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Neil T. Duddy      .pdf

 

Die Sonderlehre des Witness Lee und der Ortsgemeinde

Ein persönliches Wort

Als wir in Hongkong lebten, genossen wir die Gemeinschaft mit vielen Geschwistern der Gemeindeversammlung (vielfach als «Kleine Herde» bekannt). Auf einem kürzlichen Besuch freute ich mich sehr, als man mir vom echten Zeugnis für Jesus Chri­stus, das in Inlandchina weitergeht, berichtete. Es gibt viele in diesen Hausgemeinden, die Gott für den Dienst von Watchman Nee und seinen Mitarbeitern in vergangenen Jahren danken. In Taiwan und in einer Reihe von Ländern Südostasiens haben seit Jahren ähnliche Versammlungen, die den Lehren Watchman Nees folgen, geblüht.

Sie waren bekannt für ihren evangelistischen Eifer, die herzli­che Gemeinschaft und die Liebe zum Wort. Unglücklicherweise kam es zu Auswüchsen (Witness Lee), wodurch der Beitrag an den Leib Christi durch die Überzeugung geschmälert wurde, man sei die einzige wahre Gemeinde, die Braut Christi. Nach 1960 begannen sich etliche Leiter aus den Versammlungen über Witness Lee Sorgen zu machen. Er war Verantwortlicher für die Arbeit in Taiwan. Lee hatte mehr und mehr die Alleinherr­schaft in der Leitung der Gemeinden an sich gerissen, und nach­dem er nach Amerika gezogen war, begann er neue Lehren und neue Arten des Gottesdienstes einzuführen. In mehreren Städ­ten Asiens hatten sich die Anhänger von Witness Lee von den älteren Versammlungen, die mit Watchman Nee in Verbindung gestanden waren, abgespalten. An ändern Orten zogen sich mehrere Leiter von solchen Gemeinden zurück, welche die Füh­rung Lees angenommen hatten. Sowohl in Taiwan, als auch in Hongkong kam es zu ensthaften Spaltungen. Viel unglückliche Publizität erfuhr die Spaltung in Hongkong durch einen Pro­zess, der um den Besitz einer Liegenschaft ausgefochten wurde. In Taiwan nahmen die «Gemeindeversammlungen» die Leiter­schaft Lees an, während sich die «Christlichen Versammlun­gen» von seiner Ortsgemeindebewegung zurückzogen. Es sind viele, die eng den Fussstapfen Watchman Nees folgen, die sich aber der Entwicklung der Ortsgemeinde von Witness Lee nie anschliessen können!

Sowohl die Einheit als auch die Reinheit der Gemeinde sind in den Augen des Herrn äusserst kostbar. Er betet nicht nur, dass wir eins, sondern auch durch die Wahrheit geheiligt sein möchten. Kritik an einer bestimmten Gruppierung in der Ge­meinde darf nur dann gemacht werden, wenn sie notwendig ist, d.h. wenn sie verhindert, dass Irrlehre oder unwürdiges Benehmen das Volk Gottes verführt. Wie Paulus für die Philipperchristen betet, wollen auch wir beten, dass unsere «Liebe noch mehr und mehr überströme in Erkenntnis und aller Einsicht, damit wir prüfen mögen, was das Vorzüglichere sei, auf dass wir lauter und unanstössig seien auf den Tag Christi» (Phil. 1,9-10). Wir verstehen, dass die «Ortsgemeinde» junge Menschen an­spricht, die in ändern Gemeinden die herzliche Gemeinschaft, nach der sie sich sehnen, nicht gefunden haben. Sie fühlen sich von der spontanen Begeisterung des «Beten-Lesens» in den Gottesdiensten sehr angezogen. Diese Art des Gottesdienstes unterscheidet sich von allem, was man in den Versammlungen, die mit Watchman Nee in Zusammenhang stehen, gekannt hat. Sie scheint sich in Amerika entwickelt zu haben. Einer nach dem ändern, einzelne oder Gruppen, springen auf und rufen be­geistert Worte oder Bruchstücke von Versen, die eben gelesen werden, worauf der Rest einstimmig mit lauten «Amen»-Rufen antwortet. Das erzeugt grosse Begeisterung. Ein Teilnehmer be­zeugte, dass solche Zusammenkünfte weit grösseren Segen ver­mitteln als eine Predigt. Sein Kommentar: «Ich schaltete den Verstand aus und öffnete den Mund.» Ein anderer meinte: «Ich habe meinen Verstand überwunden und tauche in den Geist hinein.» Viele haben den Eindruck, dass sie die Wirklichkeit be­rühren, wenn sie in diesen enthusiastischen Versammlungen beim Beten-Lesen entrückt werden.

Gewiss hat freudige Anbetung und freudiges Lob seine Berech­tigung; und viele Gläubige wissen um den Wert des Gebets, das die Bibellese begleitet. Aber «den Verstand ausschalten», zu ein­zelnen Wörtern lautes Lobpreisen und rhythmisches «Amen»-Rufen können eine emotionale Erfahrung erzeugen, die nichts mit einer geistgewirkten Offenbarung durch das Wort zu tun hat. Die Schrift fordert uns nie auf, den Gebrauch des Verstandes ein­zuschränken. Vielmehr sollen wir durch die Erneuerung des Ver­standes verwandelt werden (Rom. 12,2) und «mit dem Geiste» aber auch «mit dem Verstande» beten (1. Kor. 14,15).

Jede geistliche Erfahrung und jeder Anspruch auf eine neue Offenbarung der Wahrheit muss der Prüfung durch das Wort Gottes unterzogen werden. Diese Arbeit soll uns zum Nachei­fern der Christen in Beröa anreizen, denn «sie nahmen mit aller Bereitwilligkeit das Wort auf, indem sie täglich die Schriften untersuchten, ob dies sich also verhielte» (Apg. 17,11). Wir be­ten, dass es Ortsgemeindemitgliedern und solchen, die sich für Lees Lehren interessieren, eine Hilfe sein möchte, seine Lehren und Praktiken im Lichte des Wortes zu überprüfen.

Weil ich selbst grossen Nutzen aus der Gemeinschaft mit Geschwistern empfangen habe, die mit Watchman Nee zusammen­gearbeitet haben oder seinem Beispiel gefolgt sind, schreibe ich diese Zeilen. Ich habe gemeinsam mit ihnen das «Brot des Le­bens» empfangen und habe auch in einigen Versammlungen am Wort gedient. Ich freue mich über jede neue Einsicht, die der Heilige Geist über die Wahrheit, die in Christo ist, offenbart. Wenn nun jemand beansprucht, «neues Licht» empfangen zu haben, dann müssen seine Ansprüche von der Gemeinde Jesu untersucht werden, ob sie sich mit den Mitteilungen des Wortes Gottes decken, sonst besteht die Gefahr, dass jemand Lehren, welche andere in der Vergangenheit gegeben haben, weiterführt und sie in Extreme zieht, die allmählich zu Irrlehren ausarten. Wir sind um unsere Geschwister in der Ortsgemeinde besorgt und beten, dass diese Arbeit ihnen zu einem besseren Verständnis der empfangenen Lehren und ihrer Folgen verhelfen möchte.

David H. Adeney**David Adeney reiste 1934 mit der China Inland Mission (heute Überseeische Missionsgemeinschaft) nach China. Von 1950 an arbeitete er mit gläubigen Studenten in ganz Asien. 1968 eröff­nete er ein Jüngerschulungs-Zentrum in Singapur.

 Kürzlich lehrte er mehrere Monate an einem theologischen Seminar in Hang Kong. Er hat das Buch China: Christian Students face the Revolution (China: Gläubige Studenten mit der Revolution konfrontiert) geschrieben.

 

Vorwort                                                                                                          Telegraph Avenue in Berkeley, Kalifornien; ein Sommernach­mittag 1972.

Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg durch die grossen, beschlagenen Fenster der Wäscherei und fielen wie aufs Gerate­wohl auf Waschmaschinen, Wäschetrockner und schemenhafte Gestalten, die sich zwischen den Tischen hin- und herbewegten. Als er seinen schwitzenden Arm in die Waschmaschine steck­te, um seine Drillichanzüge herauszufischen, trafen der Schall von Paukenschlägen und Beifallsrufe von Sportfans sein Ohr. «Eine Parade in Berkeley», dachte er. «Ich gehe dann raus, wenn sie vorbeiziehen.» Aber Brooks Alexander war schneller draussen, als er gedacht hatte. Die Paraderufe liessen sich immer genauer ausmachen. In steigender und fallender Kadenz dran­gen Sing-Sang und Trommelrhythmen die Telegraph Avenue Richtung Universität hinab. «O Herr Jesus, o Herr Jesus. Jesus ist Herr. O Herr Jesus.» Von ändern mitgezogen stürzte Brooks hinaus.

Die Parade war beinahe zehn Häuserblocks lang. Hunderte von Jugendlichen in Mehlsäcken schwangen Plakate mit Bibel­versen. Unter stetem, von Paukenschlägen begleitetem Sing­sang marschierten wohlgeordnete Reihen vorbei. Langhaarige starrten Kurzhaarige, Bärtige Glattrasierte an. Zuerst überrum­pelt, dann entsetzt und schliesslich voller Wut antworteten die Vertreter der Berkeley Gegenkultur mit theatralischer Achtungstellung und zusammenklappenden Hacken.  Kehlige «Sieg-Heil»-Spottrufe waren die Antwort auf den vorbeimarschieren­den Zug.

Der zunächst erfrischende Wind auf Brooks schwitzendem Körper liess ihn kalt werden vor Schreck. An jenem Abend hatte er die grössten Schwierigkeiten, seinen ungläubigen Freunden zu versichern, es sei nicht «fundamentalistisches Christentum» ge­wesen, was sie am Nachmittag in Berkeley paradieren sahen.

Vielmehr repräsentierte die Gruppe eine Art «gnostizistisch-östliches Heilsschwärmertum», einen Punkt auf dem breiten Spektrum christlicher und pseudochristlicher Gruppierungen. Unglücklicherweise schienen seine Freunde es nicht ganz zu be­greifen. Der grösste Teil von Berkeley verstand es überhaupt nicht. Es war «die Ortsgemeinde».

Die «Ortsgemeindeparade» war eine Stimme in der Wüste; ein Marsch entlang jener Strasse, die das Beste und Schlimmste an hedonistischem Humanismus im nachchristlichen Amerika  verkörpert. Tragischerweise kam diese Stimme nicht durch. Sie wurde von der Menge nicht verstanden, deren Aufmerksamkeit sie auf sich gezogen hatte. Die Parade war ein wohlgeplanter und glatt ablaufender Versuch, Berkeley zu evangelisieren, ins­zeniert von den «Ortsgemeinde-Versammlungen» in Nord- und Südkalifornien. Solche Auftritte sollen Aufmerksamkeit erre­gen — was sie auch tun. Unglücklicherweise wird die Aufmerk­samkeit auf die «Ortsgemeinde» gerichtet — und gelenkt; aber nicht auf eine erkennbare «frohe Botschaft». Und doch wurden immer mehr solche Paraden in Berkeley und im ganzen Staat über die Bühne gerollt.

Die Berkeley-Paraden symbolisieren die Versuche der «Orts­gemeindemitglieder», weltliche und christliche Gemeinschaften zu beeinflussen. Auf Grund der lehrmässigen Position, der inne­ren zwischenmenschlichen Beziehungen und des Benehmens in der Gesellschaft, ist die Geschichte der «Ortsgemeinde» beson­ders von stürmischen Begegnungen mit christlichen Gemeinden gekennzeichnet.

Die vorliegende Arbeit analysiert und beurteilt die Lehre und den Wandel der «Ortsgemeinde». Sie basiert auf zahlreichen Veröffentlichungen aus der Feder des Gründers der «Ortsge­meinde», Witness Lee. Dazu kommen persönliche Berichte über Begegnungen der «Ortsgemeinde» mit Gemeinschaften landauf, landab, die wir zusammengetragen haben.

Unsere Folgerungen beruhen auch auf Informationen, wel­che die Verfasser direkt durch Korrespondenz mit ehemaligen Mitgliedern der «Ortsgemeinde» erhielten. Wir haben auch mit Leuten gesprochen, die mit Mitgliedern Auseinandersetzungen gehabt oder sie interviewt haben. (Die Autoren haben persön­lich mit Leitern und Mitgliedern der «Ortsgemeinde» Kontakt aufgenommen, um Informationen aus erster Hand zu bekom­men.)

Wir haben uns ernstlich um eine persönliche Aussprache mit Witness Lee bemüht, damit unser Verständnis seiner Lehren und Praktiken ein für allemal bekräftigt oder korrigiert werde. Vor dem ersten Druck von The God-Men (Die Gott-Menschen) schickten wir einen eingeschriebenen Brief an Lees Adresse und baten um ein Zusammentreffen mit ihm und zwei weiteren Ver­tretern der «Ortsgemeinde». Der Empfangsschein mit Frau Lees Unterschrift kam ohne weitere Antwort auf unser Büro zurück. Nach einer beträchtlichen Wartezeit sandten wir Wit­ness Lee ein Telegramm, in dem wir ihn aufforderten, unsere Einladung auf ein gemeinsames Gespräch zu beantworten.

Nach Monaten warten wir nun immer noch auf eine direkte Antwort von Herrn Lee.

Seit unserer ersten Veröffentlichung von The God-Men (Die Gott-Menschen) hat Witness Lee den Mitarbeitern von Spiri­tual Counterfeits Project die Kontaktaufnahme mit ihm ver­wehrt. Nachforscher Neil Duddy hat zweimal ohne Einladung und unangekündigt das Hauptbüro der «Ortsgemeinde» in Anaheim,  Kalifornien,  besucht,  um mit Witness Lees beiden Hauptapologeten zu sprechen. Am Ende der zweiten Ausspra­che — in der die Anliegen, die in der revidierten Fassung von The God-Men dargelegt werden, zur Sprache standen — sagte man Neil Duddy, dass Witness Lee sich zum Grundsatz gemacht habe, auf Kritik oder Fragen von Aussenstehenden nicht einzu­gehen.   «Ortsgemeindebevollmächtigter»  Ronald  L.   Kangas sagte sogar zu Neil, er werde wahrscheinlich Witness Lee nicht darüber unterrichten, dass ein SCP-Nachforscher ihr Haupt­quartier besucht hätte, um klärende Aussprachen über Lehre und Wandel der «Ortsgemeinde» zu veranlassen. Die Haltung der   «Ortsgemeinde»   gegenüber   Herausforderungen   wurde durch die Antwort von Kangas auf Neils Frage nach Lees unge­wöhnlichen und häufigen Allegorien zusammenfassend doku­mentiert: «Sie sind nicht geistlich. Sie verstehen das nicht.» Als unser Nachforscher Lees Heim telefonisch anrief, verwies ihn Frau Lee zur Besprechung der Angelegenheit wieder an Herrn Kangas.

An einem Sonntagmorgen gelang es unserem Nachforscher bei einem dritten Besuch in der «Anaheim-Ortsgemeinde», mit Witness Lee unter vier Augen zu sprechen. Im ganzen Gespräch drückte Lee seinen Ärger über das Spiritual Counterfeits Pro­ject aus und versuchte seine Lehren zu rechtfertigen. Den Fra­gen unseres Nachforschers wich er aus.

Angesichts der zahlreichen Anfragen, die das SCP laufend von besorgten Christen aus ganz Amerika und vielen Ländern der Welt erhält, sehen wir uns genötigt, diesen Bericht zu veröf­fentlichen. Lees Schrifttum bezeugt, was er glaubt und lehrt. Die «Ortsgemeinde» bestätigt noch immer seine Lehren, und wir nehmen an, dass seine Jünger sie weiterhin als autoritativ akzeptieren. Obwohl die «Ortsgemeinde» eine Arbeit geschrie­ben hat, die angeblich die Schlüsse dieses Buches zu widerlegen sucht, verweigert sie dem SCP eine Einsichtnahme. Aufgrund der gescheiterten Bemühungen, mit Lee und «Ortsgemeindelei­tern» Kontakt aufzunehmen, müssen wir uns mit seinen veröf­fentlichten Aussagen — die bibeltreuen Christen äusserst zweifelhaft erscheinen — als Hauptinformationsquelle begnügen.

Neil Duddy, Nachforscher; Brooks Alexander, Direktor Spiritual Counterfeits Project, Berkeley, Kalifornien

P.S. Man hat der «Ortsgemeinde» und Witness Lee anerbo­ten, dieses Manuskript zu lesen und ihnen das Anrecht auf eine fünfseitige Antwort im Anhang dieser Veröffentlichung ge­währt. In einem eingeschriebenen Brief vom 22. Mai 1979 hat Witness Lee dieses Angebot jedoch abgelehnt.

Ferner ist zu beachten, dass nicht alle christlichen Gemein­den, die als ihre Bezeichnung den Begriff «Ortsgemeinde» wählten, mit der Ortsgemeinde von Witness Lee identisch sind.

 

I. Einleitung

Die Grundlage

Das Kennzeichen des biblischen Glaubens ist, dass Glaube und Wandel sich mit den Grundzügen biblischer Anweisung decken. In rechtgläubigen christlichen Gemeinschaften werden rechter Glaube und rechter Wandel durch die Kraft biblischer Lehre und Sittlichkeit erzeugt. Das Neue Testament verlangt, dass der Christ die Schrift als ausschliessliche Quelle der Beleh­rung betrachte und von ihr allein Sittlichkeit und gesellschaftli­che Schicklichkeit herleite. Paulus schrieb an Timotheus: «Alle Schrift ist von Gott eingegeben (gottgehaucht) und nütze zur Lehre, zur Ermahnung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung in der Gerechtigkeit, auf dass der Mensch Gottes vollkommen sei, zu jedem guten Werke völlig geschickt» (2. Tim. 3,16.17). Der Brief des Paulus betont die Notwendigkeit einer Orthopraxis: rechte Lehre und rechtes Tun, welche von der Schrift be­stimmt werden. Gott hat die Schrift ganz schlicht zur Erfüllung dieses zweifachen Zwecks gegeben. Gottes inspiriertes Wort vermittelt lehrmässig korrekte Weltanschauung und Sittlichkeit, welche gemeinsam zu einem Gott wohlgefälligen Wandel er­muntern, zu «guten Werken». Kurz, die Schrift enthält die Kri­terien, nach denen Glaube und Wandel gemessen werden.

Der erste Johannesbrief baut dieses von Paulus dargestellte Anliegen noch weiter aus. Während Paulus den Timotheus, ei­nen Ältesten und Lehrer, anwies, seine Lehren über Glauben und Wandel der Schrift zu entnehmen, fordert Johannes zu­sätzlich, dass die Gläubigen den Dienst ihrer Lehrer durch An­wenden biblischer Richtlinien beurteilen.

John Stott stellt in seinem Kommentar über den ersten Jo­hannesbrief dar, wie wichtig es ist, dass christliche Gemein­schaft, unter Benutzung der Schrift als Grundlage, die Lehre und das soziale Verhalten ihrer Lehrer prüfen.

Von l. Johannes Kapitel 2 her fordert Stott zur Anwendung zweier Proben auf: der sozialen und der lehrmässigen.1

Stott erklärt, dass der Apostel Johannes der christlichen Ge­meinde zwei Werkzeuge in die Hand gibt, mit deren Hilfe sie rechtes Lehren und Verhalten von den oft verführerischen Ver­drehungen der Irrlehre unter ihren Lehrern unterscheiden kann. Stott verweist auf 1. Johannes 2,9 und 10 als eine der vielen Stellen in diesem Brief, die betonen, dass Lehrer sittliche und gesellschaftliche Schicklichkeit auf weisen müssen, wie es sich für ein Kind Gottes gehört: «Wer da sagt, dass er in dem Lichte sei, und hasst seinen Bruder, ist in der Finsternis bis jetzt. Wer seinen Bruder liebt, bleibt in dem Lichte, und kein Ärgernis ist in ihm.» Nach biblischer Definition ist ein Lehrer, dessen Bezie­hungen in der christlichen Gemeinschaft beständig zersetzend und von Zank gekennzeichnet sind, auf Abwege geraten.

Stott zitiert 1. Johannes 2,24 und 25, um zu zeigen, dass die Schrift von Lehrern lehrmässige Reinheit fordert: «Was ihr von Anfang gehört habt, bleibe in euch. Wenn in euch bleibt, was ihr von Anfang gehört habt, so werdet auch ihr in dem Sohne und in dem Vater bleiben.» Einleuchtend legt John Stott seine Ansicht dar, dass Johannes Christen auffordert, die Lehren ih­rer Unterweiser an den apostolischen Lehren zu messen.2 Es ist auch interessant zu beachten, dass rechte Lehre sich in diesem Vers mit Bleiben «in dem Sohne und in dem Vater» verbindet. Umgekehrt kann Irrlehre nicht dazu führen, dass man in dieser Verbindung bleibt.

Die Probe der gesellschaftlichen Schicklichkeit und der rech­ten Lehre sind zwei Teile eines erforderlichen dreiteiligen Aus­wertungsvorgangs, welche Christen auf Lehre und Verhalten ih­rer Unterweiser anwenden sollen. Die Schrift dient als Vorlage und Werkzeug, um Leben und Lehre von christlichen Gemein­schaften zu bewerten; auch um solide Orthopraxis als Gegen­satz von verkehrtem Glauben und Tun zu bewirken.

Aus Gründen, die Stott der Schrift entnimmt, sind wir ver­pflichtet, sowohl die Lehren der Ortsgemeinde als auch ihre Auf­tritte in umliegenden christlichen Gemeinschaften zu prüfen.

Die Lehren der Ortsgemeinde, die den Schriften und Vorträ­gen von Witness Lee entstammen, sind die Hauptquellen der Belehrung für Benehmen und gesellschaftliche Schicklichkeit ei­nes Mitglieds. Die Ortsgemeinde hat sich selbst als Vorboten wahren Christentums dargestellt, als Avantgarde und überlege­ne Unterweiserin der Gemeinde Jesu. Das Modell, das uns der Apostel Johannes gibt, um Lehren und zwischenmenschliche Beziehungen zu prüfen, ist Vorbild, Grundprinzip und Leitlinie dieses Buches.

Zweck und Inhalt

«Der Eifer um dein Haus hat mich verzehrt.» Der Evangelist Johannes berichtet uns, wie die dramatische Tempelreinigung Jesu, die Jünger an diese Zeile in Psalm 69,10 erinnerte. Der Ei­fer Christi um das Haus Gottes legte den Grund zur christlichen Gemeinde.3 Er ist das Vorbild, dem das Volk Gottes nachzuei­fern hat.

Übersprudelnde Freude ist ansteckend. Besonders wenn sie Gott, Seinem Wort und Seiner Gemeinde gilt. Wir werden heu­te mit verschiedenen religiösen Bewegungen konfrontiert — be­sonders unter der Jugend — die ihre Lehren und ihren Lebens­stil mit grossem Eifer propagieren. Sie wirken deshalb für Leu­te, die inner- und ausserhalb der Gemeinde nur oberflächliche und unbefriedigende Erfahrungen gemacht haben, äusserst an­ziehend. Endlich stösst man auf echte Hingabe! Was auch die lehrmässigen Feinheiten sein mögen, die Anhänger sind auf alle Fälle von ihrer Gemeinschaft begeistert.

Die Bibel aber warnt uns vor irregeleitetem Eifer. Paulus be­klagt dieses Übel bei seinen jüdischen Volksgenossen: «Sie haben Eifer für Gott, aber nicht nach Erkenntnis.» Auch wusste er um kommende Tage, da selbst Mitglieder der christlichen Gemeinschaft mit einem Schein der Gottseligkeit «... ihre Kraft verleug­nen» würden. Sein Rat ist: «Von diesen wende dich weg!»

Die Nachfolger von Witness Lee legen Wert auf Hingabe und Eifer im Gemeindeleben. Sie halten sich für die Überwinder des Herrn, die «wiederhergestellte» Gemeinde der letzten Tage. Verständlicherweise sind sie über ihren vermeintlichen einzigar­tigen Platz im göttlichen Plan begeistert! Aussenstehenden ge­ben die Anhänger der Ortsgemeinde zu vielen Fragen Anlass, die so leicht nicht zu beanworten sind. Wir haben die Absicht, uns die Bewegung näher anzusehen, um ihre Lehren und Praktiken zu verstehen. Wenn wir zu einem Verständnis gelangen, werden wir die Ergebnisse im Licht der Schrift auswerten, damit wir er­kennen, ob unsere Freunde, die den Anweisungen Witness Lees Folge leisten, einen gottgefälligen Eifer besitzen, dem wir nach­eifern sollten, oder ob ihre Begeisterung ein Abweichen von ei­nem wahren Gottesverständnis zu bemänteln sucht.

Dieses Buch untersucht die Lehren Witness Lees und seiner Ortsgemeinde, sowohl systematisch als auch detailliert. Dass es kein leichtes Unterfangen ist, beweist die Tatsache, dass vier Jahre Nachforschungen und Erfahrungen dieser Arbeit voraus­gehen. Trotz Witness Lees erstaunlicher Produktivität (er ist ein unermüdlicher Redner) hat man von Ortsgemeindeseite her kaum etwas unternommen, um die theologischen Besonderhei­ten der Bewegung so zu systematisieren, dass man sie mühelos erfassen könnte. Darum haben wir uns in dieser Arbeit zu ei­nem Grossteil darum bemüht, eine Art «systematische Theolo­gie der Ortsgemeinde» zusammenzustellen. Es ist unser Anlie­gen, die Lehre von Witness Lee so zu ordnen, dass sie, statt nur in Bruchteilen, als Ganze erfasst werden kann.

Diese Absicht hat die Zusammenstellung unseres Materials bestimmt. Der Löwenanteil dieses Buches legt Lees Auffassun­gen in einer Reihe von traditionellen Kategorien biblischer Theologie dar, worauf jeweils eine Stellungnahme unsererseits folgt. Wir hatten allerdings erhebliche Schwierigkeiten, aus dem umfangreichen Schrifttum Lees die typischen Bestandteile seiner Theologie herauszukristallisieren, um sie in die traditio­nellen Kategorien biblischen Glaubens einzureihen. Witness Lee hat sich ein zweischneidiges Schwert geschmiedet. Symbolträch­tige, biblische Buchstabentreue bildet die eine, unbiblische Leh­re die andere Schneide. Die unbiblische Lehre wird in biblische Terminologie gehüllt, woraus sich eine ungewöhnliche Fär­bung, ja Verdrehung der Schrift ergibt. Das führt zu zweierlei: Erstens: Die Ortsgemeinde hat leichten Zugang zu christli­chen Gemeinschaften, die an biblischer Terminologie festhal­ten. Zweitens: Wenn die Ortsgemeinde unbiblischer Lehre be­zichtigt wird, greift sie auf grosse, unverbrauchte Reserven zu­rück und produziert lauter biblische Stellungnahmen. Wir müs­sen der Ortsgemeinde gerecht erweise zugestehen, dass ihr Dienst auch biblische Lehre enthält. Das Hauptgewicht liegt jedoch auf ungewöhnlichen, zweideutigen oder gar fraglichen Lehr­punkten; und es sind gerade diese Punkte, die zu Unstimmig­keiten zwischen der Ortsgemeinde und den übrigen christlichen Gemeinschaften geführt haben.

Diese kritische Abhandlung und Analyse der Ortsgemeinde konzentriert sich auf die Besonderheiten der Bewegung. Ausser im theologischen Abschnitt haben wir Analyse, Auswertung und eigentlichen Kommentar auf das letzte Kapitel beschränkt. Völlige Trennung von Auswertung und Darstellung ist natürlich nicht möglich; aber unsere eigenen Werturteile sollten, wo sie auftreten, als solche erkenntlich sein, da wir uns keineswegs be­müht haben, unsere Urteile und Klarstellungen irgendwie zu verhüllen.

Man beachte, dass die Zitate aus Lees Schrifttum als An­schauungsmaterial zu seinen Auffassungen gedacht sind, und nicht als «Klartexte» irgendwelcher theologischer Position. (Bei jedem Zitat zeigt ein Buchstabe an, welchem Buch es entnom­men ist, das unter «Zitierte Werke» aufgeführt ist.)

Folgendes haben wir nicht unternommen:

Wir haben nicht versucht, die Frage: «Ist Witness Lee gläubig?» zu beantworten; oder: «Sind die Mitglieder der Orts­gemeinde gerettet?» Unter ihnen befinden sich Gläubige, wenn sie auch verführt und mangelhaft aufgeklärt sind. Man kann über solche Fragen natürlich verschiedener Meinung sein, aber beide Fragen sind biblisch unpassend für unsere Absichten. Vielmehr trifft folgende Frage den Kern unseres Anliegens: «Präsentiert die Lehre von Lee und der Ortsgemeinde ein Bild von Gott, Christus, dem Zustand des Menschen und der Ver­antwortung des Christen in einer notbedüftigen Welt, welches der biblischen Offenbarung entspricht?» Das ist eine Frage, die sich beantworten lässt, und welche die Bibel — besonders der 1. Johannesbrief — uns zu stellen nötigt.5

Wir haben nicht versucht, einen erschöpfenden Katalog der Ortsgemeindelehren zu erstellen, sondern Lees Verständnis gewisser Hauptthemen zu erfassen.

Wir haben auch nicht versucht, eine unanfechtbare Unter­suchung der zwischenmenschlichen Ein- und Auswirkungen des Ortsgemeindelebens darzustellen. Unsere Bemerkungen stam­men von persönlichen Beobachtungen und Fakten, die während vier Jahren von Spiritual Counterfeits Project gemacht und ge­sammelt wurden. Mitarbeiter im In- und Ausland haben uns vertrauenswürdige Mitteilungen über die Art der Ortsgemeinde­beziehungen innerhalb ihrer Gemeinschaften zugesandt. Wir haben ein hohes Mass an Übereinstimmung in ihren Beobach­tungen und Erfahrungen festgestellt.

Wir glauben, dass wir Lees Theologie fair und treffend darge­stellt haben. Es ist wichtig zu beachten, dass die behandelten theologischen Gebiete für die Struktur jeder wohlausgewoge­nen biblischen Theologie entscheidend sind. Es handelt sich kei­neswegs um unbedeutende Themen, die sich um zweit- oder drittrangige Wahrheiten drehen. Dennoch standen wir einem besonderen Problem gegenüber, als wir versuchten, die Lehre der Ortsgemeinde zu beschreiben. Es wird im Hinblick auf zu erwartende Stellungnahmen von Witness Lee oder seiner Wort­führer gut sein, das vor Augen zu haben. Wie wir in diesem Buch eingehend darlegen, wird die psychologische Dynamik -die geistliche Gotteserfahrung, die in der Ortsgemeinde gelehrt wird - als eine subjektive Erfahrung geschildert, die einen «geistlichen Standard verleiht, der äusserst vage und ver­schwommen ist» (O, S. 83). Obwohl diese Erfahrung subjektiv und vage ist, so dass sie kein objektives Mass für Wachstum und Reife in Christo bietet, gilt sie als grundlegende und unerlässli-che Voraussetzung zum Erleben der wahren «Wirklichkeit». Wenn das «Vage und Verschwommene» verabsolutiert wird, verlieren die entgegengesetzten Eigenschaften Objektivität und Schärfe selbstverständlich an Gewicht. Jeder Versuch, biblische Sprache als Trägerin von Sinn und Bedeutung zu gebrauchen, anstatt et­was zuerst subjektiv zu erfahren, um es dann zu verstehen, wird von der Ortsgemeinde grundsätzlich als etwas so Untergeordne­tes angesehen, dass es praktisch einem «Abfall» gleichkommt.

Unter solchen Umständen ist es nicht erstaunlich, dass festge­fügte, logische Strukturen in der Ortsgemeindelehre fehlen. Im gesamten Schrifttum Witness Lees findet man keine einzige ge­wichtigere Aussage, die nicht an anderen Stellen auf andere Weise interpretiert oder völlig auf den Kopf gestellt wird. Und das geschieht, wohlgemerkt, in Lees Lehren über die Inspira­tion der Schrift, das Erkennen des göttlichen Willens, das We­sen Gottes, die Christologie und die Rolle des Gesetzes in der Sittenlehre.

Zudem ist es nicht ungewöhnlich, dass Leiter der Ortsgemein­de genau das tun, was sie ändern, das heisst dem «Christentum», ankreiden. Witness Lee sagt zum Beispiel: «Lehren bewirken nur Spaltungen unter den Kindern des Herrn.» Er meint des weiteren: «Je mehr wir über Lehren re­den, desto mehr werden wir uns zanken» (G, S. 23). Gleichzei­tig besteht er aber auf bestimmten Lehren (z. B. «vermengen» und «der örtliche Grund») in einer Weise, die ihn dazu geführt hat, Gemeinschaft mit jeder grösseren christlichen Körperschaft in der Welt auszuschlagen!

Die Mentalität der Ortsgemeinde hat offenbar keine Schwie­rigkeiten, diese Art Widersprüchlichkeit in den verschiedensten Formen anzuwenden. Ein Beispiel bieten ihre Methoden, Pro-selyten zu machen. Während sie ein Konzept doktrinloser Ein­heit bekennt — eine Einheit, die auf geistlicher Erfahrung und Unterordnung basiert — verfolgt die Ortsgemeinde eine Strate­gie zum Gemeindewachstum, welche auf wahllosen, beinahe willkürlich verursachten Spaltungen beruht.

Auf der Suche nach Anhängern unter Leuten, die nach «einer Art neutestamentlicher Gemeinde» auf der Suche sind, entführ­te die Ortsgemeinde Glieder aus bereits bestehenden Gruppen. Sie gingen fast immer nach dem gleichen Muster vor. Man nahm Kontakt mit einer Gruppe auf, die an einigen Vorstellun­gen festhielt, die denen der Ortsgemeinde ähnlich waren. Dann wurde eine Menge über Einheit geredet. Langsam begann die Gruppe zu Zusammenarbeit mit der Ortsgemeinde zu neigen.

Sobald die Ortsgemeinde erkannte, dass sie eine beachtlich


 

Gruppe abziehen könnte, warf sie eine Streitfrage auf; egal wo­rum, einfach irgend eine Streitfrage. Daraufhin forderte die Ortsgemeinde, dass man Stellung beziehe. Sie könne selbstver­ständlich nicht mehr mit einer falschen Gemeinde zusammenar­beiten, die jetzt ihr wahres Gesicht gezeigt hätte. Sektierertum hätte ihr hässliches Haupt erhoben. Keineswegs könne die Orts­gemeinde das akzeptieren. Die Folge war Trennung, und die Ortsgemeinde entführte ihre Beute.6

Wenn man an Lees radikaler Geringschätzung von Lehre und verstandesmässiger Beurteilung lehrmässiger Orthodoxie denkt, fragt man sich, warum sich die Ortsgemeinde so krampfhaft darum bemüht, sich selbst in einem biblisch-orthodoxen Licht zu präsentieren. Warum gab die Ortsgemeinde 40000 Dollar für Zeitungsannoncen aus, in welchen sie The God-Men von SCP zu widerlegen suchten, indem sie für sich selbst Orthodoxie be­anspruchten? In diesen Anzeigen legte die Ortsgemeinde die notwendigen und grundlegenden Glaubensartikel orthodoxen Christentums dar und zitierte historische Persönlichkeiten, die als die theologischen Väter fundamentalen Christentums gelten. Auch auf den Seiten 6-8 von A Reply to the Tract against Wit-ness Lee and the Local Church (Eine Entgegnung auf die Ab­handlung gegen Witness Lee und die Ortsgemeinde) steht ein in orthodoxer Sprache abgefasstes Zehnpunktecredo — allerdings wurden die Ortsgemeindelehren, die die Widersprüche hervor­gerufen haben, nämlich «Vermengen» und «der örtliche Grund» oder ihre niedrigen Ansichten über die Christenheit, weggelassen.7

Auf Grund unserer Erfahrungen sind wir davon überzeugt, dass sie sich aus rein taktischen Gründen diesen Anschein von Orthodoxie gibt. So hofft sie, Christen für ihre Bewegung zu gewinnen, nachdem sie deren kritische Haltung durch einen Deckmantel evangelikalen Gehabes beschwichtigt haben. Ein Ältester der Anaheim Ortsgemeinde besucht das Füller Seminar in Pasadena, Kalifornien. In einer besonderen Prüfungssitzung wurde darüber befunden, ob eine Aufnahme dieses Mannes zu rechtfertigen sei. Das Seminar schloss aus der Darlegung jenes Ältesten über die Lehre der Ortsgemeinde, dass seine Theologie gesund sei. Später unterredete sich unser SCP Nachforscher mit einem besorgten Füller Mitglied, was folgendes an den Tag brachte: 1. der Prüfungsausschuss hatte Witness Lees Lehren weder gelesen noch gehört; und 2. schwere Bedenken zur Auf­nahme dieses Ältesten wären aufgetreten, hätte man Lees theo­logische Stellung in der Gesamtheit erfahren. Dieser Mangel an Aufrichtigkeit in der Selbstdarstellung ist in mancherlei Hin­sicht die störendste aller Eigenschaften der Ortsgemeinde.

Wie bereits erwähnt, setzt sich die vorliegende Arbeit aus zwei Hauptteilen zusammen: dem lehrmässigen und dem sozio­logischen. Der soziologische Teil folgt dem theologischen; denn die Beziehungen der Ortsgemeinde zu ändern christlichen oder zu weltlichen Gemeinschaften sind nichts als die praktischen, logischen Auswirkungen der Gedanken Lees. Sollte der Leser jedoch zuerst einen Blick ins Innenleben der Ortsgemeinde wünschen oder den theologischen Teil ein wenig trocken fin­den, kann er die soziologische Abhandlung als einen in sich ab­geschlossenen Artikel zuerst lesen. Dieser mag ihm dann als Bild-Führer durch die theologische Landschaft dienen.

Indem wir diese Untersuchung vornehmen, sind wir uns sehr wohl der Ansicht Witness Lees über ein solches Unterfangen bewusst: «In meinem ganzen Christenleben bin ich keinem Chri­sten begegnet, der noch vom Herrn gesegnet wurde, nachdem er die Ortsgemeinde kritisiert oder bekämpft hatte. Ich habe beob­achtet, dass alle Feinde des Gemeindelebens vom Glauben abge­fallen sind. Ich weiss von keiner einzigen Ausnahme. Sie mögen alle beschämt werden und rücklings fallen. Das ist keine kleine Sache. Wenn du die Ortsgemeinden hassest, wirst du kein Wachstum im Leben mehr erfahren. Du wirst auch keine reiche Ernte einbringen» (C, S. 199).

Eine solche Aussage kommt sowohl in der Wirkung als auch in der Absicht einem Fluch über alle Gegner und Kritiker von Lees Lehren gleich. Er verheisst aber auch Übles allen Ortsge­meindemitgliedern, denen plötzlich Zweifel bezüglich ihrer Mit­gliedschaft kommen sollten. Sie verspricht denen göttliche Stra­fe, die sich der Ortsgemeinde widersetzen. Damit steht sie zu den Flüchen parallel, die das Alte Testament dem ungehorsa­men Israel in Aussicht stellte. Das passt auch völlig zu Lees Auf­fassung, dass die Ortsgemeinde die einzige wahre Kirche sei, von der die Psalmen sprechen. Dennoch schreiben wir diese Arbeit. Es geschieht aus unserem ernsten Anliegen für den hohen Stan­dard der göttlichen Wahrheit, welcher alle, die Seinen Namen bekennen, verpflichtet sind. Es geht uns nicht um Streit oder Rechtfertigung. Wir möchten aber der breiten christlichen Ge­meinschaft einen Schutz vor diesen Einflüssen bieten und Wit­ness Lee und die Ortsgemeinde zur Busse aufrufen, damit das Volk Gottes wirklich frei sein möchte, wie Er verheissen hat.8

 

II. Geschichte der Bewegung: Ein kurzer Überblick

Witness Lee wurde stark von der Reaktion gewisser chinesischer Gemeinden gegen westliche Missionspraktiken beeinflusst. Chi­nesisches Christentum wurde von vielen Chinesen mit westli­chem Imperialismus gleichgesetzt. Einer dieser Christen war Watchman Nee (1903 - 1972), die Person, die Lees Ideen und Leiterschaftsrolle anfangs entscheidend geprägt hat. Nees Er­nüchterung über den steifen Formalismus seiner christlichen Schulbildung führte ihn dazu, eine Hausgemeinde nach der Art der Brüderversammlung im Jahre 1922 in Futschou mitzugründen. In dieser Zeit lernte Nee auch das Schrifttum profilierter Christen über das geistliche Leben kennen; u.a. von Jessie Penn-Lewis, Andrew Murray, J.N. Darby. Sie sprachen von ei­nem inneren, geistlichen Leben in der Gemeinde mit Christus und von einer unformalen, autonomen Gemeindestruktur ohne Unterscheidung zwischen Geistlichen und Laien, also prakti­sches, allgemeines Priestertum.

