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  • II. Reden und Gegenreden. Kap. 3- 31

     

    Mit dem Kapitel 3 beginnen die Reden und Gegenreden Hiobs und seiner Freunde. Hiob klagt vor Gott über seine Not und hinterfragt dabei Gottes Regierung. Die Freunde antworten und hinterfragen dabei Hiobs Gerechtigkeit. Damit widersprechen sie Gottes Urteil und machen das Urteil Satans über Hiob zu eigen.

                Die Reden verlaufen in drei Zyklen, die aus je drei Reden Hiobs mit je einer Antwort eines der drei Freunde Hiobs bestehen:

     

    Erste Runde von Reden und Gegenreden   3 – 11

    Hiob redet dreimal: Kap. 3; 6&7; 9&10   

    Eliphas antwortet: Kap. 4&5

    Bildad antwortet: Kap. 8

    Zophar antwortet: Kap. 11

     

    Zweite Runde von Reden und Gegenreden  12 – 20

    Hiob redet dreimal: Kap 12-14; 16–17; 19

    Eliphas antwortet: Kap. 15

    Bildad antwortet: Kap. 18

    Zophar antwortet: Kap. 20

     

    Dritte Runde von Reden und Gegenreden  21– 31

    Hiob redet dreimal: Kap. 21; 23&24; 26-31

    Eliphas antwortet: Kap. 22

    Bildad antwortet: Kap. 25

    Zophar antwortet nicht mehr.

     

    Der Verlauf der Diskussion ist eindeutig: Die Gesprächspartner entfernen sich immer weiter voneinander. Bevor wir uns das näher ansehen, beachten wir zuerst einen vorbildlichen Zug: Die Kontrahenten sind sehr diszipliniert, wie die regelmäßige Reihefolge ihrer Beiträge zeigt. Man lässt offenkundig jeden ausreden und wartet auch höflich, bis man an der Reihe ist. Daran können wir messen, wie wenig wir in unserer Zeit und in unseren Breitengraden von Gesprächskultur verstehen.

     

    Hiobs Antworten:

    Der Anfang von Hiobs zwei Antworten der ersten Gesprächsrunde genügt, um uns zu zeigen,  wohin die Diskussion treibt:

     

              Kap 6 (an Eliphas): »Oh, dass mein Gram gewogen würde!« Hiob begehrt Mitleid.

              Kap 9 (an Bildad): »Wahrlich, ich weiß, dass es also ist.« Hiob behauptet sein Selbstbewusstsein.

     

    Mitleid begehren und auf sein überlegenes Wissen pochen, das sind nicht die Zutaten zu einem glücklichen Gesprächsverlauf.

     

    Es geht auf dieser Spur in der zweiten und dritten Runde weiter:

     

              Kap 12 (an Zophar): »Ihr seid die Leute!« Hiob schmäht seine Gesprächspartner.

              Kap 16 (an Eliphas): »Leidige Tröster seid ihr alle!« Hiob beschimpft seine Gesprächspartner.

              Kap 19 (an Bildad): »Wie lange wollt ihr meine Seele plagen? Schon zehnmal ist es, dass ihr mich geschmäht habt!« Hiob beklagt einmal mehr sein großes Leid und beklagt die Untauglichkeit seiner Freunde.

              Kap 21 (an Zophar): »Hört, hört meine Rede...ertragt mich, und ich will reden.« Hiob hat inzwischen aufgehört über seine Freunde zu schimpfen, nicht aber, weil er meint, diese seien einsichtiger geworden, oder weil er selbst einsichtiger geworden wäre, sondern weil er im Blick auf sie resigniert hat. Er klagt zunehmend nur noch vor Gott.

              Kap 23 (an Eliphas): »Auch heute ist meine Klage trotzig...« Erstmals wendet er sich mit keinem Wort mehr an seine Freunde. Er hat sie nunmehr abgeschrieben.

              Kap 26 (an Bildad): »Wie hast du dem Ohmächtigen geholfen...und gründliches Wissen in Fülle kundgetan« Es ist dies ein letzter Pfeil, aus Unwillen geboren und mit Sarkasmus getränkt, den Hiob zum Abschied auf seine Gesprächspartner feuert, dann setzt sein sechs Kapitel langer Monolog ein.

     

     

    Die Thesen der drei Freunde:

    Drei Runden lang behaupten sie den gleichen Grundsatz:

     

              Gott ist gerecht

              Gott straft nur die Sünder

              Gott segnet die Gerechten

     

    Damit sagen die Freunde, Hiob habe gesündigt; Hiob sei unaufrichtig; Hiobs Frömmigkeit sei nicht echt, ja, nie echt gewesen.

     

    Die Gegenthesen Hiobs:

              Gott ist gerecht

              Auch die Gerechten müssen leiden

              Den Gottlosen geht es oft besser als den Gerechten

     

    Damit vertedigt Hiob seine Gerechtigkeit und lässt es darauf ankommen, dass Gottes Handeln an ihm als ungerecht erscheint.

     

    In der ersten Runde sind Hiobs Freunde noch taktvoll zurückhaltend, indem sie teilweise Hiobs Werke der Frömmigkeit und frühere Gottesfurcht anerkennen und ihre Auffassung von Gottes Regierung lediglich in allgemeiner Form ausdrücken. In der zweiten Runde behaupten sie mit größerem Nachdruck, dass jemand ein Gottloser sein muss, der von solchem Unglück heimgesucht wird. In der dritten Runde lassen sie allen freundlichen Schein fahren und sagen offen, Hiob sei dieser Gottlose, den Gott seiner Missetaten wegen strafe.

                Der Unverstand und die selbstsicheren Behauptungen der drei Freunde reizen Hiob, sich selbst immer verbissener zu rechtfertien (13,18. 19; 23,10–13; 27,5–7) und seine Freunde immer bitterer anzuklagen. Das schwächt Hiobs Position vor seinen Freunden. Ihnen muss er je länger je mehr als selbstgerecht und verstockt erscheinen. So kommt es zur paradoxen Situation, dass die Freunde Hiobs ihre falsche Sache recht gut vertreten, während Hiob seine gute Sache schlecht vertritt.

                Hiobs Freunde reden über Gott und wenden das auf Hiob an; und auch Hiob redet zuweilen über Gott und seine Freunde. Aber oft redet Hiob zu Gott, oft redet er mit sich selbst. Er ringt mit sich und mit Gott, um das Unbegreifliche zu begreifen. Darum ist er leidenschaftlicher als seine Besucher.

                Die drei Tröster bestehen ruhig und selbstsicher auf dem unantastbaren Axiom, dass Gott immer gerecht und der Mensch immer der Schuldige ist. Dieses machen sie zum Ausgangspunkt ihres ganzen Urteilens und Verurteilens. Nun aber ist Hiob unschuldig, ist aber einige Male bereit, eher Gottes des ungerechten Handelns an ihm zeihen als zu sagen, er sei schuldig, und das bestärkt natürlich Eliphaz und Anhang noch mehr in ihrem selbstsicheren Urteil. So lassen sie sich durch Hiobs immer schärfer werdenden Antworten wiederum zu ihren immer gröberen Worten verleiten. Das zeigen uns schon die eröffnenden Worte ihrer Reden:

     

              Kap 4 (Eliphas): »Wenn man ein Wort an dich versucht, wird es dich verdrießen?«

              Kap 8 (Bildad): »Wie lange willst du solches reden, und sollen die Worte deines Mundes ungestümer Wind sein?«

              Kap 11 (Zophar): »Sollte die Menge der Worte nicht beantwortet werden, oder sollte ein Schwätzer Recht behalten?«

              Kap 15 (Eliphas): »Wird ein Weiser windige Erkenntnis antworten...ja, du vernichtest die Gottesfurcht...denn deine Ungerechtigkeit belehrt deinen Mund, und du wählst die Sprache der Listigen.«

              Kap 18 (Bildad): »Wie lange wollt ihr auf Worte Jagd machen? Werdet verständig, und hernach wollen wir reden! Warum werden wir dem Vieh gleich geachtet, sind dumm in euren Augen? Du, der sich selbst zerfleischt in seinem Zorn, soll um deinetwillen die Erde verlassen werden, und ein Fels wegrücken von seiner Stelle?«

              Kap 20 (Zophar): »Darum geben meine Gedanken mir Antwort, deswegen bin ich innerlich erregt: Eine Zurechtweisung mir zur Schande höre ich; aber mein Geist antwortet mir mit Einsicht.«

              Kap 22 (Eliphas): »Kann ein Mann Gott Nutzen bringen? Vielmehr sich selbst nützt der Einsichtige. Liegt dem Allmächtigen daran, wenn du gerecht bist, oder ist es ihm ein Gewinn, wenn du deine Wege vollkommen machst? Ist es wegen deiner Gottesfurcht, dass er dich straft, mit dir ins Gericht geht? Ist nicht deine Bosheit groß, und deiner Missetaten kein Ende?«

     

    In seiner letzten Rede behauptet Eliphas das Gegenteil von dem, was er in seiner ersten Rede über Hiob gesagt hatte (siehe 4,34 und 22,6–9). Die ganze Auseinandersetzung wird so zum Musterbeispiel dafür, wie Freunde und Brüder in ihrem vermeintlich heiligen Eifern um Gott und um Gerechtigkeit einander immer fremder werden, bis sie sich am Ende nichts mehr zu sagen wissen und jeder den anderen resigniert aufgibt (siehe 31,40; 32,1).

     

    Hiob behält gegenüber seinen Freunden zwar das letzte Wort; denn Zophar antwortet in der dritten Runde nicht mehr. Damit ist Hiob aber nicht geholfen. Er sitzt noch immer in der Finsternis, bis einer kommt, der ihn an der Hand nimmt und ihn zu Gott führt, damit er endlich aufhört zu reden und Gott zu ihm reden kann.

     

    Gleichwohl lässt sich ein Fortschritt in Hiobs Reden feststellen: Er beginnt mit ohnmächtiger Verwünschung des Tages seiner Geburt und findet gegen Schluss zur Erkenntnis, dass ihm die Weisheit fehlt, um sein Ergehen zu verstehen (28,12–28). In Kap 9 spricht er von seiner Sehnsucht nach einem Mittler, in Kap 14 wird seine Sehnsucht nach Auferstehung offenbar; in Kap 19 spricht er von Gewissheit der Auferstehung; in Kap 26 von der Größe Gottes, in Kap 28 von der Furcht Gottes als dem Anfang aller Weisheit. In den letzten drei Kapiteln (29–31) trauert er seinem verflossenen Glück und Ansehen nach und beteuert noch einmal vor Gott seine Unschuld, und dann hat er nichts mehr zu sagen. Das zeigt, dass Hiob all sein Wissen über Gottes Wege und Wesen noch nicht weiterhilft. Er kann es es nicht auf sich selbst anwenden. Er kann sich selbst mit seinem Wissen nicht trösten. Aber der Helfer (Elihu) wird sich bald einstellen.

     

    Dieser Fortschritt sowie die da und dort aufleuchtenden Momente göttlichen Trostes inmitten seiner endlosen Klagen beweisen, dass Satan nicht erfolgreich war. Hiob stellt zwar einige Male Gottes Liebe, Gerechtigkeit und Weisheit in Frage; aber er klagt vor Gott und zu Gott,  sagt sich also nicht los von Gott. Obwohl sein Glaube für eine Zeit einbricht, hört er doch nicht gar auf (vgl. Lk 22,32). Hiob weiß die ganze Zeit, dass nur Gott ihm in seiner Not helfen kann, wenngleich er nicht weiß, wie Er es tun wird. Undschließlich: Hiobs größter Kummer ist ja nicht der Verlust seines Besitzes und seiner Gesundheit, sondern das Gefühl, Gott habe sich gegen ihn gewandt (13,24; 16,9; 19,11; 30,21). Ihm ist dieser Gedanke das Unerträglichste, und gerade das beweist am eindrücklichsten, dass Hiob Gott liebt und sich von Gott nie abwendet. Das Gott nicht mehr sein Freund sein sollte, ist ja nur für jemanden, der an Gott hängt, eine so furchtbare Sache. Wäre Hiob im Herzen ein Gottloser gewesen, wie Satan behauptete, hätte er längst Gott verwünscht und sich für immer von ihm losgesagt.

     

     

    Erste Runde von Reden und Gegenreden: Kap. 3–11

     

    Kapitel 3

     

    1. Hiob verwünscht den Tag seiner Geburt  3,1–10

    2. Hiob verwünscht den Umstand, nach der Geburt bewahrt worden zu sein 3,11–19

    3. Hiob verwünscht den Umstand, weiterleben zu müssen  3,20–26

     

    Hiob setzt dreimal an, um seine Existenz zu verfluchen:

    1. Er verflucht die Tatsache, dass er gezeugt und geboren wurde (Vv. 3–10)

    2. Er verflucht die Tatsache, dass er nach seiner Geburt genährt und am Leben erhalten

        wurde (Vv. 11–19)

    3. Er verflucht den Umstand, dass er weiterhin leben muss (Vv. 20–26).

     

    Der Unglaube nimmt uns die Sicht für Gott, für Seine Verheißungen, für das Ziel aller Dinge, er stürzt uns ins Dunkel, und im Dunkel wissen wir nicht, wo wir sind und was wir sagen. Hiob sagt jetzt das Gegenteil von dem, was er vielleicht acht oder zehn Tage zuvor bekannt hatte:

     

              In Vv.1-10 verwünscht er den Tag seiner Geburt, wo er kurz zuvor anbetend bekannt hatte, dass er nackt in diese Welt gekommen und ebenso nackt aus ihr scheiden werde, wissend, dass er und sein Leben eine Gabe Gottes sind. Im Leiden meint er, nicht sein sei besser als so sein. Wir lesen in der Bibel von einem einzigen Menschen, von dem der Herr Jesus sagt, es wäre ihm besser gewesen, nicht geboren worden zu sein, von Judas (Mt 26,24).

     

              In den Vv.11-19 begründet er, warum seiner gegenwärtigen Lage wegen der Tod besser sei. Wie täuscht er sich! Der Tod ist kein Befreier, sondern er heißt »König der Schrecken« (Hi 18,14). Im Urteil des Apostels ist er »der letzte Feind«, den der Herr erst zuletzt noch niederwerfen wird (1Kor 15,26).

     

              In Vv.20-26 klagt er Gott an, der ihn am Leben lässt, statt ihn zu töten. Hatte er sich eben noch stille in alles geschickt, was Gott ihm gab, Erwünschtes wie unerwünschtes, begehrt er jetzt dagegen auf, dass Gott ihm Licht und Leben gibt (V.20).  Hiobs Todessehnsucht ist ein vor Gott sehr böses Aufbegehren gegen den Schöpfer, der ihm das Leben gegeben und dessen Spanne bestimmt hat (cf Mt 6,27). Wie glücklich wäre er gewesen, hätte er sich mit dem Wissen begnügen und sich darin schicken können, dass seine Zeit in Gottes Händen ist (Ps 31,15).

     

    Wir fragen uns: Wie konnte der gleiche Mann, der sich bisher unter Gottes mächtige Hand gedemütigt und bei allem Gott die Ehre gegeben hatte, so einbrechen? Wie konnte der gleiche Mund, der den Herrn noch gepriesen und dessen Ehre vor dem törichten Anwurf seiner Frau verteidigt hatte, hier so laut gegen Gott und Sein Fügen  aufbegehren? Es kann nur eine Antwort geben: Hiobs Glaube hatte ausgesetzt, er war eingebrochten. Ohne Glauben aber ist es unmöglich Gott zu gefallen (Hb 11,6). Ohne Glauben können wir unsere Natur nicht überwinden, unsere Natur aber kann sich Gott nicht unterwerfen. Hiob lehnt sich auf (Röm 8,6–8). Diese Art Auflehnung gegen Gott und Seine Wege zu bewirken, ist die Absicht hinter allen Angriffen des Teufels auf die Geliebten Gottes. Das war bei Hiob so, und das war auch bei den angefochtenen Hebräerchristen so (Hb 10,35; 12,5.6).

     

    Was heißt Glaube? Das Vertrauen auf alles, was uns Gott in Seinem Wort über sich gesagt hat:

     

              Gott ist Licht (1Jo 1,5). Er tut nichts Böses; er handelt nie gegen Seinen Bund; er hintergeht niemanden; er tut niemandem Unrecht. Das Böses ist immer unser; wir haben das Böse gewählt; das Böse ist durch uns in die Welt gekommen. Das Wunder der Weisheit und der Liebe Gottes ist, dass er aus unserem Bösen unendlich Gutes hervorkommen lässt. Lk 22,3; Joh 13,2; Apg 2,22.23

     

              Gott ist Liebe (1Jo 4,16). Er tut uns nur Gutes; all Sein Handeln hat unser Wohl im Auge; es müssen alle Dinge, die Er in unser Leben sendet, zum höchsten Guten dienen: Wir sollen umgestaltet und Christus gleich werden (Röm 8,28.29).

     

              Gott versucht niemanden zur Sünde. Jk 1,13–15

     

              Alles, was Er uns zuteilt, ist vollkommen. Jk 1,17.18

     

              Das bedeutet, dass er uns nicht über Vermögen versucht. 1Kor 10,13

     

    Das sind alles starke Beweggründe, um der Aufforderung der Apostel zu folgen:

     

              Sagt Gott Dank in allem! 1Thes 5,17

     

                Demütigt euch in allem unter Gottes mächtige Hand! Jk 4,7; 1Pet 5,6

     

                Widersteht dem Satan. Jk 4,7; 1Pet 5,8

     

    Du meinst es gut und tust uns Guts,

        Auch da wir’s oft nicht denken;

    Wie mancher ist betrübtes Muts

        Und frisst sein Herz mit Kränken,

    Besorgt und fürcht sich Tag und Nacht,

    Gott hab ihn gänzlich aus der Acht

       Gelassen und vergessen.

     

    Nein! Gott vergisst der Seinen nicht,

        Er ist uns viel zu treue:

    Sein Herz ist stets dahin gericht’,

        dass er uns letzt erfreue.

    Geht’s gleich bisweilen etwas schlecht,

    Ist Er doch heilig und gerecht

        In allen seinen Wegen.

