gab es zwei rivalisierende Auslegungsschulen der damaligen gelehrten Welt. Rabbi Hillel systematisierte das Chaos unzähliger Regeln, die aus dem Gesetz hervorgegangen waren. Er stellte sieben Regeln auf, wodurch der Hauptanteil jüdischer Traditionen aus der Schrift hergeleitet werden konnte. Obwohl nicht beabsichtigt, öffnete dies der übertriebenen Allegorisierung Tür und Tor. Rabbi Schammai gründete eine Schule, die eine engere Auslegung bevorzugte. Er glaubte, dass die Schrift im Sinn der vollen Rechtsverbindlichkeit und mit äußerster Strenge ausgelegt werden müsse. In einem damaligen jüdischen Sprichwort hieß es: »Hillel löste, was Schammai band.«

Insgesamt gesehen, muss man die jüdischen Rabbiner dafür loben, dass sie allein schon mit den Buchstaben der Schrift gewissenhaft umgingen. Tan stellt dazu fest: »Die jüdischen Rabbiner haben die wörtliche Methode im Grund nicht missbraucht. Wörtliche Auslegung und kontextloses Festhalten am Buchstaben sind zweierlei. Als die Rabbiner auf Abwege gerieten, ging es nicht mehr nur darum, dass sie den bloßen Buchstaben der Schrift verwarfen ... Der Ausleger, der mit der wörtlichen Auslegungsmethode richtig vertraut ist, kann in seiner Treue gegenüber der wörtlichen Auslegung des Wortes Gottes nie konsequent genug sein.«

Die ägyptische Stadt Alexandria brachte fraglos jüdische Gelehrte hervor, die im Blick darauf, wie die Griechen das Alte Testament betrachten würden, ein feines Gespür hatten. Ihrer Argumentation zufolge würden die Heiden die biblischen Berichte als zu bedenklich (Juda verführt Tamar) und als zu grausam (Davids militärische Siege) bezeichnen. Daher begannen die Rabbiner, die Philosophie und die literarischen Formen des Griechentums zu übernehmen. Die Allegorie wurde zur verbindlichen Auslegungsmethode. Philo (ca. 20 v. Chr. bis 50 n. Chr.) sagte, dass der wörtliche Sinn Milch und die allegorische Bedeutung feste Speise sei. Er glaubte, dass hinter dem eigentlichen biblischen Text etwas Ungewöhnliches verborgen sei. Dies gelte, wenn »Ausdrücke doppelt verwendet, ... bereits bekannte Tatsachen wiederholt (werden), ... wenn Wörter leicht geändert werden, wenn die Ausdrucksweise ungewöhnlich ist und wenn es Einzahl und Mehrzahl sowie bei der der Zahl- oder Zeitform irgendwelche Abweichungen gibt«.

Der Talmud ist als Werk des realistischen Rationalismus beschrieben worden. Im Gegensatz dazu steht die Kabbala bzw. die Menge mystischer Literatur, die über einen langen Zeitraum hinweg gesammelten Schriften »verborgener Weisheit«. Zwei der am meisten geschätzten Bücher sind das Buch der Schöpfung und das Zohar , eine Art Lexikon okkulter Überlieferung. Die Kabbala sprach abergläubische Menschen an. Die Kabbalisten waren bestrebt, eine erneuerte Erlösungshoffnung dadurch zu erlangen, dass sie das Leiden des jüdischen Volkes darstellten. Sie wollten geistliche Wahrheit so einfach erklären, dass die Juden auf diese Weise noch mehr nach Gott suchten. Obwohl solche Werke auf die einfachen, ungebildeten Juden im Mittelalter einen gewissen Einfluss hatten, hielt die vorherrschende rabbinische Auslegung im Wesentlichen am Wortsinn fest.

Die wörtliche Auslegung wurde durch den Einfluss des Raschi von Troyes (1040-1105) gestützt, der als der »Fürst unter den Bibelauslegern« bezeichnet wird. Rabbi Mose ben Maimon (1135-1204), jüdischer Theologe, Philosoph und Arzt, war ein begeisterter rationalistischer Anhänger des Aristoteles und legte das Alte Testament frei und auch allegorisch aus. Es war aber Raschi, der eine eiserne Regel aufstellte: »Die Schrift muss ihrem klaren, natürlichen Sinn entsprechend und jedes Wort dem Kontext gemäß ausgelegt werden. Es können jedoch auch traditionelle Erklärungen übernommen werden.« Bis zum Zeitalter des Rationalismus war für die meisten rabbinischen Exegeten eine wörtliche Hermeneutik maßgebend. Mit Ausnahme der orthodoxen Kreise des Judentums herrscht eine allegorische und unhistorische Methode der Bibelauslegung vor. Der christliche Prämillennialismus steht den im orthodoxen Judentum immer vertretenen Ansichten am nächsten, wenn es um das Tausendjährige Reich und um das Kommen des Messias geht. Strittig ist jedoch die Frage »Und wer ist der Messias?« gewesen.

Siehe auch: Philo Judaeus .

Mal Couch

Nathan Ausubel, Pictorial History of the Jewish People (New York: Crown Publishers, 1964); Michael Avi-Yonah und Zvi Baras, Hg., Society and Religion in the Second Temple Period (Jerusalem: Massada Publishing Ltd., 1977); Frederic W. Farrar, History of Interpretation (London: Macmillan and Company, 1886); Raphael Patai, The Messiah Texts (Detroit: Wayne State University Press, 1979); E. P. Sanders, »Judaism« in Practice & Belief , 63 v. Chr. bis 66 n. Chr. (Philadelphia: Trinity Press International, 1992; Paul Lee Tan, The Interpretation of Prophecy (Rockville: Mass.: Assurance Publishers, 1988); C. D. Yonge, Übersetz., The Works of Philo (Peabody, Mass.: Hendrickson Publishers, 1993).


HERMENEUTIK
reformatorische

Obwohl es zahlreiche Faktoren gab, die zur Reformation im 16. Jahrhundert führten, stand die hermeneutische Debatte im Mittelpunkt. Die Reformation war eine Zeit des sozialen und kirchlichen Umbruchs, doch vor allem eine Phase der hermeneutischen Umwälzung. Sie leitete eine Revolution in der Schriftauslegung ein, deren Auswirkungen bis in die Gegenwart fortbestehen.