In den späten Zwanzigerjahren schrieb Nee ein Buch mit dem Titel «Der geistliche Christ», in welchem er aufzeigt, dass der Mensch dreiteilig sei, bestehend aus Leib, Seele und Geist. Da­von übernahm Witness Lee die Ansicht, die einzigen annehm­baren Eigenschaften und Handlungen sind solche, die dem menschlichen Geist entspringen, dem schlummernden Teil des Individuums, der dann zum Leben erweckt wird, wenn er, und zwar nur er, vom Heiligen Geist bewohnt wird. Der Heilige Geist erzeugt Eindrücke im menschlichen Geist, die dann von der Seele — dem Verstand — gedeutet werden. Der Geist muss von der Seele geschieden werden und dann dieselbe beherr­schen.

Watchman Nee zog nach Schanghai, wo er seine erste Ge­meinde gründete, die unter dem Namen «Kleine Herde» be­kannt wurde. Die neue Gemeinde war von den anderen Ge­meinden Schanghais unabhängig. Zehn Jahre darauf, im Jahre 1938, veröffentlichte Nee Concerning our Missions (Betreffs unserer Missionen; erschien später unter dem Titel Das normale Christenleben), wo er die Gedanken, die er seit 1928 in die Tat umgesetzt hatte, darlegte:

1. Denominationalismus ist Sünde und ein Hindernis zum geistlichen Wachstum. Die Gemeinde soll geeint sein.

2.  Pro geographisches Gebiet sollte nur eine Gemeinde und diese von anderen Gemeinden unabhängig sein.

Alle Gläubigen sollten sich völlig von den Denominationen lösen und lebendige örtliche Gemeinden bilden.1 Die Kleine Herde begann zuerst in den Dreissigerjahren zu den. In jener Zeit kam Witness Lee zur Bewegung. i Ihm waren schon als Kind biblische Geschichten und Lehren zwei Naturen im erlösten Menschen und die Lehre von »ushaltungen2 beigebracht worden. Er besuchte eine christli-lie Schule, bekehrte sich aber erst im jungen Mannesalter. Als Christ machte er mehrere Veränderungen durch. 1927 wurde er den Exekutivrat seiner Denomination gewählt, lehnte aber üe Stelle ab und verliess die Denomination. Fünf Jahre später, behauptete  er, «kam er erstmals zur Ortsgemeinde». Im gleichen Jahr begann er in der Kleinen Herde in Tschefu in Nord China zu dienen.

In den Dreissiger jähren allerdings erforschte und erlebte Witness Lee durch intensive Nach-Innenschau zwei Probleme, die  vom Sündenfall herrühren: Entfremdung vom Nächsten und Entfremdung vom eigenen Ich. Er war äusserst bemüht, nie­mand zu beleidigen. Er las nie die Zeitung in jemandes Gegen­wart, wenn er nicht ausdrücklich Erlaubnis dazu erhielt. Er musste Briefe drei oder viermal schreiben, weil sie perfekt sein mussten. Er entschuldigte sich für die gleichen kleinen Vergehen mehrere Male, selbst wenn schon beim ersten Mal vergeben Worden war. (Heute sagt Lee, wir alle müssten einmal so streng mit unserem Gewissen sein.)3 So bereitete Witness Lee den Nährboden, auf dem eine hochgezüchtete «Theologie der Er­fahrung» gedeihen würde.

In den Vierziger jähren war Lee zu einem brauchbaren Mitar­beiter Nees geworden. Er hatte Organisationstalent, welches Nee abging. Von 1939 bis 1942 half er Nee bei Schulungen in Schanghai.

Obwohl Witness Lee 1943 von der Japanischen Heerespolizei Ins Gefängnis gesteckt wurde und nach seiner Entlassung drei Jahre lang an Tuberkulose litt, lehrte er wieder in Schanghai in den Jahren 1946 bis 1948.5 An einer Mitarbeiterkonferenz der Kleinen Herde 1948 beschloss man, dass die Mitarbeiter die Auf­sicht über die Gemeinden haben sollten. Das war eine einschnei­dende Veränderung der bisherigen Ansichten Nees, die offen­sichtlich Lee, dem Organisator, gelegen kam.

Es scheint, dass das Jahr 1948 eine Wende in W. Nees Ge­meindepraktiken brachte. Es war der Anfang eines hierarchi­schen Systems mit zentraler Kontrolle, welches sich nur wenig von der Organisation der denominationalen Gemeinden unter-

 

schied. Einige meinen, hier hätte der wachsende Einfluss Witness Lees eingesetzt, der später solche eigenmächtige Kontrolle über die Gemeinden in Taiwan haben sollte.6

Als die Kommunisten in China immer stärker im Vormarsch waren, setzte Nee Witness Lee als Leiter der Kleinen Herde von Taiwan ein.

In den letzten Jahren ist es zu ernsthaften Spaltungen in Tai­wan und Hongkong gekommen. Die Gemeinden hatten sich aufgeteilt in solche, die die Leitung von Lee annahmen und sol­che, die den Eindruck hatten, er sei von den Lehren Watchman Nees abgewichen, indem er fragwürdige Lehren und neue Arten des Gottesdienstes eingeführt habe. Eine beträchtliche Anzahl von Leitern der Kleinen Herde und von Gemeinden in verschie­denen Städten Südostasiens brachen ihre Verbindungen zu Wit­ness Lee ab. Trotz dieser inneren Kämpfe in den eigenen Reihen drängte die Ortsgemeinde mit neuen Feldzügen auf den Philip­pinen, in Indonesien, Korea, Malaysia, Neuseeland, Deutsch­land, in der Schweiz, in Brasilien, Nigeria und in den Vereinig­ten Staaten voran. Die Mitgliederzahl der Ortsgemeinde ausser­halb der Vereinigten Staaten beträgt rund 35000. In den USA und Kanada sind es schätzungsweise 5000 - 7000.

Offensichtlich war Taiwan Lees Hauptquartier, bis er 1962 nach Los Angeles kam.8 Seither ist Südkalifornien eine Hoch­burg der Ortsgemeinde. In den späten Sechziger jähren begann Lee das «Jerusalemprinzip» in den USA anzuwenden. (Das Je­rusalemprinzip, das Apostelgeschichte 8,4 entnommen ist, ist das Ausziehen ganzer Gruppen von Christen, um Gemeinden zu gründen.) Eine Gruppe von etwa Siebzig zog 1969 nach Hou­ston, während andere 1970 nach Seattle, Chicago, Akron und Atlanta zogen. 1974 waren es schon etwa 40 - 50 Ortsgemein­den; heute dürften es etwa 50 - 60 sein.

Die Ortsgemeinden in den USA geben sich oft nicht als An­hänger von Witness Lees Lehren aus. Vielmehr stellen sie sich Gemeinschaften — sowohl Gemeinden als auch aussergemeind­lichen Gruppen — als wohlwollende Christen vor. Immobilien der Ortsgemeinde sind nicht durch Tafeln als solche gekenn­zeichnet. Oft besuchen nichtsahnende Personen Ortsgemeinde­zusammenkünfte ein halbes Jahr lang, ohne etwas von ihrer or­ganisatorischen Verbindung zu Witness Lees «Muttergemein­de» in Anaheim, Kalifornien, zu wissen.

Die juristische Struktur von Witness Lees Hauptquartier in Anaheim lässt zwei Zweige erkennen, die beide im gleichen Haus untergebracht sind. Die Ortsgemeinde e.V. erfüllt alle

 


 

jttlichen Anforderungen. Über die zweite juristische Struk-, den Strom Verlag, hat Witness Lee den Vorsitz. Darum ist ness Lee praktisch und rechtlich ein Angestellter der Ortsge-nde und seiner eigenen Organisation. Für die Gemeinde ist lin bezahlter, offizieller Berater mit einem besonderen Inter-i an der Organisation.

)ie Organisation, der Lee vorsteht, schliesst auch den Strom rlag ein. Dieser verschickt Lees zahlreiche Bücher, Traktate Artikel an eine internationale Leserschaft. Er versendet ch Videobänder und Tonbandaufnahmen mit Witness Lees erkündigungen und Vortragsreihen. Ebenfalls ist die Organi-•tion für zwei zehntägige Schulungen pro Jahr in Los Angeles erantwortlich. Diese werden von ca. 3000 Besuchern, zu einem iis von 50 Dollar pro Person, besucht. Die Organisation am bezieht jährlich fast 750000 Dollar. Obwohl Witness Lee rechtlich für die Ortsgemeinde nicht rantwortlich ist, sind seine Gegenwart und sein Einfluss dort Von so grossem Gewicht wie in seiner Organisation Strom. Diese i beiden Agenturen werden für unseren theologischen und sozio-l'logischen Kommentar als eines behandelt.

Witness Lee und weitere Ortsgemeindeglieder waren auch in l twei Geschäftsunternehmen mit einbezogen: Day Star und Fos-forus. Lee war Vorsitzender beider Gesellschaften. Sein Sohn, Timothy Lee, diente als Präsident von Fosforus.

Day Star von Kalifornien verkaufte Wohnautos, bis es im Herbst 1975 als eingestelltes Unternehmen registriert wurde, da es sich wegen mangelnden Verkaufs nicht mehr über Wasser halten konnte. Fosforus war eine in Taiwan stationierte Fabrik, die zunächst Bestandteile für die Wohnautos herstellte. Als aber das Unternehmen in Kalifornien einging, begann Fosforus Stühle zu produzieren. Ortsgemeinden und einzelne Mitglieder wurden dazu ermuntert, diese Stühle für Versammlungsräume und Privatheime zu kaufen; dennoch konnte kein genügender Markt geschaffen werden. So lancierte Fosforus ein neues Pro­jekt: Herstellung von Tennisschlägern. (Ironischerweise verur­teilt Witness Lee seit je alle sportliche Betätigung; nur Tennis ist von diesem Urteil ausgenommen.) Aber auch dieses Unterneh­men scheiterte, so dass auch Fosforus den Betrieb einstellen musste. Die nichtregistrierte Agentur Overseas Christian Ste­ward ist Mutterfirma dieser beiden nichtproduzierenden Ge­schäfte.

Beachtenswert ist auch die Tatsache, dass von Ortsgemeinde­mitgliedern Gelder gesammelt wurden, die dem Bau eines Ver-


 

 

sammlungshauses in Stuttgart zufliessen sollten. Die 235000 Dollar wurden letzten Frühling von deutschen Banken abgeho­ben, weil der Zins mit 3% zu gering war. Sie wurden dafür in ei­nen Wohnblock in der Nähe von Lees Heim in Anaheim, Kali­fornien, investiert. Während diese Investition Gewinn abwirft, verlautet aus gut informierter Quelle, nichts sei zum Bau der ge­planten Versammlungshalle in Stuttgart unternommen worden.

Letzte Ereignisse

Im Herbst 1978 kam es in der Leitung der Ortsgemeinde zu einer bedeutenden Abspaltung. Über vierzig Mitglieder der Anaheim-Gemeinde und andere im ganzen Land zogen sich zu­rück, darunter mehrere der engsten Vertrauten Lees. Sie haben logischere Auffassungen und Praktiken über biblisches Leben und Glauben gewählt. Die Leiter der Ortsgemeinde sind natür­lich verbittert. Am liebsten würden sie ihnen das Heil abspre­chen. Unter Lees Leitung haben Älteste der Ortsgemeinde be­sondere Zusammenkünfte gehalten, in denen besprochen wur­de, wie man mit Abtrünnigen umzugehen hat, besonders mit Max Rapoport, Lees Kronprinz und Präsident der Ortsgemein­de Anaheim. Die «Max-Konferenz» hat das üble Gerücht in Umlauf gebracht, Rapoport stehe mit dem Teufel im Bund, er sei der Verräter Judas und habe den wahren Glauben und die wahre Gemeinde aufgegeben. Allerdings leugneten sie den Wir­bel, als sie November 78 daraufhin angesprochen wurden. Sie behaupteten, die Anaheim-Abtrünnigen stehen ausserhalb der Los Angeles Gegend im Ortsgemeindedienst.

So befindet sich die Ortsgemeinde an einem kritischen Wen­depunkt ihrer Geschichte. Die Gruppe kann nicht die von au­ssen kommenden Herausforderungen und die inneren Kämpfe ohne ernsthafte Folgen ignorieren. Auf biblische Gegenüber­stellung hin kann die Ortsgemeinde mit Busse antworten und dem Beispiel der 200 in Amerika nacheifern, die den Ruf Gottes ernst genommen haben. Oder, die Gemeinde kann noch autori­tärer werden und jeden Versuch von Mitgliedern, abtrünnig zu werden, ersticken, welches einen fortdauernden Konflikt mit der christlichen Allgemeinheit nach sich ziehen würde.


 

l. Die Lehren der Ortsgemeinde

! Quelle: Sinnes-Theologie

[l Witness Lees Theologie basiert auf menschlichen Sinnesein-ttcken. Die Hauptquelle, aus der er die Autorität seiner Lehren nd Praktiken herleitet, sind die Erfahrungen innerer Empfin-ngen. Sie gelten als vertrauenswürdig, weil angenommen wird, 5 der innewohnende Heilige Geist sie erzeugt. Lees Hauptanlie-1 ist, den Gläubigen beizubringen, die Impulse und Eindrücke, |idie Gott im menschlichen Geist erzeugt, als Wegweisung für ihr landein zu gebrauchen. Durch solche Eindrücke gewinnt der |Christ Gotteserkenntnis. Sie sind auch die endgültige Autorität beim Fällen aller grossen oder kleinen Entscheidungen, die Glau-j ben und Leben berühren. Lees Theologie ist eine Theologie der i Sinne. Der Wortschatz der Ortsgemeinde ist angereichert mit

• Ausdrücken, die dem Erfahrungsbereich der fünf Sinne entlehnt

• lind. So wird den Mitgliedern beigebracht, sie sollen den innewoh-1 nenden Gott «spüren», «schmecken», «berühren», «fühlen», «trinken» und «essen». Eine direkte Folge solcher Betonung ist die Verlagerung der Autorität von der objektiven, geschriebenen Offenbarung Gottes auf persönliche, innere Erleuchtung. Leean-erkennt die Bibel als einen Wegweiser — ein Handbuch unsiche­ren Wertes — der den allgemeinen Weg von Glauben und Lehre

•U fweist. Die Bibel bietet allerdings keine endgültige Autorität für Glauben und Wandel, da sie eine Informationsquelle ist, die au­sserhalb des menschlichen Geistes liegt.

Die Theologie der Sinneseindrücke ist eine Theologie der Sub-Jektivität, welche die Gotteserkenntnis nur auf Grund von Ein-drücken im menschlichen Geist zulässt. Das muss so kommen, wenn die Autorität jeglichen Gottesverständnisses von ich-. bezogenen, subjektiven inneren Erfahrungen, die der einzelne Gläubige macht, hergeleitet wird. Das Subjektive dieser Theolo­gie wird weiter dadurch erhärtet, dass Lee postuliert, Gotteser­kenntnis sei weder mitteilbar noch in einfacher, verständlicher Sprache definierbar. Die Erkenntnis Gottes und Seines Willens sei nur zu erfahren und zu spüren und entziehe sich deshalb der Mög­lichkeit, durch menschliche Sprache ausgedrückt zu werden.

Folglich wird objektive, aus der Schrift gewonnene Gotteser­kenntnis abgelehnt. Man sucht stattdessen eine Gotteserkennt­nis, die auf inneren Sinneseindrücken beruht. Daher haben die Schriften und Lehren Lees eine Vorliebe für solche literarische Methoden wie Übertreibungen, Metaphern und extrem über­spannte Wortklaubereien. Er gibt zu, dass seine Lehren schwer


 

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 zu verstehen seien. Der Mangel an objektiver Erkenntnis lässt die traditionellen Kategorien christlichen Erlebens (z.B. biblischer Glaube, biblisches Verhalten) auf gänzlich untergeordnete Stufen absinken.

Für Lee wird geistliche Erfahrung in den Kategorien Glaube, Gehorsam, Zunahme im Gebrauch geistlicher Begabung oder Frömmigkeit weder gemessen noch erwiesen. Lee ermuntert seine Jünger, Gott, der im menschlichen Geist wohnt, zu erfahren, wo­bei der Modus Operand! — die Rolle, der Zweck und die Funktion — des Verstandes sich auf das Spüren, Fühlen, Wahrnehmen des­sen beschränkt, was Gott durch den Geist erzeugt. «Der Herr tut uns Seinen Willen gewöhnlich durch innere Gefühle kund; selten verwendet er Worte» (H, S. 147). Lee sucht Bibelstellen, welche seine geistlichen Erfahrungen rechtfertigen, anstatt seine Erfah­rungen nach den Aussagen der Schrift zu richten.

Lees Kommentare zum Alten und zum Neuen Testament sol­len zur «unausdrückbaren» geistlichen Erfahrung ermutigen. In Kommentaren zum Alten Testament ignoriert Lee gewisse Ab­schnitte oder macht sich sogar über sie lustig, nämlich über die Texte und Themen, die von Geistlichkeit in der Beziehung zum Gesetz, von Frömmigkeit und von guten Werken sprechen (C, S. 7-15). Umgekehrt vergeistlicht er schlichte historische Berich­te und dreht sie so, dass sie mit seiner Sinnes-Theologie überein­stimmen.

In Lees theologischem Gebäude liegt Geistlichkeit jenseits moralischer und ethischer Werte und hat nur sekundär etwas mit Ethik zu tun. Um eine Ethik der «Grundsätze» sind nur die Ungeheiligten besorgt, meint er. Die Qualität der geistlichen Verbindung mit Gott, betont Lee, beruht mehr auf Vermen­gung des menschlichen Wesens mit dem göttlichen als auf Ge­horsam gegenüber den ethischen Forderungen der Schrift. Das ist eine mystische Theologie und nicht eine Theologie klaren Lehrgefüges, die sich darauf beruft, dass Gott die Sprache als den Kanal gewählt hat, durch den Er die Wahrheiten über Le­ben und Glauben vermittelt. Lees persönliches Schlagwort ist, dass die Christen den nicht so wertvollen «objektiven Christus» besitzen, während die Ortsgemeinde den wertvolleren «subjek­tiven Christus» besitze.

Theologische Methode

Das «Gottesgespür» im menschlichen Geist ist Lees eigentli­che Lehrquelle. Seine Methode, diese «gespürte» Information zu ordnen und zu organisieren, bedient sich ungewöhnlicher,


 

Bplexer theologischer Gedankengänge. Dabei ist die Erfah-das Werkzeug, um die biblischen Ideen zu organisieren, r Vorrang, den er dabei der Erfahrung gibt, erzeugt zwei pro-itische Grundzüge. Lees Ansinnen, die einzelnen Folge­gen aus den Sinneserfahrungen zu interpretieren, führt näm-i zu folgendem: Erstens: Er reisst ähnliche, eng miteinander bundene biblische Vorstellungen auseinander, anstatt nur i verschiedenen Betonungen zu unterscheiden; zweitens: Lee Iterpoliert die Schrift; d.h. er legt ausserbiblische Ereignisse

1 Ideen in die Schrift hinein.

1 In Lees Augen beinhalten Grammatik und Wortwahl der hreiber der Bibel theologische Gebilde, welche tatsächlichen nneserfahrungen entsprechen oder sonst beschreiben, wie Hnneserfahrungen sein können. Jedes sinnesorientierte Wort r Schrift ist bedeutungsvoll, sowohl was den Begriffsinhalt als lieh den Begriffsumfang anbelangt. Die Sprache der Bibel ist s ein Bausatz, in dem die einzelnen unabhängigen Stücke — ! Wörter und die Sätze — aneinander gereiht werden, um das line, grössere Gebilde darzustellen. In den üblichen Auslegungs-hnethoden werden Synonyme oder eng verwandte Wörter und »Sätze nicht so krass voneinander geschieden. Theologen wie l Bernhard Ramm,1 Milton Terry2 und Berkeley Mickelsen3 sind (der Ansicht, dass die Wahl ähnlicher Worte eher Aspekte, Beto-I {Hingen und Feinheiten unterscheiden und nicht Verschieden-[beit der Gedanken oder unterschiedliche Bedeutung darstellen. Lee hält sich nicht an diese Hermeneutik (Grundsatz der Ausle­gung). Vielmehr biegt er sich Gegensätzlichkeiten zwischen theologischen Darstellungen zurecht, die oft nur Aspekte, Beto­nungen und Begriffsumfang unterscheiden. So ist die völlige Trennung von Geist und Seele, Glaube und Erkenntnis, Gottes Leben und Gottes Wesen, Fleisch und der Alte Mensch, bibli­sche Güte und geistliche Güte wesentlicher Bestandteil seiner Theologie.

Lee interpoliert auch Berichte in der Bibel, in dem er sie aus­weitet und ausschmückt, wenn sie besonders zu den Vorstellun­gen der Sinnes-Theologie passen. Diese Methode wird auffällig in der Darlegung des Genesisberichtes über Schöpfung und Sündenfall angewendet. So sagt Gott, dass Adam «sehr gut» war (was Vollständigkeit beinhaltet); Lee hingegen meint, Adam sei nicht vollkommen gewesen. Ihm fehlte das Leben üottes. Das gab Satan die Möglichkeit, wörtlich in die Leiber von Adam und Eva einzufahren, als sie ungehorsam wurden. Lee interpoliert auch den Römerbrief, wo er aus der Gramma-

tik drei Gesetze konstruiert, welche die verschiedenen Teile des dreiteiligen Menschen bestimmen.

Zusammenfassend können wir die Sinnes-Theologie wie folgt definieren: Sie ist ein Glaubenssystem, welches das Hauptge­wicht auf die individuelle Erfahrung Gottes, Seines Lebens usw. legt, indem die Aufmerksamkeit auf subjektive emotionale und intuitive Neigungen gelenkt wird. Als direkte Folge dieser Theo­logie wird das Anliegen für den Nächsten (weil er ausserhalb der subjektiven inneren Erfahrungswelt liegt) sowohl in der Gesell­schaft als auch in der Gemeinde auf einen Platz untergeordneter Wichtigkeit verwiesen, wenn es nicht ganz hinfällt. Es ist auf­schlussreich, dass Lees literarisch produktivste Zeit in die Jahre 1968 bis 1973 fällt, die Jahre der tiefgreifenden kulturellen Um­wälzungen im ganzen Westen. Lee wohnte im modeverrückten Südkalifornien und war sich der Verschiebung der westlichen Kultur bewusst, die durch Phänomene wie die Beatles, der Viet­nam Krieg, Studentenrevolten, Jesusfreaks, politischen Skepti­zismus und Neuorientierung der Moral gekennzeichnet waren. Lee aber hielt es nicht für nötig, solche Probleme in seinen Ver­öffentlichungen zu behandeln, obwohl ironischerweise ein kla­res Wissen um diese gesellschaftlichen Umwälzungen für Wachstum und Gedeihen der Ortsgemeinde entscheidend war.

Keine Antworten auf gesellschaftliche Probleme bieten zu können, ist ein typisches Merkmal dessen, was Os Guinness die Schwäche der «Mechanisten und der Mystiker» nennt.4 Er meint damit die gespaltene sakral/säkulare Denkweise, welche das Leben in zwei streng voneinander getrennte Bereiche auf­teilt: heilige Dinge von religiöser Bedeutung und weltliche Din­ge, die zu den biblischen Gedanken in keinerlei Beziehung ste­hen. Nach diesem Denkschema soll das Sakrale nie säkulare Probleme ansprechen, da das Säkulare keinen inneren Wert be­sitzt. Vielmehr wendet sich das Sakrale nur an direkt religiöse Probleme. In Lees Fall bedeutet das ein ausschliessliches Kon­zentrieren auf innere persönliche Erfahrungen. Guinness hält fest, dass diese Haltung u.a. zur Folge hat, dass die Organisation der Kultur — ihrer Institutionen und ihrer Moral — durch Me­chanisten beherrscht wird; d.h. durch Leute, die bestrebt sind, den Gang der Gesellschaft zu bestimmen. Mystiker hingegen, d.h. solche, die eine äusserliche Sorge um Lebensumstände zu­gunsten von rein innerlichen, geistlichen Erfahrungen vernach­lässigen, tragen eigentlich nichts zum Gang der Gesellschaft bei und werden daher auch leicht der Bedrückung durch materiali­stische Gesetzgebung ausgesetzt. Festgelegte Richtlinie der Gemeinde ist, nur für die Armen und Bedürftigen unter ih-|fetn Mitgliedern Sorge zu tragen. Da die Ortsgemeinde keinerlei oziales Bewusstsein besitzt, ist sie nach obiger Definition eine Körperschaft von Mystikern.

Witness Lee zitiert ab und zu Lieblingsautoren, die als Men-I toren herhalten müssen, um seine Lehren zu bestätigen. Jeanne [ Ouyon, eine französische Mystikerin aus dem 17. Jahrhundert, ;> bietet für Lee das optimale Vorbild eines Menschen, der aus der f inneren geistlichen Erfahrung heraus lebt. Watchman Nee, chi­nesischer Evangelist dieses Jahrhunderts und früherer Wegge-1 fährte Lees, dient absurderweise ebenfalls als eine Schlüssel­quelle für Lees zahlreiche Belege zu inneren mystischen Erfah­rungen. Angeblich (!) besitzt Lee auch eine Anzahl unveröf­fentlichter Manuskripte Watchman Nees, die ihm ajs Sprung­brett für seine Unterweisungen an die Ortsgemeinde dienen.

Wirklichkeit

/, Ontologisches Schisma

Alle Lehren Lees sind getragen von einem ontologischen Schisma, d.h. von einer Auffassung von «Wirklichkeit und Exi­stenz», welche zwei verschiedene Ebenen des Seins postuliert. Diese beiden Ebenen sind verschieden und einander entgegenge­setzt. Sie schliessen sich gegenseitig aus und wirken nur dann aufeinander ein, wenn man zur mystischen Erfahrung gelangt. «Wirklichkeit» ist in Lees Augen etwas anderes, als was wir als die «gewöhnliche» Welt wahrnehmen. Das gleicht den Ideen der platonischen Philosophie, wonach wirkliche Formen ledig­lich einen Schatten auf eine bereits schemenhafte Weltexistenz projizieren. Lees Auffassung der Wirklichkeit spiegelt auch das gnostische Konzept des «Geistes» wider, wonach die Geistes­welt aufgewertet, die materielle Welt aber abgewertet wird.

«Was ist Wahrheit? Glaube nur nicht, Wahrheit bedeute Lehre. Das Wort «.Wahrheit» bedeutet in einem Abschnitt wie l. Tim. 3,15 Wirklichkeit. Nichts ist wirklich im ganzen Univer­sum, nichts ist Wahrheit; alles ist ein blosser Schatten. ... Die Nahrung, die wir zu uns nehmen, ist nicht wirkliche Nahrung, sondern nur ein Schatten. Die wirkliche Nahrung ist Christus. Wenn man Christus nicht hat, hat man die Wirklichkeit des Gu­ten nicht. Vielleicht denkst Du, das menschliche Leben, das Du besitzest, sei wirklich, aber das ist es nicht. Es ist auch nur ein Schatten... (G, S. 196). Überraschenderweise beschreibt Lee die Eigenschaften der

höchsten und letzten Wirklichkeit (Gottes) nicht. Die mysti­schen Eigenschaften jener höheren Wirklichkeit werden in va­gen und verschwommenen Gemeinplätzen dargestellt (N, S. 79 -80). Hingegen wird der schattenhafte, minderwertige Weitung — der seelische Mensch — plastisch und detailliert beschrieben.

Zwei Aspekte der Wirklichkeit werden allerdings scharf um­rissen. Erstens: Die höhere geistliche Realität. Sie ist in gewöhn­licher Sprache objektiv unbeschreibbar, aber subjektiv durch Erfahrung zu erreichen. Zweitens: Die niedrigere Wirklichkeit. Sie ist die Substanz jener «Schatten», welche in der Form der materiellen Welt um uns tanzen. Während die Geschichte ein Spiel substanzloser und irrelevanter Erscheinungen ist, können wir dadurch, dass wir die höhere geistliche Wirklichkeit berüh­ren, innerlich die Substanz erfahren, welche jene Schatten in die objektiv wahrgenommene Welt hineinprojiziert.

Es gibt eigentlich nur zwei Arten der Erkenntnis: äussere Er­kenntnis und innere Erkenntnis. Die Taten und die Wege Got­tes zu kennen entspricht äusserer Erkenntnis. Hingegen Gott Selbst zu kennen ist innere Erkenntnis. Diese Art Erkenntnis entsteht, wenn wir Gott Selbst durch Sein Leben in uns berüh­ren, wodurch wir Ihn auf subjektive, innere Weise erkennen (N, S. 146).

2. Epistemologisches Schisma

Wie gelangt man also zur Erkenntnis der höheren Wirklich­keit? Analog zum ontologischen Schisma postuliert Lee ein epistemologisches Schisma; d.h. den Glauben, dass es nur zwei Wege zur Erkenntnis gibt.

Erstens: Geistliche Erkenntnis ist gleich der höheren geistli­chen Wirklichkeit unaussprechbar, sie entzieht sich dem Ratio­nalen und ist nur durch eine Art innere Erfahrung zu erlangen.

Die Gottesdienste der Ortsgemeinde zeigen, wie vollständig sie sich dem Bereich des Objektiven entzogen haben. Wo immer sie dem Wort «Wahrheit» begegnen (z.B. in Joh. 1,17), erset­zen sie es automatisch durch «Wirklichkeit». Gleicherweise wird «Gnade» durch «Genuss» ersetzt. Immer hört man in Zeugnissen, dass einzelne noch immer von der Ungewohnheit gefangen seien, die Dinge verstehen zu wollen, die sie lesen. Das wird auf «das Gift der Bildung» zurückgeführt. Aber Gott sei daran, sie zu befreien und ihnen zu helfen, «das Wort einfach zu essen». Jemand bezeugte mit Begeisterung, wie er das Wort rückwärts beten-gelesen hatte und dadurch grosse Freude erfah­ren hätte, weil «alles Gottes Wort ist, und wo man es auch be-


 

llhrt, berührt man Gott». Andere häufige Ausrufe sind etwa: «Das Buch ist nicht die Worte Gottes, sondern das Wort Got-|tes.» «Wir suchen im Buch nicht Erkenntnis, sondern die Per-Dn.» «Wir versuchen nicht, etwas aus dem Wort herauszuho-|4en, sondern das Wort in uns hineinzukriegen. Ein Jugendlicher ^bezeugte, wie er einem besonderen Angriff Satans ausgesetzt |i,wurde und nach einer Schriftstelle suchte, die ihm helfen würde. Dann überführte ihn sein Geist und erinnerte ihn daran, einfach die Worte, die er in der Stillen Zeit gelesen hatte mit «Amen» zu bekräftigen. «Ich habe dann einfach zum Wort 'Granatapfel' Amen gesagt; mein Glaube wurde freigesetzt, und Satan war besiegt.»5

Wenn man einmal das Wirkliche erkannt hat, wie kann man es dann mitteilen? Lees Antwort ist undurchsichtig. Da die hö­here geistliche Wirklichkeit ausserhalb aller Logik liegt, können handfeste Argumente die Bedeutung nicht vermitteln.

Wir brauchen nicht mit ändern zu streiten. Wir sollten ein­fach Christus tragen und ab und zu die Posaune blasen. Die Po­saune blasen heisst Zeugnis geben. Wenn jemand mit dir streiten will, preise einfach den Herrn. Je mehr sie versuchen, Dich zu verurteilen, desto mehr solltest Du das Zeugnis geben und den Herrn preisen (S, S. 109).

Entsprechend sind gewöhnlicher Sprachgebrauch und Gram­matik erlässlich. Da die höhere geistliche Wirklichkeit völlig jen­seitig ist, können keine blossen Worte sie fassen oder beschrei­ben. Warum sollte man sich also um sprachliche Genauigkeit bemühen? Die Ortsgemeinde kann Ausdrücke von bibelgläubi­gen Christen brauchen, ohne aber das Gleiche zu meinen.

Die zweite Art der Erkenntnis in Lees epistemologischem Schisma betrifft die niedrigere, schattenhafte Welt. Rationales Denken und Verstehen verbunden mit direktem Wahrnehmen der zeitlichen Welt durch die fünf menschlichen Sinne bilden die Grundlage zur Erkenntnis dieser niedrigeren, schattenhaf­ten Welt.

«Geistliche» Autorität

Die Frage der Autorität — wer sie innehat und wer sie ausübt — ist ein richtiger Lackmustest für gesunde, besonders für bi­blische Gemeinschaften. Obwohl Witness Lee über Kirchenhie­rarchien, ihre Formen und Verfassungen herfährt, ist die Orts­gemeinde kein Musterbeispiel für Mitspracherecht. Lees Wort besitzt seit je mehr Gewicht als das irgend eines ändern Mitglie­des innerhalb der Organisation. Verlässliche Quellen berichten,


 


 

 dass Lee mit eisernem Stab regiert. In der Unterwerfung unter alle Forderungen Lees ist der innere Kreis das Vorbild des Ge­horsams und der Loyalität und wird allen Ortsgemeinden emp­fohlen. Obwohl die Ortsgemeinde behauptet, Witness Lee sei nicht «der Papst» oder ein Alleinherrscher und dass die Bibel ih­re höchste Autorität sei, haben wir solchen Aussagen gegenüber unsere Vorbehalte. Der Strom Verlag veröffentlicht beinahe ausschliesslich Lees Schriften. Der Beitrag anderer Ortsgemein­depersönlichkeiten ist minimal. Was nicht von Lee stammt, ist gewöhnlich apologetisch; Lees Ansichten über die Ortsgemein­de werden auch dann verteidigt.

Die Veröffentlichungen über Lees Auslegungen der Schrift bil­den die einzige Quelle der Unterweisung. Obwohl die Ortsge­meinde öffentlich für die Autorität und Verbindlichkeit der Bi­bel einsteht, bilden Lees überzeugende Argumente und geistrei­che Theologie die zum vornherein anerkannte Interpretation der Schrift, so dass Lee die eigentliche «Macht hinter dem Thron» ist. Jede Möglichkeit eines Ortsgemeindemitgliedes, fragwürdige Aussagen biblisch in Frage zu stellen, ist durch Lees autoritative Auslegung ausgeschlossen.7 Es war diese Art Autoritätsanspruch, die Max Rapoport dazu führte, seinen Po­sten als Präsident der Anaheim Ortsgemeinde aufzugeben. In der Los Angeles Times (11. Dezember 1978) heisst es von Rapo­port, er hätte für einen Fall von sittlicher Verfehlung durch Witness Lees Sohn Phillip zu biblischer Zucht aufgefordert. Lee riet jedoch von schriftgemässer Zucht ab, was dazu führte, dass Rapoport Lees besondere Gunst verlor. Dadurch begann er an Macht und Ansehen zu verlieren. Unsere zuverlässigste Quelle sagte nach jahrelanger Ortsgemeindemitarbeit, dass die Ortsgemeindeleute davon überzeugt sind, Witness Lee sei heute das einzige Sprachrohr Gottes in der Welt. Er spricht unmittel­bar für Gott. Wer Ähnliches sagt wie er, ahmt höchstens Lees Lehren nach. Mit seinen Aussprüchen nicht einverstanden zu sein, heisst nicht im Fluss, in der Führung des Heiligen Geistes zu stehen.

Wenn ich in meinem Geist gebiete, gebietet der Herr mit mir, denn ich bin ein Geist mit dem Herrn (K, S. 97).

Ist das meine Lehre? Nein! Das ist die Offenbarung Gottes in der Bibel. Sie war begraben, jahrhundertelang zugeschüttet, aber dank Seiner Güte ist sie ans Licht gekommen (K, S. 94). (Das wurde im Anschluss an einen Vortrag über das Verhältnis des täglichen Lebens zur Qualität des Gottesdienstes gesagt, wobei 1. Korinther als Grundtext verwendet wurde.)


 

ge Ortsgemeindeleute haben privat zugegeben, dass sie > Lee für den Apostel unserer Zeit halten. (Kein Sprecher ^Exekutive der Ortsgemeinde hat diese Auffassung korri-t.) Lee glaubt, er stehe in der Linie der apostolischen Suk-on, seine Autorität stehe jener der Apostel in nichts nach. behauptet, Watchman Nee hätte ihm diesen Mantel der itelschaft bei ihrem letzten Zusammentreffen umgehängt, l Lee den Auftrag erhielt, die Gemeinden in Taiwan zu beauf-h t igen.

(•Folgende Anekdote ist ein schlagendes Beispiel dafür, wie tness Lee seine Apostelschaft für bedingungslos hält: Lee Ite einmal einem Ältesten, die Gemeinde sei wie ein Auto. Sie be immer nur einen Lenker. Niemand mag Mitfahrer, die hrer sein wollen. Darum sollten die Mitfahrer die Augen zu-Ucken, den Mund schliessen und den Fahrer nie ablenken. Lee i dieser «Mitfahrerhaltung» dadurch zusätzlich Nachdruck, iss er seine Hand mehrere Minuten über Augen und Mund leg-I. Bei solchen Gelegenheiten krönte Lee seine Ansicht mit der Aussage, Fahrer und Mitfahrer sollen dann eben gemeinsam in i Tiefe stürzen, wenn der Wagen auf eine Schlucht zurasen Ollte.

lle Schrift

\l, Inspiration

Weil das epistemologische Schisma Lees Auffassung über l Gottes geschriebenes Wort bestimmt, hat die Bibel in seiner | Theologie  nur  untergeordnete   Bedeutung.   Die  Worte  der (Schrift haben alle Bedeutung, sie beziehen sich auf gewisse Tat-lachen und Ereignisse in der Geschichte. Aber Bedeutung im , allgemeinen und Tatsächlichkeit im einzelnen sind für Lee weni-S|er wichtig als die subjektive Erfahrung Christi im menschli­chen Geist.7 Diese Erfahrung kann uns zwar durch Lesen der Bibel erschlossen werden, sie vollzieht sich aber durch einen Prozess geistlicher Osmose, welcher nicht an ein Verständnis des Gelesenen gebunden ist.9 Das geschriebene Wort ist ein Schatten, nicht eine Wirklichkeit. Ein höheres, geistliches Wort steht hinter dem diesseitigen, geschriebenen Wort. Das geschriebene Wort ist mehr ein launenhafter Kompass als ein verlässlicher Führer zur Wirklichkeit. In einem Kommentar über Römer 2,29 und 7,6, wo Paulus schreibt, dass die Christen von der Strafe des Gesetzes (des Buchstabens) befreit sind, schreibt Lee: Wir wissen, worauf sich das Wort «Buchstabe» hier bezieht; ge-

meint ist die geschriebene Bibel. Heute müssen wir dem lebendi­gen Herrn in Neuheit des Geistes dienen, und nicht im Alten der geschriebenen Bibel. Jedermann muss zugeben, dass das Wort «Buchstabe» in diesen Stellen das geschriebene Wort meint. Darüber gibt es gar nichts zu diskutieren (D, S. 152-153).

Wegen dieser Abwertung verbaler Offenbarung — d.h., dass geistliche Wahrheiten in einer für den menschlichen Verstand fassbaren Sprache mitgeteilt werden können — kommt Lee zu einem völlig falschen Verständnis der Inspiration der Bibel. In seiner Auslegung der Psalmen mit ihrer Betonung der gefühls­bedingten Gotteserfahrung unterscheidet Lee zwischen Psal­men, welche die Tugenden gerechten Verhaltens nach dem Ge­setz rühmen und Psalmen, welche die Tugenden, den Geist Got­tes im menschlichen Geist zu besitzen, besingen. In Lees Augen sind erstere nebensächlich; sie sind Äusserungen von Menschen, die keine völlige geistliche Umwandlung in ihrem Leben erfuh­ren.

In allen Schriften wertet Lee systematisch das Gesetz ab; es sei an Wert dem Besitz von Leben aus Gott weit unterlegen. Heiligkeit und Gerechtigkeit durch Gehorsam an die Satzungen und Gebote Gottes ist nicht so geistlich, wie den Geist Gottes zu besitzen. Folglich behauptet Lee, Psalmen, die das Gesetz beto­nen, seien menschlich und nicht göttlich inspiriert.

«Du befindest dich in Psalm eins!» ist ein Vorwurf, den man Mitgliedern der Ortsgemeinde macht, wenn sie sittliche Massstä­be, die den geschriebenen Gesetzen der Bibel entnommen sind, auf ihr Alltagsleben anwenden wollen.