     

    (Paul Gerhardt: Der 145. Psalm Davids)

     

     

    1. Hiob verwünscht den Tag seiner Geburt 3,1–10

     

    1 Danach tat Hiob seinen Mund auf und verfluchte seinen Tag.

     

    »Danach«: Nachdem die sieben Tage verflossen waren, dieHiobs Freunde schon mit ihm gesessen waren, samt den Tagen davor, bis sie bei ihm ankamen. Als die Schläge Hiob trafen,reagierte er mit Glauben. Nachdem er mehrere Tage dagesessen ist und über sich und seine Lage nachgedacht und unter seinem Schmerz geseufzt hat, kann er nicht mehr. Es wird ihm zu viel. Man sagt, dass es bei Schicksalsschlägen meist so sei. Zunächst trägt man den Schlag standhaft, weil es eine gewisse Zeit dauert, bis das volle Gewicht der Not sich auf die Seele gelegt hat. Hiobs reaktion ist also ganz natürlich; sie ist menschlich vollständig normal. 

     

    »Jetzt begannen für Hiob die dunkelsten Tage. Im Einbrechen der Katastrophen selbst steckt immer etwas Stimulierendes. Es ist gerade der Schock, der eine Kraft erzeugt, die den Menschen zum (momentanen) Sieg verhilft. Erst in der brütenden Stille, die nachher den Geist umhüllt, beginnt der wirkliche Kampf. Der Erzvater ist nun in diese Stille und den darauf folgenden Kampf eingetreten.« (G. Campbell Morgan, The Book of Job)

     

    »Danach«: das heißt auch, nachdem er so viel Bitteres durchgemacht hatte. Rechtfertigt sein Leiden seinen Protest? Es ist der ganzen Menschheitsfamilie ergangen wie Hiob, der aus einer Stellung seltenen Glücks in ebenso seltene Tiefen stürzte: Der Mensch wurde geschaffen und in einen Garten der Wonne gestellt. Danach trat der Satan auf den Plan – ebenfalls nicht ohne Gottes Willen – und der Mensch fiel. Seither ist Leben Leiden. Es wird sinnlos und in ihrer Sinnlosigkeit unerträglich, wenn wir den Gott nicht kennen, der uns erschaffen hat, und Ihm nicht mehr vertauensvoll ergeben sind.

                Es war Hiobs Vertrauen gewesen, dass ihn befähigt hatte, unter den wütenden Schlägen des Widersachers stille zu halten und hinter allem Gottes Hand zu sehen und sich unter diese zu demütigen. Hatte er nicht bezeugt, Gott habe ihm seinen Besitz genommen, wo es vordergründig doch Menschen gewesen waren, die ihn beraubt hatten? Und hatte er nicht bezeugt, er sei willens, auch das Böse aus Gottes Hand  zu nehmen, wo es doch Satan gewesen war, der seine Hand gegen ihn ausgestreckt hatte? Wie glücklich war er, wie glücklich ist der Mensch, der sich in allem unter Gottes Regierung beugt, der in allem Gottes Hand sehen kann! Dieses Vertrauen hat Hiob nun weggeworfen (Heb 10,35), und daher wird ihm Gottes züchtigende Hand unerträglich (vgl. Heb 12,5).

     

    Aber beachten wir: Er »verfluchte seinen Tag«, er verfluchte nicht Gott. Satans Absicht schlug fehl; Hiob sagte sich nie von Gott los (1,11; 2,5).

     

    Hatte er zuvor in allem seinen Blick stets auf Gott gerichtet gehabt und sich vor Ihm gedemütigt, klagt er jetzt vor seinen Freunden. Ist es ihr Besuch, ist er ihre Gegenwart, die ihn veranlasst haben, sich vom Urheber aller Dinge und daher einzigem wahren Tröster abzuwenden und sich »den armseligen Elementen« zuzuwenden, die dem Menschen zur Verfügung stehen? Hat er Fleisch zu seinem Arm gemacht hat, anstatt auf den EWIGEN zu vertrauen? Verliert er den Trost des Glaubens, weil er seine Hoffnung auf die anästhesierende Wirkung menschlichen Trostes gesetzt hat? Wir wissen es nicht.

     

    2 Und Hiob hob an und sprach:

    3 Es verschwinde der Tag, an dem ich geboren wurde, und die Nacht, die sprach: Ein Knäblein ist empfangen!

     

    »der Tag, an dem ich geboren wurde«: Hiob hatte bei der ersten Heimsuchung auch vom Tag seiner Geburt gesprochen. Dort hatte er noch bekannt, dass er nackt und damit besitzlos auf die Welt gekommen sei und nackt und besitzlos von ihr gehen werden. Damit hatte er gleichzeitig gezeigt, dass er wohl um den wahren Wert seines Lebens wusste. Nun ist dieses Bewusstsein erschüttert. Er kann den Wert seines Lebens nicht mehr sehen.

     

    4 Jener Tag sei Finsternis! Nicht frage Gott nach ihm droben, und nicht erstrahle ihm das Tageslicht!

    5 Finsternis und Todesschatten sollen ihn einlösen, Gewölk über ihm wohnen, Tagesfinsternisse ihn überfallen!

    6 Jene Nacht – Dunkel soll sie ergreifen; sie soll sich nicht freuen unter den Tagen des Jahres, in die Zahl der Monde nicht kommen!

    7 Ach, jene Nacht soll unfruchtbar sein, kein Jubel in sie eintreten!

     

    Warum soll kein Jubel in die Nacht eintreten, in der Hiob gezeugt worden war, wo doch damit ein Leben angefangen hatte, das schön, reich und beglückend gewesen war, wie Hiob in Kap 30 selbst bekennt? Weil ihm dieses zuerst so schöne Leben nachher den gegenwärtigen Schmerz bescherte, wäre jener Anfang besser nie gewesen. In Kap 38 widersprechen Gottes himmlische Söhne diesem Urteil; denn von ihnen heißt es, dass sie bei der Geburt der Welten jubelten (38,7). Gott sah Seine Werke, und sie waren sehr gut; gut, obwohl der Ewige wusste, wie die Sünde in die Welt kommen und den Menschen mitsamt der Schöpfung in furchtbares Unglück stürzen würde. Was ist hieraus zu lernen? Das Unheil, das die Schöpfung und das damit auch jeden Menschen heimsuchte, ist kein Grund, die Schöpfung zu verwünschen. Nicht unser subjektives Empfinden entscheidet über den Wert irgend einer Sache. Und unser gegenwärtiges Ergehen ist kein zuverlässiger Lehrer über den Wert des Daseins. Herkunft und göttliches Ende aller Dinge geben ihnen allein ihren wahren Wert. Kommt das Leben aus Gott, dann ist es allein deshalb schon gut. Und hat das Leben das Vaterhaus zum Ziel ist doppelt gut. Das Ende des Buches Hiob gibt uns erst Licht über den Wert des Lebens Hiobs, und zwar seines gesamten Lebens. Das Ende der Wege Gottes mit dem Menschen in dieser Schöpfung geben uns erst Licht über seinen Wert. Die Herrlichkeit des Endes überstrahlt alles Dunkle der Gegenwart bei weitem. So viel sagt uns Gott; worüber Er geschwiegen hat, müssen wir schweigend anbeten.

     

    8 Verfluchen sollen sie die Verflucher des Tages, die fähig sind, den Leviathan aufzureizen!

    9 Finster sollen die Sterne ihrer Dämmerung werden; auf das Licht soll sie warten, aber keines soll sein; und die Wimpern der Morgenröte soll sie nicht schauen!

    10 Denn sie hat mir die Pforten des Mutterleibes nicht verschlossen und nicht verborgen die Mühsal vor meinen Augen.

     

    »Denn...« Im letzten Satz dieses ersten Paragraphen nennt Hiob den Grund, warum der Tag seiner Geburt besser nie gewesen wäre. Weil er empfangen und geboren wurde, blieb » nicht verborgen die Mühlsal«  vor  seinen Augen. Das zeigt uns in eindrücklicher Weise, wie er den Wert seinen Lebens nicht mehr nach seiner Beziehung zu Gott, sondern nur noch nach seinem gegenwärigen Befinden  einstuft.

     

     

    2. Hiob verwünscht den Umstand, nach der Geburt bewahrt worden zu sein 3,11–19

     

     

    11 Warum starb ich nicht von Mutterschoß an, kam aus dem Mutterleib hervor und verschied?

     

     »Warum...«: Es ist dies das erste von neun »Warum?«, die Hiob an Gott richtet. Sie finden sich an folgenden Stellen: 3,11.20; 7,20.21; 10,18; 13,14.24; 21,7; 24,1. Gott wird auf kein einziges antworten, denn Er ist Gott.

     

    12 Weshalb kamen Knie mir entgegen, und wozu Brüste, dass ich sog?

     

    Gibt es in dieser Schöpfung einen lieblicheren Anblick als den der dankbaren Mutter, die sich über ihr Kind, es in ihre Arme und an ihre Brust nimmt? In seiner Verwirrung kann Hiob hier nichts Liebliches mehr sehen; denn hätten Brüste ihn nicht gestillt, müsste er jetzt nicht leben.

     

    13 Denn jetzt läge und rastete ich, ich schliefe und hätte Ruhe –

     

    »ich hätte Ruhe«: Das ist ein kurzsichtiges Urteil. Wer leidet, sehnt sich oft nach dem Tod, als sei er ein Erlöser. Beim Tod er  hätte sicher Ruhe von der gegenwärtigen Pein, aber hätte auch Ruhe von noch größerer Pein? Die Bibel sagt, dass die Ungläubigen im Jenseits keine Ruhe haben werden Tag und Nacht (Off 14,11).

     

    14 mit Königen und Räten des Landes, die sich verödete Plätze bauten,

    15 oder mit Fürsten, die Gold hatten, die ihre Häuser mit Silber füllten;

     

    Mit einen Anflug von Sarkasmus erinnert Hiob daran, dass »Könige, Räte  und Fürsten« ihre Ruhe erst im Grab finden. Das Leben auch der Besten ist eine Ruhelose Sache. Ruhe gibt es erst, wenn wir diese Welt verlassen. Er selbst war ja ein Fürst unter den Menschen gewesen, und er hatte sein Haus mit »Gold... mit Silber« gefüllt.

     

    16 oder wie eine verborgene Fehlgeburt wäre ich nicht, gleich Kindern, die das Licht nie gesehen haben.

    17 Dort hören die Bösen mit Wüten auf, und dort ruhen die an Kraft Erschöpften,

    18 rasten die Gefangenen allesamt, hören nicht die Stimme des Treibers.

    19 Der Kleine und der Große, dort sind sie gleich, und der Knecht ist frei von seinem Herrn.

     

    Der Knecht wird durch den Tod tatsächlich »frei von seinem Herrn«, aber ob er deshalb auch wirklich frei wird? Das Neue Testament sagt uns, dass die gottlos Verstorbenen im Gefängnis sind (1Pet 3,19).

     

    3. Hiob verwünscht den Umstand, weiterleben zu müssen  3,20–26

     

    Wunsch, dass der Tag seiner Geburt nie gewesen sein möchte und dass er nach der Geburt nicht ernährte und erhalten blieben worden wäre, ist natürlich unerfüllbar, denn Geschehenes kann nicht ungeschehen gemacht werden, wie Hiob wohl weiß. Da wünscht sich Hiob, wenigstens nicht weiterleben zu müssen.

     

    20 Warum gibt er dem Mühseligen Licht, und Leben denen, die bitterer Seele sind;

     

    »Warum gibt er...«: Hiob ist nicht mehr zufrieden mit dem, was Gott gibt. Er weiß, dass es sinnlos ist, sich gegen die Geburt aufzulehnen. Hat sie stattgefunden, ist sie unwiederruflich. Aber er kann sich nicht damit abfinden, dass Gott ihn weiterleben lässt. Er sieht keinen Sinn mehr darin; d. h. er zweifelt an Gottes Weisheit, und Er zweifelt auch an Gottes Güte.

                Wie sehr hatte sein erst vor kurzem abgelegte Bekenntnis Gott gehrt, als er Ihn darüber pries, dass Er gegeben und genommen haben nach Seinem Wohlgefallen (1,21; siehe auch 2,10). Und jetzt fragt er vorwurfsvoll: »Warum?« So hatte Hiob gewiss nicht gefragt, als er die Wohltaten seines Schöpfers genoss. Jetzt, da ihm das Leben Leid bereitet, will er es nicht mehr, wirft er es seinem Schöpfer zu Füßen.

     

    21 die auf den Tod harren, und er ist nicht da, und die nach ihm graben, mehr als nach verborgenen Schätzen;

    22 die erfreut sind bis zum Jubeln, Freude haben, wenn sie das Grab finden; –

    23 einem Mann, dem sein Weg verborgen ist, und den Gott eingeschlossen hat ringsum?

     

    »dessen Weg ihm verborgen ist...«: Gott verbirgt uns unseren Weg, damit wir nur noch eines tun können: dem vertrauen, der alles weiß, alles sieht, alles vermag und der dabei von unendlicher Liebe ist. Dora Rappard hat das in einem Lied trefflich ausgedrückt:

     

    Ist auch der Weg verborgen,

    der heim mich führen soll,

    bin dennoch ohne Sorgen,

    den Führer kenn ich wohl.

     

    »den Gott eingeschlossen hat ringsum«: Gott schließt Hiob ein, damit ihm nach keiner Seite ein Ausweg offen bleibe, damit er von keiner Seite auf Hilfe hoffen könne. Es bleibt ihm nur noch der Weg nach oben frei, der Weg zu Gott; es bleibt ihm keine Hoffnung, als die Hilfe von oben. Eingeschlossen auf Gott hin, das ist sein bitter scheinendes, in Wahrheit aber glückseliges Los. Diesen einen Weg, diesen wahrhaftigen Königsweg, wird er aber erst vor sich offen sehen, wenn er sich in die Tiefe gebeugt hat.

     

    24 Denn vor meinem Brot kommt mein Seufzen, und wie Wasser ergießt sich mein Brüllen.

    25 Denn ich fürchtete einen Schrecken, und er kam über mich, und vor dem mir bangte, das ist eingetreten.

    26 Hatte ich nicht Frieden, und rastete ich, ruhte ich nicht?  Da kam das Toben.

     

    Hiob »hatte Frieden« gehabt, und geruht. Das alles hatte er Gott verdankt, wie er wusste. Dafür hatte er Gott auch die Ehre gegeben, wie seine spätere Schilderung seines ehemaligen Glücks zeigt (29,2–6). Er hatte bei der zweiten Heimsuchung Satans noch sein völliges Vertrauen in Gottes gute Regierung bekannt. Jetzt ist dieses Vertrauen erschüttert. Er kann jetzt nicht verstehen, warum der gleiche Gott, der ihm Leben und Wohlfahrt gegeben hatte, sein Leben zur reinen Qual macht.

     

    Sprachliche Anmerkungen zu Kap 3

    V. 1, 8  Dreimal kommt in diesen beiden Versen das deutsche Verb »vefluchen« vor; im Hebräischen werden drei verschiedene Wörter verwendet. In V. 1 steht qallêl, in V. 8 qâbab und ’arar. Buber übersetzt sie der Reihe nach mit folgenden drei Wörtern: verfluchen, verwünschen, verhexen.

    V. 26 Man kann die drei ersten Verben auch präsentisch übersetzen (siehe P. Paul Joüon, Grammaire de l’hébreu biblique, § 112). , da es sich um Zustandsverben handelt: ”Ich habe keinen Frieden, ich raste nicht, ihr ruhe nicht, sondern mich überfällt das Toben!” Sind die Perfekta präsentisch aufzufassen, dann auch das sich anschließende waw-Impferfekt, das hier nicht in erster Linie Tempus, sondern Aspekts ausdrückt.

     

     

    Kapitel 4

     

    Eliphas erste Rede Kap 4 & 5

     

    1. Eliphas These  4,1–11

    2. Die Herkunft von Eliphas Erkenntnis   4,12–16

    3. Die These wird auf Hiob angewendet  4,17– 5,7

    4. Eliphas ruft Hiob zur Umkehr  5,8–26

    5. Buße bringt sichere Wiederherstellung  5,17–27

     

    Eliphas hat Hiobs leidenschaftliche Klage an Gott gehört, und das bestätigt ihm, was er nach allem Nachdenken über Hiobs Unglück gefolgert hatte: Hiob muss gesündigt haben; er ist nicht ein so vorbildlicher Gerechter, wie es der Anschein gemacht hatte, als er früher andere lehrte (V. 3–4). Eliphas deutet vorsichtig an, dass er nicht so ganz an Hiobs Gottesfurcht und Vollkommenheit glauben kann; denn wäre er wirklich ein vollkommener Heiliger, wäre er jetzt nicht so bestürzt, sondern noch immer voller Vertrauen (V. 5–6). Und nicht nur das: Es werden ja auch offenkundig nicht Gerechte, sondern Gottlose gestraft (V. 8–11). Eliphas will seiner These nachdruck verleihen, indem er als nächstes eröffnet, woher er sein Wissen habe: von einem göttlich gegebenen Nachtgesicht (V. 12–16). Eliphas wendet seine These auf Hiob an und ruft ihn auf, umzukehren (5,8). Tut er es, wird er erfahren, dass Gott ihm vergibt und ihn wieder erhöht (5,17–27).

     

    1. Eliphas These  4,1–11

     

    1 Und Eliphas, der Temaniter, antwortete und sprach:

     

    »Eliphas, der Temaniter«: Eliphas antwortet als Erster auf Hiobs Klagen und erweist sich damit als Wortführer der drei Freunde. Entsprechend wird er am Ende auch von Gott als der Hauptverantwortliche zur Rede gestellt (42,7). Er formuliert auch den Grundsatz, den er und den seine beiden Begleiter in allen nachfolgenden Reden bestätigen werden, nämlich: Gott ist gerecht, darum kann er nur Ungerechte strafen und darum wird er die Gerechten segnen. In seinen Reden legt Eliphas jeweils den Grundsatz dar, während Bildad ihn illustriert und Zophar ihn anwendet.

     

    2 Wenn man ein Wort an dich versucht, wirst du mutlos werden? Doch die Worte zurückhalten, wer könnte es?

     

    »Wenn man ein Wort an dich versucht, wirst du mutlos?« Mit großem dialektischem Geschick beginnt Eliphas seine Rede an Hiob. Er beginnt mit einer Frage, die ein Gefragter nicht anders beantworten kann, als so, wie der Fragesteller  es bezweckt: Hiob kann natürlich nicht sagen: Es ärgert mich, frage lieber nichts; denn damit wäre er moralisch bereits besiegt gewesen.

     

    »Doch die Worte zurückhalten, wer könnte es? Dann stellt Eliphas diese zweite rhetorische Frage, die ihn, Eliphas, als lauteren Streiter für die Wahrheit empfiehlt. Er wolle sich beileibe nicht in persönlicher Weise hervortun. Er müsse einfach – um der Wahrheit Gottes willen – etwas sagen.

     

    3 Schau, du hast viele unterwiesen, und erschlaffte Hände stärktest du;

    4 den Strauchelnden richteten deine Worte auf, und wankende Knie befestigtest du.