Diese hermeneutische Revolution war mehr als alles andere ein Ergebnis der kulturellen Situation des aus dem Mittelalter und der Renaissance hervorgegangenen Abendlandes. Während des Spätmittelalters begannen christliche Humanisten wie Erasmus, den Traditionalismus der erstarrten Scholastik durch ihre neuen Erkenntnisse in Frage zu stellen. Die Humanisten verspotteten die nur Eingeweihten bekannte, haarspalterische, weit hergeholte Logik der scholastischen Theologie, die den hungrigen Seelen der Christen keine geistliche Nahrung bot. Viele sehnten sich offen nach dem schlichten Glauben und der Frömmigkeit der ersten Christen. Da die scholastische systematische Theologie der traditionellen Orthodoxie die intellektuellen Stützen lieferte, betrachteten die Humanisten die traditionelle Scholastik als Festung, die fallen müsse.

Wachsende Unzufriedenheit mit der allegorischen Methode entfachte ein Verlangen nach einem besseren Auslegungsansatz. Bereits im 15. Jahrhundert beklagte Geiler von Kaisersberg, dass die Schrift wegen der allegorischen Methode zu einer »Nase aus Wachs« werde, die der Leser bei der Auslegung biege, wie er wolle. Vielen widerstrebte der willkürliche, spekulative Charakter der Allegorie. Somit war der Boden dafür bereitet, dass die Reformatoren die Allegorie schließlich verwarfen und die wörtliche historisch-grammatische Methode übernahmen.

Die Renaissance begann im 14. Jahrhundert in Italien und breitete sich bis zum 17. Jahrhundert über ganz Europa aus. Sie hatte direkten Einfluss auf die Reformatoren, insbesondere auf Erasmus, Luther und Calvin. Das Interesse an klassischen Schriften und speziell an ihrer Historizität, darunter an der Bibel und ihrem geschichtlichen Hintergrund, wurde wach. In der Renaissance kam auch ein neues Interesse am Studium der antiken Sprachen auf, darunter des Hebräischen und Griechischen. Dadurch gewannen die Gelehrten neue Einblicke in die Schrift.

Im Jahr 1506 begann der Philologe Johannes Reuchlin, mehrere Bücher über hebräische Grammatik als Grundlage für das moderne Studium der hebräischen Sprache zu veröffentlichen. 1516 redigierte und veröffentlichte Desiderius Erasmus, der führende Humanist der Renaissance, die erste moderne Ausgabe des griechischen Neuen Testaments, dem er eine neue lateinische Übersetzung anfügte. Erasmus gab auch Anmerkungen zu seinem griechischen Text heraus sowie eine Paraphrase des gesamten Neuen Testaments mit Ausnahme der Offenbarung. Die Veröffentlichungen von Erasmus leiteten vor allem ein neues Zeitalter der biblischen Wissenschaft ein und trugen wesentlich dazu bei, die Scholastik vergangener Epochen durch bessere Methoden zum exegetischen und theologischen Studium zu ersetzen.

Das zunehmende Interesse an den frühen griechischen und hebräischen Handschriften deckte viele Übersetzungsfehler in der lateinischen Vulgata auf. Damit wurde ihre uneingeschränkte Autorität untergraben, die sie als Stütze kirchlicher Lehre genossen hatte. Die römischkatholische Kirche hatte ihre Autorität teilweise auf die Vulgata gegründet. Nun stellten Zweifel an der Genauigkeit der Vulgata die Autorität der kirchlichen Lehre in Frage. Obwohl Erasmus nicht der Initiator der Reformation war, ebneten seine Veröffentlichungen der von Luther angestoßenen exegetischen und hermeneutischen Revolution den Weg. Einer weit verbreiteten Redensart des 16. Jahrhunderts zufolge brütete Luther das Ei aus, das Erasmus gelegt hatte.


HERMENEUTIK
reformatorische

Martin Luther

Luthers Ablehnung der traditionellen allegorischen Methode

Während seines Studiums als Mönch war Luther (1483-1546) mit der allegorischen Methode vertraut gemacht worden, die während des Früh-, Hoch- und Spätmittelalters in der Kirche eine absolute Machtposition eingenommen hatte. Als er jedoch Vorlesungen über den Römerbrief und die Psalmen hielt, wuchs seine Enttäuschung über die traditionelle allegorische Methode der römischkatholischen Kirche. Sein Bemühen, sich mit der Exegese des Textes auseinander zu setzen, konfrontierte ihn mit den Unzulänglichkeiten seines hermeneutischen Erbes. Die Lehre vom vierfachen Schriftsinn der allegorischen Methode verwirrte nur, weil sie viele verschiedene Ergebnisse hervorbrachte, aber keines, das angemessen mit dem umging, was ihm im biblischen Text begegnete. Rückblickend schrieb er: »Als ich ein Mönch war, verstand ich mich auf Allegorien. Ich allegorisierte alles. Doch nachdem ich Vorlesungen über den Römerbrief gehalten hatte, kam ich zu der Erkenntnis Christi. Denn dort sah ich, dass Christus keine Allegorie ist, und ich lernte kennen, was Christus ist.« Er verwarf die allegorische Methode mit ausdrucksstarken Worten: »Allegorien sind leere Vermutungen und gleichsam der Abschaum der Heiligen Schrift.« »Man schere sich nicht so viel um die Allegorien des Origenes.« »Ein jeder, der Allegorie treibt, verdreht die Schrift.« »Am Ende ist das Allegorisieren wohl nur ein Affenspiel.« »Allegorien sind plumpe und absurde Phantastereien, veraltete und lose Lumpen.«

Luther gab die vierfache allegorische Bedeutung der Schrift auf und sagte, dass die Schrift nur eine einzige Bedeutung ( sensus unum ) habe. Dieser einzige Sinn entspreche der historisch-grammatischen Bedeutung: »Nur der historische Sinn gibt die wahre und gesunde Lehre.« Diesen Sinn finde man heraus, wenn man die normalen Regeln der Grammatik unter Berücksichtigung des ursprünglichen historischen Zusammenhangs anwende.