Laut Lee sind wir der Verpflichtung, die geschriebene Bibel zu würdigen, enthoben. Sie ist ja nur schattenhaft und deshalb weniger wichtig. Wir werden der höheren geistlichen Wirklich­keit befohlen; denn die wahre Bibel ist die Person des Heiligen Geistes. Die Gegenwart wird nicht klar oder ausreichend durch das Gefäss der geschriebenen Sprache ausgedrückt. .. '

Welches ist die Substanz, die Essenz des Wortes Gottes? Wir finden die Antwort in 2. Timotheus 3,16: «Alle Schrift ist gott­gehaucht...» Wir wissen, dass Gott Geist ist (Joh. 4,24); der Geist ist Gottes Essenz und Wesen...Da das Wort nun Gottes Hauch ist, und Gott Geist ist, muss alles, was Gott haucht, Geist sein! Die Essenz oder das Wesen des Wortes Gottes ist also Geist. Es ist nicht einfach ein Gedanke, eine Offenbarung, eine Lehre oder Doktrin, sondern es ist Geist. Der Geist ist die ei­gentliche Substanz des Wortes Gottes...Das Wesen dieses Bu­ches ist die Essenz Gottes selbst... (P, S. 6-7) p Lees  Vorstellung einer zweistufigen  Inspiration  — einer ischlichen und einer gottgehauchten — hat zu seinen unauf-rlichen Wortklaubereien geführt. Zuweilen zeigt sich in Lees t, mit der Bibel umzugehen, ein sehr loses Verhältnis zu den Sächlichen Aussagen. Damit verbindet er ein vorsichtiges nipulieren biblischer Berichte, um seine eigenen geistlichen rfahrungen und seine Sinnes-Theologie zu untermauern.

t. Textmanipulation

Das grosse Schaustück von Lees Christ versus Religion (Chri-Iltus oder Religion) ist eine Beweisführung, die zeigen soll, dass Jesus die Religion des Alten Testaments verwarf. Durch unauf-I fälliges Manipulieren biblischer Angaben macht Lee sowohl aus f den liberalen als auch aus den konservativen Christen die Phari-' läer des Neuen Testaments, welche an den alttestamentlichen Traditionen hingen. Diese Taktik soll den Leser davon überzeu­gen, dass Jesus liberale und konservative Christen verwirft, sich hingegen von Herzen über die Ortsgemeinde freut. Um auf die­len Schluss zu kommen, weicht Lee von den historischen Fakten in der Bibel ab. So schreibt er über Johannes den Täufer:

Johannes handelte in völligem Gegensatz zur Religion. Er hatte keine Religion,...er war gegen Religion,...er sagte kein Wort über die Zehn Gebote. Er gab das auf. (D, S. 9-10)

Lee setzt sich kühn über die Tatsache hinweg, dass Johannes ins Gefängnis kam und schliesslich enthauptet wurde, weil er den schuldigen, aber rachsüchtigen König Herodes mit dem siebten Gebot zurechtwies: «Du sollst nicht ehebrechen.» Von Jesus schreibt Lee:

In jenen Tagen gab es den heiligen Ort, den heiligen Tempel, die heilige Stadt und das heilige Land — vier heilige Bereiche. Jesus hielt sich von allen vier fern (D, S. 53).

Es ist die Höhe an Überspitztheit, solches zu schreiben, nur um'Spannung und Begeisterung zu erhöhen. Denn Lee selbst muss zugeben, dass Jesus nach dem Gesetz beschnitten wurde, im Tempel lehrte und an den Festen in der heiligen Stadt teil­nahm. Lee findet es aber nützlich und angebracht, die Angaben des geschriebenen Wortes zu unterschlagen, um seinen Ankla­gen gegen die Christen, die nicht zur Ortsgemeinde gehören, Nachdruck zu verleihen. Ähnlich manipuliert Lee Textaussagen über die Pharisäer.

Sie waren religiös und sie waren für Gott. Die Situation ist heute noch genau dieselbe. Je mehr wir aus Jesus leben,... desto mehr werden uns die Religiösen hassen. (D, S. 95).


 

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 Diese Wertschätzung widerspricht den Aussagen Jesu in Matthäus 23, wonach die pharisäische Gesinnung sündig, welt­lich und gottesfeindlich ist. Lee verdreht in diesem Fall die Schrift, um der Parallele zwischen den «religiösen» Pharisäern jener Tage und den heutigen Christen Gewicht zu geben. « Was heisst es, religiös zu sein?...man ist ganz einfach gesund bi­blisch, fundamentalistisch, aber ohne die Gegenwart Christi.» (D, S. 152). Nur durch Anschluss an die Ortsgemeinde kann man wirklich in die Gegenwart Christi kommen. (Der aufmerksame Leser weiss um die Unmöglichkeit, ohne Christus «biblisch ge­sund und fundamentalistisch» zu sein.)

Das geschriebene Wort ist nicht Offenbarung. Es enthält le­diglich Offenbarung für solche, die hinter die schattenhaften Worte sehen können. Wo haben wir dann den unbestechlichen Bezugspunkt zur vollmächtigen Bibelauslegung? Der traditio­nelle Archimedische Punkt biblischen Christentums, nämlich dass die Schrift durch die Schrift ausgelegt wird, ist von Lee auf­gehoben worden.

Heute ist unser Geist Gottes Wohnstätte. In erhöhtem Masse sind es die Ortsgemeinden. Darum müssen wir uns an unseren Geist wenden und an die Ortsgemeinden... Unser Geist und die Ortsgemeinde sind die Plätze, wo wir göttliche Offenbarung empfangen, wo wir die Erklärungen all unserer Fragen und Probleme finden (C, S. 128-129)

Dennoch kann das geschriebene Wort nicht gänzlich abge­schrieben werden. Es ist immerhin der einzige Schatten, der ein weiteres Eindringen in die höhere geistliche Wirklichkeit ver­bürgt. Wir müssen wissen, wie wir damit umzugehen haben. Lee stellt eine ganze Reihe von Auslegungsgrundsätzen in sei­nen Büchern vor.10 Zwei davon überragen die ändern: Bildspra­che und persönliche Offenbarung.

Einige von Lees Büchern sind ganz vom bildhaften Gebrauch der Bibel gekennzeichnet. Für ihn ist fast alles im Alten Testa­ment ein Symbol für etwas im Neuen. Wenn das geschriebene Wort und die Geschichte nichts als Schatten sind, dann braucht es natürlich mehr als wortgebundene Auslegung, um das onto-logische Schisma von den Schatten zur höheren geistlichen Wirklichkeit zu überbrücken.

So können wir auch nicht durch verstandesmässiges, wortge­bundenes objektives Erkennen das epistemologische Schisma zum Erlangen geistlicher Erkenntnis überbrücken, da ja ge­wöhnliche Erkenntnis äusserlich, seelisch und primitiv ist. Lee sagt, wir brauchen eine existentielle und persönliche Offenbarung. Die Bibel ist nur dann Offenbarung, wenn wir hinter ihre hiattenhaften Worte und Konzepte sehen können. Da Sprache nd Geschichte dem Verstand, der Seele, also der niedrigeren rkenntnisstufe angehören, sind Grammatik und ursprüngli-her historischer Zusammenhang und Sinn bedeutungslos. Lee hrt, dass die Schrift der Heilige Geist, und die Auslegung der chrift geistlich sei und deshalb jenseits rationalen Verständnis-i liege. Um die Bibel zu gebrauchen, meint Lee, haben wir zu-|Hächst tüchtiges Geschützfeuer nötig — das Feuer, das den Ver-itand wegbläst.

Wenn Du eine halbe oder eine ganze Stunde über der Bibel flitzest und kein Feuer fängst, stimmt mit Dir etwas nicht. Ich l'Jcann Dir versprechen, dass Du nach bloss zwei Minuten «O, l'lHwr Jesus! Im Anfang war das Wort! Amen! O, Herr Jesus, 5w bist das Wort! Amen, Herr Jesus, Halleluja!» Feuer fängst, ist die richtige Art, mit dem Wort in Verbindung zu treten MD, S. 107).

13. Die Schrift als Wegweiser

Wenn Leute zu Witness Lee kommen, um für ihn Wegwei-{•ung für Entscheidungen des Lebens und Glaubens zu bekom-i, rät er ihnen, mehr Christus zu erfahren — eine grössere gen wart Gottes im Geist zu erstreben, den Namen des Herrn F anzurufen — nicht ihren Wandel oder ihr Gedankenleben zu f überprüfen.

«Bruder, ich habe dir ganz klar gesagt, dass Christus der beste f Weg ist... Vergiss alles andere. Komm in deinem Geist einfach

Herrn und berühre Ihn persönlich (A, S. 20).» Wegweisung von Gott erhält man durch ein inneres, sinnli-iches Erlebnis von Ihm, nicht durch die Schrift. In ähnlicher f'Weise schreibt Lee:

Bist Du niedergeschlagen? Komm mit all Deinen Problemen ur Ortsgemeinde. ... Wenn Deine Frau böse ist, dann sag ihr * tinfach: «Komm, wir wollen zur Gemeinde gehen (C, S. 112).» Lees Ratschläge führen die Gemeindemitglieder weg von bi­blischer Ethik, welche zu Verantwortlichkeit und aktivem Han­deln erzieht. In seinem Rat an Timotheus nennt Paulus die Schrift «nützlich zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtwei-lung, zur Unterweisung in der Gerechtigkeit» (2. Tim. 3,16.17). Dieser Rat liegt allerdings in Lees Sinnlichkeits-Theologie völlig ungeachtet auf der Seite.

Die Gemeinde ist nicht der Ort der Erziehung und der Zurecht­weisung. Sie ist nicht dazu da, Leute zu verändern. (O, S. 161).


 

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Hingegen sagt die Schrift: «...alles, was zuvor geschrieben ist, ist zu unserer Belehrung geschrieben, auf dass wir durch das Ausharren und durch die Ermunterung der Schriften die Hoff­nung haben» (Rom. 15,4).

Lee fasst seine Grundhaltung zur Schrift in folgenden Worten zusammen: «Wir brauchen ein geistliches Verständnis der Bi­bel, das uns hinter alle Geheimnisse ihrer Schriften blicken lässt» (K, S. 44).

Gott, Menschheit und Errettung

/. Die Haushaltung Gottes

Ein augenfälliger Unterschied zur christlichen Orthodoxie liegt in Lees verschwommener Darstellung der Lehren über Gott, die Menschheit und die Errettung. Die Grenzen zwischen diesen Bereichen fliessen ineinander über. Die biblischen Lehren können einzeln behandelt werden. Aber Lees theologischen Methoden fehlen die Grundlagen zu einer ausgewogenen Aus­einandersetzung. Eine Theologie der Sinneseindrücke ist gege­benerweise auf Selbstbetrachtung beschränkt. Das ist aber ein jämmerlich unzureichendes Werkzeug, wenn es um das Erfas­sen der Gottheit, biblischer Anthropologie und der Errettung geht. Lee postuliert einen Heilsmystizismus, der den Menschen zum Schiedsrichter über Sinn und Bedeutung im Leben macht, sogar über Gott und das All, da die menschliche Erfahrung aller Ursprung dieser Theologie der Sinneseindrücke ist.

Gott

Obwohl die Leiter der Ortsgemeinde offiziell «jegliche Ver­wandtschaft mit dem Modalismus aufs entschiedenste leugnen»,13 taucht modalistisches Gedankengut in Lees Schrift­tum immer wieder auf. Trinitarische Sprache ist Lees Theologie aber auch nicht fremd. Er spricht an einigen Stellen von einem unveränderlichen Wesen und von drei Personen. Aber seine Bil­der tendieren zu Modalismus: Der Vater wird zum Sohn, der wiederum zum Geist wird. Lee sagt, dass die Personen der Gott­heit in Wirklichkeit

... drei Stufen des einen Gottes sind... Zum Beispiel wird Eis zu Wasser, und Wasser zu Dampf. Eine Substanz tritt in drei Formen auf(F, S. 31).

Gott, Christus und der Heilige Geist sind also ein Gott, der sich in drei Personen bekundet: Gott ist die Quelle, Christus ist der A usdruck Gottes, und der Heilige Geist ist der Überträger, der Gott in Christus den Menschen bringt. So werden die drei ffersonen der Dreieinigkeit zu drei aufeinanderfolgenden m&chritten im Ablauf der göttlichen Verwaltung. Ohne diese drei \Stufen könnte Gottes Essenz nie in den Menschen gelangen. Die 'Verwaltung Gottes entwickelt sich folglich vom Vater im Sohn \ durch den Heiligen Geist (G, S. 10).

Bei der Darstellung von Gott und der Beziehung des Men-i sehen zu Ihm teilt Lee Gott in verschiedene Bruchstücke auf, statt lediglich die Betonungen und Schattierungen der bibli­schen Darstellungen zu unterscheiden.

Wir haben erkannt,... dass im Leben Gottes das Wesen Gottes enthalten ist, und dass im Leben Gottes die Fülle Gottes verbor­gen ist. Darum verträgt sich das im Leben Gottes enthaltene Ge­setz mit Gott selbst, mit dem, was Gott ist, mit Gottes Wesen. Deshalb ist dieses Gesetz das Gesetz von Gott selbst. Wenn das Leben Gottes das Gesetz des Lebens in uns hineinlegt, dann heisst das, dass es auch das Gesetz Gottes in uns hineinlegt (N, S. 33).

Wir befürchten, dass Lees Zerstückelungslogik und Bausatz­methode im Gebrauch biblischer Begriffe ihn weiter weggetra­gen hat, als er zugeben würde. Die logische Weiterführung der obigen Darlegung wäre, dass Gott, der ein unzertrennlicher Geist ist (Joh. 4,24), aus mehreren Bestandteilen zusammenge­setzt ist. Das liesse einen Gott übergeordneten «Meisterflicker» erwarten, der die Bruchteile zusammennähte, um ein vollständi­ges Ganzes zu schaffen.

Lees Ansinnen, die Bedeutung der Ortsgemeinde zu erhöhen, beeinflusst sein Gottesverständnis weiter. So behauptet er, selbst das Wesen Gottes hänge mit Seiner Vorkenntnis der Gemeinde zusammen.

Die volle Offenbarung der Schrift offenbart uns heute, dass alles im Universum für die Gemeinde ist. Sogar die drei Perso­nen der Gottheit sind dazu da, eine Gemeinde zustandezubrin­gen, welche Gottes ewigen Plan erfüllen kann (O, S. 8). ... es ist das Verlangen und die Absicht Gottes, zu einem korporativen Menschen zu kommen,... damit Er selbst ewige Ruhe finden möge (H, Vorwort).

Lees nicht ausgesprochene Annahme ist, dass die Dreieinig­keit nicht existieren würde, wäre die Schöpfung nicht gesche­hen. Sogar vor dem Sündenfall, so scheint es, war die Dreieinig­keit nicht existent. Die ausgesprochene Annahme ist, dass die Form, in der Gott sich von Ewigkeit her vorgenommen hatte zu existieren, von der Bildung der menschlichen Gemeinde ab­hängt.


 

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Eine der erschreckendsten Behauptungen Lees ist, dass Gott neben den Menschen auch den Satan braucht, um seine Person zu vervollkommnen.

Es tut Gott nicht leid, dass es einen solchen Bösewicht wie den Satan gibt; denn ohne ihn könnte sich Gottes mannigfaltige Weisheit nicht offenbaren. Das ganze Universum ist vom Satan verdorben worden; aber Gott braucht eine solche Figur, damit Seine Weisheit gezeigt werden kann (T, S. 9).

Die Vorstellung, dass Gott die Menschheit und den Satan braucht, ist eine Folge von Lees Versäumnis, eine Unterschei­dung zwischen Gottes ontologischer Dreieinigkeit und heilsge­schichtlicher Dreieinigkeit vorzunehmen. Gott existierte vor der Erschaffung des Universums. Die drei selbstgenügenden Perso­nen der Dreieinigkeit standen zueinander in schöpferischer Be­ziehung ohne der Gemeinschaft aus irgend einer anderen Quelle zu bedürfen. Das ist die ontologische ( = seinsbezogene; der Übers.) Dreieinigkeit (Job. 17,5).

Gemäss der Schrift hat Gott bestimmte Muster, nach denen Er mit der geschaffenen Ordnung in Beziehung tritt; und zwar stimmen diese mit seinem Charakter überein. Der Plan der Er­rettung lässt jedes Glied der Dreieinigkeit einzigartig, aber gleichwertig in Erscheinung treten. Die Theologie darf nie Wer­te und Eigenschaften der Art und Weise, wie Gott zur Schöp­fung in Beziehung tritt, auf den Charakter Gottes oder auf die Beziehungen innerhalb der Dreieinigkeit übertragen. Z. B. die Unterordnung Christi unter den Vater während Seines irdischen Dienstes heisst nicht, dass innerhalb der Gottheit Rangunter­schiede bestünden.

Lee geht von der Tatsache aus, dass Gott zum Menschen in ei­ner gefallenen Welt in Beziehung tritt. Daraus leitet er her, dass ein unvollständiger Gott die Existenz des Menschen und Satans nötig hat, um sich Selbst zu verwirklichen. Ohne das Böse kann sich Gottes Güte nicht kundtun. Ohne die wahre Gemeinde (die Ortsgemeinde) kann Gott nicht vollständig und sinnvoll existie­ren.

2. Menschheit

Lee lehrt, dass der Mensch, ob gefallen oder erlöst, dreiteilig ist. Er besteht aus Leib, Seele und Geist.15 Er fügt hinzu, dass Seele und Geist wiederum aus je drei Teilen bestehen.

Nach Witness Lee bildet der Leib unsere «äusseren Teile», für physisches Leben. Die Seele bildet unsere «inneren Teile», um Gott auszudrücken; sie setzt sich aus Verstand, Wille und Gefühl   zusammen.    Der   Geist   bildet   unsere   «verborgenen

i Teile»,um Gott zu berühren, zu empfangen und zu enthalten;

' tr setzt sich aus Gewissen, Intuition und Gemeinschaft mit Gott

zusammen. Das Herz ist Seele und Geist im rechten Verhältnis,

Um Gott mit geeinter Persönlichkeit zu lieben.

Gewöhnlich spricht Lee nicht von den drei Bestandteilen des Menschen als einem harmonisch geeinten Ganzen, das zu Gott im rechten Verhältnis steht. Bei erlösten Menschen stehen Leib und Seele dem Geist, der Gottes Wohnstätte ist, feindlich ge­genüber. Folglich können Leib und Seele Gott «einkerkern». Es gilt für den Protagonisten (den Geist des Menschen) den Anta-gonisten (Leib und Seele) zu unterwerfen, um eine Arbeitsge­meinschaft von Geist und Seele herzustellen. Die Folgen werden jedoch in ungenauen, gefühlsmässig zu erfassenden Ausdrücken wie wandeln, essen, schmecken, berühren etc. beschrieben. Lee räumt ein, dass es schwierig ist, solche Ausdrücke zu verstehen. Das ontologische Schisma — die scharfe Trennung zwischen der höheren geistlichen Wirklichkeit und den niedrigen, diessei­tigen Schatten — wird teilweise überbrückt, aber in seinem Dogma nie ganz gelöst.

Vor dem Sündenfall war die Seele das Zentrum des Men­schen. Die Seele des noch nicht gefallenen Adam konnte nicht die Gemeinschaft mit dem Schöpfer, wie Gott sie beabsichtigt hatte, erlangen, weil «unser Geist ursprünglich eine alte Schöp­fung war; sie enthielt kein Element Gottes» (N, S. 37). Anstatt den Menschen als im Bilde Gottes zu betrachten, leitet Lee vom biblischen Bericht her, dass Adam unbedingt das Leben Gottes — das Element Gottes oder des Heiligen Geises — braucht, um «ihn auszufüllen». Aber Adam fiel, bevor er dieses super bo-num additum, den Geist, empfing. Diese Auffassung ist ein we­sentlicher Bestandteil von Lees Ansichten über die Wiederge­burt.

Die geschaffene Menschheit brauchte die Wiedergeburt, selbst wenn der Sündenfall in Zeit und Raum nie eingetreten wäre. Das noch unbefleckte geschaffene Wesen des Menschen gehört genauso zur «alten Schöpfung» wie das gefallene Wesen des Menschen. Es ist unvollständig; es fehlt ihm das Leben Got­tes.

Wenn unser Leben nicht böse geworden wäre, würden wir auch dann eine Wiedergeburt benötigen? Ja, wir hätten es trotzdem nötig, weil unser menschliches Leben nur geschaffe­nes Leben und nicht Gottes ungeschaffenes Leben ist (G, S. 106).


 


 


 

 

Beim Fall des Menschen legt Lee wieder Dinge in die Schrift hinein. Adam ass vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen, wodurch er wörtlich den Satan in sich aufnahm, der in seinem Leib wuchs und ihn zu «Fleisch» umwandelte. Satan, der Usurpator der Autorität Gottes, verführte Adam, aber konnte nicht in dessen Geist leben. Darum bleibt der Teufel im Leib, ist also bloss in einen Drittel des gesamten Menschen ein­geschlossen.

Durch den Fall kam Satan als Sünde in den Menschen hinein und beherrscht, verdirbt und zerstört ihn. In welchem Teil? Sa­tan befindet sich in den Gliedern des menschlichen Leibes.

...Der Leib ist etwas Satanisches und Teuflisches, weil Satan in diesem Leib wohnt. Alle Lüste befinden sich in diesem ver­dorbenen Leib, den wir Fleisch nennen. Ihr seht, dass beim Sün­denfall der Mensch, nicht nur gegen Gott sündigte, sondern dass er dadurch Satan in seinen Leib aufnahm. Seit dem Sündenfall lebt Satan im Menschen (G, S. 108-1O9).

Glücklicherweise ist der Geist, obwohl er tot ist (d. h. nicht funktioniert), nicht besessen oder vernichtet.16 Nach Lee sollte der menschliche Geist zur Wohnstätte Gottes werden, denn Adam sollte vom Baum des Lebens essen — das heisst «Gott in sich aufnehmen» — um den göttlichen Geist in seinem begrenz­ten Geist zu besitzen. Sowohl in wiedergeborenen als in nicht wiedergeborenen Menschen wohnt der Teufel im Leib; lenkt das Ich die Seele, und wohnt Gott im Geist. Die Bestandteile schliessen sich gegenseitig aus und wirken einander entgegen.

3. Der Retter

Sowohl die geschaffene als auch die gefallene Natur des Men­schen brauchen drastische Veränderungen: Sie brauchen einen Retter. Darum wurde der Vater nach Lee zum Sohn. Das heisst, dass in gewisser Hinsicht bei der Menschwerdung die Person des Vaters mit der Person des Sohnes vereint wurde. Lee versuchte diese Vereinigung von Personen von Jesaja 9,6; Johannes 10,30 Johannes 14,7-11 aus zu beweisen.

Aber es gibt Leute, die verdrehen dieses Wort, indem sie sa­gen, der Sohn sei nicht der Vater, sondern der Stellvertreter des Vaters. Das ist eine Verdrehung. Wenn Du den Zusammenhang ohne zu verdrehen liest, kannst Du erkennen, dass dort der Sohn der Vater war (E, S. 3-4).

Lees modalistische Darstellung der Dreieinigkeit lässt uns fra­gen: «Wer starb am Kreuz?» Zu dieser Abweichung von tradi­tioneller Christologie kommt Lees Darlegung der göttlichen

und der menschlichen Natur Christi, worin er ebenfalls vom orthodoxen Gedankengut abweicht. Die menschgewordene Gottheit war weder ganz Gott, noch ganz Mensch; Er war eine dritte Wesenheit, ein vermengter Gott-Mensch.

Wir weisen daraufhin, dass der veraltete Ausdruck «vermen­gen», welcher das Verhältnis von Gott und Menschheit in der Person Christi ausdrücken soll, schon in der frühen Kirchenge­schichte fallengelassen wurde, nachdem er eine kurze Zeit ge­bräuchlich gewesen war. Man hielt ihn für unpassend, die bibli­sche Vorstellung der Gottheit und der Menschheit Christi in der ganzen Tragweite darzustellen. Zudem wurde «vermengen» von den Kirchenvätern nicht gebraucht, um das Verhältnis des Men­schen zu Gott zu bezeichnen, wie Ortsgemeinde-Apologeten uns weismachen wollen. Lee jedoch hält es für richtig, den Aus­druck wieder aufzunehmen — nur um in seinem Gebrauch des Wortes zu veranschaulichen, warum es damals durch treffende­re Ausdrücke ersetzt wurde! In den ersten Seiten von The God of Resurrection (Der Gott der Auferstehung) spricht Lee von der «Dualität der Natur» Christi. Damit könnte die orthodoxe Auffassung gemeint sein, dass eine Person zwei Naturen reprä­sentiert. Später erfährt man jedoch, dass Lee unter «Dualität der Natur» die «Kombination der menschlichen und göttlichen Natur» meint, wodurch eine aus beiden verschmolzene, neue Natur entsteht,

Darum bedeutet die Menschwerdung Christi ganz einfach das Vermengen Gottes mit der Menschheit. Vermengen ist weit mehr als zusammenmischen: Es ist eine innere Vereinigung... Verstehst Du, warum Er uns so kostbar ist? Weil wir in Ihm das universelle Vermengen Gottes mit der Menschheit haben (I, S. 6-7).

Der vermengte Gott-Mensch lebte, um für drei Sachen zu sterben. Die unbedeutendste dieser drei war das Gericht über die Sünde, die Folge des Sündenfalls. Beim Sündenfall wurde der Teufel überlistet. Er hatte nicht erwartet, in den Menschen eingeschlossen zu werden; er sah ihn nur als Futter an. Aber der Mensch war auch ein Köder; der Teufel ging in die Falle und wurde im Menschen eingekerkert. Als nun Christus sich in Menschengestalt kleidete, nahm Er auch den Satan in sich auf; und als Christus starb, wurde auch der Satan (der in ihm einge­kerkert war) getötet."

Der zweite Zweck des Sterbens Christi war das Töten der al­ten Schöpfung:


 

Nicht nur Christus wurde dort gekreuzigt, sondern auch der


 


 


 

 

Mensch, die Welt, Satan und sein Reich, die Sünde, die Sün­den, der Alte Mensch usw. Alle Dinge der alten Schöpfung ka­men durch das Kreuz Christi zu einem Ende. Wir müssen diesen allumfassenden Tod erleben (G, S. 127).

Der wichtigste Zweck des Sterbens Christi war das Mitteilen von Leben an die Menschen durch die Vermengung Gottes mit ihnen. Selbst wenn der Mensch nie gesündigt hätte, hätte Chri­stus für uns sterben müssen — genau wie alle Arten von Speisen sterben müssen, bevor man sie essen kann, und so wie Adam einschlafen musste, bevor Eva ein lebendiges Wesen wurde.20 Witness Lee nimmt uns die Frage aus dem Mund: Vielleicht fragst Du, warum Gott in Christo alles in den Tod führte..... und nachher in Ihm alles zur Auferstehung brachte? Die Antwort ist unserem Denken fremd. In der Schöpfung war nichts von Gott mit dem Geschöpf vermengt. Wenn wir die Schrift durchforschen, müssen wir zum Schluss kommen, dass der Mensch bei der Schöpfung das Leben Gottes nicht empfing. Von Gott war nichts mit dem Menschen vermengt. Aber durch den Tod und die Auferstehung Christi vermengte sich Gott mit dem Menschen (I, S. 25)!

4. Theologischer Widerspruch

Lee behauptet, dass Christus nach Seinem Tode auferstand und zum Geist, zu einem neuen Geist wurde. In Lees Augen be­ziehen sich die Stellen über den Geist in Johannes 14 auf den ge­kreuzigten und auferweckten Christus.21 Lee verwendet mit Vorliebe den Ausdruck «der Herr Geist», um die Einheit der Personen zu beschreiben. Dieser neue Geist ist alles, was Jesus Christus ist.

Der Heilige Geist als die Person des Herrn ist die Wirklichkeit des Namens des Herrn (K, S. 78).12 Wir müssen erkennen, dass der Heilige Geist im Neuen Testament ein anderer ist als der Geist Gottes im Alten Testament. Der Geist Gottes im Alten Testament bestand nur aus einem, der Gottheit; denn Er war ausschliesslich der Geist Gottes. Aber der Heilige Geist im Neu­en Testament besteht aus vielen Elementen. Zu diesen gehören die göttliche und menschliche Natur, die Wirksamkeit des To­des Christi und die Kraft Seiner Auferstehung (B, S. 17).

Nach dem Kreuz bleibt nur noch der «ewige Geist». Alles an­dere wurde beendet. Selbst die Dreieinigkeit ist jetzt im Geist. Dieser Herr, der anscheinend sowohl eine als auch drei Perso­nen, sowohl menschlich als auch göttlich ist, ist jetzt der Gott unseres Heils.Heute ist der Herr, den wir geniessen, jener Geist (2. Kor. 3,17), und jener Geist ist niemand anders als der dreieinige Gott...In diesem Geist ist Gott, aber in diesem Geist ist auch Mensch (F, S. 33).

In diesen Geist packt Lee auch die Ortsgemeinde hinein, so dass die drei Formen göttlicher Erscheinung, die er als die dreiei­nige Gottheit ausgibt, eine neue Zugabe erhalten.

Sie sind jetzt vier in einem: Vater, Sohn, Geist und der Leib (O, S. 43).

Angesichts solcher Lehren fragen wir uns, wie die Ortsge­meindeanhänger öffentlich behaupten können, «sie glauben an die Dreieinigkeit, wie sie traditionsgemäss vom Katholizismus und Protestantismus verstanden wird».23 Nun, wir haben schon festgestellt, dass Ortsgemeinde-Denken ohne grössere Mühe die krassesten Widersprüche miteinander in Einklang bringen kann. Die folgenden Zeilen von Lee zeigen noch deutlicher, wie problematisch alles wird, wenn man versucht, das Geheimnis der biblischen Dreieinigkeit zu entmystifizieren.

...ein beschäftigter Mann kann mehrere Erscheinungen ha­ben. Wenn Du ihn am frühen Morgen in seinem Heim besuchen könntest, würdest Du ihn als Vater und Gatten erleben. Nach dem Frühstück geht er in die Universität und ist Professor. Und am Nachmittag kannst Du ihn im Spital als Arzt im weissen Ar­beitsanzug antreffen. Du darfst nicht denken, die drei Personen in der Gottheit seien drei verschiedene Götter. Nein, sie sind ab­solut eins. Der Vater im Heim, der Professor in der Universität und der Arzt im Spital sind auch drei Personen mit einem Na­men (0, S. 8).

Ein Kritiker hat bemerkt: «Dieser Vater, Professor, Arzt sind nicht drei Personen; er ist nur eine Person. Vater, Professor und Arzt sind lediglich drei Funktionen einer Person, aber kei­neswegs sind es verschiedene Personen. Genau verhält es sich mit der Ortsgemeinde-'Dreieinigkeit'. Sie nennen Vater, Sohn und den Heiligen Geist Personen, aber alles wird sinnlos, so­bald sie den Ausdruck definieren.»24 Für Lee hingegen ist es sinnvoll, der aus solchen Widersprüchlichkeiten theologischen Nutzen zieht. Obige Illustration besagt nicht, dass Lee streng ge­nommen Modalist ist. Vielmehr beweist es die Unfähigkeit der Sprache, ein Paradoxon (zwei oder mehr Vorstellungen, die ein­ander zu widersprechen scheinen, gelten als wahr) zu lösen und zu erklären. Licht, das sowohl ein Partikel als auch eine Welle ist, stellt für Physiker ein Paradoxon dar. Die Dreieinigkeit ist für Christen ein Paradoxon, da sie aus drei Personen besteht,


 

 


 

 


 

 

aber ein Gott ist. Theologisch weitet Lee dieses Paradoxon aus, da er an einen modalistischen und trinitarischen Gott glaubt, obwohl diese sich gegenseitig ausschliessen. Die meisten Kritiker Lees haben ihn aufgrund von Schriften, in denen er ganz deut­lich den Modalismus vertritt, als Modalisten eingestuft. Wir sollten jedoch Lees besonderem unbiblischen Paradoxon Rech­nung tragen, in dem er auf einem Gott besteht, der drei und eins ist, sowohl modalistisch als auch trinitarisch.

5. Errettung

So wie Gottes Wirklichkeit jetzt im Geist ist, ist auch die Er­rettung vom Geist. Dadurch werden die Menschen etwas Neues, etwas historisch noch nie Dagewesenes. Wie Christus durch die Vermengung Seiner Gottheit mit der Menschheit ein Gott-Mensch wurde, so sollen wir durch Vermengung unseres Geistes mit dem göttlichen Geist Gott-Menschen werden. Der Gott-Mensch ist ein neues Wesen, etwas bisher weder Gesehenes noch Gekanntes. Menschen werden also nicht so sehr erlöst als sie vielmehr ersetzt werden. Gott wirkt sich in uns hinein und ersetzt uns durch Sich Selbst. Diese Lehre ist das eigentliche Crux der Ortsgemeinde.

Weisst du, was es heisst, ein wahrer Christ zu sein? Christ zu sein, heisst schlicht mit Gott vermengt, ein Gott-Mensch zu sein (I, S. 7).

Die Errettung dient vor allem dazu, dieses Vermengen zu er­möglichen oder zu bewirken, und nicht Sünde zu sühnen. Lee anerkennt zwar die Notwendigkeit der Sühnung, bezeichnet sie aber ausdrücklich als den «niedrigeren Aspekt» der Errettung und spricht kaum wieder davon. Der «höhere Aspekt» der Er-retung ist die Vermengung des göttlichen Wesens mit dem menschlichen. Lee widmet der Darlegung dieses Aspekts ganze Bücher. Diese Mitteilung von göttlichem Leben an Menschen hat eigentlich nichts mit Sündenvergebung zu tun, denn Wie­dergeburt wäre auch ohne Sündenfall notwendig gewesen. Erlö­sung hat daher in erster Linie etwas mit dem verderbten Leib, dem Fleisch, zu tun, das von Satan bewohnt ist. Die Seele muss nicht erlöst werden, ausser insofern, als sie sich mit dem Fleisch verbunden hat. Der menschliche Geist hingegen wird belebt (nämlich wenn Gott durch Vermengung des göttlichen mit dem menschlichen Geist in einem Menschen Einzug hält). Da Gott Geist ist, muss alles, was Er zeugt, Geist sein, «Seine ureigenste Substanz».25


 

6. Erlöste Menschheit: Vierteilig

Das Ziel der Wiedergeburt ist erlöste (lebendiggemachte) Menschheit, ein brandneues Geschöpf, das in gewisser Hinsicht wesensgleich mit Gott ist. Das lässt sich unmittelbar aus Lees Definition von Vermengung folgern:

Vermengen ist viel mehr als zusammenmischen. Es ist eine in­nere Vereinigung (I, S. 6).

Dadurch wurde die menschliche Natur der göttlichen ange­schlossen, und die einst getrennten Naturen sind eins geworden (G, S. 11).

Die Schönheit der Gemeinde liegt ausschliesslich an ihrer gött­lichen Natur. Sie ist königlich, und sie ist göttlich (K, S. 226).

Der Vater ist im Sohn, der Sohn ist im Geist und der Geist ist im Leib. Sie sind vier in einem: der Vater, der Sohn, der Geist und der Leib (O, S. 43).

Offensichtlich besteht Gott aus vier Teilen: drei göttlichen und einem menschlichen. Alle stehen auf der gleichen Wertstu­fe. Lee sieht keinen Unterschied zwischen dem Wesen lebendig-gemachter Menschheit und dem Wesen des dreieinigen Gottes. Wie könnte er auch? Die beiden sind eins geworden.

In einem Vergleich zwischen lebendiggemachter Menschheit und der Natur Christi sagt Lee:

Was er ist, sind wir; und was wir sind, ist Er (D, S. 87). Nach einiger Zeit wird Christus zu einem gewissen Grad jener Mensch...er und Christus werden eins (A, S. 1*89).

Bezüglich des Geistes sind wir ebenfalls eine Einheit.

Bibelübersetzer fanden es oft äusserst schwierig zu entschei­den, ob «Geist» in bestimmten Abschnitten auf den Heiligen Geist oder auf den menschlichen Geist zu beziehen sei. Die Schwierigkeit rührt daher, dass der Heilige Geist und der menschliche Geist zu einem Geist vermengt sind! «Wer aber dem Herrn anhängt ist ein Geist mit ihm» (1. Kor. 6,17). Wir sind ein Geist mit dem Herrn; das ist aber eindeutig ein Geist, der mit dem Heiligen Geist vermengt ist. Das macht es schwer zu unterscheiden, ob wir es mit dem Heiligen Geist oder mit dem menschlichen Geist zu tun haben. Die zwei sind zu einem vermengt (G, S. 27).

Wir haben auch die gleiche Substanz oder Essenz wie Gott.

Das eigentliche Wesen des allmächtigen, allumfassenden, universellen Gottes ist einfach Geist. Gott ist der Handwerker, und es ist Seine Absicht, sich Selbst als Produkt zu reproduzie­ren. Daher muss alles, was Er reproduziert, Geist, Sein ureigen­stes Wesen, sein (G, S. 9).


 

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Weil die lebendiggemachte Menschheit mit Gott wesensgleich ist, hat sie auch die Fähigkeiten Gottes.

Weil wir das Leben Gottes in uns besitzen, können wir sein, was Gott ist, und tun, was Gott tut (N, S.31).

Zwei Kriege wüten in uns. Der eine ist wie Schizophrenie. Die lebendiggemachte Persönlichkeit hat ihren Sitz nicht mehr in der Seele, sondern im Geist, und doch lebt die alte seelische Natur weiter. Der andere Krieg ist ein Dreieckskampf: Satan sitzt noch immer im Fleisch als Sünde, Gott ist in den menschlichen Geist hinein vermengt, und das Ich lebt noch weiter in der Seele.26

Haben wir kapiert, dass alle Wesen — Adam, Satan und Gott — heute in uns sind? Wir sind recht kompliziert. Der Mensch, Adam, ist in uns; der Teufel, Satan, ist in uns, und der Herr des Lebens, Gott Selbst, ist in uns. So sind wir ein kleiner Garten Eden geworden. Adam vertritt die menschliche Rasse, der Baum des Lebens Gott und der Baum der Erkenntnis Satan. Diese drei Parteien im Garten Eden sind alle in uns. Adam, das Ich, befin­det sich in der Seele; Satan, der Teufel, ist in unserem Körper; undGott, der dreieinige Gott, ist in unserem Geist. Aberwirsind mehr als ein kleiner Garten; wir sind ein grosses Schlachtfeld. Sa­tan kämpft in uns gegen Gott, und Gott kämpft in uns gegen Sa­tan. Satan nimmt unseren Körper, das Fleisch, als Ausgangslage für seine Kämpfe; Gott nimmt unseren Geist als Ausgangslage für Seine Kriegsführung (G, S. 168-169).

Laut Lee gewinnen wir unseren Kampf über Satan und das Ich auf mystischem Wege. Wenn wir im Geist sind, sind wir im Himmel, im «Allerheiligsten», und irgendwie kann der Himmel herabfliessen. Das epistemologische Schisma wird aber durch die Errettung nicht geheilt. Errettung bietet uns lediglich die Möglichkeit, uns zur höheren Stufe, der Stufe der unaussprech­baren, irrationalen inneren Erfahrung, emporzuschwingen.

Auch das ontologische Schisma bleibt unaufgelöst. Den Erlö­sten werden erhabene Erlebnisse der höheren geistlichen Wirk­lichkeit zuteil, wobei diese Wirklichkeit (genannt Christus) ihre Analogien im «schattenhaften» Bereich von Materie und Ge­schichte besitzt.

All das muss Christus sein. Als Gott ist Er der Vater, der Sohn, der Geist, der Herr, der Christus und noch mehr. Als Mensch ist Christus der Apostel, der Lehrer, der Anführer usw. Er ist eigentlich noch viel mehr als all das. Er ist das Licht, das Leben, die Luft, das Wasser, die Speise, die Kleidung und Be­hausung. Er ist uns all das und noch mehr. Die Bestandteile der Reichtümer Christi sind zahllos (O, S. 15).

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Heiligung: Die magisch - mystische Tour

Die sinnesorientierte Theologie weicht von der orthodoxen Theologie in ihrem Trachten nach subjektiver Gotteserfahrung im Individuum ab. Naturgemäss verlegt sich deshalb Lees theo­logisches Hauptanliegen auf die persönliche Heiligung, jenen Prozess, der dem Übenden grösseren und besseren Anteil an Gott zusichert. Die Aufforderungen zur Heiligung und die da­zugehörigen Erklärungen sind häufig und simpel, aber stets va­ge verschwommen. Das sind sie deshalb, weil die Gotteserfah­rungen — die höchste geistliche Realität — die Möglichkeiten gewöhnlicher, beschreibender Sprache sprengt. Darum greift Lee in seinen Schriften über Heiligung zu solchen literarischen Kunstgriffen wie Poesie, Übertreibung, veranschaulichende Er­zählung und Ausschmückung biblischer Berichte. Lee gibt sel­ber zu, dass nur wenige ihn «verstehen».

Obwohl Lee ganze Bände über Heiligung geschrieben hat, sind die grundlegenden Schritte zur christlichen Reife einfach. Der vermengte, göttlich-menschliche Geist soll neues Leben in die Seele (das Ich) und den Leib (der satanisch ist) «freilassen», nachdem er den Leib-Seele Komplex «getötet» hat. Der wieder­geborene Geist des neuen Geschöpfes muss das Fleisch des «al­ten Menschen» in der Seele überwinden. Der Gott der Erlö­sung, der im Geist wohnt, muss das Ich der Schöpfung, das sich in der Seele befindet, überwinden, um es dem Einfluss des Sa­tans, des Sündenfalls, der im Leib wohnt, zu entziehen. Lees Schlagwort für diesen Vorgang ist «das Brechen des äusseren Menschen».