    5 Doch nun kommt es an dich, und du hast den Mut verloren; es erreicht dich, und du bist bestürzt.

     

    »Nun kommt es an dich, und du hast den Mut verloren«: Eliphas zeigt sich erstaunt über Hiobs heftige Reaktion auf sein Leiden und kritisiert sie damit indirekt. Er meint darin offensichtlich eine Bestätigung seiner Vermutungen zu sehen: Wenn Hiob wirklich ein gottesfürchtiger Mann wäre, dann könnte er nicht so laut klagen.

     

    6 Ist nicht deine Gottesfurcht und die Vollkommenheit deiner Wege deine Zuversicht, deine Hoffnung?

     

    »Ist nicht deine Gottesfurcht... deine Zuversicht...«: Diese Frage ist eine dialektische Glanzleistung: »Hiob, du bist doch ein Mann, der Gott fürchtet. Müsste das nicht jetzt deine Zuversicht sein? Oder ist es vielleicht mit deiner Gottesfurcht nicht so weit her, wie wir immer dachten?« Für Hiob unüberhörbar, wird seine Gottesfurcht hinterfragt.

     

    »die Vollkommenheit deiner Wege... deine Hoffnung?« Mit diesem zweiten Teil der rhetorischen Frage deutet Eliphas an, dass er nicht so ganz an die Vollkommenheit von Hiobs Wegen glauben könne. Wer weiß, vielleicht ist Hiobs Frömmigkeit gar nicht so groß, wie die Leute immer dachten? Ohne es offen ausgesprochen zu haben, hat Eliphas damit sein Urteil über Hiob bereits gefällt: Hiob hat gesündigt; Hiob hat seine Sünde vor den Menschen verborgen. Das aber bedeutet, dass er Gott nicht fürchtet. Eliphas hat sieben Tage lang nachgedacht, und er hat Hiob und seinen ganzen Fall durchschaut.

     

    7 Gedenke doch: Wer ist der Unschuldige, der umgekommen wäre, und wo sind Aufrechte, die vertilgt worden wären?

     

    Jetzt beginnt Eliphas, seine Thesen zum sittlichen Regiment Gottes darzulegen. Die erste lautet: Unschuldige und Aufrechte werden nicht vertilgt. Die zweite lautet: Der Gottlose muss das böse ernten, das er gesät hat. Er sagt noch nicht direkt, was seine Meinung über Hiob ist. Er sagt es erst in allgemeinen Thesen. Was Hiob daraus zu folgern hat, ist ihm natürlich klar.

     

    »Wer ist der Unschuldige, der umgekommen wäre?« Ein Unschuldiger, der umkam, war Abel; und in der Fülle der Zeit kam der Unschuldige um. Beide wurden von Gesetzlosen getötet; beidemal ließ Gott die Bösen gewähren. An so etwas denkt Eliphas natürlich nicht. Er behauptet mit seiner Frage vielmehr, Hiob müsse schuldig sein, er sei nicht so rechtschaffen, wie es den Anschein macht. Mit diesem Urteil widerspricht Eliphas dem Urteil Gottes, der ausdrücklich sagt, er habe Hiob »ohne Ursache« verschlungen (2,3)

     

    »wo sind Aufrechte, die vertilgt worden wären?« Damit will Eliphas sagen, Hiob könne nicht rechtschaffen  sein, ansonsten er nicht vertilgt worden wäre. Und wiederum widerspricht er damit Gottes Urteil, nach dem Hiob »rechtschaffen« war (1:8; 2:3).

     

    8 So wie ich es gesehen habe: die Unheil gepflügt und Mühsal gesät haben, ernten es.

     

    »So wie ich es gesehen habe«: Eliphas nennt hier die erste Quelle seiner theologischen Thesen: Seine eigenen Beobachtungen. Wir können auch sagen, seine eigenen Erfahrungen. Er wiederholt das in V. 27.

     

    »die Mühsal gesät haben, ernten es«: Es besteht ein kausaler Zusammenhang zwischen Taten und Lohn, zwischen Sünde und Strafe. Wächst irgendwo eine Unheilsernte, wo nicht zuerst eine Unheilssaat gesät worden ist? Was Bildad weiß, weiß der Mensch auch ohne Offenbarung. Der Zusammenhang von Saat und Ernte ist zu offenkundig, als dass selbst der Sünder ihn leugnen könnte. So sagt etwa der heidnische Dichter Aischylos in seinem Drama »Die Perser«:

     

    Der Frevel, ist er aufgeblüht, treibt seine Ähre: Verblendung,

    und aus dieser wächst die tränenreiche Ernte.

     

    Der Apostel Paulus bestätigt die Wahrheit dieses Grundsatzes:»Was irgend ein Mensch sät, das wird er auch ernten« (Gal 6,7). Allerdings ist das nicht die ganze Wahrheit. Gottes sittliches Universum ist weiter, ist tiefer, ist höher, kurz: geheimnisvoller. Gnade durchbricht das unerbittliche Gesetz. Liebe handelt ihm scheinbar zuwider: Denn wen Gott liebt, den sucht Er mit Schlägen heim, nicht nur den Sünder. Ja, wenn Gott liebt, den sucht er sogar vor dem Sünder heim (Off 3,19).

     

    Der Irrtum des Eliphas ist der, dass er den Satz von Saat und Ernte ganz einfach rückwärts liest, und meint, er müsse so auch stimmen: Wer Mühsal erduldet, muss vorher die entsprechende Mühsal gesät haben. Dürfen wir aber folgern, dass erstens die Strafe immer handgreiflich und augenscheinlich proportional zu Missetat ausfallen müsse, und dass zweitens Gott der Sünde die Strafe stets unmittelbar auf dem Fuß folgen lasse?

                Dass ersteres nicht wahr ist, lernen wir an Gottes Handeln mit Israel: »Redet zum Herzen Jerusalems, und rufet ihr zu, dass ihre Mühsal vollendet, dass ihre Schuld abgetragen ist, dass sie von der Hand des HERRN Zwiefältiges empfangen hat für alle ihre Sünden« (Jes 40,2). Zwiefältig ist nicht proportional. Das sollte uns lehren, Dinge nicht beurteilen zu wollen, die wir nicht verstehen. Den Zusammenhang von Größe der Schuld und Größe der Strafe ist in einer Welt der Sünde viel zu komplex, als dass wir ihn mit em Rechenschieber erfassen könnten. Darum sollten wir dieses Urteilen Gott überlassen.

                Dass die Größe des Unglücks nicht auf die Größe der vorher begangenen Sünde schließen lässt, hat uns auch der Herr Jesus gelehrt:  »Jene achtzehn, auf die der Turm in Siloam fiel und sie tötete: meint ihr, dass sie größere Sünder waren als alle andern Menschen, die in Jerusalem wohnen? Nein, sage ich euch, sondern wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle ebenso umkommen« (Luk 13,1-5). Das »Nein« des Herrn ist eine deutliche Absage an die falsche Gleichung: größe des Unglücks = größe der Sünde. Zudem sehen wir hier, dass Gott Unglück aus verschiedenen Ursachen über Menschen bringt. Eine davon ist die, dass Gott die andern Menschen warnen will. Er schont Menschen, die das Unglück genau so hätte heimsuchen müssen. Das ist ein Ausdruck seiner Gnade, die ein Gegengewicht zu seinem gerechten Regiment bildet.

                Dass Gott Sünde nicht sofort heimsucht, hat Salomo mit folgenden Worten gelehrt: »Weil das Urteil über böse Taten nicht schnell vollzogen wird, darum ist das Herz der Menschenkinder in ihnen voll, Böses zu tun; weil ein Sünder hundertmal Böses tut und doch seine Tage verlängert – obgleich ich weiß, dass es denen, die Gott fürchten, wohlgehen wird, weil sie sich vor ihm fürchten...« (Pred 8,11.12).

                Ein ganz wichtiger Bestandteil von Gottes Regierung über einer Welt von Sündern ist also Seine Langmut. Er ist barmherzig, Er ist langsam zum Zorn (Ps 103,8). Das unterschlägt Eliphas.

               

    9 Durch den Odem Gottes kommen sie um, und durch den Hauch seiner Nase vergehen sie.

    10 Das Brüllen des Löwen und des Brüllers Stimme sind verstummt, und die Zähne der Junglöwen sind ausgebrochen;

    11 der Leu kommt um aus Mangel an Raub, und die Jungen der Löwin werden zerstreut.

     

    »Das Brüllen des Löwen ist verstummt...«: Mit diesen Worten bringt Eliphas seinen zweiten Irrtum bezüglich Sünde und Strafe zum Ausdruck. Der Löwe ist noch nicht verstummt; noch geht der Widersacher brüllend umher und sucht, wen er verschlinge (1Pet 5,7). Noch ist der Böse Fürst und Gott dieser Welt (2Kor 4,4); Gott lässt das Böse noch gewähren. Darum widerfährt auch dem Gerechten noch Böses, und noch rächt Gott das Böse nicht sofort. Noch hat der Satan Zugang zu Gottes Thron im Himmel, wie die beiden ersten Kapitel uns gezeigt haben. Erst wenn der Messias Seinen Thron auf dieser Erde errichten wird, wird Böses unmittelbar gerichtet werden (Ps 2,8.9; Jes 66,24; Sach 14,17–19). Wie kommt es, dass ein Gerechter wie Johannes auf eine Insel verbannt werden kann, während der zynische Despot, der das verfügt hatte, sich auf seinem auf Blut gegründeten Thron räkelt? Johannes bekommt die Antwort: Er sieht, dass Gottes Thron im Himmel ist (Off 4,2). Von dort aus lenkt Er in Seiner Vorsehung alle Dinge, auch das Böse. Aber gerade weil der Thron im Himmel und noch nicht auf der Erde ist, darf das Böse zeitweilig triumphieren.

                Der Irrtum Eliphas demonstriert in eindrücklicher Weise, wie wir auf Offenbarung angewiesen sind, um Gottes Gerechtigkeit zu verstehen während der Zeit, da der Böse noch in der Welt ist und das Böse regieren darf. Oder ist nach den Worten des Herrn selbst nicht der Satan Fürst dieser Welt (Joh 12,31)? Ohne den Blick in den Himmel, den Er uns in den einleitenden Kapiteln gewährt, verstünden wir Hiobs Not nicht.

                Ist aber der Unverstand der Freunde Hiobs dann nicht zu entschuldigen, da sie keinen Einblick in Gottes Thronsaal genossen hatten? Ihre Unwissenheit kann entschuldigt werden, nicht aber ihre Kühnheit, als Unwissende so weitreichende Schlussfolgerungen zu ziehen, wie sie es taten. Sie hätten schweigen und bekennen müssen, Gott wisse allein, warum Hiob seine Not leide, ihnen fehle das nötige Wissen, um das Unerklärliche zu erklären. Dass sie sich nicht in dieser Weise bescheideten, macht ihre Torheit und Sünde aus, für die Gott sie danach rügte (42,7.8).

     

     

    2. Die Herkunft von Eliphas Erkenntnis   4,12–21

     

    12 Mir  wurde verstohlen ein Wort zugetragen, und mein Ohr vernahm ein Geflüster davon.

     

     »Mir wurde verstohlen ein Wort zugetragen«: Eliphas nennt jetzt eine zweite Quelle seines Wissens:  eine ihm von Gott in nächtlicher Stunde gewährte Belehrung. Als ob er ein schlechtes Gewissen für seine eben gemachten kühnen Behauptungen habe, scheint er mit dramatisierender Darstellung verhüllen zu wollen, dass er eine Binsenwahrheit zum besten gibt. Jedermann weiß, dass Gott gerechter sein muss als der Mensch. So viel lehrt den Menschen schon seine Natur. Aber Eliphas will ja mehr, als nur einen allgemeinen Grundsatz statuieren. Er will mit diesem  sagen, Hiob sei schuldigvor Gott, und um Hiob den Mut zu jedem Widerspruch zu nehmen, verweist er auf die göttliche Herkunft seines Wissens.

     

    13 In Gedanken aus Nachtgesichten, wenn Tiefschlaf über die Menschenfällt:

    14 Angst  erfasste mich und Beben, und ein Zittern jagte mir Angst in die Knochen;

    15 und ein Geist zog vor meinem Gesicht vorüber, mir starrte das Haar am Leib empor.

    16 Er stand da, und ich erkannte sein Aussehen nicht; ein Bild war vor meinen Augen, ein Säuseln und eine Stimme hörte ich:

    17 Sollte ein Mensch gerechter sein als Gott, oder ein Mann reiner als sein Schöpfer?

     

    Der Mensch kann nicht gerechter sein als Gott. So viel weiß Hiob auch. Aber was will Hiob denn antworten? Eliphas versteht es, lauter Wahres zu sagen, das nicht bestritten werden kann; so auch im folgenden. Es ist sogar so wahr, dass das Neue Testament zweimal aus der ersten Rede Eliphas zitiert, nämlich in 1Kor 3,19 und in Hb 12,5, und der Weise Salomo zitiert ihn im Buch der Sprüche (Spr 3,11). Und doch tadelt Gott am Ende die Freunde Hiobs:

               

    »Und es geschah, nachdem der HERR diese Worte zu Hiob geredet hatte, da sprach der HERR zu Eliphas, dem Temaniter: Mein Zorn ist entbrannt wider dich und wider deine beiden Freunde; denn nicht geziemend habt ihr von mir geredet, wie mein Knecht Hiob« (42,7).

               

    Wie ist das zu erklären? So: Wahrheiten, die falsch angewendet werden, sind falsch und richten darum Böses aus, nicht Gutes. Es ist wahr, dass Gott Sünder straft, aber das trifft auf Hiob nicht zu, und darum ist Eliphas Aussage falsch. Mit Wahrheiten kann man andere erschlagen, und das taten die Freude Hiobs. Sie sagten dem falschen Mann zur falschen Zeit viele wahren Dinge. Wenn Eliphas Hiob fragt: »Sollte ein Mensch gerechter sein als Gott, oder ein Mann reiner als der ihn gemacht hat?«  dann ist Hiob gezwungen, im Sinne des Eliphas zu antworten; jede andere Anwort hätte ihm Eliphas als gotteslästerlich ausgelegt. Und so hätte Eliphas genau das erreicht, was er wollte: Hiob zum Geständnis zu nötigen, Gott habe in vollkommen gerechter Weise Hiob seiner Sünden wegen gestraft. Aber genau das war nicht wahr, wie der Leser des Buches weiß, und wie auch Hiob wusste. Er war in dem Sinne schuldlos, dass er unverschuldet seine Not litt. Mit einer vorher gemachten, auf theologischer Wahrheit basierender Annahme, drängt Eliphas den armen Hiob in die Enge, und diesem bleibt nichts anderes, als sich zu verteidigen; und die Freunde meinen, je länger Hiob sich wehrt, desto mehr offenbare sich seine Gottlosigkeit. So lernen wir an den Reden der Freunde Hiobs, dass  das Wort nicht allein richtig sein muss  sondern es muss auch zur gegebenen Lage passen:

     

    »Ein Wort zu seiner Zeit, wie gut!« (Spr 15,23)

     

    18 Schau, auf seine Knechte vertraut er nicht, und seinen Engeln lastet er Irrtum an:

    19 wieviel mehr denen, die in Lehmhäusern wohnen, deren Grund im Staub ist! Vor der Motte werden sie zerdrückt.

    20 Von Morgen bis Abend werden sie zerschmettert; ohne dass man's achtet, kommen sie um auf ewig.

    21 Reißt er ihnen nicht ihren Zeltstrick aus? Sie sterben, aber nicht in Weisheit.

     

     

    Sprachliche Anmerkungen zu Kap 4:

    V. 10,11 In diesen beiden Versen werden nicht weniger als fünf verschiedene Wörter für das eine deutsche Wort »Löwe« verwendet. Es sind der Reihe nach ’arjêh, schachal, kefîr, lajisch und labî’.

    V. 12 jegunnab, pu’al von ganab, stehlen. Als fientisches transitives Verb im Qal hat es im pi’el faktitive Bedeutung: gestohlen machen;  entsprechend im pu’al das Passiv davon: gestohlen gemacht werden, also deutsch ungefähr: verstohlen zugetragen werden.

    V. 14 das masoretische rob, »Menge«, ergibt im Zusammenhang keinen Sinn. Es lässt sich ohne Änderung am Konsonantentext als rîb vokalisieren, das im Akkadischen Zittern bedeutet.

    V. 21 jitram, entweder von jætær, »Zeltstrick«, oder jætær, »Überfluss«. Beide Möglichkeiten finden sich in den verschiedenen Übersetzungen.

     

     

    Kapitel 5

     

    3. Die These wird auf Hiob angewendet  5,1–7

     

    Die Vv. 1–7 sind eine rhetorisch zwar verhüllte aber doch unverhüllte Aufforderung an Hiob, sich zu ergeben. Er habe gesündigt, er sei doch von Eliphas klar überführt worden; da Gott gerecht ist, müsse Hiob schuldig sein.

     

    1 Rufe doch! Gibt’s jemand, der antwortet? Und an welchen der Heiligen willst du dich wenden?

    2 Gewiss – Den Narrenerwürgt der Unwille, und den Einfältigen tötet der Eifer.

     

    Warum er sich noch sperre, warum er noch einen Ausweg suchen wolle, wo es doch nur einen Weg geben könne: den der Buße und Umkehr zu Gott? Kein noch so Heiliger werde ihm helfen. Er sei ein Narr, den »der Unwille« noch erwürgen werde, wenn er nicht endlich seine Schuld vor Gott bekennen und bei Ihm Vergebung suchen will.

                Mit solchen Worten versteht es Eliphas, Hiob in die Defensive zu drängen.

     

    3 Ich, ich sah einen Narren, der Wurzel n trieb, und plötzlich! – da verwünschte ich seine Wohnung.

    4 Fern bleiben seine Kinder vom Glück; und sie werden im Tor zertreten, und kein Erretter ist da.

    5 Seine Ernte verzehrt der Hungrige, sogar aus den Dornhecken nimmt er sie weg; und nach ihrem Vermögen schnappt die Schlinge.

     

    Eliphas meint mit dem Narren, der »Wurzeln trieb«, niemanden anders als Hiob. Dessen Wohnung verwünscht man jetzt; und »fern bleiben seine Kinder vom Glück«. Etwas Herzloseres hätte Eliphas sich nicht ausdenken können. Hier sitzt ein Mann, der seinen ganzen Besitz, seine Gesundheit und obendrein alle seine Kinder verloren hat, und Eliphas weiß nichts Gescheiteres zu sagen, als dass die Kinder des Narren vom Unglück verschlungen werden.