Er hob auch den wörtlichen Sinn ( sensus literalis ) hervor. Die Schriften sollen »wann immer möglich in ihrer einfachsten Bedeutung beibehalten und in ihrem grammatischen und wörtlichen Sinn verstanden werden, wenn der Zusammenhang dies nicht eindeutig verbietet«. Luther sagte: »Als ich ein Mönch war, konnte ich die Schrift meisterhaft allegorisieren, jetzt aber verstehe ich mich aufs Beste darauf, den wörtlichen, einfachen Sinn der Schrift wiederzugeben, der Kraft, Leben, Trost und Unterweisung bringt« ( Tischreden ). Seine Ablehnung der traditionellen Allegorisierung bewirkte eine Revolution, deren Auswirkungen rasch ungeheuere Ausmaße annahmen.


HERMENEUTIK
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Martin Luther

Die grundlegende Klarheit der Schrift .

Indem er die nur Theologen bekannte Methode der allegorischen Auslegung verwarf, wurde die Schrift dem Denken des gewöhnlichen Menschen zugänglich. Luther erkannte, dass die Grundbedeutung der Schrift klar und einfach ist. Während die Anwendung der Lehre vom vierfachen Schriftsinn bei der allegorischen Methode nur zu Verwirrung führe, lasse die einfache historische Bedeutung die Klarheit der Schrift erkennen.

Obwohl Luther nicht der Erste war, der die Klarheit der Schrift betonte, schaffte er den entscheidenden Durchbruch: »Es gibt auf Erden kein Buch, das verständlicher geschrieben ist als die Heilige Schrift« (Auslegung zu Ps 37 ). Zuvor wurde die generelle Verständlichkeit der Schrift durch Chrysostomus (»Alles, was notwendig ist, das ist offenbar«) und Origenes (»Alle Christen verstehen die grundlegenden Dinge«) herausgestellt. Auch Luther sah die Verständlichkeit der Schrift von ihren Grundwahrheiten her. Seine Definition lautete: »Denn was kann in der Schrift noch Erhabeneres verborgen sein, nachdem ... jenes höchste Geheimnis verkündigt worden ist, dass Christus, der Sohn Gottes, Mensch geworden, dass Gott dreifältig und doch einer sei, dass Christus für uns gelitten hat und ewiglich regieren werde« (Vom unfreien Willen ).

Obwohl er die Lehre von der Verständlichkeit der Schrift verteidigte, leugnete er nicht deren unerschöpfliche Tiefe, sondern war vielmehr der festen Überzeugung, dass sie in dem Maß verständlich sei, wie sie historisch und grammatisch ausgelegt werde. Somit sollte man das Studium der Urtextsprachen betonen: »Wir sollen das Evangelium nicht ohne die Sprache bewahren. Die Sprachen sind die Scheide, in welcher das Schwert des Geistes steckt.« Man würde Luthers Betonung der Verständlichkeit missverstehen, wollte man meinen, dass Gelehrsamkeit unnötig oder unwichtig sei. Die grundlegende Klarheit der Schrift schließt nicht aus, dass Fachleute die historisch-grammatische Kluft überbrücken müssen, welche die gewöhnlichen Menschen von den Sprachen und der Kultur der biblischen Schreiber trennt. Luther erkannte an, dass der Humanismus der Auslegung einen unverzichtbaren Dienst erwies. »Was mich betrifft, so bin ich dessen gewiss, dass ohne literarische Fertigkeiten wahre Theologie keinen Bestand haben kann ... Ja, ich sehe, dass uns die außerordentlichen Erkenntnisse betreffs des Wortes Gottes nicht zuteil geworden wären, hätte Gott nicht zuvor den Weg bereitet durch jene - darunter auch Täufer -, die aufs neue die alten Sprachen und Wissenschaften entdeckten« (Luthers Werke ).

Luther sah auch, dass es einige Unklarheiten in der Schrift gibt, die wissenschaftliche Forschung erfordern: »Das allerdings gebe ich zu, dass viele Stellen in der Schrift dunkel und verworren sind, nicht um der Hoheit der Dinge, sondern um unserer Unkenntnis der Worte und der Grammatik willen, die aber nicht die Erkenntnis aller Dinge in der Schrift hindern können ... Die Dinge, welche in der Schrift verkündet sind, liegen also klar am Tage, mögen auch einige Stellen bisher um unbekannter Worte willen dunkel sein. Töricht aber ist es wahrlich und gottlos, zu wissen, dass der ganze Inhalt der Schrift im klarsten Licht liegt, und wegen einiger dunkler Worte die Tatsachen für dunkel zu erklären« (Vom unfreien Willen ).

Auch leugnete er nicht die Grenzen der Erkenntnis und Aufnahmefähigkeit des Einzelnen. Christen würden sich in ihrem Reifegrad voneinander unterscheiden, wobei ein umfassendes Studium oft die Vorbedingung für die richtige Auslegung sei. Die Tatsache, dass Schriftstellen nicht verstanden werden, sei oft im Denken der Leser begründet: »Dass aber vielen vieles dunkel bleibt, das liegt nicht an der Dunkelheit der Schrift, sondern an der Blindheit und Beschränktheit jener, die sich nicht bemühen, die ganze klare Wahrheit der Schrift zu sehen ... Es mögen also die elenden Menschen ablassen, an der Finsternis und der Dunkelheit ihres Herzens mit gotteslästerlicher Verkehrtheit der völlig klaren Schrift Gottes die Schuld zu geben« (Vom unfreien Willen ).

Als Folge der grundlegenden Verständlichkeit der Schrift bekräftigte er die »Analogie des Glaubens« (analogia scripturae ), mit deren Hilfe man dunkle Stellen im Licht der eindeutigen Passagen verstehen müsse: »Wenn an einer Stelle die Worte dunkel sind, so sind sie doch an einer anderen klar verständlich. Dieselbe Sache aber, welche auf das offenkundigste aller Welt vorgetragen ist, wird in der Schrift einmal mit klaren Worten vorgetragen, ein anderes Mal liegt sie bisher wegen der unverständlichen Worte verborgen« (Vom unfreien Willen ). Er hob hervor, dass die Schrift ihr bester Ausleger sei: »Dies ist die wahre Methode der Auslegung: auf rechte und angemessene Weise Schrift neben Schrift zu stellen.« Seine Ansicht findet sich in Augustins Standpunkt wieder: »Dementsprechend hat der Heilige Geist mit vortrefflicher Weisheit und Fürsorge für unser Wohlergehen die Heiligen Schriften so angeordnet, dass durch die verständlicheren Stellen unser Hunger gestillt und durch die dunkleren Stellen unser Appetit angeregt wird. Denn in jenen dunklen Stellen wird fast nichts ausgegraben, was man nicht in der verständlichsten Sprache anderswo dargelegt finden kann« (Über die Christliche Lehre , 2.6).