Wenn die Trennung von Seele und Geist (vgl. Heb. 4,12) in der täglichen Erfahrung des Christen nicht sinnlich wahrge­nommen wird, ist die Heiligung nutzlos. Alles (z. B. Glaube, wie Hoffnung der Herrlichkeit) ist vergeblich. Wenn man die Trennung zwischen Seele und Geist nicht erlebt, dann muss das alte Ich im Leib-Seele Komplex weiterbestehen, wodurch Gott im menschlichen Geist eingekerkert wird. Sobald die Trennung vollzogen ist, werden das Ich und der Leib-Seele Komplex durch die Geist-Geist Verbindung (d. h. die Verbindung des göttlichen Geistes mit dem menschlichen Geist) «getötet», in­dem sie das Herz durchdringt und einen siegreichen Kampf mit der Seele ausficht. Die freigelassene Seele kommt hervor und berührt den Geist, der sie unterwirft, wodurch der Vorgang der Heiligung beginnt. (Man vergleiche die Abhandlung über Wirk­lichkeit.) Dann wird der göttlich-menschliche Geist-Geist frei­gemacht, wodurch er herabkommt und den soeben erschlage-

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nen Leib-Seele Verband durchdringt, ihn belebt und umgestal­tet. Dieser Vorgang stellt den Wechsel verkehr zwischen der hö­heren geistlichen Wirklichkeit und der niedrigeren Menschheit her. Dieses Hin und Her zwischen Schatten (Leib-Seele) und höherer Wirklichkeit (Geist-Geist) ist ein verwickelter Mecha­nismus, von dem Lee selbst sagt, dass er so schwierig sei, dass ihn nur wenige handhaben können (N, S. 79-80, 182-192).

1. Töten

Töten ist der Euphemismus für die einleitende, negative Seite des Heiligungsprozesses. Der Erzfeind, den es zu erschlagen gilt, ist die Seele. Obwohl sie mit dem sündigen Fleisch verbun­den ist, hat die Seele nicht in erster Linie Erlösung nötig, son­dern «Unterwerfung», damit sie mit dem vermengten göttlich­menschlichen Geist verbunden werden kann. Die Seele ist ein zweitrangiges Glied einer Vereinigung, wobei ihr Wert ganz von der Vorherrschaft des vermengten Geistes abhängt.

So lange ich den Heiligen Geist erlebe, wie er in mir wirkt und arbeitet, werde ich das Töten meiner Wünsche, Absichten, mei­ner Gewohnheiten, meines Charakters, usw. spüren. Je mehr ich mit dem Heiligen Geist erfüllt bin, desto mehr werde ich ge­tötet werden, denn im Geist Jesu Christi ist das wirksame töten­de Element des Todes Christi enthalten (B, S. 24).

Was aus der Seele kommt, kann nicht geistlich sein; die Seele kann kein Verlangen nach Gott haben, noch kann sie etwas von Gott empfangen. Nach Lees Ansicht sollten Christen zunächst die Vergebung spüren, dann erst mit dem Verstand erfassen. Sie soll­ten die Gegenwart Gottes auch viel mehr spüren als an sie glauben. Lee behauptet, dass das Leben der Seele (das Selbst, das Ich) getötet wird, wenn man die Seele verleugnet, aber dass die Fä­higkeiten der Seele (Verstand, Wille, Gefühl) noch funktionie­ren — nur ohne das seelische Ich. Diese Fähigkeiten werden als Werkzeuge der neuen Person im vermengten Geist verwendet.28 Wenn jedoch Lee das Töten der Seele spezifisch beschreibt, dann wird nicht nur das Ich weggeschafft, sondern auch die Fä­higkeiten der Seele, der Verstand, der Wille und das Gefühl ver­schwinden. Vier Aspekte der Seele müssen verleugnet werden: a) Das Ich (ein Synonym für das «Ich» ist die menschliche Natur)

Das Ich ist das Zentrum des Menschen, der Mensch selbst; es ist das Ich, das ausgetilgt werden muss... ... Die Seele zu verleugnen heisst, dass wir uns von uns selbst wegwenden und dem Geist zuwenden (G, S. 100).

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b) Der Verstand (und Lehren, die vom Verstand sind) Wer im Verstand ist, sollte seinen Intellekt in allen geistlichen Dingen ablehnen. Er sollte solche Vorgänge wie Denken und Überlegen ganz ablegen und sich an den Geist wenden, und den Geist verwenden, um das Bewusstsein Gottes zu spüren, nur den Eindrücken in seinem Geist folgen und in der Gemeinschaft mit Gott weiterschreiten (N, S. 83)

c) Sittlichkeit (wirksames Wollen eines gewählten Verhaltens­musters das auf sittlichen Normen beruht). Für Lee ist Sittlich­keit weder Gesetz noch Gnade. Vielmehr geriet der Mensch erst durch den Sündenfall in Sittlichkeit hinein — Adam und Eva assen vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen.29

In Wirklichkeit gibt es kein Richtig oder Falsch, kein Ja oder Nein — nur Jesus! Es gibt kein Gesetz, keine Lehre, keine Verord­nungen — nur Jesus. Und nicht ein Jesus in Lehre, sondern ein Je­sus, der so lebendig, so nahe, so gegenwärtig ist (D, S. 63-64).

4. Natürliche Gefühle, Neigungen und Wünsche

Natürliche Zuneigung, natürliche Liebe und natürliche Bezie­hungen müssen durch das Kreuz ausgerottet werden (G, S. 119). Alles, was wir in natürlicher Weise unternehmen können, zählt in Gottes Augen nicht. Wir können unsere Gattin mit na­türlicher Liebe lieben, aber für Gott bedeutet solche Liebe nichts. Am himmlischen Massstab gemessen ist sie wertlos. Gott will nichts als nur Christus selbst.30

2. Freilassen

Freilassen ist die positive Seite der Heiligung (während Töten die negative ist). Es geht nicht um das Freimachen von Gerech­tigkeit für eine sündige Person, sondern um das Freilassen von Leben in einen Toten. Leben kann nur einem vermengten Geist entfliessen, der vom unterworfenen Leib-Seele Komplex gelöst worden ist.

Darum ist es für uns das wichtigste, dass wir unseren Geist kennen und die Seele verleugnen können. Wir müssen die Seele verwerfen und im Geist wandeln, weil der dreieinige Gott in un­serem Geist wohnt (G, S. 33).

Unser Geist ist das Organ, um Gott zu empfangen und zu enthalten (G, S. 37).

Darum müssen wir es lernen, unseren Geist zu erkennen, be­ständig die Seele zu verleugnen und uns unablässig in unseren Geist hineinzuwenden... Dann wird als Auswirkung des inneren Lebens, welches Christus Selbst in unserem Geist ist, Frucht entstehen (G, S. 102).

 

Die Brücke über das ontologische Schisma ist das menschli­che Herz. Der vermengte göttlich-menschliche Geist harrt dar­auf, freigelassen zu werden, ist aber so lange gefesselt, bis das Herz (welches Elemente von Seele und Geist umfasst) «den Herrn berühren» will.

Es gibt einige objektive Hilfen zum geistlichen Leben: Leh­rer, die Bibel, die Lebensumstände (harte Arbeit, Züchtigung, Gehorsam, Probleme) und die wahre Gemeinde (die Ortsge­meinde).

Trotzdem ist das letzte Erklimmen wahrer Geistlichkeit my­stisch; geistliche Reife ist eine Nach-Innen-Kehr, die alle äusser­lichen Prüfungen und Hilfen hinter sich lässt.

Um festzustellen, ob jemand im Leben gewachsen ist, müssen wir den Zustand seiner inneren Erleuchtung beobachten (N, S. 201).

Das Allerheiligste ist ein Bild auf unseren Geist. Wenn sich jemand zum Geist wendet, tritt er ins Allerheiligste. Alles ist verborgen, nichts ist an der Oberfläche; alles spielt sich tief in­nen ab. Von da an erreicht sein geistliches Leben den Stand der Reife (H, S. 259).

Lee kann die Kennzeichen der «Supergeistlichkeit» umreis-sen.31

Im wesentlichen setzt sich Geistlichkeit aus folgendem zusam­men:

Zunahme des Elements Gottes Zunahme des Wuchses Christi Ausweitung des Raumes für den Heiligen Geist Abnahme des menschlichen Elements Brechen des natürlichen Lebens Unterwerfung jedes Bestandteils der Seele Doch Lee gibt zu, dass uns im Laufe der Heiligung die höhere geistliche Wirklichkeit in subjektiven Erlebnissen, die äusserst vage und verschwommen sind, zuteil wird. Weil Heiligung fort­schreitend ist, kann das Leben Gottes in immer höherem Mass in Besitz genommen werden, unabhängig von Werten wie Glau­be, Heiligkeit und Gerechtigkeit. Die wenigen Auserwählten, welche diese Höhen der Heiligung erklimmen, sind die Ältesten der Ortsgemeinde. Das alttestamentliche Priestertum ist das Ur­bild für diesen Ortsgemeinde-Ältesten-Klerus. Praktisch bilden diese Supergeistlichen eine Elite, die unter Lees Anweisungen über bleibende Autorität verfügen.

Eine solche Gruppe steht unter der Salbung des Heiligen Gei­stes und besitzt die Urim und Thummim. Deshalb können sie das Urteil, die Entscheidung des Herrn, erfahren. Sie können über jede Angelegenheit urteilen und entscheiden...^, S. 22).

Es sind nicht viele Gruppen unter den Kindern des Herrn, die je die Priesterschaft verwirklichen (A, S. 133).

Ortsgemeindemitglieder müssen sich dem Rat der Ältesten beugen, wenn ihre Heiligung glaubwürdig erscheinen soll.32 Un­terordnung unter die Ältesten beinhaltet neben Gehorsam auch die Aufgabe des Vorrechts, Älteste in Frage zu stellen, beson­ders in Situationen, in denen sie biblisch im Irrtum sind.33 Die Erfahrungen dieser «Erleuchteten» sind gänzlich subjektiv, über alle Massstäbe gewöhnlich gemessener Gerechtigkeit und Frömmigkeit erhaben. Damit sind sie naturgemäss auch über je­des Urteil erhaben. Sie bewegen sich durch paradiesische Sphä­ren, gekleidet in Gewänder der Glückseligkeit. Sie sind ehr­furch tgebietend. Die Ältesten verwenden ihren Geist, um fest­zustellen, ob andere im Leib-Seelen Komplex festgefahren sind.34 Beständig und äusserst wirksam «lassen sie den Geist frei». Menschen als auch böse Geister fürchten sie. Älteste wer­den nur von ihren supergeistlichen Mitarbeitern erkannt.35 Un­sere Frage bleibt trotzdem: «Wer beurteilt die subjektiven Er­fahrungen eines Ältesten, die seinen Eintritt in diese mystische Körperschaft rechtfertigen, wenn es keine objektiven, mitteil­baren Kriterien gibt, auf denen die Entscheidungen beruhen?»

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Sagt Lee noch mehr über den Inhalt dieser magischen, mysti­schen Erfahrung? Sinngemäss, ja. Lee trennt nie richtig zwi­schen der ein für allemal geschehenen Erlösungstat Christi als historisches Ereignis und der Anwendung der Erlösung im Le­ben des Christen. Biblisch gesprochen ist die vollbrachte Erlö­sung der heilbringende Charakter von Leben, Tod und Aufer­stehung Christi in menschlicher Geschichte. Angewandte Erlö­sung ist das Übereignen der Reichtümer Christi an den Erlö­sten, durch den Heiligen Geist. Die Erlösungstat Christi ist eine ein für allemal abgeschlossene historische Tatsache, deren ob­jektiven Wert von unserer subjektiven Erfahrung unabhängig ist. Nach Lee hingegen wird die schattenhafte Welt der Leiden und der Auferstehung Christi auf eine höhere, geistliche Ebene hinaufgerückt, in der die Erlösung als ein fortlaufender Prozess ohne absehbares Ende geschieht. Vom Tag der Bekehrung an über den ganzen Heiligungsprozess bis in die Ewigkeit steigen Leiden und Auferstehung Christi beständig von der höheren geistlichen Wirklichkeit in unsere subjektive Erfahrung hinab. Folglich ergeben sie Errettung und Heiligung nicht aus dem hi­storischen Sterben und Auferstehen Christi (welches bloss


 


 

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Schatten in unserer zeitlichen Welt sind), sondern aus der mysti­schen, inneren subjektiven Erfahrung dieser höheren Wirklich­keit.36 Gläubige ererben also nicht die Segnungen «angewandter Erlösung», sondern erleben den ständigen Prozess «vollbrachter Erlösung».37 In unserer schattenhaften Welt waren Tod und Auferstehung Christi stellvertretend. In der höheren geistlichen Wirklichkeit jedoch erleben die Gläubigen den dauernden Tod und die Auferstehung Christi subjektiv mit.

Alle Dinge der Schöpfung wurden durch das Kreuz Christi zu Ende gebracht. Wir müssen diesen allumfassenden Tod Christi erfahren (G, S. 127).

Alles, was wir brauchen, ist eine massenweise Vermehrung dieses Vermengens. Christus muss in uns verkörpert werden. Dann muss Er uns durch Tod und Auferstehung zu Gott führen. Je mehr wir durch den Tod zur Auferstehung gelangen, desto mehr werden wir in Gott sein (S, S. 192).

Gegenwärtige Errettung und Heiligung geschehen im Geist, wenn wir mystisch nacherleben, was der Herr historisch durch­lebte.

Heilig sein, heisst, etwas von Gott mit uns vermengt haben. Heiligkeit ist nicht eine Sache der Handlungen, sondern des Wesens, denn Heiligkeit ist Gottes Wesen. Es geht nicht darum, was wir tun, sondern wie weit wir mit Gott vermengt worden sind (S, S. 208).

Solche Errettung und Heiligung berührt die gewöhnliche Welt von Seele und Leib als Salbung, Gefühle, Gespür oder Fluss. Wenn wir im Fleisch sind, spüren wir Tod, Schwachheit, Leere, Niedergeschlagenheit, Dunkelheit, Einschränkungen, Schmerz. Aber wenn wir im Geist sind, spüren wir Leben — Stärke, Befriedigung, Lebhaftigkeit, Klarheit, Trost, Leichtig­keit — von selbst in uns aufsteigen.38

Wenn das alte Ich getötet ist, so dass der dreieinige Gott aus dem vermengten Geist fliesst, kann Gott die Seele umgestalten und «wird mit unserer Seele, unserem eigenen Ich, vermengt» (G, S. 115). Der Körper und sogar unser Benehmen werden da­von beeinflusst.

Solche Heiligung bringt mehrere Charakterzüge hervor, die man bei bibelgläubigen Christen anderer Jahrhunderte vergeb­lich sucht. Über Fragen der Sittlichkeit entscheidet z. B. allein der Fluss des Lebens Christi im eignen vermengten Geist und im Geist anderer in der Ortsgemeinde. Für Lee ist Sittlichkeit reli­giös, nicht geistlich.

Dadurch wird man aber sich selbst zum Massstab (die logische

Folge von epistemologischem Dualismus). Nichts Äusserliches — weder Lehre noch Rat — ist so bedeutend wie unser eigenes spontanes Erfassen dessen, was der dreieinige Gott in uns gut­heisst. Lehrt denn die Bibel nicht genau das vom Neuen Bund, dass niemand seinen Nächsten wird lehren müssen? Und lehrt uns nicht die Salbung alles?39

Es ist nicht nötig, dass andere uns sagen, ob unser Tun als Christen im Geist ist, ob wir auf den Geist achten und Gott ge­fällig wandeln. Das Gesetz des Lebens in unserem Geist wird uns ganz organisch dafür ein Gespür geben. Dadurch können wir leicht feststellen, ob wir im Geist leben oder nicht (N, S. 66).

Lees Theologie der Sinne entnimmt ihre Lehrsätze der sub­jektiven Erfahrung anstatt der Schrift. Damit ist ihre Grundla­ge sinkender Sand, nämlich der menschliche Zustand. Lees An­sichten über die persönliche Wahrnehmung des innewohnenden Heiligen Geistes offenbaren das.

£5- ist sehr leicht, den Heiligen Geist dadurch zu vertreiben, dass man Ihm widersteht; aber Ihn zur Rückkehr zu bewegen, ist schwierig. Selbst wenn wir bekennen, Busse tun und dadurch vom Herrn Vergebung bekommen, kommt der Heilige Geist nicht ohne weiteres sofort zurück (N, S. 214).

3. Methoden

Die Methoden, die Lee vorschlägt, um sich von der schatten­haften Welt zur höheren geistlichen Wirklichkeit des Geistes emporzuschwingen, werden am allerbesten von der versammel­ten Gemeinde praktiziert. Neben Singen und Prophezeien40 tre­ten als Hauptmethoden Beten-Lesen und Anrufen des Namens des Herrn hervor. Ausser vielleicht der Gemeinde selbst ist das grösste Gnadenmittel das, was Lee «den Herrn essen und trin­ken» nennt. «Beten-Lesen» und «den Namen des Herrn anru­fen» sind für die Ortsgemeinde, was das Abendmahl für die hi­storische Gemeinde gewesen ist. (Die Ortsgemeinde hat ein wörtliches Abendmahl mit wirklichem Brot und wirklichem Wein; aber für Lee ist das lediglich ein Symbol.)

Beten-Lesen ist auch der Ersatz der Ortsgemeinde für den Dienst des Wortes in Predigt und Lehre im Protestantismus. Für Lee ist Predigen und Lehren nur seelisch; Beten-Lesen ist weit besser, da es geistlich ist.

Wir geniessen wirklich das gemeinsame Beten-Lesen des Wor­tes in den Zusammenkünften. Es ist viel besser als Predigen oder Lehren, weil wir dabei auch atmen. Wenn wir das Wort beten-lesen, dann Atmen wir den Herrn Jesus in uns hinein...


 

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Wir kommen nicht zusammen, um Lehre zu empfangen, son­dern um vom Herrn angehaucht zu werden, um den Herrn in uns einzuatmen (K, S. 42).

Beten-Lesen ist der katholischen Eucharistie viel näher, als der biblischen Unterweisung durch die Predigt. Es ist das wahre Essen und Trinken; nur mystisch (nicht physisch). Es entzieht sich menschlichem Fassungsvermögen; es ist ein Einssein der Essenz (nicht der Beziehung) mit Gott.

Sätze aus der Bibel, die häufig durch Rufe wie «O, Herr Je­sus!» und «Amen!» unterbrochen werden. Es folgt ein Beispiel von Witness Lee, wie man beten-lesen soll (der Text ist Gal. 2,20):

Mit den Augen auf dem Wort und tief in deinem Innern be­tend sage: «Preist den Herrn, Ich bin mit Christo gekreuzigt. Halleluja! Mit Christo gekreuzigt. Amen! Ich bin O, Herr, ich bin gekreuzigt. Preist den Herrn! mit Christus gekreuzigt. Amen! Ich bin mit Christus gekreuzigt. Halleluja! Amen! Aber. Amen. Aber Amen. Ich lebe. O, Herr! Ich lebe! Hallelu­ja! Amen! Doch nicht ich, sondern Christus,» usw. (P, S. 8-9).

In unserer schattenhaften Welt werden die Worte beim Beten-Lesen und Anrufen des Namens des Herrn zur Euchari­stie, zur grossen Segnung und zum Gnadenmittel. Das Brot und der Wein des Abendmahls symbolisieren die Nahrung, die von der höheren geistlichen Wirklichkeit hinabsteigt und vermehrtes Vermengen vom göttlichen mit dem menschlichen Geist be­wirkt.41

Die beste Art, den Geist freizumachen, ist das Wort zu beten­lesen; denn das Beten-Lesen nimmt unseren Geist in Anspruch und lässt dem Verstand weder Zeit noch Gelegenheit. Die Grundsätze des Beten-Lesens sind: das Wort hastig lesen, kurze Sätze verwenden und etwas Neues und Frisches beten. Das schliesst unseren Verstand aus und beansprucht den Geist. Wir wissen, dass die Worte der Bibel lebendig und voller Nahrung sind. Wenn wir auf diese Art Beten-Lesen, wird unser Geist ge­nährt, belebt und erquickt. So wird unser Geist beim Beten-Lesen des Wortes geübt und gestärkt (O, S. 144-145).

Beten-Lesen und den Namen des Herrn anrufen scheinen fünf Merkmale zu haben:

1. Es ist kopflos, irrational und mystisch

Wir brauchen nicht unsere Augen zu schliessen, wenn wir be­ten. Vielmehr sollten wir unseren Verstand ausschliessen!... Wir brauchen keine Auslegung oder Erklärung zur Schrift; bete ein­fach mit dem Wort. Hör auf, das Wort zu lesen, zu erforschen,


 

verstehen und zu lernen. Du musst das Wort beten-lesen. Dann wirst du es wirklich verstehen. Wenn du das praktizierst, wirst Du etwas Nahrhaftes und Stärkendes empfangen, das Dich inwendig stärkt und Dir immer Leben gibt (P, S. 8-10).

2. Es ist lautstark. Man muss sich im Gottesdienst mit seiner Stimme beteiligen, selbst wenn es einem blöd vorkommt und man Fehler macht. Wer nichts herausbringt, ist «tot». Die To­ten sind ruhig und ordentlich; die Lebenden machen Lärm.42

Wenn Du in die Versammlung kommst, lerne es, nie still zu sein. Du musst Dich selbst überwinden; Deine natürlichen Nei­gungen besiegen (K, S. 114).

3. Es funktioniert nicht ohne Wiederholungen Wir können Ihn anbeten, indem wir einfach sagen: «O, Herr, o,   Herr»...   Hauche   aus   deinem   tiefsten   Innern:   «O, Herr», «Amen», «Halleluja» und Du wirst die Köstlichkeit und Wirklichkeit Christi selbst schmecken (O, S. 8-10).

4. Es muss beständig praktiziert werden

Das wichtigste für Dich und mich in unserem täglichen Leben ist, unablässig unseren Geist zu betätigen, um den Herrn zu be­rühren. Wie? Ganz einfach durch Anrufen des Namens des Herrn. «O, Herr Jesus, o Herr Jesus, o Herr Jesus!» Sag es laut. Denke nicht, niemand höre zu. Da sind viele Zuhörer; auf alle Fälle hören es die Engel und die Teufel. Je mehr Du Dich in dieser Weise übst, desto mehr wirst Du genährt werden (K, S. 111).

5. Es ist selbstbeglückend. Beten-Lesen und den Namen an­rufen sind nicht Lobpreis und Danksagung, sondern Mittel zum Zweck: das Göttliche soll in uns vermehrt werden. Schliesslich existiert die Dreieinigkeit — nach Lee — für die Gemeinde. Darum preist in einem gewissen Sinn die Gemeinde sich selbst.

Kommst Du in die Zusammenkünfte, um Lehre zu empfan­gen? Wir müssen in die Zusammenkünfte kommen, um zu schmausen. Selbst während ich predige, schmause ich; ich schmause mehr als ihr alle (D, S. 15).

Mindestens dreissig Minuten pro Tag müssen wir uns ange­wöhnen, den Verstand nicht zu sehr zu gebrauchen, sondern den Geist, indem wir einfach beten-lesen. Das ist ein fester Grundsatz. Kann man noch bei Gesundheit bleiben, wenn man nicht isst? (R, S. 3).

Ethik

Eine auf Sinneseindrücke beruhende Ethik ist die natürliche Folge einer Theologie der Sinne. Lees Ethik gründet auf der sin


 

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nesbezogenen Erfahrung Gottes statt auf der Schrift. Ethik hat nichts mit Gehorsam, Glauben, Fruchtbarkeit, oder sittlichem Verhalten zu tun. Sie drückt einfach geistliche Essenz, Besitz von göttlichem Leben aus.

Heiligkeit ist nicht eine Sache der Taten, sondern des We­sens, denn Heiligkeit ist Gottes Wesen. Wichtig ist nicht, was wir tun, sondern inwieweit wir mit Gott vermengt worden sind (S, S. 208).

Laut Lee kann ein Gläubiger vorbildlich sein im Benehmen, fromm, eifrig im Dienst, reich an Gaben und Kraft und trotz­dem ein ungeistliches, unethisches Leben führen.

Es gibt kein Gesetz, keine Lehre, keine Verordnungen — nur Jesus. Und nicht einen Jesus der Lehre, sondern einen Jesus, der so lebendig, so gegenwärtig, so nahe ist... Gehe zu Jesus und frage Ihn. Du wirst sehen, was Dein lebendiger Jesus Dir sagen wird (D, S. 63-64).

Lee schafft einen Zwiespalt zwischen Gehorsam gegenüber der Bibel und Feingefühl gegenüber dem Geist Christi. Beide können nicht gleichzeitig bestehen. Sie schliessen sich nach sei­ner Ansicht gegenseitig aus.

Geisterfüllte Gläubige sollen sich an ihren eigenen Geist wen­den — «auf Jesus hören» — um den Eingebungen zu folgen, die dort gegeben werden. Gefühle, Eingebungen und spontane Eindrücke sind vertrauenswürdig, während Worte oder Zeichen (d. h. die Bibel) verdächtig sind. Gläubige werden vor Schaden verschont, wenn sie schicksalsschwere Ereignisse «spüren»; dass sie ihnen ausweichen oder richtig begegnen können. Auf keinen Fall sollen die Richtlinien der Schrift befragt werden.

Damit sind die ethischen Massstäbe der Schrift weder mit Gott im Einklang noch im Widerspruch. Alles wirklich Ethische ist das Leben Gottes, das sich im Geist-Geist Komplex manife­stiert. Wenn Sünde und Heiligkeit von biblischen Kriterien ge­trennt werden, dann ist es möglich, «Gutes» zu tun und zu sün­digen, und «Böses» zu tun, ohne zu sündigen. Lees Abhandlun­gen über Ethik sind deutlich von «moralischem Zwergwuchs» gekennzeichnet. Moralische Zwerge sind Gläubige, deren Ver­haltensmassstäbe weit unter den Sittenkodex des Gesetzes fal­len, wobei sie sich nicht im geringsten dieser Diskrepanz bewusst sind. Nach ihrer Tabelle ist Sünde nur dann Sünde, wenn der Geist sie überführt und sie dieser «Leitung» nicht gehorchen. Schlussendlich ist der Gläubige nicht verpflichtet, sich an irgend einen sittlichen Standard zu halten, der ausserhalb seines Ge­spürs für die Leitung des Geistes in seinem Geist liegt. Lees Be-

Schreibung eines Neubekehrten, der eine schlechte Gewohnheit hat, zeigt diesen «moralischen Zwergwuchs».

Egal, welche Lehre oder Botschaft wir weitergeben; wenn die Leute nur in den dreieinigen Gott versetzt werden, ist der Zweck erfüllt (D, S. 89).

Biblisch ist, dass Gott vollkommene Heiligkeit besitzt, weil Er in sich Selbst genügt, nicht weil Er einem äusseren, höheren Ge­setz gehorcht. Lee argumentiert, dass auch Christen, weil sie göttlich sind, nicht an ein äusseres, moralisches Gesetz gebun­den sein sollen. Vielmehr sollen gespürte oder gefühlte Ein­drücke ihre Handlungen bestimmen.

Ekklesiologie

Während die Vermengung von Gottheit und Menschheit das Crux von Lees Theologie der Sinne bildet, trägt auch seine Leh­re über die Gemeinde monumentales Gewicht. Als die einzigen wahren Christen halten sich die Ortsgemeindemitglieder auch für die einzige wahre Gemeinde. Lee belegt seinen Anspruch, die erste wahre Gemeinde des zwanzigsten Jahrhunderts ge­gründet zu haben, durch Auslegung alttestamentlicher Prophe-tie und neutestamentlicher Berichterstattung. Lee widmet sein Buch Christ and t he Church Revealed and Typified in t he Psalms (Christus und die Gemeinde in den Psalmen geoffenbart und bildhaft dargestellt) der Beweisführung, dass die Ortsge­meinde, und nicht das Christentum als solches, prophezeit wird. Lee argumentiert, Matthäus 18, 15-20 beziehe sich auf die Ortsgemeinde, sowie alle Briefe von Paulus, die an Städte adressiert sind.

In allen seinen Schriften schmückt Lee die Ortsgemeinde mit Bezeichnungen wie Wohnstätte Gottes, Gottes Schönheit, der Ort des göttlichen Segens, und sogar der Darreicher wahren Heils.

Des weiteren kommt das Heil des Volkes Gottes von den Ortsgemeinden. Psalm 53,6: «O, dass aus Zion die Rettungen Israels da wären!» (C, S. 95).

Gleichzeitig spricht Lee verächtlich von der Christenheit, in­dem er mit abschätzigen Attributen wie verführt, armselig, ge­fallen, verloren, irregeführt, erbärmlich und heidnisch alle be­zeichnet, die Christen sind, aber nicht zur Ortsgemeinde gehö­ren. Eine extreme Aussage in dieser Richtung ist Lees Behaup­tung: «Satan lässt zu, dass Menschen gerettet werden, wenn sie nur nicht auferbaut werden» (T, S. 10). (Auferbauen bezieht sich auf die Bildung der wahren Gemeinde am Ort durch die Mitglieder der Ortsgemeinde.)


 

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Die von Lee betreute Ortsgemeinde glaubt, dass sie der alleini­ge Brennpunkt des vollen Wirkens Gottes sei. Sie ist das Werk­zeug, welches das Licht der höheren geistlichen Wirklichkeit ausstrahlt, um die Welt zu retten und wiederherzustellen, be­sonders die Christenheit, deren Aufsplitterung in Denominatio­nen sündig ist. Lee glaubt offensichtlich unerschütterlich an sei­ne Behauptung, dass Gott beinahe zwanzig Jahrhunderte lang wartete, bis eine Gruppe von Gläubigen wie die Ortsgemeinde auftauchen würde, durch die Er sich Selbst offenbaren könne. Das erklärt das messianische Selbstbewusstsein der Ortsgemein­de.

Die Natur der Gemeinde

Das Wesen der Gemeinde ist Göttlichkeit. Sie ist der Leib Christi; sie ist Christus; sie ist die neue Gestalt der Gottheit. Egal welche Lehre oder Botschaft wir weitergeben, wenn die Leute nur in den dreieinigen Gott versetzt werden, ist der Zweck erfüllt (D, S. 89).

Diese geistlich-göttliche Gemeinde erfährt die Segnungen Gottes primär, wenn sie zusammenkommt, um den gemein­schaftlichen Leib geistlicher Christen zu bilden. Individualisten, die nach Wachstum in der Heiligung durch ein persönliches Le­ben der Hingabe trachten, kommen selten zu tiefen, geistlichen Erfahrungen. Christen, deren Aufmerksamkeit der Bibel und ihren Lehren gilt, werden Gott nicht «hören». Die tiefste, voll­ste Gotteserfahrung geschieht, wenn die Ortsgemeinde zusam­menkommt, um erbaut und genährt zu werden.

Aber es ist für den einzelnen unmöglich, Gott zu verherrli­chen oder Christus völlig zum Ausdruck zu bringen. Er muss zu­sammen mit ändern Christen erbaut werden. Denken wir an uns selbst. Alle unsere Probleme haben eine Ursache: Wir sind zu unabhängig und zu individualistisch; wir sind von den ändern abgetrennt und isoliert. Darum sind wir voller Versagen und Schwächen.

Alles andere — die ganze Schöpfung, die Himmel, die Menschheit und selbst die Dreieinigkeit — existiert für das Zu­sammenkommen des geistlich-göttlichen Leibes, der Ortsge­meinde. Die Erfüllung und der Ausdruck aller Dinge ist die Ortsgemeinde.43

Gemeindeleitung

Die wahre Gemeinde hat eine rechte Leitung, sagt Lee. Nur ist sie in der Geschichte kaum zum Zug gekommen. Nur die Ge-

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meinden des apostolischen Zeitalters sind biblisch. In der Ge­samtlehre Lees über Gemeindeleben erscheint die Ortsgemeinde am gewichtigsten von allen.

Wenn man Lee liest, könnte man oft meinen, Gemeindelei­tung sei unwichtig, da er durchwegs Formen und Organisatio­nen kritisiert und stattdessen «spontanes», organisches Wachs­tum vorschlägt. In der Praxis allerdings stellt er eine autoritati­ve Ältestenschaft auf, die sich aus «geistlich Fortgeschrittenen» zusammensetzt. Sie verfügen über uneingeschränkte Autorität über die gewöhnlichen Gemeindeglieder.

Gegenüber solchen, die den Dienst des Heiligen Geistes ha­ben, sollten wir sehr vorsichtig sein! Du magst die Leute auf der Strasse kritisieren wie Du willst, aber du solltest solche, die den Dienst des Geistes haben, nicht frei kritisieren, noch mit ihnen Streitgespräche führen... Denn sobald Du das tust, ist es aus mit ihrem Dienst an Dir (N, S. 215).

Solche autoritative Leiterschaft bewirkt grossen Machteinfluss im Leben des Gemeindegliedes und führt zu völliger Abhängig­keit von der Zustimmung des Leiters sowohl in persönlichen Angelegenheiten (Heim, Berufung und Ähnliches) als auch in Gemeindebelangen. Wer mit dem Leiter nicht einverstanden ist, gerät in eine «seelische» Notlage, abseits des geistlichen Flusses des Gemeindelebens. Verständlicherweise zieht man Unterord­nung mit ihrer Sicherheit und Zustimmung der Ausübung per­sönlicher Urteile und eigener Entscheidung vor.

Örtlichkeit

Nicht nur fortgeschrittene Persönlichkeiten haben Autorität, sondern das haben auch Orte. Eigentlich hat die Ortsgemeinde ihren Namen von der Lehre vom örtlichen Grund, welche be­sagt, dass in jeder Stadt nur eine Gemeinde sein darf. Nach Lees Auslegung finden wir im Neuen Testament keine einzige Ge­meinde, deren Befugnisse sich nicht über die ganze Stadt er­streckten. Für Lee ist das nicht historisches Gewordensein, son­dern göttlicher Grundsatz. Folglich wird die Ortsgemeinde nach ihrer Stadt benannt: «Die Gemeinde in Seattle», «die Gemeinde in Anaheim» usw. Nur wenn sich die Gemeinde an den Grund­satz «eine Stadt, eine Gemeinde» hält, kann sie geeint und ge­sund sein.44

Versuch nicht neutral zu sein. Versuche nicht, die Denomina­tionen mit der Ortsgemeinde zu versöhnen. Das kannst Du nie. Kannst Du Schwarz mit Weiss versöhnen? Ja, aber dann hast Du grau; es wird weder schwarz noch weiss sein (O, S. 92).

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A usschliesslichkeit

Des weiteren lehrt Lee, dass nur solche, die «im Geist, auf dem Grund» sind, die wahre Gemeinde darstellen. Das heisst, dass die Gemeinde exklusiv ist, Ausschliesslichkeitscharakter hat. Sie schliesst z. B. «Religion» aus. Christus war gegen die Religion seiner Tage, und Witness Lee spricht sich gegen die Re­ligion unserer Tage aus: das Christentum, welches nichts als ei­ne Religion von Formen, Organisationen und Worten ohne Le­ben ist.

Was heisst es, religiös zu sein ? Religiös sein heisst, ganz ein­fach gesund, biblisch und fundamentalistisch zu sein, ohne die Gegenwart Christi zu kennen. Wenn wir seine Gegenwart nicht haben, können wir noch so biblisch sein; wir sind dann einfach religiös (D, S. 152).

Wer die Ortsgemeinde kritisiert, wird oft ermahnt, den Rat Gamaliels zu beachten: «Stehet ab von diesen Menschen und lasset sie, damit ihr nicht gar als solche erfunden werdet, die wi­der Gott streiten.»45 Die Bewegung gründet auf der Annahme, dass die Ortsgemeinde zum heutigen Christentum im gleichen Verhältnis stehe, wie das Frühchristentum zum Judaismus, nämlich, dass sie das Christentum abgelöst habe. Diese Auffas­sung wird in den Ortsgemeinden nicht nur akzeptiert, sondern freimütig proklamiert. Öffentliche Lehre darüber ist ein wenig verhalten gewesen; aber Lee hat doch in mehreren Schriften ge­äussert, dass die heutigen Christen geistlich den Heiden im Neu­en Testament entsprechen.

Anhand von Epheser 4, 17-18 versucht Lee zu beweisen, dass seine Bewegung dem «Christentum» überlegen ist; in ändern Fällen tut er es in eigener Autorität:

Wir legen einfach die Religion, das Christentum, ab. Einst musste die Gemeinde das Judentum ablegen. Heute müssen wir das Christentum ablegen (O, S. 133).

Die lebendige Gemeinde schliesst auch Schismatiker aus, d. h. solche, die gegen die Gemeindeeinheit sind. Man ist nicht über­rascht zu erfahren, dass die Schismatiker «die Religiösen» sind.

Alle Christen, die nicht in der Ortsgemeinde sind, befinden sich in der Gefangenschaft, in der Wüste, in Babylon und fin­den nicht viel Beachtung seitens des Herrn.47 Der heutige Über­rest kann nur zur Ortsgemeinde fliehen.48 In Lees Augen sind die Totengebeine in Hesekiel 37 ein «getreues Abbild der gegen­wärtigen Lage des Christentums» (S, S. 30). Nur die Toten blei­ben in der Christenheit; alle lebendiggemachten Christen verlas­sen die Denominationen, um in die Ortsgemeinde zu kommen.

Dafür verfolgen die Toten die Lebendigen. Diese Totengebeine können sogar wahre Christen sein, Glieder am Leib Christi, aber nur die Lebendiggemachten in der Ortsgemeinde haben die Zusicherung, die Braut zu sein.

Gottes Werk zur Aussonderung Seiner Braut geschieht heute in der Ortsgemeinde. Die Ortsgemeinde ist die letzte Stufe die­ses Werks der Aussonderung zur Bereitung der Braut (D, S. 174).

Eschatologie: Die letzten Tage

In der letzten Zeit zwischen den beiden Testamenten zwi­schen Maleachi und Matthäus (ca. 200 - 150 v. Chr.) entstand eine quasi-politische Macht im Schatten der römischen Oberho­heit. Diese Macht wurde zum mächtigen religiösen Block, den Jesus in Jerusalem antraf: Die Koalition der Sadduzäer und Pharisäer. Der religiöse Eifer des Sadduzäer/Pharisäer Blocks mündete in politisch/theokratische Belange aus.

Israel, Gottes erwähltes Volk, war wiederholt von Philistern, Assyrern, Ägyptern und mesopotamischen Mächten beherrscht worden. Unter Gottes souveräner Regierung litt Israel die Stra­fe politischer Knechtung. Sobald aber die zwölf Stämme zur Gerechtigkeit wiederhergestellt würden, würde Gott zur Auf­richtung politischer Freiheit und wahrer Religion den Messias senden.

Um in ihrer tragischen Geschichte eine Wende herbeizubrin­gen, führte die Koalition der Sadduzäer/Pharisäer strenge, au­sserbiblische Verordnungen ein. Sie schufen einen Zaun um das Gesetz. Gehorsam an neue Gesetze, die ausserhalb der göttli­chen Forderungen nach Gerechtigkeit und Heiligkeit lagen, sollten eine baldige Ankunft des Messias bewirken. Israel würde endlich rein und Seiner Ankunft würdig sein.

Gleichermassen glauben Witness Lee und die Ortsgemeinde, die Wiederkunft des Herrn hänge von ihrer geistlichen Leistung ab. Die Ortsgemeinde hat den Eindruck, Jesus Christus werde zu Lebzeiten Witness Lees zurückkehren, und die Ortsgemeinde sei eigentlich dafür verantwortlich. Die Ortsgemeinde glaubt, sie könne das Kommen des Herrn durch eine vollkommene Hei­ligung beschleunigen. Das geschieht, indem sie «auferbaut wird» zu grossartiger Gemeinschaft. Vermehrte und vollendete Heiligung verbunden mit «Auferbauung» ist die festgelegte Ordnung, durch welche der Herr die verlorene Welt und das verlorene Christentum wiederherstellt.

«Die Wiederherstellung des Herrn» ist sein Wiedergewinnen


 

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der Herrschaft über die Erde. In der gegenwärtigen Zeit ist es die Gemeinde, die Gottes Agentin auf der Erde ist. Es ist die Gemeinde, die mit dem Feind Gottes abrechnet und den Satan hinauswirft: «Die Gemeinde führt das Reich herbei» (M, S. 25). Gottes Gemeinde heute ist die Ortsgemeinde. Ohne sie kann Gott die Erde nicht wiederherstellen und kann Christus nicht zurückkommen.49

Eines Tages wird das ganze Universum durch die Ortsgemein­den wissen, dass Gott der Höchste über die ganze Erde ist (C, S. 144).