     

    6 Denn nicht aus dem Staube geht Unheil hervor, und Mühsal  sprosst nicht aus der Erde;

    7 sondern der Mensch ist zur Mühsal geboren, und die Söhne der Lohe steigen auf  im Flug.

     

    Der Sinn dieses Verses ist: Der Mensch hat von Geburt an eine Natur, die abwärts zieht und Mühsal erzeugt, so wie die Söhne der Lohe, wahrscheinlich die Funken, ihrer Natur gemäß aufwärtsfliegen. »...der Mensch ist zur Mühsal geboren«: Die Beschaffenheit des Menschen erzeugt sein Unheil. Ist er ein guter Mensch, wird Gutes aus ihm hervorgehen, ist er ein böser Mensch, Böses. Seine Natur erzeugt das Unheil so sicher, wie Funken fliegen, wenn man mit etwas Hartem auf etwas gleich Hartes schlägt. Auch diesen Grundsatz bestätigt das Neue Testament: »Drangsal und Angst über jede Seele eines Menschen, der das Böse vollbringt, sowohl des Juden zuerst als auch des Griechen; Herrlichkeit aber und Ehre und Frieden jedem, der das Gute wirkt, sowohl dem Juden zuerst als auch dem Griechen« (Röm 2,9.10). Nur ist es nicht unsere Sache diesen Grundsatz auf den einzelnen Menschen anzuwenden, wie Eliphas es hier tut: Das Unheil, das Hiob befallen hat, sei kein unglücklicher Zufall, denn es sei nicht aus dem Staube, sondern aus ihm hervorgegangen, aus einem bösen Menschen, dem sein böses Tun eine böse Ernte eingebracht habe. Der Leser weiß, was Eliphas nicht weiß, nämlich dass Hiob ein Knecht des Herrn ist und ohne Ursache leidet.

     

     

    4. Eliphas Ruft Hiob zur Umkehr  5,8–16

     

    8 Ich jedoch würde Gott suchen und Gott meine Sache darlegen,

     

    »Ich würde Gott suchen«: Das ist ein guter Rat, in der Tat; und hätte Hiob ihn beherzigt, so wäre ihm geholfen worden. Nun aber der Ratgeber unterstellt hat, Hiob habe gesündigt und Gott strafe ihn deshalb, und damit eigentlich sagen will, er solle vor Gott treten und seine Sünde bekennen, verbaut er dem Hiob den Weg.

     

    9 der Großes tut, niemand kann’s ergründen, Wunder so viele, niemand kann sie zählen.

     

    Wie wahr sind diese Worte! Gott tut wirklich »Großes« das niemand ausloten kann. Darum können weder ein Eliphas noch einer seiner Gefährten Gottes Handeln an Hiob verstehen. Glaubte Eliphas, was er hier bekennt, redete er nicht so viel, sondern schwiege und suchte selbst Gott, wie er dem bedrängten Hiob eben geraten hat. Wenn Eliphas erkennt, dass Gottes Tun in der Schöpfung schon unerforschlich ist, dann hätte er eigentlich Grund genug gehabt zu bekennen, dass Gottes Tun in Seiner Regierung erst recht unerforschlich ist. Nun aber wendet er diese Wahrheit einzig gegen Hiob, um ihm damit zu sagen: Du verstehst zwar Gottes Handeln an Dir nicht, aber ich verstehe es und rate Dir deshalb: Kehre zu Gott um, und dann wird er dich wieder erhöhen.

     

    10 Er gibt Regen auf die weite Erde und sendet Wasser auf die weite Flur;

    11 um Niedrige hoch zu erhöhen, und Trübe steigen empor zum Heil.

     

    »Er gibt Regen gibt auf die weite Erde«: Gott lässt wahrhaftig regnen auf die Erde, und zwar, wie der Sohn Gottes uns ausdrücklich sagt, über Gute wie über Böse (Mt 5,45). Wendet nun Gott ohne Verdienst dem Bösen Gutes zu, warum sollte Er nicht ohne unmittelbare Schuld den Guten zeitweilig Böses widerfahren lassen? Hiob hatte in der Stunde seines Unglücks bekannt, dass wir, wenn wir aus Gottes Hand das Gute empfangen, auch das Böse ohne Murren hinnehmen sollten (2,10). Inzwischen hat er es vergessen; sein guter Freund Eliphas hat es nie erkannt. Wenn Gott ohne deren Dazutun »Niedrige in die Höhe« setzt, warum sollte er dann nicht Hohe ebenso ohne ersichtlichen Anlass erniedrigen?

     

    12 Er macht zunichte die Anschläge der Listigen, und ihre Hände führen den Plan nicht aus;

    13 die Weisen erhascht er in ihrer List, und der Rat der Gewitzten überstürzt sich.

     

    Diese Worte sind so wahr, dass der Heilige Geist den Apostel inspiriert, sie im Neuen Testament als göttliche Wahrheit zu zitieren (1Kor 3,19). Der Apostel will damit den Korinthern ihr fleischliches Vertrauen nehmen auf menschliche Weisheit. Das war bei den Korinthern notwendig. Hiob vertraut aber nicht auf seine Weisheit; er bekennt vielmehr, dass er angesichts seines unverschuldeten Leidens ratlos ist. Wir werden das in Kapitel 28 sehen, wo Hiob erklärt, dass bei keinem Menschen die Weisheit zu finden ist, die es bräuchte, um das Unerklärliche zu erklären. Darum sind diese Worte Eliphas, so wahr sie an sich sind, hier ganz ungehörig. Er will Hiob mit ihnen sagen, er könne seine Worte noch so klug wählen und noch so gescheite Argumente ins Feld führen, um seine Unschuld zu beweisen. Mit seiner Schlauheit werde er aber nichts erreichen, Gott werde ihn in seiner eigenen List fangen und zu Schanden machen.

     

    14 Am hellen Tag stoßen sie an wie im Dunkeln, und tappen am Mittag wie in der Nacht.

    15 Und er rettet den Armen von Schwert und Mund und Hand des Starken.

    16 So wird dem Geringen Hoffnung, und der Frevel schließt seinen Mund.

     

    Wir fragen, welchen Trost Hiob aus solchen Aussagen finden kann? Ja, er tappt in der Finsternis, aber nicht aus dem Grund, den Eliphas ihm unterstellt. Er ist nicht aus Torheit ins Unglück gestürzt, wie er selbst weiß und wie auch wir wissen, was Eliphas aber, ohne etwas zu wissen, von vornherein ausschließt.

     

     

    5. Buße bringt sichere Wiederherstellung  5,17–27

     

    17 Schau, selig ist der Mensch, den Gott straft!  Verwirf doch  nicht die Zucht des Allmächtigen.

     

    »Glückselig der Mensch, den Gott straft...«: Wunderbare Worte, herrliche Wahrheiten, aber im vorliegenden Fall bauen sie nicht auf, sondern reißen nur nieder. Wir merken das, wenn wir den Zusammenhang, in dem Eliphas sie anwendet, vergleichen mit dem Zusammenhang, in dem der Schreiber des Hebräerbriefes sie anwendet. Eliphas sagt: Hiob, du hast gesündigt, Gott zürnt dir, Sein Wohlgefallen ruht nicht mehr auf dir, darum bist du geschlagen, beraubt und niedergeworfen. Der Hebräerbrief geht von der genau engesetzten Voraussetzung aus: Schaut, liebe Brüder, ihr werdet geschlagen, ihr habt den Raub eurer Güter erleiden müssen. Heißt das, Gott zürne Euch? Nein, liebe Brüder, im Gegenteil: Es ist ein Beweis Seiner besonderen Zuneigung zu euch; ihr seid Seine Söhne, nicht Bastarde; ihr seid ihm so wichtig, dass Er euch züchtigt, dass Er euch für das Höchste und Beste erzieht. Ihr sollt Seiner Heiligkeit teilhaftig werden (Heb 12,4–6).

     

    18 Denn er bereitet Schmerz und verbindet, er zerschlägt, und seine Hände heilen.

    19 In sechs Drangsalen wird er dich herausreißen, und in sieben wird dich kein Übel antasten.

    20 In Hungersnot erlöst er dich vom Tod, und im Krieg von der Gewalt des Schwertes.

    21 Vor der Geißel der Zunge wirst du geborgensein, und du wirst dich nicht fürchten vor der Verwüstung, wenn sie kommt.

    22 Über Verwüstung und Hunger wirst du lachen, und vor den Wildtieren der Erde wirst du dich nicht fürchten;

    23 denn dein Bund wird mit den Steinen des Feldes sein, und die wilden Tiere werden Frieden mit dir halten.

     

    Wir haben hier eine eindrückliche Aufzählung von Erweisen der Macht und Güte Gottes. Die Worte sind, für sich genommen, allesamt wahr, und dennoch sagt Eliphas nicht die Wahrheit; denn nach seiner Meinung gelten diese Worte für Hiob erst, wenn er seine Schuld eingestanden hat. Gott habe ihm seiner Sünden wegen Schmerz bereitet und ihn seiner Missetaten wegen zerschlagen; er werde ihn aber aus allen sieben Drangsalen befreien und von allem Mangel erlösen, wenn er nur seine Sünden bekennen wolle.

     

    24 Und du erkennst, dass dein Zelt  lauter Frieden ist, und du musterst deine Behausung und du vermissesst nichts;

    25 und du erkennst, dass deine Nachkommenschaft groß wird, und dein Nachwuchs gleich dem Kraut der Erde.

     

    »du musterst deine Behausung und du vermissest nichts«: Zum zweiten Mal hält Eliphas dem Mann, der kurz zuvor seinen ganzen Besitz verloren hat, und das erst nochunverschuldet, den schmerzlichsten aller seiner Verluste vor. Damit Hiob es auch sicher nicht überhört, doppelt er nach: »Du erkennst, dass deine Nachkommenschaft groß wird.« Taktloseres hätte man einem Mann nicht sagen können, der seine gesamte Nachkommenschaft an einem einzigen Tag verloren hatte!

                Wir sollten uns durch das schlechte Beispiel des Eliphas warnen lassen: Es gibt wenige Dinge, die einen Geplagten so plagen, wie wenn er sich wohlfeile biblische Ratschläge anhören muss, die nicht am Platz sind.  Der Schreiber des Buches der Sprüche sagt, ein gutes Wort an den rechten Mann und zur rechten Zeit gesprochen, sei überaus kostbar. Unberufene Tadler sind allen, Gott und den Menschen, ein Ärgernis; ein weiser Tadler ist Gold wert:

     

    »Goldene Äpfel in silbernen Prunkgeräten: so ist ein Wort, geredet zu seiner Zeit. Ein goldener Ohrring und ein Halsgeschmeide von feinem Golde: so ist ein weiser Tadler für ein hörendes Ohr« (Spr 25,11.12).

     

    Wo und wie aber lernen wir denn, weise Tadler zu werden? In der Schule Gottes und im Heiligtum. Die Freunde Hiobs sagen manches, das mit dem Urteil Asaphs übereinstimmt (Ps 73,17–20). Der entscheidende Unterschied ist aber eben dieser: Asaph hatte, was er sagt, im Heiligtum gelernt  (V.17),   Hiobs Freunde hatte ihre schön geformten Lehrsätze aus den Schulbüchern. Wir müssen alle zuerst von Gott gelernt haben – in einer schmerzhaften Schule der Ernüchterungen und Demütigungen –, damit wir andere lehren können, wie es nachher ein Elihu tat. Er hatte von diesem unvergleichlichen Lehrer gelernt, was er Hiob weitergeben konnte:

     

    »Siehe, Gott handelt erhaben in seiner Macht; wer ist ein Lehrer wie er?« (Hi 36,22).

     

    Die Freunde Hiobs verstehen ihn falsch und tun ihm Unrecht, und doch müssen wir erkennen, dass diese  ebenso von Gott gesandt waren wie die anderen Plagen. Gott will auf diese Weise seinen Knecht prüfen; Er will ihn durch das Feuer dieser Erprobung sich selbst offenbar machen und ihn auf diesem Weg erziehen: Durch seine langen Verteidigungsreden gibt Hiob zu erkennen, dass ihm bei aller Unschuld und daher verstehbarer Ungeduld gegenüber seinen Freunden doch noch zu viel daran gelegen ist, gerade bei seinen Freuden gut angesehen zu sein. Und in der Tat: Elihu rügt genau das an Hiob, dass er in all seinen Reden sich selbst mehr rechtfertigte als Gott (32,2), dass es ihm also wichtiger ist, dass er selbst als dass Gott vor seinen Freunden als gerecht erscheint. Das ist ein subtiles Übel, von dem Gott uns durch besonders ausgesuchte Erziehungswege befreien muss, wenn wir  Seine Knechte sein wollen. Ein Knecht Christi muss von sich sagen können, was Paulus den Galatern sagte:

     

    »Denn suche ich jetzt Menschen zufrieden zu stellen, oder Gott? Oder suche ich Menschen zu gefallen? Wenn ich noch Menschen gefiele, so wäre ich Christi Knecht nicht« (Gal 1,10).

     

    So wollen wir an Hiob lernen, in allem und hinter allem Gottes Hand zu sehen, statt uns über Menschen und Geschehnisse zu ärgern. Beugen wir uns unter Gottes Regierung, beugen wir uns unter alles Schmerzliche, mit dem uns Gott in Seiner Weisheit, in Seiner Allmacht und in Seiner Liebe erzieht.

                Zum Wunder der göttlichen Wege gehört auch, dass am Ende nicht allein Hiob reicher, sondern auch seine Freunde klüger geworden sind. Gott lässt nicht allein Hiob an seinen Freunden zu Schanden werden, sondern lässt auch diese an Hiob verzweifeln, und das dient zu ihrer Erziehung (42,7–10).

     

    26 Du wirst in Rüstigkeit ins Grab kommen, wie man den Garbenhaufen einbringt zu seiner Zeit.

     

    Hier sagt Eliphas etwas, das sich wirklich bewahrheiten wird. Hiob wird an Nachkommen reich, der Ehre und der Tage satt in sein Grab kommen (Hi 42,16.17). Dafür sorgte der Gott, der Hiob erniedrigt hatte. Er erhöhte ihn wieder; allerdings auf einem anderen Weg und unter anderen Umständen, als Eliphas es zu wissen meinte.

     

    27 Schau, das haben wir erforscht; es ist so ; höre es, und du, merke es dir!

     

    Dieser schulmeisterliche Satz ist so enthüllend, dass wir durch Erklärungen von seiner Selbstgefälligkeit nur ablenken und damit seiner Flachheit womöglich noch einen Anschein von Tiefe verleihen würden. Darum lassen wir das bleiben.

     

    Sprachliche Anmerkungen zu Kap 5:

    V. 7 benê ræschæf, »Söhne der Flamme« oder »Lohe«, vielleicht sind damit die Funken gemeint.

     

     

     

    Kapitel 6

     

    Hiobs zweite Rede

     

    1. Hiob entschuldigt seine Worte mit der Größe seiner Leiden  6,1–7

    2. Hiob klagt, dass Gott zu viel von ihm verlangt  6,8–13

    3. Hiob beklagt darüber, dass seine Freunde ihn enttäuscht haben  6,14–30

    4. Hiob beklagt die Nichtigkeit seines Lebens  7,1–6

    5. Hiob protestiert gegen Gottes Handeln mit ihm  7,7–21

     

    Hiob hatte seiner Klage freien Lauf gelassen, bekam darauf aber von einem der Männer, die ihn zu trösten gekommen waren, eine Antwort, die ihm gar nicht gefallen konnte.  Zum einen wurde seine Erwartung auf Mitleid enttäuscht, zum andern stachen ihn Eliphas Unterstellungen. Hiob verteidigt sich, indem er zuerst seine unbesonnenen Worte von Kap 3 mit der Größe seiner Leiden entschuldigt (Vv. 1-7), dann beklagt er sich darüber, dass Gott von ihm zu viel verlange (Vv. 8–13), darau beschwert er sich darüber, dass seine Freunde ihn so bitter enttäuscht haben (Vv. 14–23). Er fährt in 7,1-6 fort und klagt, dass sein Leben ihm nur enttäuschte Hoffnungen und Ruhelosigkeit bringt, und dann wendet er sich in seiner Klage wieder direkt an Gott und protestiert dagegen, dass Er ihn so hart behandelt (7,7–21).

                Es sind diese Klagen alles Kinder des bereits erwähnten Unglaubens, in dem Hiob gefangen ist. Der Unglaube drängt Gott an den Rand und stellt das eigene Ich in die Mitte; ist das einmal geschehen, kann man nicht anders empfinden und anders reden, als Hiob es hier tut. Vergleichen wir diese zweite Rede Hiobs mit seiner eröffnenden Klage (Kap 3), stellen wir fest, dass er noch tiefer in die Finsternis gesunken ist. Dort hatten wir gesehen, dass sein Empfinden für den Wert seines Daseins und sein Vertrauen in Gottes weise und gute Regierung erschüttert waren. Hier sagt er deutlich, dass sein Leben nichts wert ist, und er prostestiert offen gegen Gottes Regierung. Er empfindet sie nur noch als Tyrranei.

     

     

    1. Hiob entschuldigt seine Worte mit der Größe seiner Leiden  6,1–7

     

    1 Und Hiob antwortete und sprach:

    2 Wägen, ja wägen sollte man meinen Unmut, und mein Missgeschick gleichzeitig auf die Waagschale legen!

    3 Denn da! Es ist  schwerer sein als der Sand der Meere; darum sind meine Worte unbedacht.

     

    Die Verse 2 und 3 sind sehr kunstvoll als Chiasmus konstruiert:

     

    V. 2:  Hiobs Unmut – Hiobs Missgeschick

    V. 3:  Hiobs Missgeschick – Hiobs aus Unmut geborenen Worte

     

    In 2a sagt Hiob, man soll seinen Unmut wägen; in 2b sagt er, man solle auf die andere Seite der Wage sein Missgeschick legen. 3b: Da zeigt sich, dass sein Missgeschick übermäßig schwer ist; 3b: weshalb sein übermäßiger Unmut angemessen sei.

     

    Zwei Dinge, die uns nicht sympathisch sein können: Hiob will, dass jedermann auf die Größe seines Leidens aufmerksam werde. Es ist  groß. Aber alle sollen es wissen, sollen begreifen, wie dreckig es ihm geht. Wir können mit Hiob mitfühlen, und wir wissen, dass wir an seiner Stelle ziemlich sicher ebenso gehandelt hätten. So sind wir eben, wir Sünder. Wie natürlich ist der Wunsch Hiobs, wie regelmässig huldigen wir Menschen solchen Gefühlen! Und wie anders ist Gott. Elihu sagt später von Ihm:

     

    »Wenn er sein Herz nur auf sich selbst richtete, seinen Geist und seinen Odem an sich zurückzöge,so würde alles Fleisch insgesamt verscheiden, und der Mensch zum Staube zurückkehren« (Hi 34,14.15).