HERMENEUTIK
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Martin Luther

Die Erleuchtung durch den Geist .

Für Luther gab es eine unbedingt erforderliche Verbindung zwischen Auslegung und geistlicher Erleuchtung. »Der Gefährte, der sich von der Heiligen Schrift nicht trennen lässt, ist der Heilige Geist.« Er betonte die Erleuchtung durch den Geist. Die Ausbildung in den Sprachen und in der Geschichte sowie eine theologische Beweisführung reichten nicht aus. Ohne die Belebung durch den Geist ständen dem Ausleger nur Wörter und Phrasen zur Verfügung. Nur durch den Geist könne man eine von den biblischen Schreibern gewollte Bedeutung erschließen und diese Bedeutung als lebendige Wirklichkeit zum Ausdruck bringen. Wer sich mit der Bibel befasse, müsse mehr sein als ein Philologe - er müsse durch den Heiligen Geist erleuchtet sein.

Nach Luther hat Erleuchtung sowohl objektive als auch subjektive Gesichtspunkte. Objektiv gesehen, hat der Geist die grundlegende Botschaft der Schrift geoffenbart. Luther schrieb: »Wenn Gott seine Heilige Schrift nicht öffnet und erklärt, kann niemand sie verstehen, sie wird ein verschlossenes Buch bleiben, in Finsternis gehüllt.« Subjektiv gesehen, leite die geistliche Erleuchtung die Christen an, den Inhalt der Schrift auf ihr Leben anzuwenden, was zu einer »geistlichen Anwendung« führe.

Obwohl Luther die historisch-grammatische Bedeutung des Textes betonte, veranlasste ihn seine Ansicht von der objektiven geistlichen Erleuchtung, einen umfassenden Sinn (sensus plenior) zu erkennen. Dieser geistgegebene Sinn würde eine »neue Auslegung« hervorbringen, die dann den neuen wörtlichen Sinn ergäbe. Obwohl er die verschiedenen Ebenen allegorischer Deutung eines Origines ablehnte, stand er ihm vielleicht näher, als ihm bewusst war.


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Martin Luther

Die christozentrische Natur der Schrift .

Nach Luther ist die Lehre von der Rechtfertigung durch Glauben der Schlüssel zur Analogie des Glaubens. Diese grundlegende biblische Botschaft erschließe sich denen, die durch den Geist erleuchtet seien. Die Bedeutung Christi liege darin, dass Gott seine Gerechtigkeit den Gläubigen zurechne. Daher bedeute die Tatsache, dass Christus in der Bibel im Mittelpunkt stehe, auch, dass der hermeneutische Schlüssel die zugerechnete Gerechtigkeit Gottes sei, die dem Gläubigen allein durch Glauben gegeben werde.

Luthers biblische Auslegung hat ihren Mittelpunkt in Christus. Er hob hervor, dass die grammatisch-historische Bedeutung des Textes nicht Selbstzweck sei. Die geschichtliche Bedeutung jeder Stelle bestehe vielmehr darin, uns zu Christus zu führen. Die ganze Bibel gewinne ihre Bedeutung dadurch, dass sie das Evangelium Christi hervorhebe und ihm entsprechend Raum gebe. Luther trat für eine christologische Bedeutung der gesamten Bibel auf der Grundlage von Lk 24,44-46 ein.

In Anlehnung an Lefèvre d´Étaples (1450/1455-1536), der einen zweifachen Wortsinn (einen wörtlich-historischen und einen wörtlich-prophetischen Sinn) vertrat, hielt Luther an einem zweifachen historischen Sinn fest: Es gehe um das, was Gott in der Vergangenheit getan habe, und um das, was Gott zukünftig tun werde. Obwohl das christologische Verständnis des Alten Testaments nichts Neues war, wies Luther darauf hin, dass Christus, der Mittelpunkt der Schrift, uns auch in der historischen Bedeutung der alttestamentlichen Berichte entgegentrete. Er verwies auf Röm 10,6-8 . Dort gebraucht Paulus 5Mo 30,12 in einer vom historischen Sinn abweichenden Bedeutung: »Paulus lehrt uns, dass die gesamte Schrift allerorts nur mit Christus zu tun hat, wenn man sie von innen her betrachtet - mag sie auch so, wie sie aussieht, durch den Gebrauch von Schatten und Bildern einen anderen Sinn ergeben.«

Obwohl er die Allegorie verwarf, übernahm Luther für das Alte Testament einen typologischen Ansatz, der ihn zahlreiche Prophetien und Vorschattungen Christi und der Gemeinde sehen ließ. So sah er z.B. Ps 2 typologisch: Die Könige der Erde waren Herodes und Pilatus; »Zion, mein heiliger Berg«, war die Gemeinde, während der »eiserne Stab« das Evangelium darstellte. Für Luther gab es viele christologische Stellen im Alten Testament, wobei er oft über das legitime Maß hinausging. So betrachtete er beispielsweise Noahs Arche als typologische Prophetie auf die Gemeinde.

Seine christozentrische Hermeneutik brachte eine neue, schlaglichtartige Darstellung der Schrift hervor, in der das Alte Testament eine Unterstützungsfunktion für die neutestamentliche Lehre hatte. Die gesamte Bibel wurde zu einem Dokument, das die zentralen Lehren des christlichen Glaubens bezeugte. Daher entwickelte er auch eine starke Gesetz-Evangelium-Antithese: Das Gesetz überführe von Sünde, während das Evangelium Vergebung anbiete. In seiner Heilslehre steht das Gesetz in drastischem Gegensatz zum Evangelium und hat daher im Leben des Christen keinerlei Bedeutung.

Seine christozentrische Hermeneutik beeinflusste auch seine Einschätzung biblischer Bücher. Den Teilen der Schrift, in denen er keine christologischen Zeugnisse - ob nun direkte prophetische oder indirekte typologische - finden konnte, widmete er sich kaum. Er schätzte einige Bücher höher als andere. Mit dem Jakobusbrief und der Offenbarung konnte er wenig anfangen: Im Jakobusbrief vermisste er die Untermauerung der paulinischen Lehre von der Rechtfertigung durch Glauben und in der Offenbarung mochte er die jüdische Bildersprache nicht.