Genauer gesagt hängt die Wiederherstellung des Herrn aus­schliesslich von den «Überwindern» ab; das sind die wenigen Christen, die wirklich geistlich sind und die wahre Gemeinde bilden, die Ortsgemeinde, welche heimzuholen Christus zurück­kommt. Obwohl Lee alle Ortsgemeindemitglieder dazu ermu­tigt, hart zu arbeiten, um die Parusie zu verdienen, hegt er doch insgeheim die Überzeugung, dass die wahren Gläubigen, die für die Wiederkunft Christi verantwortlich sind, die auserwählten Ältesten der Ortsgemeinde sind. Im grossen gesehen jedoch sind alle Ortsgemeindemitglieder an der Wiederherstellung beteiligt. Das geschieht durch die Überwinder, vermöge ihrer Fähigkeit, den Geist für die Belange der geistlichen Gemeinde «freizuma­chen». Nur diese Christen (die Ortsgemeinde) sind die zuberei­tete Braut Christi.

Wenn wir darauf warten müssen, bis der Herr alle Christen erweckt hat, weiss ich nicht, wie lange das dauern würde. Aber es ist für den Herrn leicht, eine kleine Anzahl Suchender hier und dort auf der ganzen Erde zu erwecken. Der Herr wird eine kleine Anzahl erwecken, welche als Überwinder mit Ihm voran­gehen werden. Diese werden die Stellvertreter seines Leibes sein, und ihr Stand wird genügen, um den Herrn zurückzubrin­gen (O, S. 186).

Christen, die nicht zur Ortsgemeinde gehören, werden in den Tagen der Endzeit eine unbedeutende Rolle spielen.

Es werden viele Christen ihr Erstgeburtsrecht verlieren. Sie sind zum Leben geboren, sind also Kinder Gottes, aber sie brau­chen noch Wachstum im Leben, Reife im Leben, damit sie zu Erben Gottes werden. Es hängt von der Umgestaltung ab. Durch die Umgestaltung unserer Seele werden wir zu echtem Wachstum kommen, damit wir das Erstgeburtsrecht geniessen können. Das bringt vollen Genuss dessen, was Gott ist, und was Er für uns geplant und vollbracht hat (T, S. 8).

In Lees Darstellung des Tausendjährigen Reiches sind Erben

Gottes nur solche, die Mitgliedschaft in der Ortsgemeinde er­langt haben. Sie werden Gottes vollsten Segen in den Ereignis­sen, die der Herabkunft des Neuen Jerusalems direkt vorausge­hen, empfangen: die Entrückung vor dem Millennium und die Teilnahme am Hochzeitsmahl des Lammes als Braut Christi. Nur diese Schar wird im Millennium mit dem himmlischen Christus regieren.

Nicht-Ortsgemeindechristen werden das Zweite Kommen des Herrn nicht erkennen — gleich wie die religiösen Juden Sein er­stes Kommen nicht erkannten.50 Diese Christen werden erst nach der Trübsal entrückt, gehören nicht zur Braut und neh­men deshalb nicht teil am Hochzeitsmahl. Sie bleiben während des Millenniums mit Israel auf der Erde unter der Herrschaft der Überwinder. Gott wird diese Christen zurechtweisen.51

Vielleicht fragst Du: «Soll das heissen, die Erlösung in Chri­stus genügt nicht? Brauchen wir zur Erlösung noch etwas dazu?» Eines Tages sind wir alle dort, und dann wird alles klar sein. Aber das ist für Dich vielleicht zu spät. Nach der Erlösung brauchen wir das Werk der Umgestaltung (Rom. 12,2) und Auferbauung (Eph. 2,22; 1. Petr. 2,5) (S, S. 189).

Es scheint, dass in einem gewissen Sinn Gott immer Gott und nicht ein vermengter Gott-Mensch sein wird. Die Erfüllung aller Dinge jedoch, die Dreieinigkeit inbegriffen, ist die Geimeinde. Sie ist weder menschlich, noch ganz göttlich.

Dann werden wir mit Gott völlig vermengt sein, und diese vollständige Vermengung ist Gottes Wohnstätte... Das Neue Je­rusalem ist die totale Vermengung Gottes mit dem Menschen.52

Dieses halbgöttliche Neue Jerusalem macht Gott irgendwie grösser. Schliesslich wird Er um die Millionen ehemaliger Men­schen, mit denen Er jetzt vermengt ist, erweitert.53

Schlussendlich erhöht Er uns auf die herrliche Stufe der völli­gen Gleichheit mit Gott! Halleluja! (N, S. 112).

IV. Auswertung

Wie sollen wir auf diese Lehren von Witness Lee reagieren? Wie Lehre und Praxis seiner Bewegung beurteilen? Viele Fragestel­ler haben mit Verwirrung oder gar Feindseligkeit auf die Aus-schliesslichkeitsansprüche der Ortsgemeinde ändern Gemeinden gegenüber reagiert. Eine solche Reaktion ist verständlich, da solche Ansprüche die Ausgeschlossenen herausfordert, sich selbst im Lichte solch elitärer Lehren zu überprüfen. Wenn noch solche Lehren, wie im Falle Lees, zweideutig und wider­sprüchlich sind, dann ist Exklusivität doppelt ärgerlich. Die sektiererische Haltung der Ortsgemeinde dem Gemeindeleben gegenüber betrübt uns. Zudem halten wir es für deutlich erwie­sen, dass sich ihre Lehren im Widerspruch mit den Grundsätzen christlichen Glaubens befinden!

Die Zweideutigkeit in Lees Schrifttum hat der Literatur der Ortsgemeinde eine Eigenart verliehen, die den Laien sowohl verwirrt als auch entwaffnet. Christen freuen sich über den Ge­brauch der Bibel. Folglich haben sie auf Lees Werk tolerant rea­giert, und fragliche oder unklare Abschnitte, die nicht schreiend verkehrt sind, unbeachtet gelassen. Neuliche Ereignisse, bei Auftritten in christlichen Gemeinschaften, haben jedoch ge­zeigt, wie sehr die Ortsgemeinde Spaltungen fördert, weshalb eine Arbeit wie diese dringend nötig wurde.

Wenn man sich durch die Bände Lees (zehn Bücher und zahl­lose Büchlein und Traktate) hindurchpflügt, beginnt das Ge­schwafel der fragwürdigsten Gedankengänge und Zweideutig­keiten sich immer deutlicher als ein lehrmässiges Abirren her­auszustellen. Die wenigsten Nicht-Ortsgemeindechristen haben die Zeit und die Energie, sich in dieses umfangreiche Schrifttum zu vertiefen. Oberflächliche Bekanntschaft mit seinen Lehren weckt den Eindruck, er vertrete mit Eifer biblische Wahrheiten. Nur durch intensives Studium kommen die systematischen Irr­tümer ans Licht. Lees überspannte Darlegungen haben eine Maschinerie in Gang gesetzt, die er durch sein Charisma und seine Macht weiter antreibt. Er hat seine Hörer durch beissende Redewendungen, extreme Aussagen und heftige Polemik zu fangen verstanden. Die Sinnes-Theologie, die er von seinen per­sönlichen Erfahrungen hergeleitet hat, ist in der Ortsgemeinde zur Norm geworden.

Ortsgemeindeglieder stellen jedoch Lees Theatralik oder überspannte Darstellungsweise nie in Frage. Maivhat Leiter der Ortsgemeinde gebeten, Erklärungen zu Lees Schriften zu veröf-

fentlichen, in denen die Unterschiede zwischen Übertreibung und festgelegter Wahrheit hinter solch extremer Sprache und extremer Begriffsdehnung dargelegt werden. Die Leiter weiger-| ten sich, das zu tun. Damit bleibt dem Beobachter ein Send­schreiben, das einem zweischneidigen Schwert mit einer ortho­doxen und einer häretischen Klinge gleicht, dessen Scheide aber biblische Sprache ist.

Wir haben uns in dieser Untersuchung zugegebenermassen auf Lees irrige Lehren konzentriert, und zwar aus folgenden Gründen: 1. Sie weichen von Hauptanliegen der Schrift ab; 2. Sie werden in allen Schriften von Lee immer wieder bestätigt, stellen also keine Ausrutscher des Schreibers dar; 3. Sie verfüh­ren zahlreiche Ortsgemeindeleute, die sie eifrig befolgen; 4. Am Rande beeinflussen sie andere christliche Gruppierungen, in­dem sie als Sprungbrett zu weiteren sektenhaften Gruppen die­nen — wir denken etwa an Gene Edwards und George Geftakis von der Glory Barn ( = Herrlichkeitsscheune).

In The God-Men wurden mehrere grundlegende Fragen ge­stellt, deren Beantwortung mit der Person von Witness Lee selbst zusammenhängt.

Eine solche Frage betrifft kontextbezogene Hermeneutik (Grundsätze der Schriftauslegung), ein Thema, an dem zur Zeit verschiedene Missionsgesellschaften arbeiten. Bei der kontext­bezogenen Bibelauslegung geht es um kulturbedingte Interpre­tation der grundlegenden christlichen Lehren in Evangelisation und Jüngerschaft. Rufen gewisse biblische Themen in verschie­denen Kulturen verschiedenartige Reaktionen hervor? Und falls ja, inwieweit besitzen diese verschiedenen Reaktionen gleiche Gültigkeit? Gewisse Kulturen kennen beispielsweise in ihrer Sprache keine Zukunftsformen. Verunmöglicht das dem Bibel­übersetzer oder Evangelisten, dem kommenden Reich Christi das neutestamentliche Gewicht zu verleihen, oder kann er eine genaue Übersetzung dieser Lehre in einer Weise erarbeiten, dass der Eingeborene sie versteht, auch wenn diese Übersetzung Wendungen gebraucht, die westlichen Sprachen fremd sind? Witness Lee ist Asiate, der fast sechzig war, als er in den Westen kam. Wir vermuten, dass bestimmte Grundzüge seiner Lehre (z. B. die Vergottung der Menschheit, Selbstversenkung und Meditation) orientalisch gefärbt und dem biblischen Christen­tum nicht angepasst worden sind. Viele Besonderheiten im so­zialen Verhaltensmuster der Ortsgemeinde haben ihre Wurzeln in Lees orientalischem Erbe. (Rückfall in den Buddhismus?!) Eine zweite Frage betrifft den Charakter, die Methoden und die

Absichten seiner Veröffentlichungen. Die meisten Bücher Lees sind Vorträgen entnommen, die er bei Ortsgemeindeschulungen hielt. In geschriebener, überarbeiteter Form nehmen sie den kombinierten Charakter von Erbauungsliteratur, biblischem Kommentar, Predigtsammlung und Glaubensbekenntnis an. Es sind keine theologischen Abhandlungen oder Essays. Wir ha­ben Lees Arbeiten systematisiert, um sie überschaubar zu ma­chen. Wir hielten es deshalb für so wichtig, weil die Ortsgemein­de sie als verbindliches Glaubensbekenntnis betrachtet. Erbau­ungsliteratur ist von Christen veröffentlicht worden, deren Illu­strationen zuweilen den theologischen Auffassungen des Schrei­bers selbst widersprechen. Solche Widersprüchlichkeiten kom­men häufiger vor, als man annehmen möchte; u. a. auch bei Verfechtern des Perfektionismus.

Drittens haben wir uns mit Lees Neigung zu schreiben und mit seinen Lehrmethoden auseinandergesetzt. Sein Hang zu Neuigkeiten in der Auslegung biblischer Vorstellungen ent­springt wahrscheinlich einem alles durchdringenden Verlangen, sich vom Christentum im allgemeinen und von traditionellen Auffassungen und Redensarten im besonderen abzuheben. Lees theologische Methode der Trennung von Inhalt und Be­deutung ähnlicher, wenn nicht identischer, biblischer Konzepte, nur weil die Wortwahl unterschiedlich ist, hat zu eindeutigen Übertreibungen biblischer Unterscheidungen geführt (z. B. Geist - Seele).

Eine oder eine Kombination dieser drei Grundfragen kann für das spezifische Problem der Ortsgemeinde, die offensichtliche innere Spannung zwischen Orthodoxie und Irrlehre, verant­wortlich sein. Dieses Problem aber bewirkt die katastrophalen Beziehungen der Ortsgemeinde mit umliegenden religiösen und weltlichen Gemeinschaften. Damit haben wir unser direktes Anliegen ausgesprochen, wobei wir uns im klaren sind, dass Witness Lee mit unserer Systematisierung seiner Schriften nicht einverstanden ist. Es stellt aber eine sorgfältige Neuordung sei­ner mündlich gegebenen Anweisungen in überschaubarer, syste­matischer Form dar. Wir sind überzeugt, dass Lee selbst, würde er seine bis jetzt planlos herausgegebenen Lehren logisch geord­net darstellen, die Dinge im wesentlichen gleich wie wir formu­lieren würde.

Ich gebe ein Beispiel: Eine Lehre, welche die evangelikale Christenheit charakterisiert, ist die Auffassung, dass der Geist Gottes in den Gläubigen wohnt. Lee jedoch greift beständig die Christen an, sie seien «ungeistlich geführt». Solches Giftspeien

Itnuss natürlich die Beziehungen zur übrigen Christenheit verder-i'ben. Die Ortsgemeindebegeisterten haben sich die Evangelika-f'len zum Proselyten machen ausgesucht, was natürlich Spaltun­gen noch mehr fördert. Nicht-Ortsgemeinde-Christen müssen folgern, dass alle Formen des Christentums — evangelikale oder nicht — unrettbar degeneriert seien und dass Gott sie verlassen habe, um anderswo (nämlich in der Ortsgemeinde) und auf ganz neue Weise zu wirken.

Es gibt nur zwei Dinge auf der Erde: die heutige Generation und das Zeugnis Jesu... Was ist das Zeugnis Jesu? Es ist noch immer die Ortsgemeinde.'

Wir glauben, dass Lees Anstrengungen, die Ortsgemeinde von der Christenheit zu unterscheiden, an sich richtig und not­wendig ist; nur versteht er die Dinge falsch. Genaue Untersu­chungen zeigen, dass seine Lehren wesenhaft von biblischer Lehre abweichen.

Lees Schriften lassen verstehen, dass wir uns in einem neuen Heilsabschnitt befinden, und dass nur seine Ortsgemeinde Got­tes neue Wege mit der Menschheit erfasst hat.

Als eine Art Mittelmann ist Lee der Bote dieses Neuen Zeital­ters.

Die neue Art des Zusammenkommens geschieht im Geist. Es geschieht nicht nach den Lehren der Bibel (natürlich nicht im Widerspruch zu den klaren Worten der Schrift), sondern völlig nach dem Geist. Sage nicht, wir müssen aufgrund der Schrift dies oder jenes tun. In gewisser Beziehung stimme ich dir bei, aber ich sage dir, es wird dich töten. Das geschriebene Wort tö­tet (K, S. 253).

Das theologische Problem

Witness Lee hat eine Theologie der Sinne geschaffen, deren Kernlehren einer inneren subjektiven Gotteserfahrung entsprin­gen. Das Hauptanliegen gilt der inneren Erfahrung von Impul­sen, Eindrücken und Gefühlen von und über Gott. Die Schrift aber lehrt, dass Gott ausserhalb von uns ist. Sein Wort ist Wahr­heit und besitzt unabhängig von der menschlichen Wertschät­zung seinen Wert. Es bietet eine Basis, von der aus man persön­liche und zwischenmenschliche Probleme anpacken kann. Die Kurzsichtigkeit der Theologie der Sinne besteht in ihrer Unfä­higkeit, Probleme ausserhalb des eigenen Erfahrungsbereichs anzugehen. Die Ortsgemeinde vermag kein soziales Bewusstsein zu vermitteln, ja rät sogar Mitgliedern ausdrücklich davon ab, solches zu entwickeln.

Die Schrift enthält allgemeine und spezifische Grundsätze, die unser Reden und Handeln auf persönlicher und gemein­schaftlicher Ebene bestimmen. Lee leugnet diese Wichtigkeit der Schrift und betont die persönliche Offenbarung als Wegwei­ser und Ratgeber in den verschiedensten Problemen. Die Offen­barung des göttlichen Willens im Bereich der Zeit betrifft aus­schliesslich individuelle Angelegenheiten, wodurch ein christli­ches Gemeinverständnis von sozialer Gerechtigkeit, bürgerli­cher Freiheit usw. hinfällig wird. Lees Machtwort erklärt jeden Zugang zu den Informationsmedien (Zeitungen, Fernsehen, und andere) zum Tabu.

Im Gegensatz zur Theologie der Sinne wendet sich biblische Theologie in dreifacher Weise an Probleme gemeinschaftlicher Bedeutung. Die Frage: «Was sagt die Bibel über X ?» wird in drei Kategorien unterteilt. Zunächst wird der allgemeine Cha­rakter von X durch ein Studieren verschiedener dazugehöriger Bibelstellen festgelegt. Als Zweites sucht man Aussagen, die den Herzenszustand oder die subjektive Beziehung zum Thema X behandeln. Drittens sucht die biblische Theologie nach Aus­sagen, die sich auf die gesellschaftlichen Implikationen von Thema X beziehen. Lees Theologie der Sinne hingegen ist in den Bahnen von Punkt zwei festgefahren — subjektive Ein­schätzung und Beziehung zum Thema — ohne auf die zwei än­dern Aspekte einzugehen. Im Ansatz ist sie christlich, aber in Reichweite und Tiefe mangelhaft und verstümmelt.

Der Art Lees und seiner Verteidiger, eine Lehre als mysteriös und unerklärbar hinzustellen, nur um sie dann auf unorthodoxe Weise doch zu erklären, begegnen wir auch in seiner Lehre über Gott. Wir sind einverstanden, dass die Dreieinigkeit ein grosses Geheimnis ist, das nur Gott selbst völlig versteht. Wir haben aber seine Offenbarung in der Bibel, so dass wir einige Wahrhei­ten über ihr Wesen verstehen können. Der Grossteil der christli­chen Ausleger in allen Jahrhunderten hat an der Lehre festge­halten, dass es einen Gott in drei verschiedenen Personen gibt: den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist. Nun aber ist Wit-ness Lee mit der trinitarischen Lehre nicht einverstanden. An mehreren Stellen kommen Vorstellungen, die sowohl trinitari-scher als auch modalistischer Natur sind, zum Ausdruck. Seine Versuche, eine ausgewogene, biblisch präzise Lehre darzulegen, sind fehlgeschlagen.

Einiges in seinen Lehren scheint eher harmlos, höchstens ver­wirrend. So sagt er z. B. in seinem Kommentar zu 2. Mose 3:

Dieser Abschnitt offenbart, dass Gott als der Gott der Erzvä-

ter dreifältig ist. Beim Gott Abrahams steht der Vater im Vor­dergrund, beim Gott Isaaks der Sohn und beim Gott Jakobs der Geist (F, S. 11).

Keinerlei Erklärung zu solch bildhafter Spekulation wird ge­geben. Wir zucken mit den Schultern und fahren weiter. Wenn Herr Lee aber beginnt, das Johannesevangelium als Quelle mo­dalistischer Lehre zu verwenden, wird die Sache ernst.

Nach Tod und Auferstehung wurde Er zum Geist, der den Jüngern eingehaucht wurde (20,20)...

Im Himmel wohin der Mensch nicht sehen kann, ist Gott der Vater; wenn Er unter Menschen zum Ausdruck gebracht wird, ist Er der Sohn; und wenn Er in den Menschen einzieht, ist Er der Geist (F, S. 8-9).

Obwohl die Schrift von einem Innewohnen durch Vater, Sohn und den Heiligen Geist als drei verschiedenen Personen spricht, bekräftigen die Stellen, die Lee anführt, seine Auffas­sung ganz einfach nicht. Jesus blieb sich selbst, als Er in symbo­lischer Handlung die Jünger anhauchte; Er war in leiblicher Ge­stalt unter ihnen. Er gab Seinen Geist nicht vor Seiner Verherrli­chung. In Seiner Rede in der oberen Kammer legt Er dar, wie Er Seinen Geist nach vollbrachtem Werk senden würde.2

Lees Auslegung anderer Stellen, etwa 1. Kor. 15,45 und 2. Kor. 3,17-18 ist ebenfalls zu viel für eine ausgewogene Theolo­gie. Von der Aussage in 1. Kor. 15,45, dass der letzte Adam «le­bendig machender Geist» ist, leitet Witness Lee her, Christus sei nach der Auferstehung tatsächlich in den Heiligen Geist umge­wandelt worden. Im Zusammenhang erkennen wir, dass Paulus Glauben an die Auferstehung des Leibes zu wecken sucht. In­dem er eine Analogie zwischen dem menschlichen Leib und dem Samenkorn herstellt, die beide in Schwachheit gesät, aber in neuer Kraft auf erweckt werden, vergleicht Paulus die beiden Häupter zweier Menschheiten miteinander. Adam war der Stammvater einer gefallenen Rasse, aber Jesus Christus ist das Haupt von Gottes neuer Menschheit. Wenn Adam eine lebendi­ge Seele war, wieviel mehr Leben («lebendig machender Geist») ist dann in Christus! Natürlich besteht eine Beziehung zwischen Jesus und dem Heiligen Geist, aber es ist sehr fraglich, ob Pau­lus an dieser Stelle von der Dritten Person der Gottheit spricht und nicht vielmehr vom geistlichen Charakter der Erlösung und Auferstehung Christi.3

In 2. Kor. 3,17-18 geht es um die äusserst enge Beziehung zwi­schen Christus und de God (Das Zeugnis der Kirchengeschichte zum Geheimnis des Dreieinigen Gottes) zitiert Bill Freeman von der Ortsgemeinde zur Rechtfertigung Witness Lees u. a. John Peter Langes Kom­mentar. Langes orthodoxe Auffassung jedoch warnt weise vor einem völligen Erklären wollen des Textes:

Wir finden hier eine so weitgehende Identifikation von Chri­stus und dem Heiligen Geist, dass der Herr, an den sich das Herz wendet, praktisch in keiner Hinsicht vom Heiligen Geist, den wir bei der Bekehrung empfangen, verschieden ist... Christus ist praktisch der Geist... der Heilige Geist ist sein Geist... A her sol­che praktische Identifikation von Christus und dem Geist kann sich nur auf den erhöhten Christus beziehen*

Dieses Werk des Geistes vermittelt dem Glaubenden die Er­fahrung der Wirklichkeit Christi. Man beachte, wie sorgfältig Lange von «praktischer Identifikation» und «praktisch keiner Hinsicht» spricht, und wie er von «Seinem Geist» und nicht von «Ihm» redet. Diese Verse, die praktisch den Herrn und Seinen Geist vereinen, dass «der Herr der Geist ist», betonen auch die Unterscheidung zwischen dem Herrn und dem «Geist des Herrn».5

Wiederum wollen die Ortsgemeindeapologeten zuviel beweisen, indem sie sich auf «Geheimnis» berufen. Ihre Lehre ist eine un­orthodoxe Auslegung, wobei man versucht mystisch zu erklä­ren, was dem Wesen nach unerklärbar ist.

Wir schliessen diesen theologischen Abschnitt mit einem Hin­weis auf die Unzulänglichkeiten der Sinnes-Theologie ab, wie sie besonders im Lichte von 1. Mose 3 an den Tag treten.

Es war ein komplexer Vorgang, der sich im Garten Eden voll­zog. Wir versuchen, ihn etwas vereinfacht darzustellen, ohne von der göttlichen Offenbarung abzuweichen. Satan bemäch­tigte sich Edens, indem er Eva durch Redekunst fing: «Und die Schlange sprach zu dem Weibe:'Mitnichten werdet ihr sterben! sondern Gott weiss, dass, welchen Tages ihr davon (vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen) esset, eure Augen aufge­tan werden.'» (V. 4-5).

Satan begann damit, drei Hauptwahrheiten über Gott in Fra­ge zu stellen oder zu leugnen: 1. den angedrohten Fluch des To­des; 2. die Wahrhaftigkeit Gottes; 3. die Liebe Gottes.

Als nächstes köderte er Eva mit seinen lügenhaften Verspre­chungen: Er versprach 1. Weisheit; 2. Göttlichkeit; 3. Macht. Satan stellte sich offen gegen Gottes Wahrheit und brachte Eva dazu, seiner Lüge zu glauben. Er operierte mit Evas Verständ­nis und Auffassung von Gott. Glaubte sie Gott? Nein. Unglaube zeugte Ungehorsam. Um Witness Lees Schlagwort zu gebrauchen, «Wiederherstellung» beginnt, wo der Fall einsetzte:

l mit Glauben.

Wir lesen in der Einleitung zum Johannesevangelium: «So

' viele ihn aber aufnahmen, denen gab er das Recht, Kinder Got­tes zu werden, denen, die an seinen Namen glauben» (1,12). Am Ende des Evangeliums verrät uns Johannes, warum er das Evangelium überhaupt schrieb: «...auf dass ihr glaubet, dass Je­sus der Christus ist, der Sohn Gottes, und auf dass ihr glaubend Leben habet in seinem Namen» (20,31).

Im Neuen Testament stehen Glauben, Gehorsam und Gottes­erfahrung in unauflöslicher Beziehung zueinander. Der Glaube geht den ändern zwei voraus. Unsere Beziehung zu Gott wird nicht durch gute Werke wiederhergestellt. Auch nicht durch Gehorsam, sondern durch die Gnade Gottes, und zwar mittels des Glaubens. Das Neue Testament könnte es nicht deutlicher und klarer zum Ausdruck bringen: Der Glaube ist in Bekehrung und Heiligung absolut vorrangig.

Witness Lee jedoch schmälert die im Neuen Testament be­zeugte Wichtigkeit des Glaubens, indem er ihn durch einen anthropologischen Heiligungskomplex, in welchem Gefühle und Erfahrung die Hauptrolle spielen, ersetzt. Darum ist die Bezeichnung «Theologie der Sinne» gerechtfertigt.

Wir tun gut daran, den Rat des Apostels in Kolosser 2,18 zu beherzigen: «Lasst euch um den Kampfpreis von niemandem bringen, der seinen eigenen Willen tut in Demut und Anbetung der Engel, der auf Dinge eingeht, die er (in Visionen) gesehen hat, ohne Ursache aufgeblasen von dem Sinn seines Fleisches» (Rev. Elberfelder).

Anthropologisches Problem

Das Diagramm zu Witness Lees Lehre der Menschheit ist zwar sinnreich, geht aber weit über die Offenbarung der Bibel zum Wesen des Menschen hinaus. Seine säuberliche Analyse bindet die Anhänger der Ortsgemeinde praktisch an eine gedankenlose Übernahme dieses Konzepts als den sichersten Weg zur Geistlich­keit. Das wird dadurch erreicht, dass man die Anlagen der Seele (Verstand, Wille, Gefühl) in einem nie endenden Krieg gegenü­berstellt. So mag der Verstand theoretisch dazu da sein — solange er dem Geist untergeordnet ist — wirkliche Wahrheiten zu erken­nen. Sollte man allerdings auf andere Resultate als das Ortsge­meindedogma kommen, ist man von vornherein seelisch. Dieser subjektive Standard zur Unterscheidung der Wirksam-

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m Geist. In seinem Büchlein The Testi-mony of Churchhistory Regarding the Mystery of the Triune

God (Das Zeugnis der Kirchengeschichte zum Geheimnis des Dreieinigen Gottes) zitiert Bill Freeman von der Ortsgemeinde zur Rechtfertigung Witness Lees u. a. John Peter Langes Kom­mentar. Langes orthodoxe Auffassung jedoch warnt weise vor einem völligen Erklären wollen des Textes:

Wir finden hier eine so weitgehende Identifikation von Chri­stus und dem Heiligen Geist, dass der Herr, an den sich das Herz wendet, praktisch in keiner Hinsicht vom Heiligen Geist, den wir bei der Bekehrung empfangen, verschieden ist... Christus ist praktisch der Geist... der Heilige Geist ist sein Geist... A her sol­che praktische Identifikation von Christus und dem Geist kann sich nur auf den erhöhten Christus beziehen*

Dieses Werk des Geistes vermittelt dem Glaubenden die Er­fahrung der Wirklichkeit Christi. Man beachte, wie sorgfältig Lange von «praktischer Identifikation» und «praktisch keiner Hinsicht» spricht, und wie er von «Seinem Geist» und nicht von «Ihm» redet. Diese Verse, die praktisch den Herrn und Seinen Geist vereinen, dass «der Herr der Geist ist», betonen auch die Unterscheidung zwischen dem Herrn und dem «Geist des Herrn».5

Wiederum wollen die Ortsgemeindeapologeten zuviel beweisen, indem sie sich auf «Geheimnis» berufen. Ihre Lehre ist eine un­orthodoxe Auslegung, wobei man versucht mystisch zu erklä­ren, was dem Wesen nach unerklärbar ist.

Wir schliessen diesen theologischen Abschnitt mit einem Hin­weis auf die Unzulänglichkeiten der Sinnes-Theologie ab, wie sie besonders im Lichte von 1. Mose 3 an den Tag treten.

Es war ein komplexer Vorgang, der sich im Garten Eden voll­zog. Wir versuchen, ihn etwas vereinfacht darzustellen, ohne von der göttlichen Offenbarung abzuweichen. Satan bemäch­tigte sich Edens, indem er Eva durch Redekunst fing: «Und die Schlange sprach zu dem Weibe:'Mitnichten werdet ihr sterben! sondern Gott weiss, dass, welchen Tages ihr davon (vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen) esset, eure Augen aufge­tan werden.'» (V. 4-5).

Satan begann damit, drei Hauptwahrheiten über Gott in Fra­ge zu stellen oder zu leugnen: 1. den angedrohten Fluch des To­des; 2. die Wahrhaftigkeit Gottes; 3. die Liebe Gottes.

Als nächstes köderte er Eva mit seinen lügenhaften Verspre­chungen: Er versprach 1. Weisheit; 2. Göttlichkeit; 3. Macht. Satan stellte sich offen gegen Gottes Wahrheit und brachte Eva dazu, seiner Lüge zu glauben. Er operierte mit Evas Verständ­nis und Auffassung von Gott. Glaubte sie Gott? Nein. Unglaube zeugte Ungehorsam. Um Witness Lees Schlagwort zu gebrauchen, «Wiederherstellung» beginnt, wo der Fall einsetzte:

l mit Glauben.

Wir lesen in der Einleitung zum Johannesevangelium: «So

' viele ihn aber aufnahmen, denen gab er das Recht, Kinder Got­tes zu werden, denen, die an seinen Namen glauben» (1,12). Am Ende des Evangeliums verrät uns Johannes, warum er das Evangelium überhaupt schrieb: «...auf dass ihr glaubet, dass Je­sus der Christus ist, der Sohn Gottes, und auf dass ihr glaubend Leben habet in seinem Namen» (20,31).

Im Neuen Testament stehen Glauben, Gehorsam und Gottes­erfahrung in unauflöslicher Beziehung zueinander. Der Glaube geht den ändern zwei voraus. Unsere Beziehung zu Gott wird nicht durch gute Werke wiederhergestellt. Auch nicht durch Gehorsam, sondern durch die Gnade Gottes, und zwar mittels des Glaubens. Das Neue Testament könnte es nicht deutlicher und klarer zum Ausdruck bringen: Der Glaube ist in Bekehrung und Heiligung absolut vorrangig.

Witness Lee jedoch schmälert die im Neuen Testament be­zeugte Wichtigkeit des Glaubens, indem er ihn durch einen anthropologischen Heiligungskomplex, in welchem Gefühle und Erfahrung die Hauptrolle spielen, ersetzt. Darum ist die Bezeichnung «Theologie der Sinne» gerechtfertigt.

Wir tun gut daran, den Rat des Apostels in Kolosser 2,18 zu beherzigen: «Lasst euch um den Kampfpreis von niemandem bringen, der seinen eigenen Willen tut in Demut und Anbetung der Engel, der auf Dinge eingeht, die er (in Visionen) gesehen hat, ohne Ursache aufgeblasen von dem Sinn seines Fleisches» (Rev. Elberfelder).

Anthropologisches Problem

Das Diagramm zu Witness Lees Lehre der Menschheit ist zwar sinnreich, geht aber weit über die Offenbarung der Bibel zum Wesen des Menschen hinaus. Seine säuberliche Analyse bindet die Anhänger der Ortsgemeinde praktisch an eine gedankenlose Übernahme dieses Konzepts als den sichersten Weg zur Geistlich­keit. Das wird dadurch erreicht, dass man die Anlagen der Seele (Verstand, Wille, Gefühl) in einem nie endenden Krieg gegenü­berstellt. So mag der Verstand theoretisch dazu da sein — solange er dem Geist untergeordnet ist — wirkliche Wahrheiten zu erken­nen. Sollte man allerdings auf andere Resultate als das Ortsge­meindedogma kommen, ist man von vornherein seelisch. Dieser subjektive Standard zur Unterscheidung der Wirksam- keit von Seele und Geist findet in der Bibel keine Bestätigung.

Vielmehr wird nephesch (= Seele) im Alten Testament häufig mit dem Leib oder dem Fleisch in Verbindung gebracht; und die Seele ist auch mit dem Herz oder dem Geist aufs engste verbun­den.6 Für den Hebräer war die Seele das Leben eines Menschen, ein unzertrennliches Ganzes. Von ihren einzelnen Aspekten ist in dichterischen Parallelen oft die Rede, wobei ihre Ganzheit nicht verletzt werden konnte. Gott schuf den Menschen als eine «lebendige Seele», und zwar so, dass «das Leben (die Seele) des Fleisches im Blute»7 war. Zu seiner Erhaltung als lebendiges (seelisches) Wesen war er stets von Gott abhängig. Selbst Gott «hat» (ist) eine Seele;8 d. h. Er ist eine lebendige Person, der menschliche Seelen in Seinem Bilde geschaffen hat.

Jesu Darstellung der Summe des Gesetzes erschwert des wei­teren jeden Versuch, die Bestandteile der menschlichen Natur zu zerlegen, denn wir sollen Gott von «ganzem Herzen, ganzer Seele, ganzem Verstand und von ganzer Kraft» lieben. Natür­lich kann man jedes Wort in diesem Satz unter einem besonde­ren Gesichtspunkt studieren, wie auch «Leib, Seele und Geist», aber Jesus betont hier die völlige Hingabe der ganzen Persön­lichkeit, ohne dass einer der vier Aspekte den Vorzug zu erhal­ten hätte.

Wenn die Schrift einen bestimmten Aspekt der menschlichen Persönlichkeit erwähnt, können damit auch die übrigen Berei­che eingeschlossen sein. Lukas sagt beispielsweise in Apostelge­schichte 27,37: «Wir waren aber in dem Schiffe, alle Seelen, zweihundertsechsundsiebzig.» Es ging ihm natürlich nicht um leiblose Personen. In neutestamentlicher Anthropologie verun­möglichen mehrere Stellen, in denen die Worte Seele und Geist nicht so genau fixiert sind, eine starre Unterscheidung und Klas­sifizierung. Darum haben wir Mühe, Lees Auffassung gutzuhei­ssen, der vermengte Geist-Geist verabreiche durch Mechanismen wie Intuition, Gefühle und Sinneseindrücke der Seele den Wil­len Gottes. (Zu Hebräer 4,12 siehe Anhang: schwierige Bibel­stellen)

Im Gegensatz zu Witness Lees Konzept von «Geist gegen See­le» fordert die Bibel die Gläubigen auf, Verstand und Willen in vollem Ausmass zu gebrauchen. Allerdings unter Leitung und Korrektur des Heiligen Geistes. So lädt der Herr Israel ein: «Kommt denn und lasst uns miteinander rechten» (die englische Bibel hat «reason together» = vernünftig erörtern, urteilen). Hiob wird herausgefordert: «Gürte doch wie ein Mann deine Lenden; so will ich dich fragen, und du belehre mich!» Adam braucht seinen Verstand, um den Tieren Namen zu geben; und unser vernünftiger Gottesdienst besteht darin, dass wir unseren Leib entsprechend einem von Gott erneuerten Verstand Ihm darbringen,10 wie John Stott einleuchtend feststellt:

Die Erlösung bringt eine Erneuerung des Bildes Gottes, das durch den Sündenfall ruiniert worden war. Dazu gehört auch der Verstand. Paulus konnte darum von Heiden, die Christen geworden waren, schreiben: «Ihr habt den neuen Menschen an­gezogen, der erneuert wird zur Erkenntnis nach dem Bilde des­sen, der ihn erschaffen hat» und «werdet erneuert in dem Geiste eurer Gesinnung». Er konnte noch weiter gehen. Ein «geistli­cher» Mensch, ein Mensch, der vom Heiligen Geist bewohnt und regiert wird, besitzt neue Kräfte der geistlichen Unterschei­dung. Man kann von ihm sogar sagen, dass er «den Sinn Chri­sti» hat.

Weil Paulus wusste, dass Christen einen neuen Verstand ha­ben, konnte er sich voller Zuversicht an seine Leser wenden: «Ich rede als zu Verständigen; beurteilet, was ich sage.»11

Denken, Fühlen und Wollen sollen Gott gehorsam sein, unter der Leitung des Heiligen Geistes stehen (1. Petr. 1,22).

Lees strenge Unterteilung der menschlichen Natur bringt ihn in Schwierigkeiten. Als erstes muss er spekulativ fordern, was die Bibel nicht sagt: Die Menschen hätten der Erlösung bedurft, selbst wenn die Sünde nie in die Welt gekommen wäre, weil un­ser seelisches Leben ohne Zufluss von Gottes «ungeschaffenem Leben» sterben würde. Solches Denken führt zur alten gnosti-schen Vorstellung, dass die menschliche Natur einer radikalen Umwandlung — praktisch einer Vergöttlichung mittels beson­derer Erkenntnis — bedarf, damit sie die Übel materieller Exi­stenz überwinden kann.

Ein weiteres Problem bietet die Auffassung, seit dem Sün­denfall wohnen Sünde und Satan im «Fleisch» (gleichbedeu­tend mit dem Körper). Zwar wird dadurch das Heilsverständnis der Ortsgemeinde fein bestätigt; aber die biblische Darstellung vom Bösen wird verharmlost, und die Grösse und Macht des Feindes Gottes unterschätzt.12 Zudem: Wenn Witness Lee den physischen Bereich als den Sitz der Sünde bezeichnet, wird er für die Wirklichkeit des geistlichen Bösen (z. B. für geistlichen Stolz) blind und leistet damit gnostischen Tendenzen weiter Vorschub (siehe Anhang).

Die Schrift bezeichnet die geschaffene Welt eindeutig als in Gottes Augen «sehr gut». Durch den Sündenfall zwar ruiniert, aber durch die Erlösung erneuert und wertvoll gemacht.13    

Diese


 

materielle Welt, obwohl gefallen, ist der Gegenstand der Liebe Gottes und wird gereinigt und wiederhergestellt das Heim seiner Erlösten werden.14 Unsere menschliche Natur ist demnach in all ihren Bestandteilen Teil einer guten Schöpfung, die schlecht ge­worden ist. Unsere Verbindung mit Gott in Christo macht uns nicht göttlich, indem uns ein fehlender Bestandteil hinzugefügt wird, sondern befähigt uns, das zu sein, was Gott von Anfang an beabsichtigte: sein Bild auf Erden.

Des weiteren ist Lees Ansicht, dass Gott den Menschen aus ontologischer Notwendigkeit schuf, höchst fragwürdig. Auch in diesem Punkt geht er über die Lehren der Bibel hinaus. Das zeigt seine Darstellung der Dreieinigkeit: Er betont, dass die «Haushaltungen» Gottes in seinem historischen Handeln mit dem Menschen, Seinem Verlangen, den Menschen mit sich selbst zu vereinigen, entspringen:

Damit werden die drei Personen der Dreieinigkeit zu drei auf­einanderfolgenden Schritten in der Entwicklung der Haushal­tung Gottes. Ohne diese drei Stufen könnte Gottes Wesen dem Menschen nie verabreicht werden (G, S. 10).

Diese und ähnliche Lehren von Witness Lee führen zur Vor­stellung, Gott hätte die Welt nicht nur geschaffen, um seine Schöpfung durch seine eigene Essenz zu bereichern, sondern damit er selbst auch bereichert werde, indem er durch den von Lee dargestellten Vermengungsprozess die Menschheit in sich selbst absorbiert.15 Aus der biblischen Darstellung, wie Gott die Menschen geschaffen, bewahrt und erlöst hat, legt sich Witness Lee eine Erklärung zum Warum der Heilsgeschichte zurecht.

In Epheser 1,3-14 preist Paulus Gott für seine Erlösungsab­sichten in Worten wie: «zum Preise der Herrlichkeit seiner Gna­de», «der Reichtum seiner Gnade», und «die wir zuvorbe­stimmt sind... damit wir zum Preise seiner Herrlichkeit seien». Gewiss preist er den Herrn dafür, dass die Gläubigen «in Christo gesegnet» sind und «auserwählt in ihm» und dass es Gottes Ab­sicht ist, «alles unter ein Haupt zusammenzubringen in dem Christus, das was in den Himmeln und das was auf der Erde ist». Aber das ist höchstens ein Teil der Absicht Gottes; wahr­scheinlicher ist, dass es nur Mittel zum Zweck ist: Wir sollen Ihn verherrlichen!