     

    Es ist unser Glück, dass Gott sein Herz nicht wie wir sündigen Menschen auf sich richtet; täte er es, wäre es aus mit uns. Sein Herz geht hinaus zum Sünder, will dem Gutes, der Ihn beleidigt hat. Nur ein Mensch ist anders gewesen als die übrigen Menschen, der Mensch Christus Jesus. Als der Herr Jesus am Kreuz hing, litt Er Größeres, als irgend ein Mensch je gelitten hat. Er verlangte nicht von den Umstehenden, dass sie den Skandal dieses Unrechts, und die Tiefen seines furchtbaren Leidens doch bitte zur Kenntnis nehmen möchten. Wir lesen umgekehrt von Ihm, dass Er am Kreuz an die Umstehenden und die mit Ihm Gerichteten dachte: Er tat Fürbitte  für Seine Peiniger und für Seinen Mitgehängten (Lk 23), und er nahm sich des Kummers seiner Mutter an (Joh 19).

                Zudem will Hiob mit der großen Not, die er durchmachen muss, seine vorherigen Worte entschuldigen, die ihm offenkundig selbst ein leises Unbehagen bereitet haben. Sein Ergehen erklärt zwar sein Aufbegehren von Kap 3, aber es entschuldigt es nicht.

     

    4 Denn die Pfeile des Allmächtigen stecken in mir, ihr Gift trinkt mein Geist; die Schrecken Gottes stellen sich in Schlachtordnung gegen mich auf.

     

    »Pfeile«, das steht für heftigen, brennenden Schmerz; und es sind keine stumpfen Pfeile, oder Pfeile, die das Ziel verfehlen, sondern Pfeile »des Allmächtigen«. Gott wird von Hiob hier erstmals mit einem Feind verglichen, der stets darauf aus ist, seinen Feind zu vernichten. 

     

    5 Schreit ein Wildesel über dem Gras, oder brüllt ein Rind über seinem Futter?

    6 Wird Fades ohne Salz gegessen? Oder ist Geschmack im Eiweiß?

    7 Was meine Seele sich weigerte anzurühren, das ist mein Brot.

     

    Hiob sagt: »Kein Wildesel Schreit vor Pein, wenn er eine fette Weide gefunden hat, kein Rindbrüllt vor Schmerz, wenn es vor dem vollen Futtertrog steht; kein Mensch isst Geschmackloses, etwas so Fades wie Eiweiß ohne Salz. Ich habe aber erstens nicht bekommen, was meine Natur begehrt, sondern muss zweitens stattdessen Widerliches schlucken. Mein Futtertrog ist leer. Dafür muss ich Wermut herunterwürgen. Ist es da ein Wunder, dass meine Worte unbesonnen sind, ja, dass ich vor Ekel und Verdruss und Schmerz brülle?«

     

    2. Hiob klagt, dass Gott zu viel von ihm verlangt  6,8–13

     

    8 Ach, wenn meine Bitte nur einträfe und Gott  meine Hoffnung erfüllte,

    9 wenn Gott es sich gefallen ließe und er mich zermalmte! Er soll seine Hand losmachen und mich abschneiden!

     

    Hier bittet Hiob den Herrn erneut um etwas, das ihm der Herr nicht gewährt. Er will sterben, aber Gott gibt ihm in Seiner Gnade nicht, was er will. Gott hat sich vorgesetzt, Hiob zu erhalten, um ihn am Ende mehr zu segnen als am Anfang. Sollte Er jetzt, da Hiob etwas anderes will, von Seinem Vorsatz ablassen? Nein, Gott wird dem Hiob geben, was Er will, nicht was Hiob will. Ist das uns anstößig? Empören wir uns dagegen, dass Gott Sündern Gutes gibt, das sie selbst nicht gewollt hatten? Darf Gott uns nur geben, was wir selbst gewollt haben? Wir können Gott nicht genug danken, dass Er uns oft nicht gibt, was wir begehren und uns stattdessen gibt, was wir nicht begehrt haben. Es wäre sonst um uns geschehen. Hiob wird wiederholt um Dinge bitten, die ihm Gott nicht gibt (siehe 7,16; 10,20; 14,6). Gottes Liebe ist aber größer als unsere Torheit; Gottes Wille, uns Gutes zu geben, ist stärker, als unser törichter Wille, der das nicht (immer) will. So sagt denn Hiob am Schluss: »Ich weiß, dass du alles vermagst und dass kein Vorhhaben dir verwehrt werden kann« (42,2).

     

    10 So bliebe mir noch mein Trost, und ich würde aufspringen im schonungslosen Schmerz, denn ich habe die Worte des Heiligen nicht verleugnet.

     

    Weil Hiob sich keiner Schuld bewusst ist, sieht er dem Tod zuversichtlich entgegen. Er hat »die Worte des Heiligen nicht verleugnet«, und daher darf er wohl damit rechnen, dass Gott ihn in Ehren aufnimmt (Ps 73,24). Wenn das aber so ist, dann ist ja Sterben wirklich das Beste.

     

    11 Was ist meine Stärke, dass ich ausharren, und was mein Ende, dass ich mich gedulden sollte?

    12 Ist meine Stärke die Stärke von Steinen, oder ist mein Fleisch von Erz?

     

    »Was ist meine Stärke, dass ich ausharren sollte... ist meine Stärke die Stärke von Steinen?«: Diese beiden Fragen werden mit einem herausfordernden Unterton an Gott gestellt. Hiob kann es nicht verstehen, dass Gott ihn so lange unter einer so großen Last schmachten lässt, wo er doch nicht aus Stein und aus Erz gebaut ist.

                Die Not, in die Gott seinen Knecht gestürzt hat, will eben zeigen, dass in Hiob keine Kraft auszuharren ist, dass sein Fleisch eben Fleisch und nicht Erz ist und daher nichts vermag, am wenigstens mit Freuden unter widrigen Umständen ausharren. Das kann auch kein Mensch, außer, er wird gestärkt durch Gottes Kraft (Kol 1,11).

     

    »Was ist mein Ende, dass ich gedulden sollte?«: Was Hiobs Ende ist, erfahren wir am Schluss des Buches. Weil Hiob von diesem Ende nichts weiß, ist er ungehalten; weil wir von unserem Ende wissen, brauchen wir in der Drangsal den Mut nicht zu verlieren. Ja, es ist umgekehrt so, dass die Drangsal uns erst richtig die Augen für die zukünftige Herrlichkeit öffnet und unser Heimweh nach dem Himmel stärkt. Zudem erhöht alles Leiden und unsere Fähigkeit, uns an der kommenden Herrlichkeit zu freuen.

     

     

    3. Hiob klagt darüber, dass seine Freunde ihn enttäuscht haben  6,14–30

    Wer wie Hiob in unbeschreiblicher Not ist und daher verzagt, braucht Hilfe; wie schlimm ist es aber, wenn die Helfer den Bedrängten enttäuschen! Damit vergrößern sie ihm die Not.

     

    14 Der Verzagte braucht Beistand von seinem Freund, auch wenn er die Furcht des Allmächtigen verlassen sollte.

    15 Meine Brüder habengetäuscht wie ein Wildbach, wie das Bett der Wildbäche, die überlaufen,

    16 die trüb sind von Eis, in die der Schnee sich birgt.

    17 Zu ihrer Zeit schwinden und versiegen sie; wenn es heiß wird, sind sie von ihrer Stelle verschwunden.

    18 Sie winden wie Karawanen ihren Weg, ziehen hin in die Öde und verlieren sich.

    19 Die Karawanen Temas schauten aus, die Reisezüge Schebas hofften auf sie:

    20 sie wurden beschämt, weil sie auf sie vertraut hatten, sie kamen hin und wurden zu Schanden.

    21 Denn so seid ihr jetzt... Ihr seht einen Schrecken und ihr fürchtet euch.

     

    »Der Verzagte braucht Beistand von seinem Freund«:  Der von Gedanken an sich und sein Ergehen gefangene Hiob stellt lauter Forderungen an die andern. Es ist nie ein gutes Zeichen, wenn wir genau wissen, was die andern uns schulden. Wir sind immer arm, wenn wir von solchen Überlegungen gefangen sind. Glücklich ist hingegen, wer von Christus gefangen ist und deshalb nicht über sich weint. Der will auch nicht, dass andere für ihn weinen, sondern er vergisst vielmehr sich selbst und will mit den Weinenden weinen. Hat Hiob angefangen, Forderungen an seine Freunde zu richten, muss er ihre Unzulänglichkeit beklagen: »Meine Brüder haben sich trügerisch erwiesen wie in Wildbach...«. Alles hängt miteinander zusammen: Klage über die Größe des eigenen Unglücks, Klage darüber, dass Gott zu viel verlange, Klage über die Mängel der andern. Es ist ein düsteres Gefängnis, in dem Hiob gefangen ist.

     

    22 Habe ich etwa gesagt: Gebet mir etwas, und macht mir von eurem Vermögenein Geschenk?

    23 und befreit mich aus der Hand des Bedrängers, und kauft  mich los aus der Hand der Gewalttätigen?

     

    Hätten Hiobs Freunde ihm helfen können, hätte er sich gewiss nicht über ihr Erscheinen beklagt; nun sie ihm nicht in der von ihm erhofften Weise helfen können, beklagt er sich über sie.

     

    24 Lehrt mich, so will ich schweigen; und gebt mir zu erkennen, worin ich geirrt habe.

     

    »Gebt mir zu erkennen, worin ich geirrt habe«: Hiob fordert seine Freunde heraus, genau zu sagen, worin er gefehlt habe. Eliphas hatte nur allgemeine Thesen aufgestellt und mit diesen Hiob verurteilt. Konkreteres als Eliphas können sie freilich nicht sagen. Sie unterstellen dem geprüften Gottesknecht allerhand, sie können ihm aber nichts nennen, worin er gefehlt hat.

     

    25 Wie eindringlich sind richtige Worte! Aber was tadelt der Tadel, der von euch kommt?

    26 Gedenkt ihr Worte zu tadeln, wo doch die Worte eines Verzweifelndenin den Wind geredet sind?

     

    Hiob protestiert dagegen, dass seine Freunde gedenken »Worte zu tadeln«. Er findet es unfair, dass sie allein aus seinen heftigen Gemütswallungen schließen, mit ihm stimme etwas nicht.

     

    27 Sogar über die Waise würdet ihr das Los werfen, und über euren Freund einen Handel abschließen.

     

    Hier wird Hiob seinerseits gegen seine Freunde ziemlich ausfällig. Es stimmt zwar, dass sie ihn enttäuscht haben, und wir verstehen seinen Ärger, aber es ist sicher nicht wahr, dass seine Freunde ihm bewusst in den Rücken fallen. Sie handeln nicht mit berechnender Bosheit, wie jemand, der einen Freund verkauft, sondern sie irren aus Unverstand. Das ist ein erheblicher Unterschied.

     

    28 Und jetzt –  lasst es euch gefallen und schaut mich an! Euch ins Angesicht werde ich wahrlich nicht lügen.

    29 Kehrt doch um, es geschehe kein Unrecht; ja, kehrt noch um, meine Gerechtigkeit ist noch da!

    30 Ist Unrecht auf meiner Zunge? Oder sollte mein Gaumen das Unglück  nicht wahrnehmen?

     

     

    In der Tat: »Meine Gerechtigkeit ist noch da!« Hiob bringt es selbst auf den Punkt. Nichts ist ihm wichtiger, als vor den Freunden seine Gerechtigkeit zu beweisen. Dass Hiob Gottes Tun vor den Freunden hinterfragt und damit riskiert, dass auch seine Freunde Gottes Wege in Frage stellen, macht ihm keine Sorge, dass aber seine Freunde seine eigene Gerechtigkeit hinterfragen, das regt ihn auf. Elihu wird Hiob deswegen rügen; denn es ist für einen Knecht Gottes ganz ungehörig ist, dass es ihm wichtiger sein sollte, sich selbst vor den Freunden zu rechtfertigen als Gott (32,2). Hiob ist empört, dass seine Freunde es überhaupt wagen, »Unrecht auf (seiner) Zunge« zu vermuten. Wie sollte er, Hiob, unrechtes Reden, wie sollte sein »Gaumen Unglück nicht wahrnehmen«?  Gleichzeitig findet es Hiob keineswegs empörend, dass er mit einer jeden seiner Fragen an Gott dessen Recht und Gerechtigkeit in Frage stellt. Was für Torheiten, zu der wir Sünder fähig sind! Welche Verdrehtheiten wir uns leisten! Der Unglaube macht uns wirklich blind für Gott. Wir haben Ihn an den Rand gedrängt und uns in die Mitte gestellt. Wir haben damit alles auf den Kopf gedreht. Darum ist es kein Wunder mehr, dass wir oben und unten, Licht und Finsternis, Recht und Unrecht mit einander verwechseln.

     

    Sprachliche Anmerkungen zu Kapitel 6:

    V. 14 Der Verzagte erwartet von Freunden »Beistand«, chæsæd. Dieses im AT sehr häufig verwendete Hauptwort wird meist mit »Güte« übersetzt. Was es im Grunde bezeichnet ist die Loyalität, die Bundespartner, Familienglieder, Sippenangehörige oder Freunde einander schulden. Da Gott Seinem Bund gemäß handelt, äußert sich Seine chæsæd oft in Güte. Man könnte häufig einfach mit »Bundestreue« übersetzen. Von einem Freund erwartet der Bedrängte ein bestimmtes Verhalten, das den Regeln jeder Freundschaft entspricht, z. B. dass der Freund ihm nicht böse will, nichts Ungereimtes unterstellt, etc. Hiob ist gerade in dieser Erwartung von seinen Freunden enttäuscht worden.

     V. 18 »Öde«, tôhû, wie in 1Mo 1,2

     

     

    Kapitel 7

     

    Hiobrechtfertigt mit den nachfolgenden Worten seine heftige Klage. Wie sollte einer nicht brüllen wie ein gepeinigtes Vieh, dem ein so »harter Dienst... Monde der Nichtigkeit und Nächte der Mühsal« beschieden sind? Wie sollte er sich nicht nach dem Abend und der Nacht, das heißt nach dem Ende dieses elenden Lebens sehnen?  Das Leben ist so schwer, weckt so viele unerfüllte Hoffnungen, und ist zu Ende, ehe man bekommen hat, was man sich erhoffte (Vv.1–6). Wie bitter ist es, dass das Leben, einmal verloren, auf immer verloren ist (Vv.7–11). Und einen solchen, der nicht einen Lebensvorrat hat wie das unendliche Meer ist, sondern dessen Leben zerrinnt und am Ende versiegt, behandelt Gott so hart und gönnt ihm nicht einmal kurze Augenblicke der Ruhe (Vv.12–21)!

     

    4. Hiob beklagt die Nichtigkeit seines Lebens  7,1–6

     

    1 Ist dem Mensch nicht eine Kriegsdienst auf Erden beschieden, und sind seine Tage nicht wie die Tage eines Söldners?

    2 Der Knecht, er sehnt sich nach dem Schatten, und der Söldner, er wartet  auf seinen Sold,

    3 aber  mir zugeteilt Monde der Enttäuschung, und Nächte der Mühsal hat man  mir zugezählt.

    4 Wenn ich liege, so spreche ich: Wann werde ich aufstehen? Und der Abend dehnt sich hin, und satt bin ich vom Umherwerfen bis es dämmert.

     

    Der Dienst ist so hart auf Erden, dass es ihm bitte niemand verübeln wolle, wenn er sich nach dem Ende dieses Leben sehnt. Verdenkt man es dem Tagelöhner, dass er sich nach dem Abend und damit nach den kühlenden Schatten und der süßen Ruhe sehnt? Warum sollte Hiob nicht solche Sehnsucht haben dürfen? Dies um so mehr, als es ihm schlechter geht als dem Tagelöhner. Der bekommt wenigstens zu Feierabend seinen Lohn, und hat der Tag sich geneigt, findet dieser am Abend und in der Nacht Erquickung für seine müden Glieder. Hiob bekommt aber nicht, was er erhofft hatte, und er findet nicht einmal im Schlaf Vergessen und Erholung. »Monde der Enttäuschung«, und »Nächte der Mühsal« sind ihm beschert. Er kann nicht schlafen, so dass er sich während der endlosen Stunden der Nacht nach dem Morgen sehnt. Und dämmert endlich der Morgen, kündigt er nur einen weiteren Tages unerträglicher Pein an. Was soll ihm da noch das Leben?

     

    5 Mein Fleisch ist bekleidet mit Gewürm und Erdkrusten, meine Haut zieht sich zusammen und eitert.

    6 Meine Tage fuhren schneller dahin als ein Weberschifflein, und sie schwanden ohne Hoffnung.

     

    Welche Widersprüche schütteln den Menschen, wenn er nicht im Glauben lebt und wandelt! Einerseits wird ihm das Leben zu lang, er möchte möglichst bald seine Tage abgebüßt und endlich Ruhe haben; andererseits eilt ihm das Leben viel zu schnell vorüber (siehe 10,20), dass er mit dem Dichter Wilhelm Busch rufen möchte:

     

    Eins, zwei, drei im Sauseschritt

    Läuft die Zeit, wir laufen mit.

     

    So hatte Hiob sich in den Vv. 2–4 darüber beklagt, dass ihm die Tage und die Nächte viel zu lang werden. Im V. 6 sagt er das Gegenteil: Seine Lebenstage sind ihm so hastig vorübergeeilt wie Weberschiffchen. Der Lebensfaden rast ihm viel zu schnell von der Haspel. Warum zu schnell? Weil er Angst hat, es werde vorbei sein, ehe sein »Auge das Glück wiedersehen«  (V. 7) darf. In wieviel unnötigen Verdruss stürzt uns der Unglaube! Hiobs Sorge ist ganz unbegründet. Er wird noch 140 Jahre leben und größeres Glück sehen, als er sein Leben lang bisher gesehen hat. Gewiss, Hiob kennt sein Ende nicht. Aber er kennt Gott, und dass würde ihm genügen, könnte er nur vertrauen.