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Martin Luther

Die Autorität der Schrift .

Wegen der analogia scripturae und der historisch-grammatischen Methode brauchten sich Bibelleser nicht mehr auf Kommentare der Kirchenväter verlassen, um den betreffenden Text zu verstehen. Obwohl Luther den Nutzen der Tradition anerkannte, verwarf er ihre Autorität: »Die Lehre der Väter ist nur dazu nütze, uns zu den Schriften zu führen, wie sie geführt worden sind, und dann müssen wir an den Schriften allein festhalten.« In diesem Sinn legte Luther das Grundprinzip der Reformation fest: sola scriptura (allein die Schrift). Er brach mit dem seit langem etablierten Grundsatz, nach dem kirchliche Überlieferung und ordinierte Führerpersönlichkeiten die gleiche lehrmäßige Autorität besaßen wie die Bibel. Weder kirchliche Tradition noch der Papst, sondern nur die Schrift könnten für die Christen göttliche Autorität besitzen.

Die Hermeneutik spielte bei Luthers Bruch mit Rom und bei der Einführung der protestantischen Reformation eine entscheidende Rolle. Als Luther 1518 in Augsburg Kardinal Cajetan gegenübertrat, um mit ihm über die durch Tetzels Ablassverkäufe ausgelöste Kontroverse zu debattieren, entwickelte sich das Streitgespräch schnell zu einem Wortwechsel über die 1343 veröffentliche päpstliche Bulle Unigenitu s. Darin wurde die Vorstellung von einem Schatz der Verdienste geltend gemacht. Während Cajetan die Bulle bekräftigte, lehnte Luther es ab - wie er schrieb - »so viele klare Schriftbeweise wegen eines einzigen mehrdeutigen und verworrenen Dekrets eines Papstes zu verwerfen, der bloß ein Mensch ist.« In seiner Erwiderung wandte Cajetan ein, dass irgendjemand ja die Bibel auslegen müsse und dass der Papst auf diesem Gebiet die höchste Stellung einnehme. Die Auslegung wurde zu einem entscheidenden Bestandteil in Luthers »individuellem Ringen um eine geistliche Existenz«. Er leugnete glatt die höchste Autorität des Papstes und ließ dann seine hermeneutischen Anliegen zu einem zentralen Element in dem aufgebrochenen Konflikt werden.

In seiner Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation (1520) griff er scharf die Ansicht an, dass die Schriftauslegung dem Papst allein zustehe. Er meinte vielmehr, dass fromme und mündige Christen sie auslegen könnten. Luther sagte: »Die Kirche ist eine aus dem Wort gezeugte Tochter, [sie ist] nicht die Mutter des Wortes.« Überdies betonte er, dass die Aufgabe der Auslegung nie fertig sei. Sie befinde sich in gewisser Hinsicht im Fluss und dürfe durch die kirchliche Autorität nicht statisch festgeschrieben werden.

Bis zur Zeit der Reformation war die Bibel nach dem Urteil der meisten Menschen ein im Grunde schwer verständliches Buch. Man konnte nicht damit rechnen, dass die einfachen Leute sie verstanden, wobei diese außerdem davon abgehalten wurden, sie zu lesen. Ja, die Bibel stand nicht einmal in einer Sprache zur Verfügung, die sie verstehen konnten! Sie waren fast völlig auf die autoritative Auslegung der Kirche angewiesen. Die geniale Leistung Luthers bestand darin, dass er sagte, die Bibel dürfe nicht allegorisiert werden. Jede Stelle habe nicht mehrere Bedeutungen, sondern einen einfachen, wörtlichen Sinn. In diesem Fall könne man alle Christen ermutigen, die Bibel zu lesen. Die Heilige Schrift solle in die Sprache des Volkes übersetzt werden. Jeder Gläubige habe das Recht, sie persönlich auszulegen. Daher verwandte Luther ungemein viel Energie auf sein bekanntestes Werk, die Übersetzung der Bibel ins Deutsche.

Rom betrachtete die Bibel als so verworren, dass sie nur vom Klerus richtig ausgelegt werden könne, der mit Hilfe der Allegorie dafür sorge, dass die Heilige Schrift der kirchlichen Tradition untergeordnet bleibe. Ebenso misstraute Erasmus der Fähigkeit des einfachen Gläubigen, die Bibel zu verstehen. Luther betonte jedoch, dass der gemeine Gläubige sie verstehen könne, weil die grundlegende Bedeutung der Schrift klar und allen zugänglich sei. Jeder fromme Christ könne die Bibel verstehen. Luther befürwortete somit ihre Übersetzung in die Sprache des Volkes und trat für das Recht eines jeden Gläubigen ein, die Heilige Schrift persönlich auslegen zu können.


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Martin Luther

Luther Auffassung von der Tradition

Von Luthers Leben wird häufig gesagt, dass er darin weithin mit der Tradition brach. Obwohl diese Feststellung im Allgemeinen stimmt, ist sie doch übertrieben. Er trat der Autorität der Tradition und der Kirche entgegen, doch nur in dem Maße, wie sich diese Autorität die Vollmacht der Schrift anmaßte. Luther verwarf nie den Wert der exegetischen Überlieferung der Kirche, solange sie sich der Heiligen Schrift unterordnete. Er gab sich keiner Illusion hin, als ob er anderthalbtausend Jahre exegetischer Überlieferung überspringen und ohne jeglichen Einfluss aus der Vergangenheit an die Bibel herangehen könne. Ohne das Erbe der Kirche wäre er nie der Exeget geworden, als den man ihn kennt. Es gab ihm einen Halt, der ihm Möglichkeiten und Veranlassungen zur Weiterentwicklung und Veränderung bot, den er aber nie verlor. Luther kannte den Unterschied zwischen Dankbarkeit und Vergötterung, wenn es darum ging, das Erbe der Kirche anzunehmen. Somit steht er für einen Bruch mit dem Missbrauch der Tradition, aber nicht für eine völlige Aufgabe der Überlieferung.