Zum Konzept der Vermengung wollen wir ein Wort zur Orts­gemeindeveröffentlichung The Testimony of Church History Regarding the Mystery oft he Mingling ofGod with Man sagen. Dieser Überblick über christliche Doktrin zitiert eine Reihe von Theologen zum Thema Vereinigung der göttlichen und mensc liehen Natur in Christus und unsere Vereinigung mit Ihm. Eini­ge haben in diesem Zusammenhang den Begriff «vermengen» gebraucht.16 Einige haben letztere Vereinigung gar «Vergöttli­chung» genannt. Der Schreiber bittet darum um Verständnis für Witness Lees Lehre, da er ein Geheimnis in einer Weise be­handelt, wie es andere schon vor ihm getan haben.

Wie zahlreiche Mystiker der Ostkirchen neigen Witness Lee und seine Jünger zu einer Überbetonung der einen Seite der my­stischen Vereinigung Gottes mit dem Menschen auf Kosten ande­rer Aspekte, die genauso wahr und wichtig sind. Das westliche Christentum hat vielleicht zu scharf auf die Tendenzen eines Ari-us und Eutychus zu gnostisch idealistischer Philosophie reagiert; aber die Ortsgemeindeveröffentlichung über Vermengen ver­sucht Lees lehrmässige Aussagen durch die These zu bekräftigen, ein Geheimnis könne (definitionsgemäss) durch rationale Begrif­fe nicht erschöpflich ausgedrückt werden; es sei zu gross, um in konkreten Begriffen umrissen zu werden. Diese These wird aber von der Ortsgemeinde nur als eine polemische Waffe gegen die traditionellen Erklärungsversuche zum Geheimnis verwendet. Es geht ihr nicht so sehr darum, das Geheimnis als unerklärbar anzu­erkennen, als vielmehr das Geheimnis nach Lees Begriffen zu er­klären. So haben wir schliesslich eine Entmystifizierung des My­steriums, die mindestens so rational und begrifflich ausgefallen ist, wie alle bisherigen Erklärungen; nur ist sie unbiblisch: Gott vermenge sich mit der Menschheit, wodurch er uns vergöttliche.

Das Heiligungsproblem

In der Bibel stellt die Heiligung einen Aspekt der angewand­ten Erlösung im Leben des Christen dar. Sie steht immer in Zu­sammenhang mit einer radikalen Abkehr von der Knechtschaft der Sünde zu einer Hingabe an Gott als ein Werkzeug der Ge­rechtigkeit.

Ein auffallend unbiblisches Thema in Lees Darstellung von Heiligung ist der morallose Charakter des Werkes Gottes in den Gläubigen. Wie im lehrmässigen Teil schon bemerkt, ist Heili­gung nach Ortsgemeindelehre losgelöst von den sittlichen Kate­gorien der Sündhaftigkeit und Gerechtigkeit, wonach wir Ge­danken, Wort und Tat eines Menschen bewerten. Lee meint, Heiligung bestünde in vermehrter Besitznahme der göttlichen Essenz durch den Gläubigen und nicht in einer Zunahme an Heiligkeit und Ähnlichkeit mit dem Charakter Christi. Das bi­blische Zeugnis jedoch verbindet Heiligung eindeutig mit den sittlichen Kategorien Sünde und Heiligkeit.


 

 In Römer 6,2-6. 13 und 14 sagt Paulus, dass Christen mit Je­sus in seinem Tod und in der Macht seiner Auferstehung vereint sind. Christen sind den Lüsten der herrschenden Sünde gestor­ben, obwohl sie die weiterlebende Sünde erfahren; der «alte Mensch» ist gekreuzigt; der Leib der Sünde ist tot und ohne Herrschaftsbereich. Der Tod und die Auferstehung Christi sind dem Gläubigen zugerechnet worden; und hier setzt die Heili­gung an: Der Gläubige soll seine Glieder bewusst darbringen als Werkzeuge der Gerechtigkeit. Paulus ermahnt die Christen also zu sittlichem Verhalten und nicht zu einem vermehrten «Erfah­ren» Gottes im Ich — einer morallosen Erfahrung, wie Lee sie fordert.

Gleicherweise definieren 1. Johannes 3,7 und 9 den Heili­gungsprozess durch die sittlichen Kategorien von Sünde und Ge­rechtigkeit. «Kinder, dass niemand euch verführe! Wer die Ge­rechtigkeit tut, ist gerecht, gleichwie er gerecht ist... Jeder, der aus Gott geboren ist, tut nicht Sünde, denn sein Same bleibt in ihm; und er kann nicht sündigen (d. h. er verharrt nicht in der Sünde), weil er aus Gott geboren ist.» Wer aus Gott geboren ist, bringt Frucht der Gerechtigkeit, das Gegenteil von Sünde. Die Aussagen von Johannes: «Jede Ungerechtigkeit ist Sünde...» (1. Joh. 5,17) und Paulus: «...durch das Gesetz kommt Er­kenntnis der Sünde» (Rom. 3,20) zeigen, dass Gottes Gesetz wie ein Barometer für Sünde wirkt. Es ist ein Massstab für Gerech­tigkeit, sowohl für die erlöste als auch für die nicht erlöste Menschheit. Paulus drückt das folgendermassen aus: «Denn wir urteilen, dass ein Mensch durch Glauben gerecht wird, ohne Werke... Heben wir denn das Gesetz auf durch den Glauben? Das sei ferne! sondern wir bestätigen das Gesetz» (Rom. 3,28.31). Damit lehrt Paulus, dass das Gesetz die biblische Richtschnur für Heiligung und der Beurteiler von Sünde und Gerechtigkeit darstellt, obwohl es nicht die Quelle des Heils ist.

Es gibt keine grauen Bereiche von morallosen Gedanken oder Worten. Lee aber lehrt, dass man verkehrt handeln kann, ohne zu sündigen, oder Gutes tun kann, ohne fromm zu sein; denn seine Heiligung (welche das Gesetz herabwürdigt) besteht darin, Gottes Essenz in den eigenen Geist aufzunehmen. Folglich spricht Lee in seinen Auslegungen auch nicht vom Gesetz und bezeichnet die betreffenden Abschnitte in der Bibel als typische Resultate menschlicher Erfindung. Diese sonderbare Überzeu­gung erklärt auch Lees Unterbewertung des Glaubens. Lee spricht selten von der Bedeutung des Glaubens, denn biblischer Glaube ist aufs engste mit Verstehen (notitia), Treue in der Hingäbe (fiducia) und Vertrauen (assentia) verknüpft — nicht mit Eindrücken, Gefühlen und von Erkenntnis unabhängigen Vor­gängen.

Lee lehrt auch, dass die Gläubigen das Wirken Gottes in ih­rem Leben bestimmen, so dass sie sich selbst den Flüssen ihrer eigenen Heiligung entlang steuern. Paulus aber sagt in Phil. 2,12 und 13: «Bewirket eure eigene Errettung mit Furcht und Zittern; denn Gott ist es, der in euch wirkt, sowohl das Wollen als auch das Wirken nach seinem Wohlgefallen.» Der Hauptge­danke ist, dass Gott in den Gläubigen wirkt, damit sie nach ihrer Bekehrung für ihn «wollen» und «wirken». Der Heiligungsvor­gang des Heiligen Geistes in uns beschränkt aber nicht unsere Zusammenarbeit auf ein Minimum. Vielmehr macht er unsere Anstrengungen wirksam und wertvoll. Gott setzt Heiligung in solchen Christen, die durch seine Kraft «wollen» und «wirken», in Gang und erhält sie. Die Schrift stellt die Souveränität Gottes und den Wert der menschlichen Mitarbeit im Heiligungsprozess wohl ausgewogen dar. Witness Lees Auffassung ist hingegen einseitig. Er präsentiert uns einen Gott, der im menschlichen Geist eingekerkert ist und freigemacht werden muss. Lees Gott kann an der Heiligung nicht teilhaben, es sei denn, dass der Mensch die Sache in die Hand nimmt, um für sein geistliches Wachstum zu sorgen. Durch Methoden und Kniffe wie Töten, Beten-Lesen, den Namen des Herrn anrufen und Freilassen schränkt der Mensch die Herrschaft und Wirksamkeit des Heili­gen Geistes ein. Er will über seine Heiligung selbst verfügen und seine geistliche Bestimmung autonom steuern. Das biblische Thema von Gottes souveränem Eingreifen in der menschlichen Geschichte fehlt völlig in Lees Ergüssen über Heiligung.

Was Lee über die Rolle des Heiligen Geistes in der Heiligung schreibt, geht über das biblische Zeugnis hinaus. Der Heilige Geist ist mit dem menschlichen Geist vereint, wodurch im Geist-Geist-Komplex Intuitionen und Gefühle entstehen, die der Seele übermittelt oder in sie «freigelassen» werden. Der wahre Gläu­bige horcht auf die Intuitionen und Gefühle des Geist-Geistes als wären es göttliche Offenbarungen. Das Freilassen des Gei­stes unterwirft ihm die widerstrebenden Kräfte von Seele und Leib; in einem schrittweise ablaufenden Prozess wird ihr Herr­schaftsbereich «getötet». An dieser Stelle verdienen John Mur-rays Feststellungen Beachtung:

Die Art und Weise, wie der Geist in der Heiligung wirkt, ist geheimnisvoll. Wir wissen nicht, wie der Geist im Menschen wohnt. Auch kennen wir nicht die Art seines Wirkens an Herz,

 

 

Verstand und Willen in den Gläubigen, das sie annehmend von der Befleckung der Sünde reinigt und mehr und mehr dem Bilde Christi gleichgestaltet. Wohl dürfen wir nicht die Tatsache un­terschlagen, dass das Wirken des Geistes in unseren Herzen sich in unser Bewusstsein niederschlägt, noch dürfen wir die Heili­gung auf den Bereich des Unterbewussten abschieben, indem wir übersehen, dass Heiligung bewusste Mitarbeit unsererseits fordert; und doch müssen wir eingestehen, dass der Heilige Geist in einer Art und Weise wirkt, die sich unserer völligen Analyse und Einsichtnahme entzieht.17

Murray stellt zweierlei fest. Erstens: Die Schrift bestimmt nicht ausdrücklich den Ort der Innewohnung des Heiligen Gei­stes. Zweitens: Die Wirksamkeit des Heiligen Geistes entzieht sich unserer vollständigen Analyse und Einsichtnahme. Folglich muss eine Heiligungslehre, die das Wirken des Heiligen Geistes auf innerliche Wahrnehmung beschränkt, begrenzt, wenn nicht gar verdreht sein.

Die logische Konsequenz von Lees Heiligungsvorstellung ist die Errichtung einer theologisch unfehlbaren, autoritativen Gruppe Supergeistlicher innerhalb der Ortsgemeinde: die Älte­sten. Diese auserlesene Körperschaft hat erhabene Stufen der Heiligung erreicht. Sie empfängt beständig Intuitionen und Ein­drücke von Gott, da sie die Kniffe des Freilassens, Beten-Lesens, Anrufens des Namens des Herrn und des Tötens völlig beherrscht. Das Kennzeichen eines Ältesten ist nicht Gerechtig­keit, Besitz und Ausübung geistlicher Begabung oder Weisheit, sondern der Besitz eines «Geruchsinnes», eines «sechsten Sin­nes», der allerdings jeder Definition spottet und in tiefes Ge­heimnis gehüllt ist. Einen Ältesten mit seinen Sinnen auszuma­chen, ist das gleiche, wie das Erkennen der Essenz Gottes. Es geschieht intuitiv. Lee bekennt, dass nur wenige diese Stufe geistlicher Reife erlangen — wodurch er die Mitglieder indirekt anspornt, unablässig danach zu streben.

Lee fordert die Mitglieder auf, Rat bei den Ältesten zu holen, da ihre Wirksamkeit der Bedeutung der Urim und Thummim gleichkomme, jenen Steinen, die auf die Fragen der Priester mit dem Ja oder Nein Gottes antworteten. Bei Unentschlossenheit oder Zweifel können diese Ältesten mit unfehlbarer Sicherheit den Willen Gottes ermitteln. Zwei unbiblische Züge lassen sich hierin erkennen.

Erstens sind nach dem Neuen Testament alle Christen Prie­ster. «Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum, eine heilige Nation, ein Volk zum Besitztum»


 

'(!• Petr. 2,9). Lees schiefe Darstellung untergräbt den neutesta-raentlichen Gedanken, dass alle Gläubigen durch Gebet und Bi­bellese gleichwertigen Zugang zu Gott haben, um Weisung zu empfangen.

Zweitens schafft die Einsetzung von einer Ältestenschaft, die durch Lee vor jeglicher Kritik geschützt wird und als autoritäres Sprachrohr Gottes füngiert, eine unanfechtbare Machtstruktur, die es Ortsgemeindemitgliedern verunmöglicht, ihren Glauben in mündiger Weise zu bestätigen (etwa im Suchen des göttlichen Willens durch persönliches Gebet und Bibellese) und schöpfe­risch aktiv zu sein (eigene Verantwortung in Entscheidungen und im Leben der Nachfolge zu tragen). In diesem Sinn sind es die Ortsgemeindeältesten, die ihren geistlichen Untertanen das «Wollen» und «Wirken» verabreichen.

Lees Heiligungsverständnis ist typisch für seine Theologie der Sinne. Er rät Christen, die Gegenwart Gottes zu spüren, statt sie im Glauben anzunehmen; die Vergebung zu spüren, statt sie im Glauben zu verwirklichen.

In Lees Zeugnis, wie er ein Paar Hosen kaufte, wird veran­schaulicht, was er unter «Spüren» der göttlichen Leitung ver­steht.

Du kannst spüren, was für Farbe deine Hose haben sollte. Du kannst spüren, welche Farbe Gott haben will, welche Farbe sei­nem Wesen nahe ist.18

Paradoxerweise macht sich Lee über Christen lustig, die für unwichtige Angelegenheiten wie Ehe oder Berufswahl nach Gottes Willen fragen, da sie so minimale geistliche Konsequen­zen haben.19

Somit zerschellt das Schiff der Heiligung in Lees sensueller Theologie am Felsen der Schrift.

Auslegungsproblem

Traditionelle Bibelauslegung hält sich:

a) an allgemeine Grundsätze, die bei historischem Bericht, bei Reden und bei Lehrstücken zur Anwendung kommen und

b) an spezielle Grundsätze, die für symbolische und bildhafte Rede, Gleichnisse, Allegorien, hebräische Dichtung, Typologie und Prophetie gelten.

Durch Anwendung dieser beiden Grundsätze (allgemeine und spezielle) versucht man die vom Schreiber beabsichtigte Bedeu­tung herzuleiten und zu erfassen, was die ersten Leser oder Hö­rer unter seinen Worten verstanden haben müssen. Unter den allgemeinen Grundsätzen verstehen wir folgendes: 1. die Gram-

matik ist ernstzunehmen, wobei für jedes Wort eine beabsich­tigte Bedeutung angenommen wird; 2. kulturelle Einflüsse und historischer Hintergrund müssen zum Geschriebenen in Be­tracht gezogen werden; 3. übrige Schriftstellen, welche die un­tersuchende Bibelstelle in der Bedeutung beeinflussen könnten, müssen verglichen werden.

Theologen wie Bernhard Ramm, Berkeley Mickelsen und Milton Terry sind sich einig, dass auch Jesus und die Schreiber des Neuen Testaments das Alte Testament nach diesen Grund­sätzen auslegten.

Lees Auslegungsgrundsätze sind verschiedener Qualität. Ei­niges vermittelt gültige Einsichten, anderes hingegen unter­drückt die vom Schreiber beabsichtigte Bedeutung völlig. Zwei eindeutige Verletzungen biblischer Auslegungsprinzipien treten durchgehend in Lees Arbeiten auf: Missbrauch der Typologie und Textmanipulation. Wo besondere Grundsätze angewandt werden müssten, zieht Lee selten andere Bibelstellen zur Erhel­lung eines bestimmenten Textes zu Rate.

Biblische Typologie ist eine besondere Art der Prophetie. Ein Typus (ein Bild) ist eine Person, ein Ereignis oder eine Einrich­tung im alten Testament, der eine Person, ein Ereignis oder eine Einrichtung im Neuen Testament vorschattet. Der Typus im Al­ten Testament erfährt seine Erfüllung oder seinen völligen Aus­druck in seinem neutestamentlichen Gegenstück, dem Antity-pus (Gegenbild). Einige Beispiele, die durch Schreiber des Neu­en Testaments belegt werden, sind die Opferung Isaaks durch Abraham, die Opferung Jesu durch Gott; das Opfer von Tie­ren, das Opfer Jesu, des Lammes Gottes; die personenmässig beschränkte Priesterschaft im Alten Testament, das Priester-tum aller Gläubigen im Neuen Testament. Berkeley Mickelsen betont, dass Typus/Antitypus hauptsächlich entscheidende Punkte des christlichen Glaubens darstellen. Weil sie ihrem We­sen nach prophetisch sind, sollte man wichtige Lehre nicht von Bildern herleiten, es sei denn, dass sie im Neuen Testament er­wähnt werden.20

Witness Lee jedoch sieht das Alte Testament als eine Anein­anderreihung von Bildern, denen er einen Grossteil seiner Leh­ren entnommen hat. In Lees Augen besitzt das Alte Testament zwei Ebenen: die schattenhaften historischen Daten und die hö­here geistliche Wirklichkeit, wie sie sich im Bild — Gegenbild Modell offenbart. Lee macht häufig das erstmalige Auftreten eines Bildes im Alten Testament zur Norm, anstatt die Erfül­lung des Bildes im neutestamentlichen Gegenbild zu suchen.21

 


 

•Solche Lehre ist nicht ohne Reiz. Die fantasievollen Anwendun­gen bieten eine kräftige Bildsprache. In The All-Inclusive Christ [(Der allumfassende Christus) ermuntert Lee die Ortsgemeinde, fin immer höher werdenden Kategorien geistlicher Reife Chri­stus als mineralisches Leben, Pflanzenleben, tierisches Leben, rituelle Opferungen, als die Stiftshütte und die Bundeslade zu erleben. Aber ungefährlich ist das nicht, denn sowohl Lehrer als auch Lernende können bei aller Fülle von Typologie die eigent­liche Bedeutung der Bibelworte leicht aus den Augen verlieren.

Wenn man die wörtliche Bedeutung der Bibel unterschlägt, um an die verborgene geistliche Bedeutung heranzukommen, werden historische Mitteilungen bedeutungslos. Lee verwendet durchwegs die besonderen Grundsätze, die für Typologie Gül­tigkeit haben, um nicht prophetische, historische Berichterstat­tung auszulegen, die am besten nach den allgemeinen Grundsät­zen, welche Grammatik, Geschichte und dazugehörige Bibel­stellen in Betracht zieht, ausgelegt wird. Das offensichtliche Problem bei solch ausgedehntem Gebrauch von Typologie ist das Fehlen eines verbindlichen Bezugspunktes, mit dessen Hilfe man feststellen könnte, ob die Auslegung des Bildes korrekt ist oder nicht. Weil das Neue Testament nicht alle Bilder des Alten Testaments aufführt, ist Lee die alleinige Autorität, die über die Richtigkeit der angewandten Bilder befindet. So zweifelt Lee gar nicht daran, dass er die Psalmen richtig auslegt, wenn er in ihnen ein prophetisches Bild auf die Ortsgemeinde und nicht auf das Christentum findet.

Schliesslich verliert die Bibel durch solche Auslegung ihren Charakter als universelle Offenbarung, als direktes Wort Got­tes an die Menschheit. Es wird stattdessen zu einem rätselhaf­ten, verschlossenen Buch esoterischer Lehren, die durch einen Eingeweihten, der den Schlüssel geheimer Weisheit besitzt, ge­deutet werden muss; denn gewöhnliche Sterbliche besitzen diese Weisheit nicht. Gott aber sagt deutlich in Seinem Wort: «Ich bin Jahwe, und sonst ist keiner! Nicht im Verborgenen habe ich geredet, an einem Orte des Landes der Finsternis;...Ich bin Jah­we, der Gerechtigkeit redet, Aufrichtiges verkündet» (Jes. 45,18-19).

Die Gefahr solcher Lehrmethoden ist doppelt gross, wenn der faktische Gehalt der Bibel lose und ungenau gehandhabt wird, damit theologische Punkte gebucht werden können. Lee ver­sucht uns etwa zu beweisen, Gott wünsche, dass wir Ihn als un­ser Leben nehmen (Ortsgemeindelehre), und nicht dass wir Ihn anbeten oder Werke tun (traditionelle Lehre).

Er will das anhand von 1. Mose 2 klarmachen:

Die erste Erwähnung eines Gegenstandes in der Bibel gibt uns den Grundsatz dieses Gegenstandes, Man nennt das den Grund­satz der ersten Erwähnung. Was war das erste, das Gott in be-zug auf den Menschen sagte, nachdem Er ihn geschaffen hatte? Nicht, dass er Ihn anbeten, Ihn lieben oder sich in einer gewissen Weise zu verhalten habe. Das erste, was Gott mit dem Men­schen tat, war, ihn vor den Baum des Lebens zu stellen. Es war Gottes Absicht, dass Adam vom Baum des Lebens esse. Er soll­te sich nur hüten, vom ändern Baum zu essen. Das ist die erste Aussage über den Menschen in der Bibel. Darum ist das der Grundsatz: Gott will, dass der Mensch Ihn als sein Leben nimmt.22

Das Problem ist nur, dass die erste Erwähnung des Menschen nach seiner Erschaffung nichts mit dem Baum des Lebens zu tun hat. Vielmehr gibt Gott dort dem Menschen (Mann und Weib) die Anweisung, über die Erde zu herrschen, fruchtbar zu sein und sich zu vermehren; d. h. also «sich in einer gewissen Weise zu verhalten». Tatsache ist, dass wir in Genesis 2 kein Wort von einer direkten Beziehung Adams zum Baum des Le­bens lesen, noch viel weniger, dass Gott Adam vor den Baum des Lebens stellte. Der Baum wird schlicht als eines der Ge­wächse im Garten erwähnt, in welchen Adam schon gestellt worden war.23

Wen wundert's, dass Witness Lee dann sagen kann: «Ich ken­ne nur sehr wenige, die die Auferstehung Christi verstehen» (I, S. 26). Wenn man seine Lehren über die Auferstehung und an­deres gelesen hat, wundert man sich nicht, dass nicht viele Bibel­lehrer mit seinen Erklärungen einverstanden sind (d.h. sie nicht «verstehen»). Die wenigsten würden die bildhaften Aussagen zur ehernen Schlange verstehen wie er:

Nach dem Sündenfall wurde der Mensch zum Sitz Satans und all seiner bösen Mächte... Als Christus Mensch wurde, war der Mensch bereits Satans Sitz... Wie kann die Schlange ein Bild auf Christus sein ? Dadurch, dass Christus einen Menschen, der von Satan bewohnt war, anzog... Nicht nur der Mensch wurde mit Christus gekreuzigt, sondern auch der Satan wurde am Kreuz getötet (I, S. 19-20)

Wie es Sektierer gewöhnlich tun, wählt Lee ungewöhnlich schwierige oder zweideutige Bibelstellen, um seine lehrmässigen Besonderheiten zu rechtfertigen. Zu seinen Methoden gehört: l. ein Wählen der unwahrscheinlichsten Lesearten der griechi­schen Quellen; 2. ein Ignorieren wichtiger, erhellender Ab-


 

schnitte oder ein Neuinterpretieren klarer Abschnitte, so dass sie mit den zweideutigen Abschnitten übereinstimmen.

Lees Auffassung über die Anthropologie veranschaulicht das. Die Schrift belegt die Unterscheidung von Seele und Geist in der Weise, wie Lee es macht, nicht (siehe das Anthropologi­sche Problem).

Lee unterhält auch eine modalistische Auffassung über die Dreieinigkeit, obwohl er um das umfassende Zeugnis der Schrift zu diesem Punkt genau weiss. Um seine Auffassung zu bekräftigen, hält er sie an die sonderbare Grammatik und Aus­legung zu 2. Korinter 3,17: «Die Person des Herrn Jesus ist der Heilige Geist. Der Heilige Geist ist ganz einfach der Herr selbst»; und zu 1. Korinther 15,45: «Er Selbst ist der lebendig­machende Geist» (K, S. 78). Der Text lässt sich an dieser Stelle aber durchaus anders verstehen, und zwar so, dass er mit ändern Bibelstellen harmoniert. Diese Isolierung eigenwilliger gramma­tischer Interpretation unter Missachtung anderer wichtiger Tex­te ist sein übliches Vorgehen im Ansinnen «biblisch orientierte Terminologie» zu schaffen, die allerdings neu ist und sich von traditioneller christlicher Interpretation radikal unterscheidet.

Verständlicherweise hat Lees charismatische Leiterperson sei­ne Nachfolger dazu geführt, seine Auslegungen der Schrift als normativ zu bewundern. Das ist immer schwerwiegend; beson­ders aber in diesem Fall, da Lee von grammatikgebundener Exegese zu bildhafter, gefühlsgebundener Auslegung abgedreht ist. Damit wird Beten-Lesen zur geistlichsten Form des Bibelle­sens. Kritische Untersuchungen von Lehre und Wandel der Ge­meinde durch ein Forschen in der Schrift, um festzustellen «ob sich dies also verhalte»,24 wird als seelisch abgetan. Rechtschaf­fenheit wird zugunsten von Begeisterung und Einheit geopfert.

Gemeindeproblem

Wir kommen zurück zur exklusiven Haltung der Ortsgemein­de ändern Gemeinden gegenüber. Wir haben einige lehrmässige Wurzeln dieser ekklesiastischen Frucht in Lees Ansichten über Gott, den Menschen und Heilserkenntnis blossgelegt. Es ist lo­gisch — wenn unsere Analyse korrekt ist — dass Lees Anhänger Gemeinschaft mit ändern Christen scheuen; denn seine Lehren stehen an mehreren Schlüsselpunkten mit biblischem Christen­tum im Widerspruch.

In seinem Schrifttum erscheint die Ortsgemeinde als Gottes auserwähltes Werkzeug, um dieses Zeitalter zum Abschluss zu bringen, als die getreue Manifestation des Leibes Christi unter


 

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 einem verdrehten Geschlecht. In seinem Anrennen gegen die tragische Zertrenntheit im Christentum ist Witness Lee ironi­scherweise zum Urheber einer neuen, sektiererischen und spal-tungsfördernden Denomination geworden. Er hat sich selbst und seine Gemeinden von Lehre und Gemeinschaft mit anderen aufrichtigen Gläubigen abgeschnitten, während er das als Ein­heit anbietet, was er für den biblischen Grundsatz hält. Das of­fensichtliche Resultat ist eine entsprechende Entfremdung vom biblischen Gemeinverständnis des christlichen Glaubens.


 

V. Soziologischer Kommentar

Wie schon im Abschnitt «Grundlage» bemerkt, fordert der er­ste Johannesbrief, dass die christlichen Gemeinschaften sowohl Lehre als auch Wandel der Ortsgemeinde prüfen. Als Grundla­ge zu diesem abschliessenden Abschnitt dient die ausdrückliche Aufforderung in 1. Johannes 2, 4-6, das Verhalten solcher zu prüfen, die Christus als ihren Herrn bekennen: «Wer da sagt: Ich kenne ihn, und hält seine Gebote nicht, ist ein Lügner, und in diesem ist die Wahrheit nicht. Wer aber irgend sein Wort hält, in diesem ist wahrhaftig die Liebe Gottes vollendet. Hier­an wissen wir, dass wir in ihm sind. Wer da sagt, dass er in ihm bleibe, ist schuldig, selbst auch so zu wandeln, wie er gewandelt hat.» Selbst unsträfliche, orthodoxe Lehre enthebt einen Chri­sten nicht der Verpflichtung, biblisch schickliches Verhalten zu üben. Wenn von christusähnlichem Verhalten nichts zu sehen ist, darf man die lautstarken Behauptungen der Mitglieder, sie hielten sich an biblische Wahrheiten, mit Fug und Recht als ei­nen Deckmantel bezeichnen.

Damit ergibt sich die Notwendigkeit eines Kommentars zu den gesellschaftlichen Beziehungen der Ortsgemeinde. Die ge­sellschaftlichen Unschicklichkeiten sind zu zahlreich, um über­sehen zu werden. Die häufigen niederreissenden Auseinander­setzungen mit christlichen Gemeinschaften sind einander zu ähnlich, als dass es sich um voneinander unabhängige Gescheh­nisse handeln könnte. Max Rapoport, der Schulungen an Wachstum-Seminaren der Ortsgemeinde hielt, sagt uns, dass die Mitglieder im Thema «die Erde einnehmen» unterrichtet wer­den. Dabei geht es darum, wie man Christen «fangen» kann. Er selbst half mit, siebzig Glieder einer Gemeinde in Seal Beach, Californien, in die Ortsgemeinde zu locken. Er hat auch Mit­glieder der Ortsgemeinde in Neuseeland betreut, wo Auseinan­dersetzungen zur Zeit im ganzen Land Gemeinden spaltet.

Dieser Kommentar besteht aus zwei Abschnitten. Zunächst folgt eine Darstellung des Verführungs-Syndroms. Eine SCP Studie einer Bekehrung zur Ortsgemeinde im Jahre 1978 wird gegeben; dazu einige Bemerkungen über Ortsgemeinde Werbe­methoden. Als zweites werden die Mechanismen untersucht, welche die Ortsgemeinde verwendet, um Hingabe und Ver­pflichtung zu vertiefen. Es werden dazu einige Bemerkungen zur «psychologischen Schranke», zu «Autorität», zu «Angst», zu den Auswirkungen der Heiligung und zum «Austreten» ge­macht, welche dieses Kapitel der Gott-Menschen abschliesst.


 

 


 

 

Unsere Kommentare befassen sich mit dem Grundton der ge­sellschaftlichen Beziehungen der Ortsgemeinde, und greifen nicht etwa einzelne ungewöhnliche Ereignisse heraus. Über vier Jahre hat sich SCP mit der sozialen Entwicklung der Ortsge­meinde befasst. In dieser Zeitspanne konnten Handlungen und Ereignisse, die wir bezeugt haben, gründlich geprüft, ausgewer­tet und eingeordnet werden. Dazu kamen Berichte über die Ortsgemeinde, die bei uns eingegangen sind, und unsere eigenen Auseinandersetzungen mit Mitgliedern. Wir haben die Über­zeugung, dass der «Sendungskomplex» kombiniert mit den Leh­ren und Praktiken der Theologie der Sinne die ideologische Ba­sis zu ihrer unbiblischen Gemeinschaftshaltung bildet.

Das «Verführungs-Syndrom»

Dr. Anthony Campolo, evangelikaler Christ und Soziologe, der an der Universität Pennsylvaniens lehrt, hat einzigartige Ar­beit in der Erforschung der Phänomene kultisch religiöser Be­kehrungen geleistet. Er pflichtet dem Lofland-Stark Modell bei, als eine nützliche Grundlage zum Verständnis der Bekehrung von ererbten Glaubensvorstellungen zu neuen Religionen. Wei­tere führende Forscher, die Campolos Ansichten teilen, sind William Bainbridge von der Universität Washington und Mar­garet Singer von Berkeley.

Lofland und Stark definieren Bekehrung als ein Aufgeben bisher gepflogener Weltanschauung oder Lebensweise zu einer radikal anderen. Vereinfacht spricht ihr Bekehrungsmodell von vier grundsätzlichen Zuständen, in denen der Mensch für Be­kehrungen zu neuen Ansichten besonders anfällig ist.1 Diese vier aufeinanderfolgenden Stufen bilden das, was wir im Fol­genden das «Verführungs-Syndrom» nennen wollen.

Die erste Stufe im Verführungs-Syndrom ist ein Zustand der Spannung — Unwohlsein oder Gefühle, die als Spannungen empfunden werden — was deren Ursache auch sein mag. Psy­chologen und Soziologen definieren «Spannung» allgemein als nervöse Belastung, die als Folge einer Diskrepanz zwischen ideellen Vorstellungen und Hoffnungen und den tatsächlichen physischen Lebensumständen auftritt. Die «Bekehrten», die von Lofland und Stark interviewt wurden, erlebten Spannun­gen, die sich aus einem oder mehreren der folgenden Konflikte ergaben: nicht Erreichen von Wohlstand, Ansehen oder Wis­sen; frustrierte sexuelle Beziehungen; vereitelte Ambitionen nach Prominenz und Bedeutung; der Wunsch, die «Gedanken Gottes» zu besitzen, um durch ein Verwirklichen göttlicher Ab-


 

sichten berühmt zu werden; fehlender Friede.2

Die zweite Stufe im Verführungs-Syndrom bildet das Anwen­den von problemlösenden Methoden. Diese zerfallen in drei Ka­tegorien: religiöse, politische und psychologische.3 Probleme können angepackt und gelöst werden, indem man göttliche Wei­sung sucht (religiös), die Auffassungen der Menschen ändert (po­litisch) oder in eine Situation ein- oder aus einer Situation ausge­führt wird, um Befriedigung zu bewirken (psychologisch).

Wenn Suchende von den Resultaten ihrer problemlösenden Methode enttäuscht sind, beginnen sie nach verschiedenen Al­ternativen ausserhalb ihres bisherigen Erfahrungsbereichs Aus­schau zu halten. Dieser Zustand bildet die dritte Stufe des Verführungs-Syndroms. Man könnte sie «Suchphase» nennen. Mit wenigen Ausnahmen wird der Suchende, wenn er die bisher bekannten Methoden als fehlerhaft oder unzulänglich erkannt hat, eine neue Auffassung innerhalb derselben drei problemlö­senden Kategorien suchen. Ein Student, der vom formalen Christentum enttäuscht ist, wird eher zum östlichen Mystizis­mus als zu politischem Aktivismus gezogen. Neue Lösungen werden gesucht, doch gewöhnlich aus ähnlichen Quellen.

Die vierte und letzte Stufe im Verführungs-Syndrom ist der Wendepunkt* — ein Moment des Übergangs, der Ungewissheit, wie bei einem Wechsel oder Versagen in der Schule oder im Be­ruf, bei Scheidung, usw., wodurch der Suchende entwurzelt und deshalb für messianische Gruppen oder Figuren empfäng­lich ist. Wenn einer in der vierten Stufe von jemandem ange­sprochen wird, der eine Lösung der Probleme innerhalb der hergebrachten Kategorie des Suchenden anbietet, kommt es un­vermeidlich zur Bekehrung (es sei denn, dass der Vertreter oder Leiter der Gruppe sich einen Schnitzer erlaubt). Bekehrung, meinen Lofland und Stark, kann von geschickten Proselyten-machern erfolgreich geplant und angestrebt werden.5

Ich möchte das anhand einer wahren Begebenheit veran­schaulichen. Die siebzehnjährige Cia war wegen ihrer mutma­chenden und optimistischen Lebenseinstellung beliebt. Sie war allerdings nicht so selbstsicher, wie sie nach aussen schien. Hin­ter der Fassade von Schlagfertigkeit und Lebensfreude verbarg sich der typische Teenager: sie machte sich Sorgen um ihre Schulausbildung, war inmitten eines verwirrenden Medienange­bots auf der Suche nach ihrer Identität und war gespannt auf ih­re Zukunft. Die Fassade verbarg auch Cias tiefere Gefühlswelt, die durch den Tod des Vaters und das Zusammenleben mit ei­ner lieblosen Mutter und Trinkerin, aufgewühlt war.


 

 

Aufmerksame gläubige Eheleute, die sich vermehrt um halt­lose Jugendliche gekümmert hatten, boten Cia an, gratis in ih­rem Heim zu wohnen. Cia und ihre Mutter nahmen das Ange­bot gerne an.

Sechs Monate, nachdem Cia in ihr neues Heim gezogen war, hatte sie den ersten Kontakt mit der Ortsgemeinde. Ein Prosely-tenmacher der Ortsgemeinde, der sich nie als solcher ausgab, wurde als Leiter der sechszehn Mitglieder starken Jugendgrup­pe, in der auch Cia war, angestellt. Durch seine Wärme und Herzlichkeit zu den Jugendlichen gewann er bald die Zuneigung Cias und ihrer Freunde. Allmählich begann er die Lehren von Lee einzustreuen und lud die Gruppe ein, die nicht als solche bezeichnete Ortsgemeinde in ihrer Gegend zu besuchen.

Cia war eben durch die drei ersten Stufen des Verführungs-Syndroms gegangen. Die Spannungen, die von ihrem Hinter­grund herrührten, verbunden mit der Aussicht auf baldigen Eintritt ins Gymnasium bewirken nicht geringe Prüfungen für ihr Glaubensleben. Ernsthaftes Gebetsleben und Bibelstudium hatten geistliches Wachstum bewirkt. In den sechs Monaten in der christlichen Familie hatte sie gelernt, Verantwortung zu lie­ben und anzunehmen, Vertrauen zu gewinnen und aufbauende Kritik zu akzeptieren. Aber die eigene Persönlichkeit wieder herstellen — Festigkeit, Zuversicht und Vertrauen aufzubauen — ist ein schwieriger Prozess. Er braucht Zeit; weit mehr, als die blossen sechs Monate, die Cia in ihrer neuen Umgebung ver­bracht hatte.

In diese heikle Periode in Cias Leben trat der Vertreter der Ortsgemeinde, dessen beständige Liebe und Bejahung gerade das positive, emotionale Feedback produzierte, das Cia nötig hatte. Zudem ist für einen suchenden Jugendlichen eine Liebe, die nur angenehme Erfahrungen mit sich bringt, anziehender und fesselnder als eine Liebe, die Verpflichtung und Verantwor­tung verlangt. Auch ist die Begeisterung grosser Gemeinschaften attraktiver als persönliches Gebetsleben und Bibelstudium. Leute, die in Spannungen stehen, Entscheidungen suchen und sich an Wendepunkten oder in Übergangsphasen befinden, nei­gen zu sofortigen Lösungen und schnellen Entscheidungen. Cias Hand war dem Ortsgemeindemann offen hingestreckt. Dieser fasste sie herzlich, zog sanft und riss dann mit Kraft.

Der Jugendleiter packte Probleme religiös an. Das tat Cia auch. Da er erkannte, dass Cia sich im Verführungs-Syndrom befand, bot er kurzfristig Sofortlösungen an, um ihre Spannun­gen zu beheben. Cia verlangte nach Beziehungen, die durch ungebrochene Einheit und warme Bejahung gekennzeichnet sind. Die Ortsgemeinde schien ihr ein Musterbeispiel an Einheit. Cia selbst sprach später vom Fehlen irgendwelcher Unstimmigkei­ten, (was allerdings nur möglich war, weil von unabhängigem, verantwortungsbewusstem Handeln abgeraten wurde.) Auch auf geistlicher Ebene kam Cia auf ihre Rechnung; in der von Lee konzipierten Gemeinde konnte sie die Gegenwart Gottes di­rekt wahrnehmen, ohne Zeit für selbständiges Bibelstudium und Gebet aufwenden zu müssen. Stunden des Beten-Lesens und des Anrufens des Namens des Herrn in der Gruppe schie­nen ihre Spannungen auf warme, einladende Art zu erleichtern. In der Folge verliess Cia ihre Pflegeeltern.

Da die meisten Ortsgemeindeglieder innerhalb eines Umkrei­ses von fünf Kilometern zum Versammlungsraum leben, wur­den Cias wenige Besitztümer in ein Haus in der Nähe des Ver­sammlungsraumes gebracht, indem auch andere Ortsgemeinde­mitglieder lebten. Die Ältesten erklärten Cia, dass die Christen, bei denen sie gelebt hatte, wohl fromm und gerecht, aber nicht geistlich wären, d. h. sie besässen nicht das Leben Gottes. Cia gab den Gedanken an akademische Ausbildung auf und begann stattdessen als Kellnerin zu arbeiten, damit sie die enorme Miete bezahlen und an den zahlreichen Zusammenkünften teilnehmen konnte. Cia liess ihr Hobby fallen (Schauspielen), löste eine Rei­he von Freundschaften auf, verlor ihren Sinn für Humor und bemühte sich, ihr Verhältnis mit dem gläubigen Ehepaar, das sie aufgenommen hatte, zu verderben. Diese hielten jedoch an ihrer bedingungslosen Liebe zu Cia fest und erwarteten weiter­hin von ihr verantwortungsbewusstes Handeln und Charakter­stärke. Ihre unverbrüchliche Sorge um sie muss Cias Gewissen getroffen haben. Ihre Kostprobe vom Ortsgemeindeleben schmeckte zunächst süss, wurde aber im Bauch bitter. Auch wurden die Spannungen nicht gelöst, lediglich für eine Zeit ge­mildert.

Nach sechs Monaten verliess Cia die Gruppe. Noch immer hat sie den Anschluss an ihre Pflegeeltern, alten Freunde und Akti­vitäten und den früheren Glauben nicht gefunden. Volkstüm­lich ausgedrückt war Cias Erfahrung eine Pleite. Bis heute weiss sie nicht, dass die Gemeinschaft, mit der sie in Berührung kam, die Ortsgemeinde war.