     

     

    5. Hiob protestiert gegen Gottes Handeln mit ihm  7,7–21

    Hiobs Pein wird dadurch vergrößert, dass er (noch) keine Hoffnung der Auferstehung hat, oder dass er an diese Hoffnung nicht in geistlicher Kraft festhält (cf V. 21). Wie bitter ist der Verlust von Besitz, Gesundheit und Ansehen, wenn man in den guten Dingen dieser Schöpfung seinen ganzen Schatz hat! Haben wir keine Hoffnung auf Auferstehung, sind wir die elendesten aller Menschen (1Kor 15,19). Das Leiden will Hiob zu einer besseren Hoffnung erziehen, zur Hoffnung der Auferstehung (siehe 14,7–12 und die dort vermerkten Stellen).

     

    7 Gedenke, dass mein Leben ein Hauch ist! Nicht wird mein Auge das Glück wiedersehen.

    8 Nicht mehr wird mich schauen das Auge, das mich jetzt sieht; suchendeine Augen mich, bin ich  nicht mehr.

    9 Die Wolke schwand und fuhr dahin – so, wer in die Unterwelt hinabfährt: Er steigt nicht wieder herauf.

    10 Er kehrt nicht zurück  zu seinem Haus, und seine Stätte erkennt ihn nicht mehr.

     

    11 Auch ich, ich will meinem Mund nicht wehren, will reden in der Angst meines Geistes und will klagen in der Bitterkeit meiner Seele.

     

     

    12 Bin ich ein Meer oder ein Seeungeheuer, dass du eine Wache gegen mich aufstellst?

     

    Hiob findet Gottes Handeln mit ihm stehe in keinem Verhältnis zu seiner Harmlosigkeit und Nichtigkeit (siehe auch 13,25). Er ist doch kein Meer, sondern nur ein Häufchen Erde, und Er ist doch kein Ungeheuer, sondern ein bloßes Menschlein. Er kann auch nicht verstehen, dass Gott ihn so plagt, als ob Er es nötig hätte, sich an seinen Geschöpfen zu rächen. Hiob könne doch Gott nichts antun.

     

    Hiob begreift so viel, dass die Weise, in der Gott mit ihm verfährt, zu jemandem passen würde, der einem Meer von Sünde gleicht und gefährlich ist wie ein Seeungeheuer. Er kann zwar noch nicht erkennen kann, dass in ihm ein immerfließender Quell der Bosheit ist. Aber so ist der Sünder, so die ganze sündige Rasse Adams, so ist auch Hiob. Auch das muss dem gerechten Hiob vor Augen geführt werden, und auch dazu dient das Leiden, das Gott über Hiob gebracht hat. Am Ende wird er es erkennen und wird sich selbst deswegen verabscheuen (42,6). Die auch in uns wohnende Sünde ist in ihrem Ausmaß grenzenlos wie das Meer und dazu zerstörerisch wie ein Ungeheuer. Dass wir es glaubten, dass wir es begriffen!

     

    13 Wenn ich sage: Trösten wird mich mein Bett, mein Lager wird tragen meine Klage,

    14 so erschreckst du mich mit Träumen und ängstigst mich durch Gesichte,

    15 so dass meine Seele Erstickung wünschte und meine Gebeine den Tod.

    16 Ich kann nicht mehr – ich will nicht ewig leben. Lass ab von mir! Denn ein Hauch sind meine Tage

     

    »Lass von mir ab!« Welche furchtbare Bitte! (vgl. 6,10; 10,20; 14,6). Ließe Gott von uns ab und überließe er uns uns selbst, wären wir verloren. Wir sänken in die Hölle und blieben ewig dort. Wie froh müssen wir sein, dass Gott uns nicht immer gibt, was wir begehren! Wie froh müssen wir sein, dass Er uns unserem eigenen, sogenannten »freien« Willen nicht überlässt. Nein, nach Seinem Willen enthält Er uns manches vor, was wir begehren, und nach Seinem Willen gibt Er uns manches, das wir nie begehrt haben. Er ist die einzige Person im ganzen Universum, die einen freien Willen hat. Und dieser Wille ist das ewige Leben.

     

    17 Was ist der Mensch, dass du ihn groß machst, und dass du dein Herz auf ihn richtest,

    18 und alle Morgen ihn heimsuchst, jeden Augenblick ihn prüfst?

    19 Wie lange willst du nicht von mir wegblicken, mir nicht Ruhe lassen, bis ich meinen Speichel schlucke?

     

    Sehr geschickt sind wir darin, alle Wahrheiten so zu drehen, dass sie unserer Sache dienen müssen. Der Mensch ist ein Nichts, wie Hiob weiß, jeder weiß. Eine Tatsache, die uns in dankbarer Bewunderung vor dem unumschränkten Gott hinsinken lässt – wenn es richtig um uns steht. Hier aber kehrt Hiob diese Wahrheit gegen Gott: »Wie kommst Du dazu, mich, der ich vor Dir doch ein nichts bin, überhaupt zu beachten! Lass mich doch in Ruhe, dass ich endlich meinen Speichel schlucken kann, ohne dass Du mich dauernd mit Deinen Blicken verfolgst.« Wohl ihm, wohl uns, dass Gott unseren Wünschen nicht folgt! Gäbe er uns nach unserem Wollen, wäre es um uns geschehen.

     

    20 Habe ich gesündigt, was tat ich dir an, du Beobachter der Menschen? Warum hast du mich dir zur Zielscheibe gesetzt, dass ich mir selbst zur Last geworden bin?

    21 Und warum vergibst du nicht meine Übertretung und lässest nicht hingehen meine Missetat? Denn jetzt werde ich mich in den Staub legen, und suchst du nach mir, so bin ich nicht mehr.

     

    »Was tat ich dir an?« Das ist eine Frage, dich sich dem natürlichen Urteilen ganz organisch stellt: »Was ist denn Sünde schon? Was kann ich damit dem Allmächtigen antun? Nichts. Also soll Gott mich in Ruhe lassen!« Diese Gedanken nehmen ihren Ausgang von einer richtigen Feststellung: Der Mensch ist ein Hauch. Aber sie übersehen die Tatsache, dass Gott den Menschen als ein sittliches Geschöpf geschaffen hat; dass er im Bild Gottes geschaffen wurde. Darum ist Sünde schlimm; und darum tut der Mensch mit der Sünde Böses, obwohl es stimmt, dass er damit Gott nicht schädigen kann (cf 35,6). Aber wendet sich damit gegen Seinen Schöpfer und Herrn, Seinen Versorger und Wohltäter. John Bunyan sagte einmal sehr treffend:

     

    »No sin against God can be little, because it is against the great God of heaven and earth. But if the sinner can find out a little God, it may be easy to find out little sins – Keine Sünde gegen Gott kann klein sein, weil sie gegen den großen Gott des Himmels und der Erde geschieht. Sollte der Sünder einen kleinen Gott ausfindig machen können, dann mag er auch kleine Sünden ausfindig machen..«

     

     

     

    Sprachliche Anmerkungen zu Kap 7:

    V. 1, 17 Für »Mensch« steht hier nicht das übliche ’âdâm, sondern ’ænôsch, das ist der schwache, der hinfällige Mensch.

    V. 21  »suchst du nach mir«: schichartánî vom Verb schâchár, das vom Hauptwort scháchar, Morgenröte, abgeleitet ist und daher »frühe suchen« bedeutet; das gleiche Verb wie in 8,5; Ps 63,1; Spr 8,17

     

     

    Kapitel 8

     

    Bildads erste Rede

     

    Bildad wiederholt mit anderen Worten, was Eliphas bereits gesagt hat. Seine Rede ist sogar fast gleich aufgebaut wie die seines Vorgängers. Er ist dabei aber nicht so wortreich wie Eliphas, sondern sagt direkter und ungeschminkter, was er von Hiob und von seinem Unglück hält.

     

    1. Bildads These 8,1–7

    2. Die Herkunft von Bildads Erkenntnis   8,8–10

    3. Die These wird auf Hiob angewendet  8,11–22

     

    Hiob hatte in seiner Entgegnung auf Eliphas zu verstehen gegeben, dass Gottes Handeln mit ihm unangemessen sei. Darauf antwortet Bildad in den Versen 1–7, indem er sagt, dass Gott das Recht nicht beugt. Wenn Gott ihm seine Kinder genommen hat, dann war das die gerechte Strafe für ihre Sünden, und wenn er von seinen eigenen Sünden umkehren würde, dann würde Gott der »Wohnung deiner Gerechtigkeit« (V. 6) Frieden und Heil geben.

                Wie Eliphas verweist Bildad auf die Herkunft seiner Auffassungen von Gottes Regiment: Während jener sich auf seine persönlichen Erfahrungen und auf ein Nachtgesicht berief, vertraut Bildad auf das, was die Väter überliefert haben (V. 8–10). Was folgt, sind wahrscheinlich eine Reihe solcher Vätersprüche, die besagen, dass der Mensch, der sich von Gott abwendet, vergeht wie das Gras, das ausgerissen worden ist, und dass der Mensch, der sich auf anderes verlässt als auf Gott, keinen Bestand haben wird.

     

    1. Bildads These 8,1–7

     

    1 Und Bildad, der Schuchiter, antwortete und sprach:

    2 Wie lange willst du solches reden, und sollen die Worte deines Mundes ungestümer Wind sein?

    3 Wird Gott das Recht  beugen oder wird der Allmächtige die Gerechtigkeit verkehren?

     

    »Wird Gott das Recht beugen«: Wie Eliphas beginnt Bildad seine Rede mit einer Frage, und diese rhetorische Frage beabsichtigt auch das gleiche wie die in Kap 4,17 gestellte Frage des Eliphas: Sie will beweisen, dass Hiob Recht geschieht, wenn er gepeinigt wird. Es ist die verdiente Strafe für seine Missetaten. Mit seiner Frage will er ja eine Behauptung Hiobs widerlegen, als ob Hiob gesagt hätte, Gott habe das Recht gebeugt. Das hat er nicht gesagt; er hat allerdings geklagt, seine Not sei größer, als dass er sie ertragen könne. Bildad überhöht Hiobs Worte und stellt ihn damit in ein schiefes Licht. Wie oft tun wir es ihm gleich! Wie oft entarten Gespräche unter Freunden zu einem Wortduell, bei dem jeder nur noch eines will: Beweisen, dass er recht hat, und um das zu erreichen, muss er zeigen, wie verkehrt der Gesprächspartner ist. Hiob und seine Freunde reden lang und reden viel, und sie sündigen dabei entsprechend; denn:

     

    »Bei der Menge der Worte fehlt Übertretung nicht; wer aber seine Lippen zurückhält, ist einsichtsvoll« (Spr 10,19).

     

    4 Wenn deine Kinder gegen ihn gesündigt haben, so gab er sie dahinin die Gewalt ihres Frevels.

     

    »Wenn deine Kinder gegen ihn gesündigt haben, so gab er sie dahin in die Gewalt ihres Frevels«: Welch giftgetränkter Stachel für einen Mann, der erst kürzlich alle seine Kinder verloren hat, der stets aus Sorge, seine Kinder könnten gesündigt haben, für diese geopfert hatte! (1,5). Er wiederholt damit Eliphas herzlosen Ausspruch von Kap 5,25.  Wir begreifen, dass Hiob seine Freunde nicht anders als leidige Tröster nennen kann.

     

    5 Wenn du Gott eifrig suchst und zum Allmächtigen um Gnade flehst,

    6 wenn du lauter und rechtschaffen bist, ja, dann wird er aufwachen über dir und Wohlfahrt geben der Wohnung deiner Gerechtigkeit;

    7 und dein Anfang wird gering sein, aber dein Ende sehr groß werden.

     

    »Wenn du Gott eifrig suchst«: Gott Suchen ist eine gute Sache, wer will das leugnen? Wer will dann Bildad widersprechen? Das Tückische an dieser Empfehlung ist die Voraussetzung, unter der sie gemacht wird: Hiob habe gesündigt, er solle Gottes Angesicht suchen und das endlich bekennen.

                Bildad wiederholt in diesen Versen Eliphas Thesen, nämlich:

     

    – Wenn einer  ungerecht ist, dann Hiob, niemals Gott;

    – Hiobs Kinder wurden hinweggerafft, weil sie gesündigt hatten;

    – wenn Hiob die Sünde aus seinem Leben entfernte, würde Gott ihn wieder segnen.

     

    In den Augen Bildads ist die Sache klar: Hiob ist kein Gerechter. Er hat nur gerecht getan, ist aber in Wahrheit ein Gottloser. Wenn das stimmt, ist Hiob ein Heuchler, oder – um die wörtliche Übersetzung des neutestamentlichen Ausdrucks zu verwenden – ein Schauspieler. Das ist ungefähr das Schlimmste, was man einem Heiligen unterstellen kann.

     

    »dein Anfang wird gering erscheinen, aber dein Ende sehr groß werden«: Auch hier hat Bildad Recht. Hiobs Ende  wird größer sein als sein Anfang. Aber dieses Ende wird nicht unter den Voraussetzungen erreicht werden, die Bildad vermutet. Sein Denken ist ganz vom Prinzip der Leistung und Gegenleistung bestimmt. Gott wird Hiob durch Seine Gnade wiederherstellen, und Er wird ihm lauter Dinge geben, die er nicht verdient hat. Allerdings hat Bildad insofern recht: Hiob wird vorher Buße tun müssen. Nur wird er nicht über solche Dinge Buße tun, die Bildad sich vorstellte, sondern über ganz andere Dinge.

     

     

    2. Die Herkunft von Bildads Erkenntnis   8,8–10

    Während Eliphas sagte, er stütze sich bei seinen Erkenntnissen auf Gesichte Gottes, beruft sich Bildad auf die Überlieferungen der Väter.

     

    8 Denn befrage doch das vorige Geschlecht, und richte deinen Sinn auf das, was ihre Väter erforscht haben.

    9 (Denn wir sind von gestern und wissen nichts, denn ein Schatten sind unsere Tage auf Erden.)

    10 Werden jene dich nicht belehren, dir's sagen, und Worte aus ihrem Herzen hervorbringen?

     

    Die Autorität der Alten ist natürlich ernstzunehmen, wer wollte sich gegen sie stellen? Wer will so pietätslos, so aufmüpfig und so arrogant sein? Hiob wird es doch nicht etwa wagen, solche Autoritäten in Frage zu stellen?

     

    3. Die These wird auf Hiob angewendet  8,11–22

     

    11 Schießt Papierschilf auf, wo kein Sumpf ist? Wächst Riedgras empor ohne Wasser?

    12 Noch ist es am Grünen, wird nicht ausgerauft, so verdorrt es vor allem Gras.

    13 So sind die Pfade aller, die Gott vergessen; und des Ruchlosen Hoffnung geht zu Grunde.

     

    Papierschilf kann nur wachsen, wo ein Sumpf ist, und Riedgras schießt nur auf, wo Wasser ist. So kann auch der Mensch nur Gedeihen haben, wenn er in Gott verwurzelt ist. Aber alle, »die Gott vergessen«, werden verdorren wie Gras, das man ausrauft. So geht »des Ruchlosen Hoffnung zu Grunde«. Wir fragen: Ist Hiobs Hoffnung zu Grunde gegangen? Bildad hält das für erwiesen. Folglich ist Hiob einer dieser Ruchlosen, die keine Verbindung mit Gott haben und darum vergehen.

     

    14 Sein Vertrauen wird abgeschnitten, und seine Zuversicht ist ein Spinnengewebe.

    15 Er stützt sich auf sein Haus, und es hält nicht stand; er hält sich daran fest, und es bleibt nicht aufrecht.

     

    Wird des Gottlosen »Vertrauen abgeschnitten«? Ja, denn er vertraut auf Nichtiges, »seine Zuversicht ist ein Spinngewebe«, das ihn nicht halten kann, wenn Gott ihn an seinem Tag dem Gewicht seiner eigenen Sünden übergibt und in die Gruben fallen lässt. Wer soll ihn da halten? Woran will er sich klammern, warauf sich dann stützen? Er hat Gott verworfen; er hat sein Haus nicht auf den einzigen sicheren Felsen gebaut. Er stütz sich nun »auf sein Haus, und es hält nicht stand«. Das ist das furchtbare Ende des Gottlosen. Welch entsetzliches Erwachen!

                Auch das sind alles wahre Worte, nur auf den falschen Mann angewendet; denn Hiob ist kein Ruchloser; er ist kein Gottloser und kein Heuchler. Er ist ein Knecht Gottes. Darum können diese Worte ihm nicht helfen, sie können den Niedergebeugten nicht aufrichten, sondern nur noch vollends in Boden zu treten. Ganz anders wirkt ein gutes, ein passendes Wort:

     

    »Kummer im Herzen des Mannes beugt es nieder, aber ein gutes Wort erfreut es« (Spr 12,25).

     

    Die Freunde Hiobs haben hier nicht viel gemeinsam mit Dem, für dessen Wahrheit sie einzutreten meinten, heißt es doch von ihm:

     

    »Der HERR stützt alle Fallenden und richtet auf alle Niedergebeugten« (Ps 145,14).

     

    16 Saftvoll ist er vor der Sonne, und seine Schößlinge dehnen sich aus über seinen Garten hin;

    17 über Steinhaufen schlingen sich seine Wurzeln, er schaut die Wohnung der Steine;

    18 wenn er ihn wegreißt von seiner Stätte, so verleugnet sie ihn: "Ich habe dich nie gesehen!"

    19 Siehe, das ist die Freude seines Weges; und aus dem Staube sprossen andere hervor.

    20 Siehe, Gott wird den Vollkommenen nicht verwerfen, und nicht bei der Hand fassen die Übeltäter.

    21 Während er deinen Mund mit Lachen füllen wird und deine Lippen mit Jubelschall,

    22 werden deine Hasser bekleidet werden mit Scham, und das Zelt der Gesetzlosen wird nicht mehr sein.

     

    »Gott wird den Vollkommenen nicht verwerfen«, das ist wahr. Der Sohn Gottes wird keinen hinausstoßen, von denen, die der Vater Ihm gegeben hat und die deshalb zu Ihm kommen (Joh 6,37). Bildad irrt nur darin, dass er meint, Hiob sei von Gott verworfen. Hiob ist niedergeworfen, ja, aber nicht verworfen.

                Wen Bildad mit den »Übeltätern« meint, kann niemand überhören. Gott werde Hiob daher nicht bei der Hand fassen. Dass er kein »Vollkommener« ist, liegt klar am Tag; denn hätte Gott ihn sonst verworfen? Ja, Bildads Logik ist zwingend – in seinen Augen, und nach Maßgabe all dessen, was ein Menschen sehen und daher wissen kann. Er weiß aber nicht, was Gott über Hiob gesagt hat, und er hat nicht gesehen, was im Himmel verhandelt worden ist. Darum ist alles, was er folgert, ganz verkehrt. Es wird tatsächlich noch so kommen: Gott wird noch »deinen Mund mit Lachen füllen«, und »deine Hasser werden mit Scham bekleidet«.  Bildad hätte es nicht für möglich gehalten, dass er am Ende mit Scham vor Hiob stehen, und dass Gott Hiobs Mund auf andere Weise und unter anderen Voraussetzungen mit Lachen füllen würde. Ist uns dieses Buch nicht zur Belehrung geschrieben (Röm 15,4)? Möchten wir an Hiobs Freunden lernen, nicht vorschell zu urteilen (Spr 20,25a; 1Kor 4,5) und von unserer Urteilsfähigkeit nicht so viel zu halten.