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Martin Luther

Luthers überraschender Gebrauch der Allegorie

Man könnte denken, dass Luther die grundsätzliche Spannung im Verhältnis zwischen wörtlicher und allegorischer Auslegung auflöste. Dies ist aber nicht der Fall. Obwohl er die historisch-grammatische Auslegungsmethode befürwortete und die Autorität traditioneller Allegorie verwarf, stellt man seine Haltung falsch dar, wenn man sagt, dass er sich nie auf allegorische Auslegungen einließ. Es gibt Abschnitte in seinen Kommentaren, die in dieser Hinsicht überraschend mittelalterlich geprägt sind. Er schöpfte oft aus dem Bestand an Allegorien der Kirchenväter und bewies viel Phantasie dabei, seine eigenen zu ersinnen. Auf der Grundlage von Gal 4,21-31 erkannte Luther an, dass Allegorien als »Bilder« und »hübsche Ausschmückungen« gebraucht werden können. Doch im Gegensatz zu Origenes und den traditionellen Allegorikern vertrat er die Historizität der entsprechenden Berichte und die historisch-grammatische Bedeutung als Hauptsinn.

Mitten in seinen Genesisvorlesungen (1535-1545) fügt er in Kapitel 9 einen Exkurs über Allegorien und deren Verwendung in seinen Schriften ein. Er sagt, dass er als Mönch durch die Kirchenväter (Origenes, Hieronymus und Augustin) zu allegorischen Auslegungen gekommen ist. Als er jedoch feststellte, dass sie »nichtige Schatten« sind, begann er, sie zu verabscheuen. Er sagte, dass die Münsteraner und die Wiedertäufer Unrecht hätten, wenn sie alles allegorisierten. Allegorien seien jedoch erlaubt, wenn man die Analogie des Glaubens beachte und somit die Allegorie auf Christus hinweise. Einige der Kirchenväter hätten diese Analogie ausgelassen und daher Allegorien erhalten, die nicht auf Christus verwiesen. Wer beispielsweise behaupte, dass Sonne und Mond in 1Mo 1 auf die päpstliche Vormachtstellung hinweise, lasse nichts als tollkühne Vermessenheit und ehrgeizige Ziele erkennen. Er pflichtet jedoch denen bei, die in Noahs Arche eine Christusallegorie sehen und stimmt der Beobachtung zu, dass die Proportionen der Arche denen des menschlichen Leibes Christi ähneln, nämlich sechsmal so lang wie breit..

An anderer Stelle stellt er klar, dass die wörtliche historisch-grammatische Bedeutung vorrangig sei, der allegorische Sinn aber als Veranschaulichung verwendet werden könne, wenn er auf der entsprechenden christozentrischen Analogie des Glaubens beruhe: »Ich habe oft gesagt, was die Theologie war, als ich ein derartiges Studium begann. Man pflegte zu sagen: »Der Buchstabe tötet.« Daher missfiel mir Lyra (Nikolaus von Lyra, 1270/75-1349) zuallermeist, weil er dem Wortsinn so eifrig folgte. Doch nun, da ich ebendiese Sache so schätze, ziehe ich ihn fast allen Auslegern der Schrift vor. Und ich ermahne euch auf das Ernstlichste: Seid sehr sorgfältig bei der Beurteilung historischer Fragen! Wenn ihr aber jemals Allegorie treiben wollt, dann tut es als jene, die auf die Analogie des Glaubens achtgeben, das ist, sie auf Christus, die Gemeinde, den Glauben und den Dienst des Wortes hin zu finden.«


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Johannes Calvin

Neben Luther war Calvin die Gestalt, die an der Spitze der hermeneutischen Revolution stand. Obwohl viele Menschen Calvin (1509-1564) nur von seinem Werk Unterricht in der christlichen Religion her kennen, war er zuallererst Exeget und erst an zweiter Stelle Theologe. Er war ein eifriger Ausleger und ein produktiver Autor, der zu fast jedem neutestamentlichen Buch (außer dem 2. und 3. Johannesbrief und der Offenbarung) und zu vielen alttestamentlichen Büchern Kommentare schrieb.

Wie Luther sagte Calvin, dass die Schrift die einzige, letzte Autorität der Kirche ist (sola scriptura ) und dass die Schrift die Schrift auslegt (analogia scripturae ). Er betonte die wörtliche historisch-grammatische Auslegungsmethode, die christozentrische Natur der Schrift, die Erleuchtung durch den Heiligen Geist und ein ausgewogenes Herangehen an die Typologie. Er meinte auch, dass ein Ausleger darauf achten müsse, dass die Auslegung nicht durch persönliche Vorlieben verfälscht wird. In seiner Vorrede zu seinem Römerbriefkommentar schrieb Calvin: »Es ist die erste Aufgabe des Auslegers, den Autor das sagen zu lassen, was er mitteilen will, statt ihm etwas zuzuschreiben, was er seiner Meinung nach sagen sollte.«

Calvin betonte, dass die Bedeutung der Schrift klar sei. Damit meinte er, dass »der wahre Schriftsinn der natürlichen und offenkundigen Bedeutung entspricht«. Das Ziel der Auslegung bestehe darin, die vom menschlichen Schreiber beabsichtigte Bedeutung zu bestimmen, die man anhand des literarischen und historischen Kontexts eindeutig ermitteln könne. Calvins exegetische Prinzipien waren vor allem: klar, kurz und einfach (brevitas et facilitas )! Nach Calvin sind die Schriften prinzipiell verständlich: »Die Schrift legt so klar von ihrer Wahrheit Zeugnis ab wie weiße und schwarze Dinge von ihrer Farbe.«

Wie Luther trat er leidenschaftlich für den sensus literalis ein. Und er war bei der Umsetzung dieses Anliegens in die Praxis noch erfolgreicher. Seine Kommentare sind außerordentliche Zeugnisse einer soliden, historischen Exegese in einer Zeit, als die vorherrschende Methode von anderen Interessen bestimmt war.

Wie Luther verwarf Calvin allegorische Auslegungen und hob die wörtliche historisch-grammatische Exegese hervor. Er sagte, dass Allegorien »leichtfertige Spielereien« seien. Origenes und viele andere seien schuldig geworden, »indem sie die Schrift auf jede erdenkliche Weise ihres wahren Sinnes beraubt haben«. Nach der Auffassung Calvins sagt der paulinische Hinweis auf Abraham und Hagar in Gal 4,21-31 nicht, dass es bei der Niederschrift Moses Absicht gewesen sei, biblische Geschichte in Allegorie umzuwandeln.