Der Ortsgemeindewerber zog noch zwei weitere Jugendliche aus der Jugendgruppe mit sich, worauf man ihm den Dienst als Jugendleiter kündigte. Er hatte auch nur mit Hilfe gefälschter Referenzen die Stelle bekommen. In ähnlicher Weise erlog er


 

 

sich Zutritt in die psychiatrische Klinik am Ort, um einen jungen Mann zu besuchen, dem er Anleitungen gegeben hatte, wie man durch Intuition den göttlichen Willen spüren kann. Der emotio­nal gestörte Jüngling, der ebenfalls in Cias Pflegeheim wohnte, war der inneren Leitung seiner Gefühle gefolgt und hatte ein fünf­jähriges Kind vergewaltigt. Von Schuldgefühlen überwältigt wur­de er hysterisch und so depressiv, dass er Spitalpflege brauchte.

Wir müssen darauf hinweisen, dass die gläubigen Pflegeeltern auf eine Aussprache mit dem Ortsgemeindemann bestanden. Ein Protokoll ihres Gespräches zeigt, dass der Ortsgemeinde­mann nicht den Eindruck hatte, mit seinen Lügen gegen Gottes Gesetz gesündigt zu haben. Vielmehr bekannte er, «mehr Leben aus Gott» zu benötigen, was deutlich die Morallosigkeit von Lees Heiligungslehre unter Beweis stellt.

Als man einem hohen Angestellten der Ortsgemeinde diesen Bericht vorlegte, distanzierte er sich in zweifacher Weise davon. Als erstes leugnete er mit Nachdruck die Tatsache, dass die Orts­gemeinde Anaheim irgendwelche Kontrolle oder Herrschaft über andere Ortsgemeinden und deren Aktivitäten ausübe. Da­bei sind es eindeutig Lees Lehren, welche die Grundlage aller Ortsgemeindelehre und den Antrieb zum Proselytenmachen bil­den. Man beachte, dass die Anaheim Gemeinde auch für andere Städte Aktivitäten organisiert hat. Damit ist die Anaheim Ge­meinde mitverantwortlich für die obig geschilderten Ereignisse. Noch mehr Verantwortung trägt Witness Lee, der solch verant­wortungsloses Handeln von Ortsgemeindegliedern unter seiner autoritären Führung zurechtweisen müsste.

Zweitens wies der Ortsgemeindeangestellte darauf hin, dass andere christliche Gemeinden mit ähnlichen Fehlern und Über­tretungen behaftet sind. Es trifft zu, dass es unter Christen zu Spaltungen und Unmoral kommt, aber bezeichnenderweise ist immer wieder biblische Zucht ausgeübt worden, um fehlbare Glieder zur Busse zu weisen. Die sinnesorientierte Theologie der Ortsgemeinde hingegen heisst solches Handeln in der Gemein­schaft gut, da man die Schrift der objektiven Autorität, welche die traditionelle Theologie ihr gibt, beraubt hat. Die Ortsge­meinde ist nicht nur Unwillens, Zucht auszuüben, sondern ist von ihrer theologischen Position her auch unfähig, es zu tun. Ihre Autorität ist ja nicht die Schrift, sondern das bewusste Spü­ren der Eingebungen im Geist-Geist. Folglich ist der Ortsge­meindewerber aus unserem Beispiel nie von seiner Gemein­schaft gerügt worden, noch hat er sich bei den Leuten, die er ge­schädigt hat, entschuldigt.


 

Das Verführungs-Syndrom ist ein Zustand, den viele auf den verschiedenen Stufen ihrer Persönlichkeitsentwicklung durch­schreiten. Lofland und Stark berichten, dass Erwachsene wie Jugendliche zu Bekehrungskandidaten werden, wenn ihr Leben das beschriebene vierte Kriterium erfüllt.6

In den Vereinigten Staaten wurden 75% des Ortsgemeindebe­standes aus christlichen Kreisen geerntet. Teenager, Studenten, Erwachsene wurden den Proselytenmachern zur Beute. Das Vorgehen ist gewöhnlich dasselbe: Sie sind herzlich, gastfreund­lich und anteilnehmend, bewahren aber ihre Anonymität. Da­durch gewinnen sie das Vertrauen der christlichen Gemeinden oder Gemeinschaften. Wenn das erreicht ist, wird eine Streitfra­ge aufgeworfen, die zu einer Spaltung führt. So wird eine Grup­pe in bestehende Ortsgemeinden abgezogen oder zu einer neuen Einheit formiert.7 Bezeichnenderweise befinden sich die Abge­zogenen im Verführungs-Syndrom. Von Ferngesprächen und Briefen aus Neuseeland wissen wir, dass dort etliche Gemeinden durch Ortsgemeindeaktivitäten gespaltet worden sind.

Das Verführungs-Syndrom manifestiert sich im einzelnen Su­chenden. Der Proselytenmacher jedoch arbeitet von einer brei­teren Basis aus: Ein Kollektiv unterstützt die Anstrengungen des Proselytenmachers, indem es Veranstaltungen organisiert, in denen die potentiellen Bekehrten gefischt werden können. Die Rekrutierungstechniken werden von verschiedenen Grup­pen angewandt, um Mitgliederzahlen zu erhöhen. Der folgende Abschnitt schildert die Rekrutierungstechniken der Ortsgemein­de, wie man sie besonders an Universitäten erlebt hat.

Rekrutierung, Bekehrung und darüber hinaus

Wenn jemand, der sich im vierten Stadium des Verführungs-Syndroms befindet, auf einen Ortsgemeindeevangelisten stösst, wird er in herzlicher, freundlicher Art aufgenommen. Der Orts­gemeindemann hört aufmerksam zu, bestätigt alles mit Begei­sterung und scheint ein unendliches Reservoir an Geduld zu be­sitzen. Solch persönliche Anteilnahme und ungeteilte Aufmerk­samkeit demonstriert dem Suchenden sehr eindrücklich, dass die Ortsgemeinde eine schlichte Geistlichkeit anbietet, die Gott Gelegenheit gibt, mit seinen Problemen fertig zu werden, Le­benssinn verspricht und aus den Mitgliedern besondere Diener Gottes macht. Gewöhnlich werden die Suchenden zum Essen eingeladen und sind beeindruckt von der Wärme und Gast­freundschaft, was sie nach tieferem Kontakt verlangend macht. Man spricht bei solchen Gelegenheiten vom Herrn, von den


 

 Vorrechten des Christseins und vom Wirken Gottes in einer Ge­meinschaft, die beten-liest, den Namen des Herrn anruft, und die Gegenwart Gottes fühlt. Bald wird eine Einladung zu einer Zusammenkunft gegeben. In den meisten Fällen fordert die Höflichkeit, dass man nach solch freundlicher Aufnahme und grossen Bemühungen die Einladung annimmt.

Die Einheit und Harmonie unter den Ortsgemeindeleuten, die sich in den Gemeinschaftsräumen versammelt haben, beein­drucken den Neuling. Das ungestüme Beten-Lesen ist nicht we­niger eindrücklich als die Fröhlichkeit und Freude beim Evan-geliumssingen. Die Zeit der Gemeinschaft ist weder langweilig noch ruhig. Die hochgeschraubte emotionale Spannung und die Aktivität wirken angenehm, wenn nicht begeisternd. Die Ver­sammelten lesen zusammen, beten zusammen und haben das gemeinsame Anliegen, andere für Christus zu gewinnen. Be­merkenswerterweise kommt in der Zusammenkunft keine ab­weichende Meinung zum Ausdruck. Harmonie, Hingabe und Gottes Gegenwart scheinen alles zu beherrschen.

Wenn, wie Harvey Cox in Turning East (Wende in den Osten) bemerkt, Gott an diesen Zusammenkünften unmittelbar zugänglich erscheint und ein Abnehmen der Spannungen ver­spürt wird, ist man gern bereit, dieser Gemeinschaft mehr Zeit zu widmen.8 Die Brief Sammlung der SCP und die aufgezeichne­ten Interviews verraten, dass an diesem Punkt der Kontaktnah-me und der embryonalen Verpflichtung eine kritische Hürde ge­nommen wird. Einige Suchende verpflichten sich rückhaltlos, nachdem sie mehrere Zusammenkünfte erlebt haben, in denen sie die Gemeinschaft genossen und den Eindruck wiedergewan­nen, dass «das Leben wieder zu meistern sei». Durch die Ortsge­meindezusammenkünfte macht Gott ihr geistliches Leben echt und greifbar. Sie beginnen deshalb an den Zusammenkünften der Ortsgemeinde ständig teilzunehmen. Ändern sind die Zu­sammenkünfte vielleicht unangenehm, so dass sie es vorziehen, nicht mehr zu kommen. Gewöhnlich werden solche Gäste Ziel­scheiben der Belästigung. Ihre Aufrichtigkeit oder Geistlichkeit wird in Frage gestellt oder direkt angegriffen. Telefonanrufe, unangekündigte Besuche oder direkte Konfrontationen können noch Wochen nach Zurückweisen der letzten Einladung folgen. Zu einem unschönen Vorfall solcher Feindseligkeit kam es 1978 am Long Beach College in Südkalifornien. Einige Studenten lie­ssen sich bereden, aber die meisten wollten nach einigen Kost­proben des Ortsgemeindelebens nichts mehr davon wissen. Die­se wurden dann im Wohnheim, in Klassenzimmern und in den


 

Schulgebäuden von den Studentenevangelisten belästigt, in Ge­spräche hineingezogen und aufgehalten, so dass sie zu spät in die • Stunden kamen. The Viking, die Studentenzeitung von Long Beach College, ging der Sache auf den Grund und berichtete, dass die Studentenevangelisten solche, die mit der Ortsgemeinde nichts mehr zu tun haben wollten, einkreisten und in die Enge trieben. In guter Watergatemanier leugnete die Long Beach Ortsgemeinde irgendwelche Verbindung mit ihren eifrigen Evangelisten. K/Ar/ng-Reporter jedoch konnten nachweisen, dass die Dinge anders lagen.

Die Umtriebe der Ortsgemeinde steigerten sich in einem sol­chen Mass, dass der Rektor von Long Beach College jegliche re­ligiöse Aktivität auf dem Universitätsgelände verbieten musste. Eine andere Universität in Kalifornien hat ebenfalls die bisher gewährte religiöse Toleranz wegen Ortsgemeindeaktivitäten aufheben müssen. Weitere Schulen erwägen aus den gleichen Gründen, dem Beispiel zu folgen. Diese Fälle sind nicht Einzel­vorkommnisse, sondern entsprechen dem üblichen Muster der Beziehungen der Ortsgemeinde zu umliegenden Gemeinschaf­ten.

Sobald sich jemand bekehrt hat, beginnt der Proselytenmacher natürlich anders vorzugehen. Der Bekehrte glaubt die Lö­sung gefunden zu haben, die Spannungen lassen nach, und die neugefundenen Methoden werden zukünftige Probleme mei­stern. Darum muss der Werber neue Mechanismen anwenden, die tief ergehende Verpflichtung bewirken, wenn man die Be­kehrten nicht wieder verlieren will. In Cias Fall wurden diese Mechanismen falsch angewandt. Die Folge war, dass sie ausstieg. Die meisten Ortsgemeinden verfügen jedoch über ausrei­chendes Potential an Personen und Organisation, um so wirk­same Loyalitätsmechanismen in Gang zu setzen, dass der Neu­ling im Schoss der Gemeinde bleibt. Ortsgemeindeleute sind die hingegebensten Leute, die man antrifft. Sie sind bereit, den Preis der Hingabe zu bezahlen, egal wie hoch er ist.

Loyalitätsmechanismen

Soziologische Studien zeigen die Gleichförmigkeit der sozia­len Mechanismen, welche die Organisationen anwenden, um Neubekehrte zu halten. Auf die Bekehrung zur neuen Lebens­auffassung folgt die vertiefte Hingabe, die sich in allen Grup­pen erstaunlich ähnlich vollzieht; die Ortsgemeinde nicht ausge­nommen. Sie verwenden Techniken, die eine «sanfte» Denkre­form bewirken sollen, die schliesslich in Preisgabe der Indivi


 

 


 

dualität und der Persönlichkeit, Gesellschaftsflucht und Erhö­hung der Gruppe und des charismatischen Leiters ausmünden.

Das Schema, welches das SCP zur Beschreibung der Loyali­tätsmechanismen verwendet, zeigt eine Entwicklung, die zwei Phasen durchläuft: 1. Einkleidung-Auskleidung; 2. Begräbnis-Auferstehung.9 Dieser Ablauf entspricht dem in den Sekten gängigen Muster der Hingabe des Bekehrten an die neue Le­bensweise.

In der Einkleidungs-Auskleidungsstufe ist das Hauptanliegen die Schaffung einer neuen Lebensweise. Sie wird dadurch er­reicht, dass Zeit, Begabung und Geld in die Gruppe investiert werden, während man gleichzeitig die alte Lebensweise, Freun­de und Interessen schrittweise und gründlich aufgibt. Die zweite Stufe der Verpflichtung (Begräbnis-Auferweckung) besteht im Verlust der Identität des Individuums an die Gruppenidentität. Gewisse Phänomene der beiden Stufen überschneiden sich, so dass sie nahtlos ineinander übergehen, während immer tieferge­hende Hingabe erzeugt wird.

Vieles, was wir hier über die Loyalitätsmechanismen der Ortsgemeinde berichten, entnehmen wir Gesprächen mit Max Rapoport, dem Mann, der bis zu seinem Aussteigen im August 1978 als Lees Thronfolger galt. Rapoport war ausser Lee die ein­zige zum Lehren befugte Person in der Ortsgemeinde Amerika. Er schrieb zwar keine Ortsgemeindeliteratur, leitete aber die Schulungskurse für die internationalen Ortsgemeindeleiter und hielt zusammen mit Lee in mehreren Zusammenkünften den Vorsitz. Wie Aaron dem Mose war Rapoport dem Lee das Sprachrohr. Was er sagt, deckt sich mit Berichten anderer ehe­maliger Ortsgemeindeleute.

1. Einkleidung

Der Bekehrte findet gleich eine Menge von Aktivitäten und neuen Beziehungen, in die er sich nach Beitritt hineinstürzen kann. Die grosse Anzahl von Veranstaltungen und Zusammen­künften verschlingt ungeheuer viel Zeit. Unter der Woche be­sucht man am Dienstag und Freitag Gebets- und Lehrabend von 19 Uhr bis 21.30 Uhr. Am Sonntag sind zwei Zusammen­künfte auf dem Programm; eine für den «Tisch des Herrn» (Abendmahl) und eine andere für Anbetung und Lehre. An je­dem Wochentag ist Morgengebetsstunde von 5.30 Uhr bis 6 Uhr. Rapoport schätzt, dass 30% aller Ortsgemeindeglieder am Morgengebet teilnehmen. Die übrigen 70% halten sich zu ande­ren Pflichten. Teilnahme an den übrigen Zusammenkünften ist

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obligatorisch, es sei denn, man wolle eine Rüge von den Ge­meindeleitern einstecken.

Neubekehrte ermutigt man, so viele Zusammenkünfte wie ir­gend möglich zu besuchen. Die zahlreichen Versammlungen er­klären, warum die meisten Ortsgemeindemitglieder in einem Umkreis von 5 km vom Versammlungsraum leben und warum Neubekehrte gewöhnlich umziehen. Das bewirkt ein Zweifa­ches: Erstens verlassen die Neulinge die vielen Freunde und be­kannten Plätze ihrer ehemaligen Umgebung. Zweitens wird ein völlig neuer Lebensstil in Gang gesetzt. Beziehungen und Akti­vitäten mit neuen Bekannten werden hergestellt, wobei alles der obersten Priorität unterstellt ist: der Ortsgemeinde zur Verfü­gung zu stehen. Die Investierung von Zeit, Geld und Energie ist das Charakteristische dieser anfänglichen Stufe der Verpflich­tung.

Die Forderung, alle Zusammenkünfte besuchen zu müssen, schliesst zwangsläufig die Pflege enger Freundschaften oder pri­vater, schöpferischer Aktivitäten ausserhalb des Ortsgemeinde­lebens aus. Den Mitgliedern wird sogar abgeraten, sich mit den Brüdern zu treffen, um über etwas anderes als «geistliche Ange­legenheiten» zu sprechen. Rapoport sagt: «Enge Freundschaft unter Ortsgemeindegliedern (und besonders mit Leuten, die nicht zur Ortsgemeinde gehören) gilt als gänzlich verächtlich.» Beziehungen werden nur durch die persönliche Teilnahme an den Zusammenkünften entwickelt. An einer Konferenz in Te­xas im vergangenen Jahr sagte Witness Lee, Freundschaft sei seelisch und ungeistlich. Er untermauerte seine Überzeugung durch das Bekenntnis, er hätte «auf der ganzen Welt keinen Freund».

Neulingen geht erst nachträglich auf, wie gründlich sie ihre Zeit und Energie in die Ortsgemeinde investiert haben, weil die Einheit und Harmonie so überzeugend und einladend wirkten. Nach ihrer Beobachtung ist Gott wie in keiner anderen Gemein­de in einzigartig machtvoller Weise gegenwärtig. Das ist für vie­le besonders attraktiv.

2. Auskleidung

Der nächste logische Schritt nach der Verpflichtung an die zahlreichen Ortsgemeindegeschäfte ist das Ablegen des «alten Lebens». Alte Freunde, Lieblingsplätze und frühere Hobbies werden zugunsten der warmen, gotterfüllten Zusammenkünfte preis gegeben. Drangabe des Bisherigen ist die logische Folge der Investierung in Neues, Das Ablegen ist ein direktes Verzich-

 

ten auf die alten Lebensformen. Die Forderung der Ortsgemein­de geht über das neutestamentliche Gebot hinaus, Unsittlichkeit abzulegen, und verbietet den Mitgliedern fernzusehen, Zeitung zu lesen und ins Kino zu gehen. Begeistert rief Rapoport im Ja­nuar diese Jahres: «Zum ersten Mal seit neun Jahren weiss ich, wann um den Superbowl gespielt wurde und wer gewann!»

Durch geschickte Manipulation werden die Leute in eine gut­kontrollierte Umgebung hineingelenkt, in der selbst wache, in­telligente Bürger vom sozialen Milieu, in dem sie leben und ar­beiten, wirksam isoliert werden. Mitglieder der Ortsgemeinde sind Verkäufer, Manager, Unternehmer, Arbeiter und Ge­schäftsleute, die in ihrem Bereich erfolgreich sind. Rapoport berichtet jedoch, dass Lees besonderes Emtefeld Studenten, In­tellektuelle und einflussreiche Institutionen sind, weil dort Ein­gänge in entscheidende Schichten der Gesellschaft geschaffen werden können. Ein Ortsgemeindeangestellter meint zu unse­rem Nachforscher, der Einsatz von SCP in den Sekten sei nicht wertvoll und eine negative Kraft Verschwendung, da diese Leute minderwertig seien. Mitten im Beruf können Ortsgemeindeleute wirksam von kulturellen Bewegungen oder Trends in der Gesell­schaft isoliert werden.

Ein Ritual, das wir nur von der Ortsgemeinde kennen, ist das «Verbrennen». Nach einer Zeit werden die Bekehrten gebeten, liebgewordene Gegenstände oder unwichtige Dinge zu verbren­nen. Grundlage für diese Praktik ist die Ansicht, unnötige Be­sitztümer seien ein Hindernis zur Geistlichkeit, weshalb ihr Be­sitz seelisch und ungeistlich sei.

Sondern Gottes Absicht mit den suchenden Heiligen ist, alle materiellen Segnungen und physischen Freuden wegzunehmen, damit sie alles in Gott finden. Nichts im Himmel und auf Erden kann ihr Genuss sein, ausser Gott selbst (C, S. 129). (Dagegen steht ausdrücklich 1. Tim. 4, 1-5!)

Zusammen mit ändern Mitgliedern verbrannte Rapoport ei­nes Abends am Strand von Huntington Beach, Kalifornien, Fernsehgeräte, Radios, Bücher, Lieblingsanzüge, Hochzeits­alben, Familienbilder usw. Verbrennungen waren früher häufi­ger, kommen aber jetzt noch gelegentlich vor.

Die zweijährlichen Konferenzen, die in Anaheim während den Ferien zu Thanksgiving und Weihnachten gehalten werden, bilden einen weiteren Auskleidungsmechanismus. Rapoport liess uns wissen, dass Lee diese Konferenzen bewusst auf diese Zeit festlegt, um die Ortsgemeindeleute von den nostalgischen Festfeiern der Freunde und Verwandten fernzuhalten. Jährlich

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besuchen Tausende diese Konferenzen. Die Ortsgemeinde feiert keine weltlichen oder religiösen Feiertage. Die sentimentalen Jubiläums- und Geburtstagsfeiern sind in der Ortsgemeinde ebenfalls verpönt.

Neubekehrte, die durch Gehorsam zu diesen Ordnungen ihre Loyalität bekunden, hoffen auf die Anerkennung der Ältesten, sie seien geistlich gewachsen.

Ein weiterer markanter Auskleidungsmechanismus ist die Di­stanzierung von Leuten, die Witness Lee beleidigt haben. So brandmarkte Lee Rapoport an drei Tagen öffentlicher Zusam­menkünfte, und hiess die Gemeinde (besonders Rapoports Freunde) ihre Verbindungen mit diesem Abtrünnigen abzubre­chen, nachdem er die ganze Familie Rapoport exkommuniziert hatte. Der Schock unter Rapoports Freunden war so gross, dass eine Frau psychiatrische Betreuung brauchte. Weitere Mitglie­der sind solchen Demütigungen durch öffentliches Herunterma­chen ausgesetzt worden. Darüber wird noch vermehrt im Ab­schnitt «Angst» die Rede sein.

Die Forderungen von Einkleidung-Auskleidung bleiben für die gesamte Zeit der Mitgliedschaft bestehen. Sie setzen sich grundsätzlich aus zweierlei zusammen: Erstens, die Brücken werden niedergebrannt. Ein hoher Preis wird von den Neulin­gen bezahlt, die umziehen, neue Beziehungen knüpfen und sich für die Ortsgemeindezusammenkünfte verpflichten. Die Preis­gabe der alten Freunde und Besitztümer und die beständige Iso­lation vom normalen Gesellschaftsleben ist ein noch grösseres Opfer. Es ist natürlich sehr schwer, sich dann noch von der Ortsgemeinde zu lösen. Alle Brücken zur Vergangenheit sind verbrannt worden; die neuerrichteten führen alle zur Ortsge­meinde.

Ungenügendes Einkommen kann das Austreten eines fragend gewordenen Mitgliedes verunmöglichen. Rapoport sagte, dass viele Ortsgemeindemitglieder sich eingekerkert vorkommen. Die kürzlich aufgetretenen Unruhen sind Folgen des seit zwei Jahren angestauten Verlangens etlicher auszusteigen. Austritt verlangt aber ungewöhnlichen Mut; das psychische Nachspiel kann katastrophal sein. Die meisten, die ausgetreten sind, muss­ten umziehen, um Nachstellungen zu verhindern. Selbst dann sind sie des Friedens nicht gewiss. Ehemaligen Anaheim Ortsge­meindegliedern, die jetzt in Denver, Colorado, wohnen, wur­den die Häuser mit Eiern beworfen und die Farbe besudelt. Von Belästigungen und telefonischen Drohanrufen gar nicht zu re­den.

 

Zweitens wird eine massive «psychologische Schranke» auf­gebaut — eine wir/sie Mentalität. Ortsgemeindeleute finden, sie hätten einen hohen Preis bezahlt, um Gott in einer Weise zu er­fahren, wie andere Christen es nicht tun. Dieser Preis betrifft sowohl die theologische als auch die materielle Ebene. Die Leu­te nehmen Lees theologische Abhandlungen an, während sie sich aller übrigen Quellen geistlicher Erleuchtung entledigen. Sie beginnen sich selbst als die einzigen geistlichen Leute zu be­trachten, die Gott verwenden kann und will. Nachdem sie den «weltlichen» materiellen Preis der Entsagung bezahlt hat, wird die Ortsgemeinde beständig von Lee als der einzige Ort der Seg­nungen und der Gegenwart Gottes gerühmt. Die Christen und das Christentum werden dafür ständig heruntergemacht. Auf diese Weise wird eine wir/sie Mentalität gezüchtet, die sich in den Beziehungen der Ortsgemeinde innerhalb der Gesellschaft niederschlägt. Klar kommt das negative Potential dieser wir/sie Denkweise in Lees Buch Christ Versus Religion (Christus oder Religion; eine ätzende Kritik an den Christen) zum Ausdruck. Gesellschaftliche Auswüchse dieser Denkweise werden uns bild­stark durch die Ortsgemeindemärsche demonstriert, an denen die Mitglieder T-Shirts mit der Aufschrift «Gott hasst die Chri­stenheit» tragen und vor Kapellen oder Gemeindehäusern ande­rer Denominationen stehenbleiben und rufen: «Niederbrennen! Niederbrennen!»

5. Begräbnis

Der nächste Schritt im Loyalitätsmechanismus ist die voll­ständige Verleugnung des Individuums und die Erhöhung der Ortsgemeinde und Witness Lees. Naturgemäss kann dieser Schritt erst nach vollstreckten! Einkleiden-Auskleiden gemacht werden. Gespräche mit Mitgliedern offenbaren, dass Leute, die über ein Jahr in der Gemeinde bleiben, gewöhnlich die Begräbnis-Auferstehungs-Stufe erreichen. Diese Stufe regelt die Fragen der Autorität in der Ortsgemeinde und der Bedeutung von Lees Lehre über Heiligung, wozu Angst/Schuld Mechanis­men zur Beherrschung der Gemeindelaien verwendet werden. Dem objektiven Beobachter wird bewusst, wie persönlichkeits­zersetzend der Begräbnis-Auferstehungs-Zyklus ist. Weil aber Einkleiden-Auskleiden eine solide Grundlage geschaffen hat, erleben die Teilnehmer die Begräbnis-Auferstehungs-Stufe als harmonischen, erwünschenswerten Fluss der Dinge.

Auf Lees Lehren begründend glauben die Ortsgemeindeleute, die Zusammenkunft sei der wahre Ort für geistliche Erfahrun-

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gen. Individuelle Gotteserfahrung durch persönliche Stille gilt als gesund, aber nicht als notwendig. Vielen Mitgliedern sind die öffentlichen Zusammenkünfte die einzige Quelle ihres geist­lichen Lebens. Lee lehrt, dass Gottes «beste» Offenbarung in den Zusammenkünften geschieht. Ehemalige erinnern sich an den Druck, dem sie durch Lees Lehren ausgesetzt waren, die Zusammenkünfte zu besuchen. Wer nicht beiwohnte, fühlte sich sofort diskriminiert und wurde zuweilen öffentlich gerügt. Diese Unterbetonung des persönlichen geistlichen Lebens nimmt den Gläubigen unmerklich ihre eigene Identität als ein­zigartig begabte Kinder Gottes.

Die starke Betonung von der Wichtigkeit der Zusammen­künfte, der Isolierung von der Gesellschaft und vom «alten Le­ben» zusammen mit der offiziellen Sanktionierung gegen enge Freundschaften führen unweigerlich zum Verlust der Individua­lität. Lee lehrt gar, es sei ungeistlich und sündig, als Individuum zu handeln und zu denken. Das Individuum muss verschwinden, es muss als eine Wesenheit eigener Bedeutung und Wichtigkeit sterben. Der Zenit der Geistlichkeit ist die aktive Teilnahme der Gläubigen an den sinnvollen Handlungen in den grossen Ge­meindeversammlungen .

Witness Lee und die Ältesten üben in den persönlichen Ange­legenheiten des einzelnen völlige Autorität aus. Wir wollen das näher untersuchen.

Der Verlust individueller Autorität kommt in der Art, wie viele Mitglieder ihre Probleme lösen, zum Ausdruck. Anstatt zu beten, Einsicht aus der Schrift zu gewinnen, reife Gläubige um Rat zu fragen und die Entscheidungen selbst zu fällen, überlas­sen sie gewöhnlich die Entscheidungen den Ältesten. Die Älte­sten hören sich das Problem eines Mitglieds an und geben ihm dann den Willen Gottes bekannt. Das zeigt, wie wenig man dem einzelnen zutraut. Die Ältesten entscheiden über alle Lebensbe­reiche der Laien: Arbeitsstelle, Schulbildung, Bekanntschaften, Finanzen usw. Es ist schon vorgekommen, dass die Ältesten für einzelne Mitglieder oder gar für ganze Familien den Willen Got­tes bestimmt haben, ohne dass man sie um ihren Rat gefragt hat­te.

Die Geschichte der Ortsgemeinde berichtet von Umsiedlun­gen bestimmter Familien (auf Anraten Lees hin) in neue Städte, um Tochtergemeinden zu gründen. Einige Familien werden er­muntert, sich denen anzuschliessen, die sich freiwillig gemeldet haben, was das auch für Opfer mit sich bringen mag. Ehemalige meinen, der sanften Gewalt der «Ermunterung» könne man

kaum widerstehen. Als Augenzeugen wissen sie von Familien zu berichten, die durch häufiges Umziehen kaputt gegangen sind.

Lees Lehre legt grosses Gewicht auf das Begraben des Indivi­duums. Ortsgemeindemitglieder werden leidenschaftlich dazu aufgerufen, persönliche Vorzüge und Neigungen der Gruppen­harmonie und dem Gemeinnutzen zu opfern. Folglich besitzen die einzelnen nur insofern Wert, als sie Gruppenziele fördern und an Gruppenaktivitäten teilnehmen. In seinem Buch The All-Inclusive Christ widmet Lee die letzten Kapitel der Darstel­lung wahrer Geistlichkeit. Die Unterordnung individueller Ziele den Zielen der Gruppe ist die Essenz wahrer Geistlichkeit.

Ohne Unterordnung gibt es keine Armee. Wenn wir Christus genügend geniessen, werden wir uns einander unterordnen. Wir können nicht anders. Wahre Liebe liegt in der Unterordnung. Wenn wir uns einander unterordnen, lieben wir uns wirklich. Und wenn wir Unterordnung haben, ist die Autorität Christi unter uns (A, S. 190).

Bibelgläubige dürfen in diese Sätze nicht ihre eigenen, oft all­zu vertrauten Definitionen hineinlesen. «Unterordnung» be­deutet im evangelikalen Sprachgebrauch «gegenseitige, selbst­verleugnende Achtung», aber in Lees Sprachgebrauch nicht! Dem Ortsgemeindeanhänger bedeutet Unterordnung eines: selbst vernichtendes Verwerfen der eigenen Individualität.

Unterordnung gründet sich auf Lees Forderung nach Begra­ben des Individuums. Unterordnung und mit Christus Begra­bensein sind wohl biblische Themen, aber Lee verwendet sie, um die Mitglieder der Ortsgemeindeautorität auszuliefern, und nicht, um ihnen den Weg zur Befreiung von der Macht der Sün­de zu zeigen. Lee schreibt über das Begraben werden des Gläubi­gen:

Wir sind mit Christus begraben worden; es ist aus mit uns! Erkennst du wie gross das Wort «begraben» ist? Es wäre gut, es in grossen Buchstaben über dein Bett zu hängen. Begraben! Hänge es auch im Wohnzimmer auf, im Esszimmer, in der Kü­che. In jedem Zimmer. Begraben, begraben, begraben! Ich bin begraben (A, S. 157).

Wenn jemand zu den Idealen der Gruppe bekehrt worden ist, nimmt er gewöhnlich die Indoktrinierung, die ihn enger an die Gruppe bindet und ihn allmählich aus jeder widersprüchlichen Informationsquelle und sonstiger Verbindung löst, freudig auf.

Naturgemäss führt solch selbstvernichtende Unterordnung zu ganz besonderen psychologischen Bedingtheiten. Im Vertrauen, dass die Gemeinde aus lauter «begrabenen» Individuen besteht,


 

mahnt Lee die Leute, nie die Anweisung eines Ältesten in Frage zu stellen — ob sie korrekt sei oder nicht — wenn sie nicht an göttlichem Segen verlieren wollen. Kein Mitglied hinterfragt diese Lehre; am allerwenigsten wagt man, gegen Lee selbst auf­zutreten. Rapoports biblische Infragestellung Lees endigte nach einem Verlust an Macht mit dem Ausschluss. Wie durchdrin­gend die Autorität Lees und der Ortsgemeinde ist, zeigt sich in den Bestimmungen zum Verhalten der Geschlechter. Es wird nicht nur von freundschaftlichen Beziehungen abgeraten, son­dern Verabredungen und Vertrautheiten zwischen den Ge­schlechtern ist verboten. Am völligsten kamen diese Bestim­mungen in einer Ortsgemeinde im Nordwesten der USA zum Ausdruck, in der die Ältesten und ihre Frauen Ehen zwischen Leuten, die sich nur flüchtig kannten, arrangierten. Paare wur­den gebildet, weil die Ältesten den Eindruck hatten, Gott wolle, dass sie die guten Brüder und Schwestern zusammenführen. In einem einzigen Monat kamen so unter der Aufsicht der Frauen der Ältesten dreizehn Hochzeiten zustande.

Dadurch, dass die Gemeindeglieder alle Verantwortung und Autorität in den Dingen des persönlichen Lebens (z. B. Wahl des Ehepartners) preisgeben, sind sie der Leitung völlig ausge­liefert. Darum wird die unterwürfige Gemeinde auch kaum die Autoritätsstruktur der Ortsgemeinde gefährden, wie fragwür­dig ihre Praktiken und Entscheidungen auch sein mögen. Durch diese Unterordnung wird die Machtstruktur der Ortsge­meinde unverwundbar.

4. Auferstehung

Ortsgemeindeleute finden, dass das Begrabenwerden eine er­wünschenswerte Sache ist, weil sie Gottes besondere Fürsorge, Bewahrung und Zuneigung bewirkt. Das Gemeindeleben wird pausenlos gerühmt und durch die aktive Unterordnung des ein­zelnen getragen. Dr. Anthony Campolo stellt fest, dass die End­station dieser völligen Hingabe der Verlust der persönlichen Identität an die Gruppenidentität ist." Das Individuum ist be­graben und wird zu einer höheren Existenz auferweckt: zur Gruppenexistenz. Gruppenerfolg schafft tiefere emotionale Be­friedigung als persönliche Errungenschaft. Das individuelle Ich geht in der grösseren Gruppenpersönlichkeit unter, indem es dessen Sorgen und Erfolge zu seinen eigenen macht. Wer nicht mehr mit der Unterordnung der Begräbnisphase ringt (Selbst­verleugnung), sondern ständig und willig die Gruppenziele rühmt, ist zu einer höheren Stufe auferweckt worden. Völlige


 

 

Unterwerfung ist der akzeptierte, erwünschte Zustand des Seins.

Befriedigte Ortsgemeindebekehrte finden ihr Durchschreiten der Einkleidungs-Auskleidungs- und der Begräbnis-Auferste-hungs-Stufen einen ehrenhaften, wenn gleich mühseligen, zur Herrlichkeit weisenden Pfad. Gespräche mit ehemaligen Mit­gliedern zeigen, dass sie sich nicht so sehr von Lee missbraucht vorkommen, als dass sie über sich selbst verwirrt sind, dass sie ihre Zweifel und Bedenken an der Ortsgemeinde als Versuchun­gen, ungeistlich und ungehorsam zu werden, auffassen konn­ten.

Nach der Darstellung dieser fragwürdigen Loyalitätsmecha­nismen wird es nützlich sein, die Rolle von Autorität und Angst in der Ortsgemeinde aufzuzeigen. Laut Rapoport sind Handha­bung von Autorität und Auslösen von Angst zwei Formen der sozialen Manipulation, die von Lee und der Ältestenschaft ge­braucht werden. Lee bezweckt damit, während der psychologi­schen Verwandlung in der Begräbnis-Auferstehungs-Phase Gruppensolidarität herzustellen.

5. Autorität

Witness Lee ist die massgebende Stimme in der Ortsgemeinde. Seine Meinungen haben päpstliches Gewicht. Rapoport teilte uns mit, dass Witness Lee wöchentlich drei geschriebene Bot­schaften und eine Botschaft auf Tonband herausgibt, die durch Stream Publications an alle Ortsgemeinden (im In- und Aus­land) den Ältesten zum Auswendiglernen und Vortragen ver­schickt werden. Abwandlungen oder Abweichungen von Lees ursprünglicher Botschaft werden scharf gerügt. Wir zitieren Ortsgemeindeälteste und -apologeten, die uns gesagt haben, Witness Lee sei heute die Verkörperung des Heilshandelns, der Autorität und der Gegenwart Gottes auf der Erde, so wie es der Apostel Paulus in den frühen Jahren der Gemeinde war. Lee rät nicht von solcher Anhimmelung ab, noch hat er etwas dagegen, dass Mitglieder ihn als das Orakel Gottes oder Apostel dieses Zeitalters rühmen.

Die Lebensgeschichte Watchman Nees, Gegen den Stom, ent­hält vielsagende Aussagen über Witness Lees Charakter. Er war 1947 in Inlandchina in den Gemeinden tätig. Der Verfasser, An-gus I. Kinnear beschreibt Lee als einen «Aktivisten» mit einem «sprunghaften, launischen Temperament». Er war «tatkräftig und autoritär, lebte von grossen Zahlen und hatte das Talent, Leute zu organisieren».12 Folgendes Zitat aus dem genannten


 

Buch veranschaulicht die wirksame, aber tötende Durchorgani­sierung, die Witness Lee in den Gemeinden vornahm (die man damals «Kleine Herde» nannte):

Die Folge solch tatkräftiger Organisation war allerdings, dass einiges von der früheren Freiheit im Geist verlorenging. Abwe­senheit wurde notiert, so dass die Ferngebliebenen anhand eines Mitgliederverzeichnisses mit Adresse, Beruf, Zivilstand etc. aufgesucht und zur Rede gestellt werden konnten. Der Tisch des Herrn wurde «abgeschrankt»; d. h. man musste formal vor­gestellt werden und ein Namensschild tragen. Es genügte nicht mehr zu bekennen, dass man wiedergeboren war und den Herrn liebte. Witness Lee bemühte sich natürlich schnell zu erklären, das sei nicht «Organisation»; wie ein Glas das Trinkwasser ent­halte, seien diese Massnahmen lediglich Gefässe zur Mitteilung geistlicher Dinge. Aber er ermahnte jedermann in der Gemein­de, unterwürfig zu sein: «Tue nichts, ohne zu fragen. Seit dem Sündenfall macht der Mensch, was ihm gefällt. Wir haben Ord­nung. Bei uns ist A utorität. Die Gemeinde ist ein Ort strenger Zucht.13

Wie blind der autoritativen Lehrstimme Lees vertraut wird, illustriert die häufige Redewendung von Anaheim Gemeinde­gliedern, «den Fluss vom Thron zu erfassen». Gemeint ist damit das Bemühen, den Fluss oder die Bewegung des Geistes Gottes in den Hauptzusammenkünften zu spüren oder durch Intuition zu erfassen. Der «Fluss vom Thron» bezieht sich auf Lees Pre­digt.

Bezeichnenderweise haben Gemeindeglieder keine Möglich­keit, Unzufriedenheit oder mangelndes Verständnis für die Ge­meindeleitung zum Ausdruck zu bringen. In den meisten sek-tenhaften Gruppen werden geistlichere oder sonstwie überlege­ne Leute eingesetzt, die sich mit der Kritik einzelner auseinan­derzusetzen haben, um damit öffentlicher Kritik an der charis­matischen Leiterfigur oder an der Leiterschaft vorzubeugen. In der Ortsgemeinde existiert aber nicht einmal dieses Ventil. Man hat absolut keine Möglichkeit, Bedenken zu äussern, sei es pri­vat oder öffentlich. Fragenstellen ist negativ. Kritisieren ist un­geistlich, ja spaltungsfordernd. Sollte Unzufriedenheit hoch­kommen, wird sie unterdrückt. Damit kommen wir zum Werk­zeug der Angst.

6. Angst

Die Autorität, die Witness Lee bekleidet, lässt ihn zu der Stimme Gottes werden. Periodisch demütigt Lee Mitglieder da-


 

 

durch, dass er sie öffentlich mit Namen nennt und sagt, sie seien nicht «im Fluss», sondern unter dem Einfluss Satans. Zielschei­be von Lees Rüge zu sein, kann sich verheerend auswirken. Die­se Demütigungen, die noch durch Lees Lehre über Heiligung und ein «milleneisches Fegefeuer» komplementiert werden, können grösste Unsicherheit auslösen und den Betroffenen so lahmen, dass die letzten Überreste von Selbstachtung, die noch nicht «begraben» worden sind, vernichtet werden. Ein Opfer solch öffentlicher Demütigung, Max Rapoport, liess uns wissen, dass Lee diese Straf reden bewusst plant, um durch solchen Ge­genstandsunterricht möglichem Aufmucksen zuvorzukommen.