     

    Sprachliche Anmerkungen zu Kap 8:

    V. 2 für »beugen« und »verkehren« steht beidemal das Verb câwát.

     

     

    Kapitel 9

     

    Hiobs dritte Rede  Kap 9 & 10

     

    1. »Wie könnte ein Mensch gerecht sein vor Gott?«  9,1–10

    2. »Wer will Ihm wehren?«  9,11–24

    3. »Es gibt zwischen uns keinen Schiedsmann.«  9,25–35

    4. »Da ist niemand, der aus deiner Hand errette.«  10,1–17

    5. »Warum bin ich aus dem Mutterleib hervorgegangen?«  10,18–22

     

    In seiner dritten Rede greift Hiob die Tatsache der unendlichen Distanz auf, die den Menschen von Gott trennt. Das, was seine Freunde gegen Hiob gekehrt hatten, wendet er zu seinen Gunsten an. Eliphas hatten daran erinnert, dass Gott in Seiner Gerechtigkeit dem sündigen Menschen unendlich überlegen ist (4,17–20), und Bildad hatte beteuert, dass Gott die Gerechtigkeit nie beugt (8,3). Hier hakt Hiob ein und sagt: Tatsächlich, der Mensch kann niemals gerecht sein vor Gott (9,1–10). Wie begründet er es? Gott ist unendlich höher als wir; Gott ist souverän. Wer will das bestreiten? Er verfährt mit allem von Ihm Geschaffenen, wie Ihm beliebt (9,11–24). Wie wollte ich mich auch dagegen wehren? Da kann ich noch so gerecht sein, Gott wirft mich in den Kot, und ich kann das nicht verhindern (V. 31). Ich habe als Mensch einfach keine Chance, vor einem Allmächtigen zu bestehen (9,25–35).

                Hatten Hiobs Freunde Gottes Souveränität zu wenig berücksichtigt, überzieht Hiob die Wahrheit von der Souveränität Gottes. Hiobs Freunde extrapolierten aus dem, was menschliche Erfahrung und menschliches sittliches Urteil lehren, und behaupteten, Gott müsse allewege handgreiflich proportional zur Missetat strafen. Er ist aber der souveräne Gott, der in Seiner Güte und Strenge, in Seiner Gnade und Heiligkeit nach Seinem und nicht nach unserem Herzen handelt, der deshalb die Seinigen früher und schwerer straft als die Gottlosen (1Pet 4,17; Jes 40,2; Jer 16,18), und der in Seiner Güte den Sünder hundertmal sündigen und ihn lange leben lässt, bevor Er ihn im Zorn wegrafft (Pred 8,11; Röm 9,22). Nachdem Hiob auf Bildads rede entgegnet hat (Kap 9), wendet er sich an Gott. Er stellt zuerst eine ganze Reihe von Fragen an Gott, mit denen er unverhohlen Gottes Handeln an ihm kritisiert (10,1–17), und dann bittet er Gott, ihn doch wenigstens die wenigen Lebenstage, die ihm  noch bleiben, in Ruhe zu lassen (10,18–22).

     

    In den Reden Hiobs und in den Reden seiner Freunde zeigen sich diese beiden Grundirrtümer, in die menschliches Urteilen angesichts der Souveränität Gottes immer wieder verfällt: Es wird Gott von den einen nicht zugestanden, dass Er nach Seinem Urteil und nach Seiner Weisheit und Seinem Willens zuteilen dürfe; und von den andern wiederum wird Gott unterstellt, Er beuge in Seiner Unumschränktheit dem wehrlosen Menschen das Recht. Dem natürlichen Verstand ist die Souveränität Gottes unfasslich und anstößig, weshalb er sie entweder abschwächt oder überhöht. Im ersten Fall erscheint der Mensch groß und Gott  klein, im zweiten der Mensch gut und Gott böse. Gottes Souveränität richtig verstanden, lässt uns Gott als groß und den Menschen als klein, Gott als gerecht und den Menschen als böse erkennen (vgl. 23,13.14).

               

     

    1. »Wie könnte ein Mensch gerecht sein vor Gott?«  9:1–10

     

    1 Und Hiob antwortete und sprach:

    2 Wahrlich, ich weiß, dass es so ist; und was will ein Mensch gerecht sein vor Gott?

    3 Wenn’s ihm gefällt, mit ihm zu rechten, so kann er ihm auf tausend nicht eins antworten.

     

    »Wahrlich, ich weiß, dass es so ist«: Dem Hiob ist durch die schulmeisterliche Art seiner Freunde nicht geholfen worden; im Gegenteil: Ihr Herabkugeln orthodoxer Lehrsätze hat Hiobs Stolz nur gestochen, und er ruft verärgert, dass er längst wisse, was seine Freunde wissen. Eine geistliche Antwort auf fleischliches Reden kann man das nicht nennen. Wie anders war da unser Herr! Als man Ihn, den Geber des Gesetzes selbst, über das Gesetz ausfragte, antwortete Er dem Schriftgelehrten wie ein gehorsamer Schüler, der dem ausfragenden Lehrer eine Antwort schuldig ist (Mt 22,36–39).

     

    »Was will ein Mensch gerecht sein vor Gott«: Mit der gleichen Wahrheit will Hiob nun das Gegenteil von dem sagen, was sein Freunde wollten: »Kein Mensch kann gerecht sein vor Gott, also auch ich nicht. Was verurteilt ihr dann einen Menschen, statt Barmherzigkeit zu zeigen?« Hiob verwendet jene Wahrheit zu seinen Gunsten, die seine Freunde gegen ihn gewandt hatten. Was sind wir doch für Künstler, die wir Gottes Worte mühelos so zu wenden vermögen, dass sie unseren Absichten dienen müssen!  Gott gebe, dass wir vor Ihm erkennen, wie verkehrt das ist!

    In den nachstehenden Versen 4 – 10 stehen Sätze, die so schön formuliert sind, dass wir sie alle in Stein meisseln möchten. Sie wollen nur eines: zeigen, dass Gott in Seiner Souveränität mit dem Menschen verfährt, wie Er will – das ist eine Wahrheit, die wir von ganzem Herzen unterschreiben –, dass Er dabei den vor einem so großen Gott immer hilflosen und vor einem so heiligen Gott immer schuldigen Menschen auch in seinem Recht beugt – das ist ein schlimmes Wort, das wir nicht akzeptieren können (siehe 9,20–24, 29; 10,3–7. 15; 19,6).

     

    4 Er ist weise von Herzen und stark an Kraft: Wer hätte sich gegen ihn verhärtet und wäre heil geblieben?

    5 Er versetzt  Berge und sie merken es nicht, und er kehrt sie um in seinem Zorn;

     

    Was bisher fest war wie ein Berg, versetzt Er, was oben war, kehrt Er in seinem Zorn um. Hiob, der festen Frieden genossen und von Gott zum Gebieter über die Menschen (29,25) erhöht worden war, stürzt Er in Seiner Macht, ohne dass Hiob etwas dagegen vermag.

     

    6 Er macht die Erde beben von ihrer Stätte, und ihre Säulen wanken.

    7 Er befiehlt der Sonne, und sie strahlt nicht, und er versiegelt die Sterne.

     

    Wenn Gott befiehlt, geht die Sonne nicht auf; Er hat die Macht die Ordnungen der Schöpfung zu durchbrechen. Hiob will damit die Frage suggerieren: Hat Er dann nicht auch die Macht, die moralischen Ordnungen aufzulösen? »Seht mich an, meine Freunde, ich bin ein lebendiges Beispiel dafür.«

     

    8 Er spannt die Himmel aus, er allein, und er schreitet auf den Höhen des Meeres.

    9 Er hat den großen Bären gemacht, den Orion und das Siebengestirn und die Kammern des Südens;

    10 Er tut so Großes tut, dass man es nicht ergründen, und so viele Wunder wirkt, dass man sie nicht zählen kann.

     

    Gott tut wahrlich großes, dass es nicht zu erforschen ist. Das Gleiche hatte schon Eliphas über Gott gesagt (5,9). Beide sagen das Gleiche, aber sie meinen jeder etwas anderes. Eliphas hatte sagen wollen: Gott tut an Schuldigen Großes; Er vergibt ihnen ihre Schuld und er erhöht sie aus ihrer Erniedrigung (sofern sie ihre Schuld bekennen). Hiob will hingegen sagen: Gott tut Großes, das niemand erforschen kann. Er stürzt Mächtige und erniedrigt den Schuldlosen. (Das ist allerdings eine Wahrheit, von der seine Freunde nichts wissen wollen).

     

     

    2. »Wer will Ihm wehren?«  9,11–24

     

    In den Versen 11 – 13 führt Hiob den angefangenen Gedanken weiter aus. Er sieht Gott nicht, wenn Er an ihm vorübergeht, und noch viel weniger kann er Gott zu wehren, wenn Er ihn niederreißt oder sogar wegrafft.

     

    11 Da! er geht an mir vorüber, und ich sehe ihn nicht, und er zieht vorbei, und ich merke ihn nicht.

    12 Da! er reißt weg, und wer will ihm wehren? Wer zu ihm sagen: Was tust du?

    13 Gott wendet seinen Zorn nicht ab, unter ihn duckten sich Rahabs Helfer.

    14 Und ich, ich soll ihm antworten, ich soll meine Worte wählen ihm gegenüber?

    15 Der ich, wenn ich gerecht wäre, nicht antworten könnte . Ich müsste flehen zu meinem Richter.

     

    Niemand kann dem Allmächtigen wehren. Wir merken ja nicht einmal, wenn »er vorübergeht«. Wie können wir dann aber hoffen, dass wir Seinen Gang irgendwie  beeinflussen können? »Er rafft dahin«, bevor ich etwas gemerkt habe, und Er tut es mit einer Macht, der ich nichts entgegenhalten kann. »Also ist mein Lage aussichtslos«, will Hiob sagen. Wie »könnte ich ihm antworten?« Ich habe nichts zu melden; meine Worte können Ihn in keiner Weise umstimmen. Sogar »wenn ich gerecht wäre«, dürfte ich nicht erwarten, dass mir der Lohn des gerechten ausgezahlt wird, sondern ich müsste – als Unschuldiger! – »um Gnade flehen zu meinem Richter«.  Es ist schlimm, wenn wir uns auf erhabene Wahrheiten über Gott und Sein Tun berufen, um uns zu rechtfertigen und damit stillschweigend Gott anzuklagen. Noch ist Hiob nicht dort, wo er angesichts der hier von ihm ganz richtig ausgesprochenen Wahrheiten hingehört: in den Staub vor dem Ewigen und Allmächtigen. Darum wagt er unbesonnene Worte wie die nachstehenden:

     

    16 Wenn ich riefe, und er mir antwortete,  ich  könnte nicht glauben, dass er auf meine Stimme horchen würde:

     

    Gott sei viel zu erhaben, als dass er auf die Stimme eines Menschen hören könnte, selbst wenn dieser gerecht ist. Darum »könnte ich nicht glauben, dass er auf meine Stimme horchen würde«.  Elihu wird Hiob hierauf antworten, dass Gott wahrlich erhaben ist, dass Er aber deswegen die Menschen nicht für nichts achtet (36:4).

     

    17 Er, der mich zermalmt im Sturm, und meine Wunden mehrt  ohne Ursache;

    18 er lässt  mich  nicht Atem holen, denn er sättigt mich mit Bitterkeiten.

     

    Es ist wahr, dass Gott seine »Wunden mehrt ohne Ursache« (siehe 2,3). Es ist aber dennoch nicht richtig, dass Hiob es Gott zum Vorwurf macht, dass Er ihm diese Wunden zumutet. Wir müssen zwei Dinge bedenken: Erstens ist uns Gott keine Rechenschaft schuldig. Auch das wird Elihu dem Hiob sagen müssen (33:13). Zweitens verursacht Er nie ganz ohne Ursache Leiden. Wohl hat Hiob sein Leiden nicht unmittelbar verursacht, aber Hiob ist ein Sünder, ein Kind Adams, durch den die Sünde in die Welt kam. Der Mensch hat durch die Sünde den Tod in die Schöpfung gerufen und damit alles Leiden. Es ist nicht Gottes Schuld, dass es Schmerz und Tod gibt; der Menschen ist allein daran schuld.

     

    19 Geht’s um Kraft des Starken: Da ist er; geht’s um Recht: Wer will mich vorladen?

    20 Wäre ich auch gerecht, mein Mund müsste mich doch verdammen; wäre ich vollkommen, er beugte mich dennoch.

     

    Hiobs Sätze sind wohlformuliert und genau gewogen. Er lässt nichts aus, was seinen Gedankengang lückenhaft machte. Er sagt zuerst von Gott ein Zweifaches: Wenn es darum geht, wer von den beiden der stärkere sei: Gott oder der Mensch, so kann Er immer sagen: »Siehe, hier!« Er ist uns einfach überlegen; darum können wir nichts gegen Ihn ausrichten. Und zweitens ist er immer im Recht: »Wer will mich vorladen?« Hiob sagt zwar nicht offen, dass Gott immer im Recht sein müsse, weil Er ganz einfach der Mächtigere ist. Aber er lässt seine Zuhörer diese Schlussfolgerung machen, wenn er fortfährt und aus dieser doppelten Aussage folgert: »Wenn ich auch gerecht wäre...so würde er mich für verkehrt erklären.« Das sind wiederum ganz ungehörige Worte, und wiederum wird Elihu ihm widersprechen, indem er ihn daran erinnert, dass Gott Seine Macht immer unter Wahrung vollkommenen Rechts gebraucht (Kap 34).

     

    21 Vollkommen bin ich. Ich sollte meine Seele nicht kennen? soll mein Leben verwerfen?

    22 Es ist eins! Darum sage ich: Den Vollkommenen und den Gesetzlosen vernichtet er.

    23 Wenn die Geißel plötzlich tötet, so spottet er der Verzweiflung der Unschuldigen.

     

    Das ist nun die Sprache dessen, der Gottes Souveränität so übersteigert, dass sie alle anderen Eigenschaften Gottes verschlingt. Gott ist nicht ausschließlich souverän; Er ist auch Licht und Liebe. Hier hat Hiob das aus den Augen verloren, und entsprechend wird er in seinem Fatalismus hemmungslos: »Vollkommen bin ich«, aber ich kann tun, was ich will, »es ist eins!« Der Trotz ist unüberhörbar, mit dem Hiob Gott diese Worte vor die Füße wirft.  Ja, Gott hat auch »den Vollkommenen« geschlagen; aber er wird ihn nie zusammen mit »dem Gesetzlosen« vernichten. Ja, er wird von beiden den Lohn der Sünde einfordern, den Tod. Darum sterben Gerechte wie Gottlose (Pred 9,2). Aber Gott macht immer einen Unterschied zwischen den Heiligen und den Gottlosen, zwischen Seinem Volk und der Welt (1Kor 11,32). Darum hätte Hiob das nicht sagen dürfen. Noch viel weniger, dass Gott »der Prüfung der Unschuldigen spottet«. Gott ist nicht hartherzig; Gott ist nicht ein gefühlloser Tyrann. Er ist die ganze Zeit, während Hiob so über ihn redet, »voll innigen Mitgefühls und barmherzig« (Jk 5,11). Wie sehr wird sich Hiobnachher  dieser Worte schämen; wie schlimm, dass er so reden konnte! Und doch: größer als Hiobs Unverstand und Sünde ist Gottes Gnade. Tatsächlich: Wo die Sünde mächtig geworden ist, ist die Gnade noch viel mächtiger geworden (Röm 5:20). Wäre es nicht so, wäre es um uns alle geschehen.

     

    24 Die Erde ist in die Hand des Gesetzlosen gegeben, das Angesicht ihrer Richter verhüllt er. – Wenn er es nicht ist, wer dann?

     

    Hiob will hier seinen Freunden gegenüber begründen, warum Gerechte wie er leiden. Das Regiment über die Erde ist »ist in die Hand des Gesetzlosen gegeben«. Hier hat Hiob teils recht. Gott hat ihn der Hand Satans ausgeliefert; und Gott hat die Welt dem Satan unterstellt. Darum heißt Er »Fürst dieser Welt«. Aber das bedeutet nicht, dass Gott nicht als Fürst über den Fürsten stünde (Pred 5,8b). Darum ist alles, was Gott in dieser Welt geschehen lässt, gerecht. Und darum stimmt es nicht, was Hiob gleichzeitig sagen will: Was mit ihm geschehe, sei ungerecht.

     

     

    3. »Es gibt zwischen uns keinen Schiedsmann.«  9,25–35

     

    25 Und meine Tage sind schneller enteilt als ein Läufer, sie fliehen, schauen das Glück nicht.

    26 Wie Rohrschiffe sind sie vorübergezogen, wie ein Adler, der auf Fraß herabstürzt.

     

    Zum zweiten Male klagt Hiob, dass seine Tage »schneller als ein Läufer«, enteilen, und dass sie »das Glück nicht schauen«. Siehe dazu die Anmerkungen zu 7:6.

     

    27 Wenn ich sage: Ich will meine Klage vergessen, will mein Gesicht entspannen und mich erheitern,

    28 so bangt mir vor allen meinen Schmerzen; ich weiß, dass du mich nicht freisprechen wirst.

    29 Ich, ich soll schuldig sein; wozu soll ich mich denn nutzlos abmühen?

    30 Wenn ich mich in Schneewasser wüsche und meine Hände mit Lauge reinigte,

    31 dann würdest du mich in die Grube tauchen, und meinen Kleidern würde vor mir grauen.

     

    »Ich weiß, dass du mich nicht freisprechen wirst. Ich muss schuldig sein«: Aus solchen Worten spricht Resignation, die im Munde eines Heiligen immer eine Anklage an Gott ist. Wenn wir unser Vertrauen wegwerfen, dann sagen wir damit, es gehe uns als Kind Gottes dreckiger  als gehörig, und Gott helfe und nicht so, wie Er es eigentlich müsste. Damit ist erstens Gottes Gerechtigkeit und zweitens Gottes Liebe in Frage gestellt. Das ist sehr ernst. Obwohl es Satan nie gelingt, Hiob zur Absage an Gott zu bewegen, so hat er doch hier sein Urteilen schon so sehr verfinstert, dass der Knecht Gottes Dinge sagt, die mit den Lügen verwandt sind, die die Schlange dem ersten Menschenpaar im Garten Eden eingegeben hatte.