Calvin war in seiner Ablehnung der Allegorie konsequenter als Luther, der sich von Zeit zu Zeit weiterhin gewisse Allegorien leistete. Calvin - hier war er mit Theodor von Mopsuestia geistig sehr verwandt - zögerte sehr, direkte (selbst typologische) Hinweise auf Christus im Alten Testament zu benennen, wenn das Neue Testament deren Gebrauch nicht speziell rechtfertigt oder im Kontext der Stelle klar darauf hingedeutet wird. Calvin vermied im Gegensatz zu Luther sogar die allegorische Auslegung zur Veranschaulichung oder zur Ausschmückung. An einer Stelle bemerkt er jedoch, dass Gottes Abrahamsverheißung nach den Worten des Paulus »für Abrahams leibliche Nachkommen erfüllt werden soll - nicht nur in allegorischer, sondern auch in wörtlicher Hinsicht« (Unterricht in der christlichen Religion ).

Obwohl Calvin die objektive Exegese betonte, ließ er auch ein subjektives Element in der Auslegung gelten - »das innere Zeugnis des Heiligen Geistes«. Während Luther glaubte, dass der Geist bei der Auslegung eine wichtige Rolle spiele, lehrte Calvin, dass das Zeugnis des Geistes nicht dazu diene, beim Auslegungsprozess Licht zu geben. Vielmehr wolle er im Herzen des Christen bestätigen, dass eine bestimmte Auslegung richtig sei. Er schrieb: »Das Zeugnis des Geistes ist vortrefflicher als alle Vernunft. Denn so wie Gott allein in seinem Wort ein rechter Zeuge seiner selbst ist, wird auch das Wort in den Herzen der Menschen nicht angenommen werden, bevor es durch das innere Zeugnis des Heiligen Geistes bestätigt wird. Der gleiche Geist, der durch den Mund der Propheten geredet hat, muss daher in unsere Herzen eindringen, um uns zu überzeugen, dass die Propheten treu verkündigt haben, wozu ihnen Gott den Auftrag gegeben hatte« (Unterricht in der christlichen Religion ). Wiederum stellte er fest: »Selbst wenn dem Wort wegen der ihm eigenen Hoheit Ehrerbietung entgegengebracht wird, berührt es uns nur, wenn es durch den Geist in unseren Herzen bestätigt wird. Daher glauben wir, durch seine Kraft erleuchtet, weder aus uns selbst heraus noch aufgrund des Urteils irgendeines Menschen, dass die Schrift von Gott ist. Und über jedes menschliche Urteil erhaben, versichern wir mit größter Gewissheit ... dass die Schrift durch den Dienst von Menschen aus dem Mund Gottes geradewegs zu uns gekommen ist« (Unterricht in der christlichen Religion ). Auch betonte Calvin, dass die Fähigkeit, die grundlegende Botschaft der Schrift zu verstehen, eine Gabe sei, die der Geist den Erwählten habe zuteil werden lassen: »Wann immer wir durch einen Mangel in den Gläubigen betrübt werden ... sollten wir daran denken, dass niemand irgendeine Einsicht in die Geheimnisse Gottes hat außer denjenigen, denen sie geschenkt wurde« (Unterricht in der christlichen Religion ).

Calvins Lehre von der Analogie des Glaubens konzentrierte sich auf die Souveränität Gottes und die Prädestination (Vorherbestimmung) sowie auf die Errettung durch Glauben an Christus. Luther bestand allzu oft darauf, christologische Bedeutungen in Texten zu finden, deren historisch-grammatische Exegese dies nicht hergab. Anders Calvin: Er argumentierte, dass die Analogie des Glaubens das Ziel nicht verdunkeln solle, das darin bestehe, die vom Autor ursprünglich beabsichtigte Bedeutung klar zu verstehen.

Ein Beispiel dafür, wie Calvin die Analogie des Glaubens gebrauchte, kann man in seinem Versuch erkennen, den für ihn von vornherein klaren Konflikt zwischen Errettung aus Gnade und dem durch Werke erworbenen Erbe in Mt 25,31-46 zu lösen. Calvin stützt sich auf Eph 1,18 und Galater 4,7 bei dem Vorhaben, die Verheißung auszulegen, dass diejenigen, die gute Werke vollbringen, das ewige Leben erben: »Selbst an jenen Stellen, wo der Heilige Geist ewige Herrlichkeit als Belohnung für Werke verheißt, zeigt er dadurch, dass er diese Herrlichkeit ausdrücklich als »Erbe« bezeichnet, dass sie ihren Ursprung nicht in Werken hat, wenn sie uns zuteil wird« (Unterricht in der christlichen Religion ).

Calvin betonte den fortschreitenden Charakter biblischer Offenbarung im gesamten Verlauf der Heilsgeschichte. Gott führte eine Ordnung, eine zeitliche Abfolge ein, als er seinen Gnadenbund gab, und dementsprechend gewährte er weitere Offenbarungen »von einem Tag zum anderen«. Die Verheißung an Adam ( 1Mo 3,15 ) war ein Fünkchen. Im Laufe der Zeit wurde das Licht immer heller bis zum Kommen Christi, der die ganze Welt erleuchtete (Unterricht in der christlichen Religion ).

Nach Calvin wurde die Einheit zwischen dem Alten und Neuen Testament durch eine typologische Auslegung des Alten Testaments offenbart. Das Land Kanaan sei beispielsweise ein Typus für das ewige Erbe (Unterricht in der christlichen Religion ). Abgesehen von seiner christologischen Typologie der alttestamentlichen Berichte und seiner kultischen Rituale vermied Calvin übertragene Bedeutungen.

Wie Theodor von Mopsuestia sah Calvin viele messianische Hinweise in den Psalmen als Typologien und nicht als direkte Voraussagen an, die - so meinte er - den offenkundigen historischen Kontext ignorierten, wie z. B. in Ps 2,7 (»Mein Sohn bist du, ich habe dich heute gezeugt«). Während die kirchliche Tradition diese Stelle als unmittelbare Christusprophetie auslegte, bevorzugte Calvin die historische Deutung als Hinweis auf Davids Krönung und darauf, dass er zum königlichen »Sohn« Gottes im politischen Sinne ernannt wurde.