Sie kommen sporadisch und aus verschiedenen Ursachen vor. Lee veranlasste einen Ältesten, die Rapoports vor einer Zuhö­rerschaft von 1000 Leuten plus Anaheim Gemeindemitgliedern zu brandmarken. Der Familie wurde vorgeworfen, sie hätte den Glauben verleugnet und gleich Hymenäus und Alexander «was den Glauben betrifft, Schiffbruch erlitten» (1. Tim. 1,19). Die Rapoports wurden zu Abtrünnigen erklärt. Als ein Ausnahme­fall verliessen die Rapoports zusammen mit vierzig anderen die Gemeinde, womit sie den ersten grösseren Austritt in der Ge­schichte der amerikanischen Ortsgemeinde markierten. Ein an­deres starkes Beispiel für öffentliche Demütigung traf den Prä­sidenten einer Ortsgemeinde in Nordkalifornien. Weil er Hip­pies evangelisierte, rügte ihn Lee und verglich ihn mit Lot, der durch Inzucht mit seinen Töchtern Söhne zeugte. Lee behaup­tete, dass bekehrte Hippies durch geistliche Inzucht geboren sei­en, weshalb sie der Ortsgemeinde unwürdig seien. Dieser Ge­meindeleiter, der völlig «begraben» und zu Lees Ansichten «auferweckt» worden war, brach unter dem Druck öffentlicher Demütigung zusammen. Er musste zur psychiatrischen Pflege in ein Spital überwiesen werden.

Im allgemeinen bleiben Mitglieder, die öffentlich herunterge­macht werden, in der Gemeinde. Folgende Gründe sind dafür verantwortlich, dass die Mitglieder solch beklagenswerte Be­handlung über sich ergehen lassen: Lee lehrt, dass die Ortsge­meinde im Tausendjährigen Reich einen besonderen Rang ein-nehmen werde. Die Ortsgemeindeglieder werden das bevorzugte Volk göttlicher Wahl sein. Christen, die nicht zur Ortsgemeinde gehören, werden mit wenigen Ausnahmen während den 1000 Jahren an einem dunklen, abgeschriebenen Ort eingekerkert sein, um nachher Gott und der Ortsgemeinde im Himmel ange­gliedert zu werden. Dieser Ort ist nichts anderes als ein millenei­sches «Fegefeuer» für alle, denen das Leben Gottes ermangelt


 

und die nicht vollgeistlich sind. Lee verleiht seiner Drohlehre den nötigen Nachdruck mit Anekdoten von Leuten, welche die Ortsgemeinde verliessen und darauf in finanzielle und gesund­heitliche Krisen stürzten oder gar starben.

Diese Propaganda bewirkt Angst vor dem Austreten, weil man nie weiss, was das für geistliche und/oder materielle Folgen haben könnte. In der Gemeinde bleiben, verheisst den Opfern von Lees Strafpredigten auch nicht gerade Besseres. Öffentlich gedemütigte Mitglieder werden für eine Zeit geächtet und von zwischenmenschlichen Beziehungen ausgeschlossen. In Gesprä­chen haben wir erfahren, dass Ortsgemeindeleute mit solchen, die von Lees Launen herausgepflückt wurden, nicht mehr reden und ihnen auf der Strasse ausweichen. Diese Zeit der Aussto­ssung ist eine Fehlanwendung der alttestamentlichen Anweisun­gen betreffs Unreinheit. Rapoport bestätigte, dass die Angst da­vor, «herausgepflückt» zu werden oder das Geschehen selbst, eine ganze Reihe von Anaheim Gemeindemitgliedern nervlich so kaputt gemacht hat, dass sie in psychiatrische Kliniken einge­wiesen werden mussten. Für die Mehrheit aber gelten diese öf­fentlichen Straf reden als geeignete Mittel, ein höheres Mass an Geistlichkeit zu erzeugen. Lee nennt das «Zerbruch des äusseren Menschen». Der Zweck heiligt also die Mittel.

Öffentliche Demütigung durchzustehen und zu ertragen mag bizarr erscheinen, was es auch ist. Man begreift aber die Hinga­be und den religiösen Eifer der Leute, die diesen Dingen ausge­setzt werden, wenn man sie als die logische Weiterführung der Lehren Lees erkennt. Rapoport sagte, Lee sei ein Meister im Er­zeugen einer Gruppenhochstimmung, während er es einzelnen gleichzeitig fast unerträglich machen kann. Bezeichnenderweise brauchen Frauen öfter als Männer psychiatrische Pflege, weil sie von den Entscheidungen der Männer abhängig sind. Da­durch haben sie nur geringe Möglichkeiten, durch Beteiligung am Gruppengeschehen Geistlichkeit zu demonstrieren, weshalb sie für Zweifel, Unsicherheit und Angst viel anfälliger sind.

7. Der grosse Bruder

Lees Heiligungslehre stützt nicht nur die Autoritätsstruktur der Gemeinde, sondern fördert auch das gegenseitige Misstrau­en unter den Mitgliedern. Laut Lee spürt, riecht, oder fühlt man die Geistlichkeit eines Menschen, erkennt sie also nicht an der Ausübung geistlicher Begabung, am gerechten Wandel oder an der Geistesfrucht (Galater 5). Folglich werden die Mitglieder ermutigt, einander und Aussenstehende zu «spüren». Wenn


 

 

man mit jemandem zusammenkommt, soll man die Vibratio­nen, die Schwingungen, die angeblich das Mass seiner Geistlich­keit verraten, zu erfassen suchen. Das fördert natürlich das ge­genseitige Misstrauen. Zwei Mitglieder treffen sich. Sofort ver­suchen sie von ihrer unsichtbaren Psyche geistliche Schwingun­gen auszustrahlen, wobei sie gleichzeitig die geistlichen Schwin­gungen des Gegenüber aufzufangen suchen. Nach Empfang dieser Schwingungen wird die Person eingestuft. Das bewirkt keinen geringen seelischen Druck für solche, die keine magneti­sche Persönlichkeit besitzen. Die gesellschaftlichen Bedingthei­ten der Ortsgemeinde führen unweigerlich in den wiederholt er­wähnten Zyklus von Einkleiden-Auskleiden und Begraben-Auferstehen; eine Taktik, die auch von ändern Sekten und Ma­nipulatoren verwendet wird.

Das Spiritual Counterfeits Project glaubt, dass Lees Theolo­gie der Sinne in den genannten zwischenmenschlichen Bezügen zur vollen Entfaltung gelangt ist. Sein theologisches System ent­hält keinerlei Kontroll- oder Bremsmechanismen, die einen wie obig dargestellten Missbrauch von Macht und Loyalität verhin­dern könnten. Wie in der Abhandlung über Lees Auffassung von Heiligung und Ethik dargestellt wurde, sind die Kategorien Frömmigkeit und Sünde vom Massstab der Schrift losgelöst worden. Lee entkleidet die Bibel ihrer Autorität, um theologi­schen und sittlichen Missbrauch rechtfertigen zu können. Die Schrift bestimmt, was für den Menschen Sünde oder Frömmig­keit ist, also keineswegs subjektive Wahrnehmungen, Gefühle und Intuition. Wenn die Schrift als alleinige Richterin der Sitt­lichkeit anerkannt wird, kann sie jedermann als Massstab zur Auswertung von Lehre und Praxis jeglicher Gruppe verwenden. Dadurch dass Witness Lee die Bibel der niedrigeren, schatten­haften Welt zuordnet, beraubt er die Ortsgemeindemitglieder dieser unveräusserlichen Lichtquelle.

8. Das Nachspiel: Austreten

Der Absprung Rapoports und mehrerer Amtsträger der Orts­gemeinde hat nicht wenig Unruhe in die Organisation gebracht. Neulich sind mindestens zweihundert führende Mitglieder aus­getreten. Noch weitere warten eine günstige Gelegenheit ab. Zwei Gründe lassen vermuten, dass es noch zu weiteren Austrit­ten kommen wird. Der Austritt Rapoports und anderer ist in diesem Umfang bisher einmalig in der amerikanischen Ge­schichte der Ortsgemeinde. Er hat bewiesen, dass Gott Abtrün­nige nicht mit körperlicher und/oder geistlicher Strafe heim-


 

sucht. Zweitens ist Witness Lee heute 74 Jahre alt. Ehemalige befürchten, dass beim Tode Lees für die meisten Mitglieder eine Welt zusammenbrechen wird. Auf alle Fälle befindet sich die Ortsgemeinde in einer Druckphase und scheint einen dramati­schen Wendepunkt anzustreben. In dieser Übergangsperiode müssen die Gläubigen, die nicht zur Ortsgemeinde gehören, sich um Einsicht in die traumatischen Zustände eines abgesprunge­nen Ortsgemeindemitgliedes bemühen. Die Spannungen sind nicht so leicht zu lösen, weshalb sie Feinfühligkeit seitens der Christen erfordern, damit sie ihnen helfen können, wieder An­schluss zu finden.

Margaret Singer, Psychologieprofessorin an der Universität Kalifornien, hat einen Artikel unter dem Titel «Corning out of The Cults» (Austritt aus einer Sekte) in der Januarausgabe 1979 von Psychology Today (Psychologie heute) veröffentlicht. Dar­in werden die Probleme ehemaliger Sektenmitglieder behandelt, die den Weg zurück in die Gesellschaft suchen. Laut Rapoport decken sich die Erfahrungen ehemaliger Ortsgemeindeleute weitgehend mit dem von M. Singer dargestellten Muster.

Aufgrund zahlreicher Fälle, die sie studiert hat, stellt M. Sin­ger fest, dass ehemalige Sektenmitglieder in den ersten Monaten in Depressionen, Einsamkeit, Unentschlossenheit, geistige Trägheit versinken und den Verlust eines elitären Status emp­finden. Früher bot ihnen das Sektenleben ein «24-Stunden-Regime von Ritualen, Arbeit Anbetung und Gemeinschaft... Wenn sie austreten, stellt sich häufig ein Gefühl der Sinnlosig­keit wieder ein».15 Auch Ortsgemeindeleute empfinden den Verlust von Achtung und Sinn, die ihnen die Zugehörigkeit zur Gruppe vermittelten. Die private, unorganisierte Zeit wirkt de­pressiv. Dazu kommt der Eindruck, man sei ausgebeutet und betrogen worden und hätte wertvolle Zeit verschwendet, was die Bedrücktheit zusätzlich steigert. «Ehemalige Sektenmitglie­der bereuen den Verlust dieser Jahre, in denen sie sich abseits der Hauptströmungen des gesellschaftlichen Lebens befanden. Sie können nicht mehr schritthalten mit ihren früheren Alters­und Gesinnungsgenossen. Sie empfinden den Verlust ihrer Un­schuld und Selbstachtung, wenn sie zur Einsicht gelangen, sie seien missbraucht worden, und hätten ihre Autonomie zu un­recht preisgegeben.»16

Auch Ehemalige der Ortsgemeinde werden von Einsamkeit geplagt. Beim Austritt müssen sie neue Freundschaften knüpfen und in einer Welt (christliche Gemeinschaften inbegriffen), die sie für satanisch gehalten hatten, gesellschaftliche Gewohnhei-


 

 

ten neu aufnehmen. M. Singer nennt das den Glaskasteneffekt. «Ein besonderes Problem... st eilt die prüfende und wachende Haltung von Familie und Freunden dar...geringfügige Welt­fremdheit, Zerstreutheit, bisweilen veränderte Bewusstseinszu-stände und irgend positives Reden über die Sektenzeit kann die Familie eines ehemaligen Sektenmitgliedes in Aufruhr bringen.»17 Rapoport bemerkte, dass, obwohl viele Ehemalige gute Beziehungen untereinander anknüpfen, das psychologi­sche Nachspiel verheerend ist. Nicht jedermann hat das Glück, zu einer Wohngemeinschaft zu finden. Cia ist beispielsweise je­mand, die jetzt völlig entwurzelt ist. Sie hat den Geschmack für irgendwelche christliche Gemeinschaft seit ihrer Ortsgemeinde­zeit völlig verloren. M. Singer berichtet, dass die nämlichen Pro­bleme und Spannungen, die das Verführungs-Syndrom auslö­sten, in unverminderter Kraft wieder aufleben können, was das Zurechtfinden noch weiter erschwert. Sie «müssen sich auch mit persönlichen und Familienproblemen, die sie bei der Bekeh­rung ungelöst liegen liessen, auseinandersetzen.»18 Herabgesetz­te geistige Schärfe tritt auch bei ehemaligen Ortsgemeindeleuten auf. Dafür haben Lees Theologie und sanfter Gedankenterror gesorgt. Rapoport sagte uns, Lee erteile bewusst Anweisungen, die Widersprüche enthalten, die ein klares Verstehen beein­trächtigen sollen. Die resultierende Verwirrung fördert den emotionalen Nährboden, dem Lee Unterwürfigkeit abgewinnt. Lees Theologie strotzt vor Widersprüchen. Ein klassisches Bei­spiel für Lees Absichten und Fähigkeiten, rationales Denken zu schwächen, ist folgender Augenzeugenbericht: Lee schleudert in einem öffentlichen Vortrag die Bibel auf den Boden und ver­urteilt sie als ein Buch des Todes. Sofort hebt er sie wieder auf und rühmt sie mit zarter Stimme als ein heiliges Buch, dem man Gehör schenken soll. Eine ständige Kost solcher rhetorischer Kunstkniffe verfehlt ihre Wirkung nicht. Man wird für den rechten Gebrauch und Zweck der Sprache in geistlichen Dingen unempfänglich. Lees ungewöhnliche Sprache, die sich mit der Forderung nach einem abgeschalteten und neu abgestimmten Verstand verbindet («komm' raus aus dem Verstand und wende dich an deinen Geist»), macht für viele Ehemalige eine längere Periode der Neuorientierung notwendig. In Singers Artikel ha­ben wir folgenden Kommentar eines ehemaligen Sektenmitglie­des (nicht Ortsgemeinde) zu verminderter Geistesschärfe: «Schritt für Schritt hatte mich die Gruppe von allem, ausser den einfachsten richtig-falsch Urteilen, abgeschnitten. Sie sorgen dafür, dass du keinen Zusammenhängen nachdenkst, indem sie


 

dir dauernd einreden: 'Nur nicht verzweifeln; nur nicht negativ sein.' Nach einer gewissen Zeit denkst du gar nichts mehr, au­sser die einfachsten ja-nein, richtig-falsch-Gedanken.»19 Singer stellt fest, dass es zwischen sechs und achtzehn Monaten dauern kann, bis Sektenabtrünnige die intellektuelle Stufe wieder er­reicht haben, die ihrer Bildung und Begabung entspricht.20 Das trifft für mehrere ehemalige der Ortsgemeinde zu.

Was den Abtrünnigen aus der Ortsgemeinde aber am meisten zu schaffen macht, ist der Verlust des elitären Status. Lee warnt dogmatisch vor geistlicher und körperlicher Strafe, die alle er­eilt, welche die Ortsgemeinde verlassen, weil ja die Ortsgemein­de der einzige Ort des göttlichen Segens ist. Lees theologisches Schaukelspiel droht und rühmt die Ortsgemeindelaien gleichzei­tig. Den Getreuen verspricht Lee göttliche Belohnung in Form von besonderer Autorität im Tausendjährigen Reich; denn die wahre Gemeinde (die Ortsgemeinde) hat dem Kommen des Herrn den Weg bereitet. Den Untreuen jedoch malt Lee Übles vor Augen. Rapoport zitierte Leute, die noch immer fürchten, sie hätten Gott betrogen, obwohl sie verstandesmässig völlig da­von überzeugt sind, dass es das einzig Richtige war, die Ortsge­meinde zu verlassen. Das Schuldgefühl, den besonderen messia-nischen Auftrag aufgegeben zu haben, drückt sie. «Sie bringen es fertig, dir weiszumachen, sie allein wüssten, wie die Welt zu retten sei», berichtet ein Ehemaliger (nicht aus der Ortsgemein­de) in einem Interview mit Singer. «Du hast den Eindruck, du gehörst zur Avantgarde der Geschichte...Du bist aus den ano­nymen Massen heraus berufen, dem Messias beizustehen...Als die Erwählten steht man über dem Gesetz....Man ist zur schmeichelhaften Einsicht gelangt, dass man für Gott, die Ge­schichte und die Zukunft mehr bedeutet als gewöhnliche Men­schen. Eine der brutalsten Ernüchterungen nach dem Sektenle­ben ist der Verlust des Gefühls ein Erwählter, ein Mitglied einer Elite zu sein.»21 Lees Schrifttum vermittelt eindeutig dieses mes-sianische Bewusstsein.

Weitere Symptome für die Anpassungsschwierigkeit der Ehe­maligen sind Gewichtsabnahme, extreme Nervosität, plötzlich auflebende Erinnerungen an öffentliche Demütigungen oder sonstige Qualen während der Gemeindeversammlungen und Angst vor physischen Racheakten seitens der Ortsgemeinde oder Gottes.

Da ehemalige Ortsgemeindeleute anfangen, den Weg zu den christlichen Gemeinschaften wieder zu finden, sollten sich die Gläubigen zur Erleichterung ihrer Wiederaufnahme um ein


 

 

 


 

Verständnis dieser Dinge bemühen. Viele machen Schwankun­gen durch, wenn sie an die positiven Aspekte des Ortsgemeinde­lebens denken: völlige Hingabe der Laienschaft und ihre Bereit­schaft, anderen zu dienen. Das ist eine normale Folge einer traumatischen Gemütswallung und muss nicht unbedingt Rück­fall oder Rückschritt bedeuten. Die Gläubigen sollten mit sol­chen deshalb offen reden, statt den Dingen auszuweichen. Sin­ger schreibt: «...Zurückgekehrte wollen oft mit den ändern über die positiven Seiten des Sektenlebens sprechen. Aber ge­wöhnlich machen sie die Erfahrung, dass die Leute sich weigern, etwas anderes als die negativen Aspekte zu hören...Wenn sie helfen wollen, müssen Freunde und Familienangehörige ein Mi­nimalwissen von der betreffenden Sekte auf weisen...»22

Singer macht eine Aussage, die besonders für unseren Fall re­levant ist: «Da die Sekte Glaubensauffassungen und Verhalten von Aussenstehenden so scharf verurteilt, neigen Ehemalige da­zu, weiterhin dem normalen menschlichen Verhalten anderer gegenüber hyperkritisch zu sein. Das macht Wiederaufnahme noch härter. Wenn Eltern, Freunde oder sonstige Betreuer ver­suchen, sie zu weniger starrer Haltung zu bewegen, sehen sie das gerne als moralische Gleichgültigkeit oder als Relativismus an.»23 Ortsgemeindeleute sind von Nachrichtenmedien und kul­turellen Einflüssen für die Dauer ihrer Mitgliedschaft abge­schnitten gewesen. Ihre Gespräche haben sich gewöhnlich um geistliche, biblische Themen gedreht. Das Interesse an kulturel­len und gesellschaftlichen Dingen ist meist abgestorben. Darum sollten die Gläubigen mit viel Geduld die Ausgetretenen ermun­tern, sich vom geistlich/weltlich-Bewusstsein der Ortsgemeinde zu lösen.

Man muss beachten, dass die meisten Ortsgemeindeabtrünni­gen nicht aus lehrmässigen Gründen ausstiegen. Ehemalige hal­ten gewöhnlich noch immer viel von Lees Lehren, weshalb sie noch stark mit diesem «lebhaften theologischen Hintergrund» behaftet den Bibelstunden und Gebetsversammlungen beiwoh­nen. Wenn daher in Diskussionen Lees Ansichten zum Vor­schein kommen, darf man das nicht als einen Versuch werten, andere zu seiner Lehre zu bekehren. Es handelt sich ganz ein­fach um den letzten Bezugspunkt, von dem aus der Ehemalige das Christentum interpretiert.

9. Schlussfolgerung

Die Druckmittel der Einkleidungs-Auskleidungs- und Begräbnis-Auferstehungs-Zyklen tragen alle Kennzeichen der


 

sozialen Manipulation, die von den verschiedensten Sektenfüh­rern gehandhabt wird. Es ist offenkundig, dass Lees Theologie der Sinne diese gefährliche soziale Struktur fördert, aber keine Mechanismen auf weist, die den Missbrauch überwachen. Diese besondere Kombination von theologischem und sozialem Gefü­ge erzeugt eine Gemeinschaft von Menschen, die sich willig un­biblischer Lehre und Gemeinschaftsstruktur unterwirft.

Die Ortsgemeinde ist, gemessen an den üblichen christlichen Gemeinschaften, eine Anomalie. Ihre Leiterschaft bewegt sich mit ihren Lehren in den Schatten biblischen Lichtes. Die Mit­glieder werden durch die Gemeindeältesten ermuntert, sich an andere biblische Gemeinschaften heranzumachen, um Leute abzuwerben. Noch tragischer aber ist die Hörigkeit der Ortsge-meindelaien an Lee.

Das Zeugnis von Rapoport, das wir hier wiedergegeben ha­ben, ist wahrheitsgetreu und kann von weiteren Zeugen belegt werden. An den Austritten von Gläubigen aus der Ortsgemein­de wird der Leser feststellen können, dass zahlreiche Ortsge­meindeleute echte Christen sind. Bei der blühenden Vielfalt reli­giöser Auffassungen innerhalb der Christenheit lässt sich nicht vermeiden, dass Eifer in Sekten hineinführen und wieder her­ausführen kann.

Wir haben keine besondere Freude daran, diesen Bericht zu veröffentlichen. Wie befriedigend wäre es doch, könnte man Fragestellern antworten, Witness Lees Lehren deckten sich mit dem göttlichen Wort. Wir sind aber vom Gegenteil überzeugt und glauben, dass die Gefahren seines Systems aufgedeckt wer­den sollten.

Wir respektieren die Motivation der Ortsgemeinde, die Liebe und den Gehorsam an Gott wieder zu beleben. Ihre Bereit­schaft, falsch verstanden oder gar verfolgt zu werden, ist not­wendig, wenn man Gott treu dienen will. Ihr Eifer, öffentlich den Glauben zu bezeugen, beschämt manche bibelgläubige Ge­meinschaft. Aber wir können keine Gemeinschaft aufgrund ih­res Eifers beurteilen. Wir müssen auch ihre Glaubensinhalte im Lichte der Bibel und ihrer historischen Auslegung prüfen. Das ist der eine sichere Grund, auf dem wahre Einheit gebaut wer­den kann.

Man beachte die Worte des Apostels Paulus an die heidni­schen Epheser: «Denn Er ist unser Friede, der aus beiden eines gemacht und abgebrochen hat die Zwischenwand der Umzäu­nung...und die beiden in einem Leibe mit Gott versöhnte durch das Kreuz, nachdem er durch dasselbe die Feindschaft getötet


 

 

hatte... Also seid ihr denn nicht mehr Fremdlinge und ohne Bürgerrecht, sondern ihr seid Mitbürger der Heiligen und Haus­genossen Gottes, aufgebaut auf die Grundlage der Apostel und Propheten, indem Jesus Christus selbst Eckstein ist.»24

Auf dieser Grundlage allein sollen wir eine geeinte Gemeinde bauen. Wenn die Ortsgemeinde wirklich Einheit in Christo an­strebt, dann wollen wir miteinander reden und in der Schrift nach den Gedanken Christi forschen. Wenn sie aber mit bibel­gläubigen Christen in solch wichtigen Punkten, wie obig darge­stellt, nicht übereinstimmt, dann soll sie bitte ihren wirklichen Standpunkt darlegen, damit wir zur Kenntnis nehmen können, worin wir uns unterscheiden.


 

VI. Anhang

Die Ortsgemeinde verwendet gewisse seelisch-geistliche Techni­ken, um die Mitglieder in ein Bewusstsein mystischer Transzen­denz und kollektiver Solidarität zu führen. Sie befolgen dabei Grundsätze der geistigen Manipulation, die so alt sind wie die Menschheit und doch so aktuell wie erst oder Transzendentale Meditation, Diese Techniken, die in den gesamten nichtchristli­chen Religionen der Welt vorkommen, erzeugen Erfahrungen und Lehren, die dem biblischen Christentum völlig fremd sind.1

Die Funktion der geistlichen Techniken

Elementarbestandteil solcher Techniken ist gewöhnlich das Wiederholen. David Haddon behandelt dieses Element, wie es im Mantra auftritt, jenem endlos zu wiederholenden Laut der Hindumeditation, der sowohl in TM als auch in der Hare-Krischna Bewegung eine grosse Rolle spielt.

In der östlichen Meditation geht es darum, auf dem Erfah­rungsweg zur Gotteserkenntnis zu gelangen... Den verschieden­sten Techniken in den mystischen Traditionen des Ostens liegt die Ausschaltung aller bewusst gelenkten Gedanken zugrunde. Hier setzt die Bewusstseinsveränderung an. Ob man auf den ei­genen Atem, die ständig sich wiederholende Bewegung des Mu-dra, das komplexe Symbol der Mandala, das unlösbare Rätsel eines Zen Koan oder auf den Klang des Mantra meditiert, ist die Folge immer die selbe: Sinne und Gedanken werden ausgeschal­tet.

Eine häufig angewandte Technik, das Mantra, veranschau­licht die Wirkunsweise der Meditation. In den Yogasystemen, die Mantras verwenden, wird als Mantra gewöhnlich ein Sans­kritwort oder ein kurzer Satz, der eine Hindugottheit anruft, gewählt. Man sagt das Mantra leise vor sich her (oder spricht es laut), bis das Bewusstsein für die Umwelt völlig verloren ist. Das Mantra wird dann so lange fortgesetzt, bis jeglicher Gedanke zum Stillstand gekommen ist.2

Solche Techniken bewirken oft dramatische Veränderungen des Bewusstseins. Intellektuelle Aktivität und Reizempfinden werden erheblich herabgesetzt. Gleichzeitig werden innere Ef­fekte gesteigert (Emotionen, subjektive Erfahrungen, irrationa­le, nicht verbale Eindrücke der tieferliegenden Bewusstseinsstu­fen). Haddon verrät den Mechanismus, der diese psychischen Wirkungen auslöst:

Offensichtlich bewirkt stereotype Reizung eines einzelnen


 

 

Sinnesorgans das gleiche, wie eine Reizung des zentralen Ner­vensystems und führt schliesslich dazu, dass das gereizte Sinnes­organ völlig ausgeschaltet wird. Wenn man beispielsweise ste­reotype visuelle Reizung erzeugt, indem man zwei Halbkugeln über beide Augen klebt (halbierte Pingpongbälle wurden ver­wendet), dann verschwindet bald das visuelle Bild und der Zu­stand verminderten Umweltbewusstseins unter erhöhter Alpha Gehirnströmung, die für die Meditation charakteristisch ist, tritt ein.3 Der Zusammenhang zwischen diesem Versuch und der Meditation ist deutlich. Ständig wiederholte Reizung bei der Meditation und stereotype Reizung wie im Versuch führen zu ähnlichen Auswirkungen... Umweltsbewusstsein nimmt ab.4

Geistliche Technik in der Ortsgemeinde

Umweltsbewusstsein nimmt auch unter dem Einfluss der Techniken des «Beten-Lesens» und «Anrufens des Namens des Herrn» ab. Durch diesen Vorgang wird die Erfahrung des Sub­jektiven intensiviert. Die Lautstärke in den Versammlungen (man muss zuweilen von Schreien reden) bewirkt zudem erhöhte Sauerstoffzufuhr, was emotionale Erfahrungen weiter fördert. Das Ergebnis ist eine Art energisch-tatkräftige Subjektivität, die introvertierten Mystizismus mit der Begeisterung von Fuss­ballfans auf den Rängen kombiniert.

Jemand hat den unablässig wiederholten Ausruf «Oh Herr Jesus!» als «das Mantra der Ortsgemeinde» bezeichnet.5 Die Ortsgemeinde weist solche Vergleiche natürlich entrüstet zu­rück. Vielleicht ist es ein technisch nicht ganz einwandfreier Be­griff, aber die Bezeichnung ist dennoch angebracht; denn die Parallelen zwischen dem Anrufen der Ortsgemeinde und dem nichtchristlichen Gebrauch von Mantras sind augenscheinlich.

Verstand und Antiverstand

Eine Frau, die eine Zeit unter Hare Krischna Leuten lebte, stellte einige Beobachtungen über den Gebrauch ihres Mantras an. Die Parallelen zur Ortsgemeinde kommen dabei gut zum Ausdruck. Sobald sie anfing zu chanten, «erkannte sie, dass Chanten für den geistigen Zustand der Hare Krischnas das Ent­scheidende ist. Bei Anfängern bewirkte es regelmässigen Atem, vertrieb alle ändern Gedanken, machte es leicht, sich selbst zu vergessen, erzeugte ein Gefühl der Gruppenzugehörigkeit und füllte den Kopf — mit dem Mantra nämlich.»6 David Haddon betont, dass der Hauptzweck des Mantras «die Ausschaltung al­ler bewusst gelenkten Gedanken» ist. Witness Lee selbst besteht darauf, dass dies eine wichtige Funktion des Beten-Lesens ist.


 

Genau an diesem Punkt kommt der unbiblische und subchristli­che Charakter der Ortsgemeindepraktiken am deutlichsten zum Vorschein.

Sowohl im Alten wie im Neuen Testament beruht jegliche Aufnahme und Weiterpflege einer Beziehung zu Gott auf freier Wahl, welcher Erkenntnis und Einsicht vorausgehen muss. Je­sus macht uns ganz klar, dass der Verstand und seine Funktio­nen für gottgefälliges Handeln unerlässlich sind. Man beachte ferner, dass er wiederholt seine Reden mit einem Apell an das Auffassungsvermögen schloss.8 Zuweilen leitet Jesus wichtige Lehrstücke durch die Worte «Höret und verstehet!» ein. Für die Evangelisation macht Paulus auf die Wichtigkeit der Pre­digt (mit Gehalt) aufmerksam, und erklärt dessen Zweck, näm­lich, dass die Zuhörer verstehen möchten.10 Die Bibel sieht den Verstand nicht nur als wichtigen Bestandteil des Menschen, der im Bilde Gottes geschaffen ist, sondern als die eigentliche Tür zur Annahme der Errettung.

Östliche und okkultistische Formen des Mystizismus hinge­gen betrachten den Verstand stets als ein Hindernis auf dem Weg zum Heil und halten jegliche Form geistiger Aktivität für störend, weshalb sie so schnell wie möglich unterbunden wer­den sollte. Die verschiedenen Meditationstechniken (inklusive Mantras) sollen diesem Zweck dienen. Es sind im wahrsten Sin­ne des Wortes «Techniken», weil sie mechanischer Natur sind. Sie wirken automatisch, ungeachtet der spezifischen Absichten oder Glaubensauffassungen des Praktizierenden. Witness Lees Aussagen offenbaren, dass der Ortsgemeindegebrauch des «Na­mens des Herrn» eindeutig in dieser Tradition steht; er ist mechanisch-heidnisch und nicht biblisch- christlich.

Wir haben erfahren, dass Predigt nicht nötig ist, um Ungläu­bige zu erreichen. Wenn wir sie dazu bringen können, dreimal «O Herr» zu sagen, sind sie gerettet... Sie brauchen nichts an­deres zu tun, als den Mund zu öffnen und zu sagen: «O Herr, o Herr!» Selbst wenn sie gar nicht glauben wollen, werden sie er­fasst werden!"

Wurzel der Abweichung

Vieles von der motivierenden Kraft der Ortsgemeinde ent­springt den inneren emotionalen Kraft Wirkungen, welche die genannten Techniken erzeugen. Die Dynamik beruht weiter auf der Tatsache, dass die Mitglieder durch die Gruppe ihre subjek­tive Erfahrung im Kollektiv bestätigt sehen. Durch veränderte Bewusstseinszustände ist diese subjektive Erfahrung bis zur Un-


 

 

kenntlichkeit hochgezüchtet worden, und wird von der Gruppe als Erfahren der «Wirklichkeit» oder «Christi» oder des ver­mengten Gott-Ichs bezeichnet. Diese Art von Erfahrung liegt den meisten okkultistischen, mystischen, pantheistischen Reli­gionen zugrunde12, weshalb es uns nicht verblüfft, lehrmässige Parallelen zu entdecken.

Von diesem Gesichtspunkt aus verstehen wir, dass dieses Wirklichkeitsverständnis, welches Umweltbewusstsein zurück­drängt, die grundlegende Erfahrung ist, auf der Lee sein Kon­zept des ontologischen und epistemologischen Schismas auf­baut (siehe Abschnitt «Wirklichkeit»). Damit hat Lee eine Er­fahrung subjektiver Wirklichkeit zum Absolutum erhoben. Ei­ne Folge solcher Erfahrung ist getrübtes Bewusstsein von der objektiven Wirklichkeit. Lee erklärt dieses Phänomen dadurch, dass er der objektiv wahrgenommenen Welt untergeordnete Be­deutung zuschreibt. Ob man diesen untergeordneten Bereich als «Schatten» (Ortsgemeindelehre) oder wörtlich als «Unwirklich­keit» (Lehre des östlichen Mystizismus) bezeichnet, ist mehr ei­ne Frage der Semantik als des Verständnisses.

Ein Überblick über gewisse lehrmässige Verirrungen, die in der Kirchengeschichte aufgetreten sind, hilft uns, Lees Lehre besser in den historischen Rahmen zu stellen. Seine Trennung von Schatten/Wirklichkeit ist eine unwesentliche Variante der Materie/Geist-Dichotomie des im zweiten und dritten Jahrhun­dert blühenden Gnostizismus.

Platonismus

Eine der Quellen des Gnostizismus war der Platonismus, der zu einer Reihe christlich-mystischer Schulen führte. Die Plato­nische Philosophie war durch einen Dualismus gekennzeichnet, der «wesenhafte Wirklichkeit» der «offenkundigen Wirklich­keit» und «Geist» der «Materie» gegenübergestellt sah. In sei­ner Republik stellte Plato diesen Dualismus im bekannten Höh­lengleichnis dar. Gefangene sitzen in Ketten in der Höhle, und ein Feuer brennt in ihrem Rücken. Sie nehmen nur das Spiel der Schatten an der Höhlenwand wahr und halten diese fälschli­cherweise für die Wirklichkeit.

Die Übereinstimmung zwischen Platos Sprache und Lees Lehre, dass die objektive Welt nur ein «Schatten» oder «unter­geordnete Wirklichkeit» sei, ist beinahe zu frappant. Wenn wir aber die Veränderungen, welche platonisches Gedankengut in der christlichen Theologie bewirkten, ins Auge fassen, wird uns klar, dass die Ähnlichkeit mehr als blosser Zufall ist. Nach einer


 

ernstzunehmenden Quelle hatte platonisch beeinflusste Theolo­gie Probleme mit dem Verhältnis von Vernunft und Offenba­rung und wies eine bemerkenswerte Neigung zu allegorischer Schriftauslegung auf.13 Zudem verband sich ihre stark jenseits­bezogene Lebensauffassung mit einer Abneigung gegen festge­fügte Verhaltensmuster. Sie betonte den «Geist» im Gegensatz zum «Buchstaben» und mass kirchlicher Organisation nur ge­ringe Bedeutung bei.

Gnostizismus

Die Parallelen zum Gnostizismus sind noch augenfälliger. Stärker als im Platonismus «beherrscht eine radikal dualistische Stimmung die gnostische Auffassung. Dieser Dualismus ist das eine Element all seiner weit auseinandergehenden Ausdrucks­formen».14 Gnostische Theologie unterteilt den Menschen in drei Teile: Leib, Seele und Geist. Die «äusseren Teile», Leib und Seele, sind Wirkungsbereiche böser kosmischer Kräfte, durch die der einzelne unter ihren unheilvollen Einfluss kommt. In der Seele eingeschlossen befindet sich das innerste Menschsein, pneuma (Geist), welches ein Stück göttliche Substanz, oder Ur­grund des Seins, ist. Das Ziel gnostischen Strebens ist die Be­freiung des inneren Menschen von den Fesseln der Welt... »!5 Durch diese Befreiung erfährt der Gnostiker die Göttlichkeit seines eigenen wahren, inneren Wesens und erlangt Unabhän­gigkeit von allen Formen der Begrenzung, Einschränkung oder Gesetzgebung.

Für den Gnostiker (wie für die Ortsgemeinde) ist das höchste Lebensziel die Erfahrung des Gott-Ichs. Diese Erfahrung (oder Gnosis) ist sowohl intellektueller Erkenntnis als auch Glauben überlegen: «Er glaubt nicht, denn Glaube ist niedriger als Gno­sis.»16

Mit diesem Konzept «Verstand gegen Erfahrung» sind wir wieder an die Wurzel der lehrmässigen Abweichung gelangt. Ro­bert Grant trifft den Kern der gnostischen Häresie, wenn er sagt: «Die gnostische Lebensauffassung ist somit eine 'leiden­schaftliche Subjektivität', welche den Verlust der Welt für die Entdeckung des Selbst gern in Kauf nimmt.»17

Schwierige Bibelstellen:

1. Thessalonicher 5,23 und Hebräer 4,12

Über die anthropologische Beschaffenheit des Menschen be­stehen in christlichen Kreisen verschiedene Auffassungen. Eini­ge Theologen lehren eine Trichotomie: eine Dreiteilung in Leib,


 

 

Seele, Geist. Andere die Dichotomie von Leib und Geist. Ob­wohl sich die Bibelausleger über die genaue schriftgemässe Leh­re im Unklaren sind, haben nur die wenigsten den Heiligen Geist einem bestimmten Teil des menschlichen Wesens zugeord­net, wie Lee es tut. Noch viel weniger hat man wie Lee die Teile des Menschen einander feindlich gegenübergestellt. Wenn die Schrift an gewissen Stellen lehrt, dass der «Geist» wider das «Fleisch» streitet, dann ist mit «Fleisch» die menschliche Nei­gung zur Sünde und nicht der Körper gemeint.18

Witness Lee beruft sich zur Untermauerung seiner Ansicht besonders auf zwei Bibelstellen: 1. Thessalonicher 5,23 und He­bräer 4,12. «Er selbst aber, der Gott des Friedens, heilige euch völlig; und euer ganzer Geist und Seele und Leib werde tadellos bewahrt bei der Ankunft unseres Herrn Jesu Christi.» Lee spricht in diesem Vers von einer fortschreitenden Heiligung, die im Geist anfängt und sich zum Leib hinausarbeitet. Nach tradi­tioneller Auslegung wollte Paulus hier einfach seinen Wunsch nach Heiligung der «ganzen» Person zum Ausdruck bringen. Darum zählt er die Bereiche auf, die das betrifft, nämlich Geist, Seele und Leib.19 Mit seiner Aufzählung dieser drei Bestandteile will Paulus nicht progressive Heiligung zum Ausdruck bringen, wie Lee meint.

«Denn das Wort Gottes ist lebendig und wirksam und schär­fer als jedes zweischneidige Schwert und durchdringend bis zur Scheidung von Seele und Geist sowohl der Gelenke als auch des Markes und ein Beurteiler der Gedanken und Gesinnungen des Herzens» (Heb. 4,12).

Lee fasst das Bild vom Schwert, das die Seele vom Geist trennt, als einen Beweis dafür auf, dass zwischen beiden eine Kluft besteht. Die Kluft (falls sie überhaupt besteht) ist nicht so tief, wie es Lee haben möchte. In diesem Vers liegt die Beto­nung auf der messerscharfen Präzision des Schwertes, das Dinge, die miteinander verquickt sind, trennt, Dinge die sonst als unzertrennbar gelten, wie Gedanken und Gesinnungen, Knochen und Mark und Geist und Seele.

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Uebersetzung: Benedikt Peters, CH- Arbon
 

Zusammenfassung

Alle eben dargelegten Charakterzüge lassen sich in der Ortsge­meinde in der einen oder ändern Form erkennen. Es muss aber festgehalten werden, dass auch Unterschiede vorliegen. Gewiss ist Lees Lehre nicht Heidentum oder Platonismus oder Gnosti-zismus per se. Es ging uns darum zu zeigen, dass die grundlegen­de Erfahrung der Ortsgemeinde, welche den Wert und die Be­deutung geschaffener Wirklichkeit abwertet, den metaphysi­schen Kompass der Bewegung auf eine bestimmte Richtung fi­xiert; und in dem Masse wie sie befolgt wird, werden unweiger­lich Lehren einer bestimmten, absehbaren Art erzeugt.

Alexander Brooks

Das Geschäft der Verführer

TELOS-Nr. 2511, 206 Seiten,

mit 16 Bildseiten und Dokumentationsteil

erschienen im: Schwengeler-Verlag, CH-9442 Berneck

Religiöse Verführungen zeichnen sich oft durch ähnliche Grundprinzipien aus. Hier liegt ein weiteres Buch vor, das zeigt, wie Verführer vorgehen: Der authentische Bericht über die Ma­chenschaften der Volkstempelsekte, bis hin zum «Massenselbst­mord» in Guyana. Phil Kerns, selbst ehemaliges Sektenmit­glied, enthüllt geheime Fakten über die Jim-Jones-Sekte. Das hier vorliegende Original-Material ist das Ergebnis sechsjähri­ger intensiver Nachforschungen des Autors über Jim Jones und seine Bewegung.

Als sozialer Wohltäter getarnt, entstellte, vergewaltigte und marterte der Sektenführer Jim Jones seine grosse «Familie», ge­trieben von unersättlicher Machtgier. Seine Anhänger unter­warfen ihren Willen, ihren Körper, ihren Geist seiner brutalen Tyrannei.