Obwohl Calvin als Schriftausleger im 16. Jahrhundert einzig war, bildete er sich nicht ein, dass er auf den Reichtum 1500- jähriger Auslegung der Bibel verzichten könne oder dass er vom Einfluss der Vergangenheit frei sei. Tatsächlich widmete sich Calvin intensiv den Werken der wichtigsten Theologen der Kirche, weshalb es in Unterricht in der christlichen Religion zahlreiche Hinweise auf die Kirchenväter gibt (z.B. auf Augustin, Ambrosius, Cyprian und Theodoret). Calvin glaubte, dass er - wenn möglich - am Werk früherer Exegeten festhalten sollte. Er fühlte sich der exegetischen Tradition der Kirche - vor allem den frühkirchlichen und insbesondere den augustinischen Werken - verpflichtet, denen er viel verdankte. Er war nicht bereit, den Auslegungskonsens aufzugeben; doch dort, wo die römisch-katho-lische Kirche die Tradition missbrauchte und den klaren Sinn der Schrift nicht anerkennen wollte, ging er eigene Wege.


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Andere reformatorische Gelehrte

Philipp Melanchthon (1497-1560), Luthers Mitarbeiter, war ein guter Kenner des Hebräischen und Griechischen, so dass er eine führende Rolle in der biblischen Exegese seiner Zeit einnehmen konnte. Obwohl er manchmal in Allegorien abglitt, hielt er sich im Allgemeinen an die historisch-grammatische Methode.

Während Calvin an der Spitze der Reformation in Genf stand, war Ulrich Zwingli (1484-1531) der Führer der Reformation in Zürich. Zwingli brach mit der römisch-katholischen Kirche wegen der Frage ihrer Autorität. Darüber schrieb er: »Alle, die sagen, dass das Evangelium ohne die Billigung der Kirche nichts ist, irren und schmähen Gott.« Zwingli vertrat die kontextbezogene Auslegung. Wer eine Stelle aus ihrem Zusammenhang reißt, »ist wie einer, der eine Blume entwurzelt«. Zwinglis Auffassung von der geistlichen Erleuchtung ähnelte der Calvins: »Gewissheit kommt aus der Macht und Klarheit des schöpferischen Wirkens Gottes und des Heiligen Geistes.«

William Tyndale (1491/94-1536) ist am meisten wegen seiner 1525 erschienenen Übersetzung des Neuen Testaments ins Englische bekannt. Wie die anderen Reformatoren betonte Tyndale die wörtliche Bedeutung der Schrift: »Die Schrift hat eine Bedeutung, nämlich den wörtlichen Sinn.« Tyndale erklärte, dass die Auslegung von sprachlichen Bildern in den Bereich der wörtlichen Deutung falle.

Während des 16. Jahrhunderts gab es viele Gelehrte, welche die historisch-grammatische Methode übernahmen und zahlreiche Kommentare veröffentlichten. Dabei lobte Calvin überschwänglich die von Melanchthon, Bucer, Zwingli, Oekolampad und Bullinger verfassten Werke.

Zürich erlebte 1525 die Anfänge der Wiedertäuferbewegung. Anhänger Zwinglis waren der Meinung, dass er in Fragen der staatlichen Kontrolle über die Kirche und der Kindertaufe mit dem Katholizismus nicht völlig brach. Sie glaubten, dass ein Mensch, der als Kleinkind durch die reformierte (zwinglianische) Kirche getauft worden war und sich dann als Erwachsener zu Christus bekannte, erneut getauft werden solle. Die Wiedertäufer hoben die Fähigkeit des Einzelnen hervor, die Schrift mit Hilfe des Geistes auslegen zu können. Sie ließen sich jedoch auf zahlreiche Allegorien ein, was Luther brandmarkte. Die Begründer der Wiedertäuferbewegung waren Konrad Grebel, Felix Manz und Georg Blaurock. Zu anderen führenden Täufern gehörten Balthasar Hubmaier, Michael Sattler, Pilgram Marbeck und Menno Simons.


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Die Gegenreformation: Das Konzil von Trient

Als Reaktion auf die protestantische Reformation berief die römisch-katholische Kirche das Konzil von Trient (1545-1563) ein, das sieben Mal zusammenkam. Es verwarf die griechische Übersetzung von Erasmus und bestätigte die Authentizität der Vulgata. Es bekräftigte die römisch-katholische Position, dass die Bibel nicht die höchste Autorität sei. Vielmehr finde sich die Wahrheit »in geschriebenen Büchern und ungeschriebenen Überlieferungen«, wie sie von den Kirchenvätern der Vergangenheit und geistlichen Führern der Gegenwart gelehrt werde. Das Konzil bekräftigte auch die römisch-katholische Auslegungstradition und verbot jedem, die Schrift nach einer Methode auszulegen, die nicht mit der kirchlichen Lehre in Einklang stand. Exakte Auslegung sei nur durch die römisch-katholische Kirche, die Spenderin und Beschützerin der Bibel, und nicht durch Einzelne möglich. Das Konzil stellte fest: »Niemand erdreiste sich, in Fragen des Glaubens und der Worte, welche die Erbauung christlicher Lehre betreffen, die Schrift von sich aus auszulegen. Dabei ist es gleichgültig, ob dadurch Übereinstimmung mit dem Sinn erreicht wird, den die heilige Mutter Kirche ... festgehalten hat und festhält, oder ob sogar dem einmütigen Zeugnis der Kirchenväter widersprochen wird. Er stützt sich ja doch nur auf seine eigenen Fähigkeiten und verfälscht die heiligen Schriften nach eigenem Gutdünken.« Indem die römisch-katholische Kirche auf die Reformation negativ reagierte, wurde sie beim Festhalten an der Vorrangstellung kirchlicher Überlieferung noch kompromissloser. Auf der vierten Sitzung des Konzils von Trient (8. April 1546) wurde verfügt: »Niemand erdreiste sich, die besagte heilige Schrift im Gegensatz zu dem Sinn, den die heilige Mutter Kirche festgehalten hat und festhält, auszulegen.«

Die Protestanten antworteten mit in einer Fülle literarischer Werke im 17. und 18. Jahrhundert, wobei die Gegensätzlichkeit beider Seiten immer deutlicher hervortrat. Somit gingen aus den bedeutungsvollen Ereignissen des 16. Jahrhunderts zwei verschiedene Richtungen biblischer Auslegung, eine protestantische und eine katholische, hervor. Obwohl seitdem vier Jahrhunderte vergangen sind, bleiben die beiden Ansätze weiterhin unvereinbar.

Siehe auch: Hermeneutik, nachreformatorische .

Gordon H. Johnston

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