     

    32 Denn er ist nicht ein Mann wie ich, dass ich ihm erwiderte und wir miteinander vor Gericht gingen.

    33 Es gibt zwischen uns keinen Schiedsmann, dass er auf uns beide seine Hand legte.

     

    Die unendliche Distanz zwischen Hiob und seinem Gott besteht tatsächlich. Gott »ist nicht ein Mann wie ich«. Diese Kluft kann durch kein Geschöpf überbrückt werden; keiner könnte »Schiedsmann«, hebr. mokiach,  oder griech.mesites  (LXX), »Mittler«,  sein zwischen Hiob und Gott. Das würde erst der Mensch Christus Jesus sein, wahrer Mensch und wahrer Gott in einer Person (1Tim 2,5, wo im Griechischen für »Mittler« ebenfalls mesites steht). Hier haben wir eine der Stellen in den Reden Hiobs, die seine Sehnsucht nach einem Helfer, einem Mittler, einem Fürsprecher verraten. Andere Stellen sind 16,21 und 17,3. Diese Sehnsucht zu wecken, war eine der Absichten, die Gott mit allen über Hiob verhängten Leiden hatte. Gerade die Untauglichkeit seiner Freunde zeigte ihm, wie nötig er einen Mittler und Fürsprecher hatte, der ihn vor Gott und vor Menschen gerecht machen könnte.

     

    34 Er nehme seine Rute von mir weg, und sein Schrecken überfalle  mich nicht:

    35 so will ich reden und ihn nicht fürchten; denn so bin ich nicht bei mir selbst.

     

    Hiob »will reden« und sich dabei nicht fürchten, denn er sieht bei sich keinen Grund, warum er vor Gott Angst haben müsste, hat er doch nicht gesündigt: »Denn so bin ich nicht«, d. h. so schuldig bin ich nicht »bei mir selbst«, d. h. nach meinem Urteil.

     

     

    Sprachliche Anmerkungen zu Kap 9:

    V. 17 »ohne Ursache«, chinnâm, wie in 1,9 und 2,4.

    V. 20, 21, 22 »vollkommen«, tâm, wie in 1,1.

    V. 35 »denn so bin ich nicht bei mir selbst«. Ich habe vorsichtshalber Wort für Wort übersetzt, weil der Sinn unsicher ist. Wahrscheinlich will Hiob sagen: »Denn als so schuldig sehe ich mich selbst nicht an.« Luther 86 übersetzt daher: »Denn ich bin mir keiner Schuld bewusst.« Zürcher: »Denn solcher Dinge bin ich mir nicht bewusst.« Buber: »Denn nicht so ist’s um mich bestellt.«

     

     

    Kapitel 10

     

    4. »Da ist niemand, der aus deiner Hand errette.«  10,1–17

     

    1 Meiner Seele ekelt vor meinem Leben; ich will meine Klage über mich laufenlassen, will reden in der Bitterkeit meiner Seele.

    2 Ich will zu Gott sagen: Verdamme mich nicht! lass mich wissen, weshalb du mit mir streitest.

     

    »Meine Seele ist meines Lebens überdrüssig«: In 9,21 hatte Hiob gesagt: »Ich verachte mein Leben.« Mit dieser Deklaration legt Hiob den Grund zu den nachfolgenden Aussagen:  »Ich will meine Klage über mich laufenlassen.« – als ob unser subjektives Ergehen Grund genug ist, unsere Worte nicht mehr zu zügeln. Darf Hiob sich gehen lassen, nur weil er seines Lebens überdrüssig ist? Darf einer sich gegen Gott auflehnen, weil er keinen Geschmack mehr findet an dem, was Gott ihm schickt? Wie verkehrt wird all unser Urteilen, sobald wir Gott aus den Augen verlieren und an uns selbst und an unserem Befinden messen, was wir sagen und tun sollen!

     

                Trotzdem sind Hiobs Worte ein Beweis dafür, dass er Gott nicht abgesagt hat, sondern noch an Ihm hängt.: »Ich will reden...Ich will zu Gott sagen...« Sein Kopf sagte ihm, es nütze nichts, zu Gott zu rufen (»Es ist einerlei!« 9,22), er müsse schuldig sein, er könne nie zusammen mit Gott vor Gericht gehen (9,29. 33). Aber sein Herz folgt nicht seinem Kopf. Er kann offensichtlich nicht anders, als trotzdem zu Gott zu rufen.

     

    Hiobs Frage: »Lass mich wissen, worüber du mit mir rechtest« ist nicht die Bitte des Sünders, dass Gott ihn seiner Sünde und seiner Sünden überführe, sondern eine herausfordernde Frage. Gott soll sich und Sein Tun vor Hiob erklären.Wie unpassend sind Forderungen dieser Art. Gott ist nicht unser Zögling, den wir ausfragen, er ist nicht unser Diener, den wir herbeizitieren dürfen. Er schuldet uns keine Antworten, und Er antwortet auch nicht.

     

    3 Gefällt es dir, dass du bedrückst, dass du die Arbeit deiner Hände verwirfst und über den Rat der Gesetzlosen Licht gibst?

    4 Hast du denn Fleisches Augen, oder siehst du, wie ein Mensch sieht?

    5 Sind deine Tage wie die Tage eines Menschen, oder deine Jahre wie die Tage eines Mannes,

    6 dass du nach meiner Ungerechtigkeit suchst und nach meiner Sünde forschest,

    7 obwohl du weißt, dass ich nicht schuldig bin, und dass niemand ist, der aus deiner Hand errette?

     

    »Sind deine Tage wie die Tage eines Menschen...dass du nach meiner Ungerechtigkeit suchst«: Der Mensch, der stets auf Genugtuung aus ist, beweist eben damit, dass er seine Hoffnung allein in diesem Leben hat. Weil Gott aber ewig ist und auch Seine Erwählten für die Ewigkeit bestimmt sind, können sie zeitliches Unrecht ohne weiteres Aufhebens tragen. Der Mensch, der im Diesseits verankert ist, will das nicht und kann das nicht. Wie sollte er auch, hat er doch keine andere Hoffnung, als diesseitige Ehre. Gott kann aber nicht so sein. Warum sollte Er dann darauf bestehen, Hiobs Ungerechtigkeit hervorzusuchen? Hat Er das nötig? Und wie soll Hiob das zusammenreimen, dass Gott bei Hiob Schuld suchen sollte, wo er doch weiß, »dass (er) unschuldig« ist. Er kann nicht verstehen, dass Gott ihn trotzdem mit solchem Unglück heimsuchen sollte. Seine Unschuld und sein Unglück passen in seiner Rechnung nicht zueinander.

     

    8 Deine Hände haben mich mit Mühe gemacht,  ganz und ringsum, und doch verschlingst du mich!

    9 Gedenke doch: wie Ton hast du mich gemacht – und zum Staub willst du mich zurückführen!

    10 Hast du mich nicht wie Milch hingegosse und wie Käse gerinnen lassen?

    11 Mit Haut und Fleisch hast du mich  bekleidet und mich durchflochten mit Knochen und Sehnen.

    12 Leben und Huld hast du mir bereitet, und auf mich aufgepasst und  meinen Geist bewahrt.

     

    Hiob kann auch das nicht verstehen: Gott hat ihn liebevoll gestaltet, hat ihn kunstvoll geformt. Tat der das alles, nur um das Werk Seiner Hände zu verschlingen? Hiob wird an Gott Selbst irre. Er versteht Seinen Gott nicht mehr, und noch weniger versteht er das Verhältnis Gottes zu ihm. Das ist sein größter Schmerz; das ist der wirkliche Grund für seine Verzweiflung, nicht etwa der Verlust seiner Besitztümer oder seiner Gesundheit. Und gerade das ist ein weiterer Beleg dafür, dass Hiob wirklich ein Knecht Gottes ist.

     

    13 Doch dies hattest du du in deinem Herzen verborgen; ich weiß, du hattest es im Sinn:

     

    »Doch dies hattest du in deinem Herzen verborgen«: Dieses Bekenntnis verrät, dass in Hiobs Innerem ein stummes Misstrauen gegen Gott geschlummert hatte, auch in den Jahren seiner Wohlfahrt. Misstrauen gegen den allein Gerechten und den unendlich Liebenden! Welche furchtbaren Früchte hat der Same der Sünde getrieben, den die Schlange unseren Ureltern ins Herz säte.

     

    14 Wenn ich sündigte, so würdest du mich beobachten, und von meiner Missetat mich nicht freisprechen.

    15 Wäre ich schuldig, wehe mir! Und wäre ich gerecht, so dürfte ich mein Haupt nicht erheben, gesättigt von Schande und trunkenvom eigenen Elend.

    16 Und erhöbe es sich doch, wie ein Löwe würdest du mich jagen, und erneut deine Schrecken erweisen an mir,

    17 würdest immer neue Zeugen gegen mich aufstellen und deinen Zorn auf mich mehren, immer neue Haufen gegen mich senden.

     

     

     

    5. »Warum bin ich aus dem Mutterleib hervorgegangen?«  10,18–22

     

    18 Warum hast du mich aus dem Mutterleib kommen lassen? Wäre ich nur umgekommen, und kein Auge hätte mich gesehen!

    19 Wäre ich nur denen gleich, die nie gewesen sind, vom Mutterleib weg zum Grab getragen!

     

    Schon zum dritten Mal lehnt sich Hiob dagegen auf, dass Gott ihn ins Dasein gerufen hat.

     

    20 Bleiben mir nicht wenige Tage? Er soll aufhören und von mir ablassen, so kann ich mich ein wenig erquicken,

    21 ehe ich hingehe (und nicht wiederkomme) in das Land der Finsternis und des Todesschattens,

    22 in das Land, düster wie das Dunkel, das Land des Todesschattens und der Unordnung, und wo das Hellwerden dem Dunkel gleich ist!

     

    Aus seiner Verwirrung folgert Hiob: Wenn er schon nicht sterben darf, und wenn sein Wunsch nie geboren worden zu sein natürlich immer frustriert bleiben muss, dann soll Gott ihn wenigstens in Ruhe lassen. Wie furchtbar ist dieser Wunsch! Wenn wir als Kinder Gottes so gedacht haben, dann können wir Gott nicht genug dafür danken, dass Er auf unsere Bitte nie eingegangen ist. Von Gott in Ruhe gelassen zu werden ist nichts anderes als die Hölle.

                Wir stellen fest, dass Hiob hier den Tod anders einschätzt als noch in seiner ersten Klage. Dort hatte er im Tod einen Befreier gesehen, der ihm endlich Ruhe bringen würde. Hier kann er im Totenreich nur Düsternis, Dunkel und Unordnng sehen. Das verstärkt in ihm die Sehnsucht, wenigstens noch einige Tage der Linderung von seinem Elend zu erfahren, bevor er ins Totenreich muss.

     

    Sprachliche Erläuterungen zu Kap 10:

     

    V. 13b »du hattest es im Sinn«, wörtlich: »dies bei dir«, zôt ‘immâdî. Das kann auch bedeuten: »Solches vermagst du.« LXX: »Dir ist nichts unmöglich.« Buber: »Ich weiß, dass dir dieses im Sinn war.«

     

     

    Kapitel 11

     

    Zophars erste Rede

     

    1. Zophar nennt Hiob einen Schwätzer  11,1–6

    2. Was will ein Frevler wie Hiob gegen den Allmächtigen?  11,7–12

    3. Entferne den Frevel aus deiner Hand!  11,13–20

     

    In den Reden Zophars des Naamathiters finden wir ein getreues Echo dessen, was zuerst Eliphas und nach ihm Bildad schon vorgetragen hatten. Die Argumente der drei gleichen sich auffällig, sogar in der Reihenfolge, in der sie sie vorbringen: Alle drei beginnen mit einer rhetorischen Frage (4,2; 8,2.3; 11,2). Darauf stellen alle Gottes unbestrittene Gerechtigkeit der Ungerechtigkeit des Menschen gegenüber (4,17; 8,3; 11,5.6) und fordern sie Hiob auf, sich an Gott zu wenden (5,8; 8,5; 11,13). Schließlich stellen alle die Wohlfahrt des Gerechten dem Ende der Gottlosen gegenüber (4,8–11; 5,19–26; 8,11–22; 11,13–20).

                Hiob hatte eben gesagt, Gott sei »weise von Herzen« (9,4), was Zophar zur Entgegnung herausfordert, Gott möge doch dem Hiob »kundtun die Geheimnisse der Weisheit«. Dann würde er erkennen, dass er nicht so rein, sondern voll von Missetaten ist (11,1–6). Und was Gottes Weisheit betrifft, ist die viel höher und viel tiefer als Hiob ahnt (11,7–12). Es gibt für Hiob nur einen Weg zur Wiederherstellung: Er soll sein Herz auf Gott ausrichten und seine Hände zu Ihm ausbreiten, er soll den Frevel aus seiner Hand tun, dann wird er Wohlfahrt finden, die durch nichts erschüttert werden kann. Wenn er das hingegen versäumt, wird ihm außer dem »Aushauchen der Seele« keine Hoffnugn bleiben (11,13–20)

               

    Wir erkennen aber nicht nur Ähnlichkeit, sondern auch eine zunehmende Heftigkeit der Unterstellungen und Anklagen. Eliphas hatte nur angedeutet, Hiob müsse gesündigt haben, Zophar hingegen sagt direkt, Hiob solle den Frevel aus seiner Hand entfernen (11,14). Eliphas hatte nur gefragt, ob Hiob so vollkommen sei, wie seine Worte vermuten ließen, Zophar hingegen nennt ihn offen einen Schwätzer (11,2).

                Nach der ersten Runde können wir von den Reden der drei Freunde  zusammenfassend sagen, dass sie ein Widerhall der Stimme Satans sind. Wie zuerst Hiobs Frau, so lassen sich jetzt Hiobs Freunde als sein Sprachrohr verwenden. Der Satan hatte Hiobs Aufrichtigkeit hinterfragt (Kap 1,9.10); Gott aber hatte Hiobs Aufrichtigkeit verteidigt. Indem die Freunde Hiobs Gerechtigkeit bestreiten, reden sie mit Satan und gegen Gott. Wie leicht werden wir, wenn unser Auge nicht einfältig ist, zu einem Werkzeug des Anklägers der Brüder! Von sich und ihrem Bibelwissen überzeugte Leute sind dafür besonders anfällig. Gebe Gott, dass wir uns warnen lassen!

     

     

    1. Zophar nennt Hiob einen Schwätzer  11:1–6

     

    1 Und Zophar, der Naamathiter, antwortete und sprach:

    2 Sollte die Menge der Worte nicht beantwortet werden, oder sollte ein Schwätzer recht behalten?

     

    »Sollte ein Schwätzer recht behalten«: Vergleichen wir den Anfang von Zophars Rede mit den einleitenden Worten Eliphas, erkennen wir, wie er sich nicht mehr um Takt bemüht. Er sagt ihm offen und unverhüllt, dass er ihn für einen Schwätzer hält. Sind wir einmal auf diesem Niveau angelangt, haben wir einander nichts mehr zu sagen. Dann gilt es nur noch, den Gegner aus dem Feld zu schlagen und sich und seine Meinung zu behaupten. Es ist zudem nicht erlaubt, einander in solcher Weise zu klassifizieren. Elihu wird das nicht tun, wiewohl er Hiob mit scharfen Worten rügt. Er sagt dabei aber nicht, Hiob sei ein Schwätzer, sondern er sagt, Hiob habe ungebührlich geschwatzt. Er sagt nicht, Hiob sei ein Gottloser, sondern er habe geredet wie ein Gottloser (34,7–9. 35–37). Wir dürfen, ja, wir müssen Sünden an den Brüdern verurteilen, aber wir dürfen nicht den Bruder richten. Das ist ein nur scheinbar feiner Unterschied. Er ist in Wahrheit sehr groß. Darum fordert der Herr uns auf, dem Bruder seine Sünde zu verurteilen (Lk 17,3), aber er verbietet uns, den Bruder zu richten (Mt 7,1). Jakobus sagt uns das Gleiche: »Redet nicht wider einander, Brüder. Wer wider seinen Bruder redet oder seinen Bruder richtet, redet wider das Gesetz und richtet das Gesetz. Wenn du aber das Gesetz richtest, so bist du nicht ein Täter des Gesetzes, sondern ein Richter. Einer ist der Gesetzgeber und Richter, der zu erretten und zu verderben vermag. Du aber, wer bist du, der du den Nächsten richtest« (Jak 4,11.12)?

     

    3 Sollten die Leute Schweigen zu deinem Gerede? Und solltest du spotten und keiner schimpfen?

     

    »Solltest du spotten?« Zophar empfindet Hiobs Worte als Verspottung oder Verhöhnung der Wege Gottes. Aber waren Hiobs Worte das? Sie waren Ausdruck ohnmächtiger Auflehnung und tiefer Verzweiflung, aber nicht der Verhöhnung. Hiob ist kein Lästerer.

     

    4 Du sagtest doch: Meine Lehre ist lauter, und ich bin rein in deinen Augen.

     

    Zophar überzieht die Aussagen, die Hiob gemacht hat. Er hat nicht abgestritten, dass er vor Gott ein Sünder ist (7,21; 9,2), aber er hat bestritten, ein Heuchler und ein Gottloser zu sein, wie die Freunde ihm unterstellten.

     

    5 Wenn Gott nur reden wollte und seine Lippen gegen dich öffnete

    6 und dir kundtäte die Geheimnisse der Weisheit. Ach, sie sind dem Verstand viel zu hoch! Dann müsstest du erkennen, dass Gott dir viel von deiner Missetat übersieht.

     

    »sie sind dem Verstand viel zu hoch!«: Was der Mensch von Gott und von Seinem Wesen erkennen kann, ist nur ein Bruchteil dessen, was Gott in sich ist. Wir haben, wie Hiob wohl weiß und selber sagen wird, von Seinen Wegen nur die Säume gestreift (26,14). Darum hat Zophar natürlich Recht, dass wir niemals Gottes Wege mit uns kritisieren dürfen auf Grund des wenigen, das wir von Gott und von der Wirklichkeit überhaupt zu erkennen vermögen.

     

    »Dass Gott dir viel von deiner Missetat übersieht«: Zophar hat natürlich gehört, wie Hiob wiederholt beteuert, Gott handle nicht nach Recht mit ihm und entgegnet ihm nun, dass Gott, wenn es nach bloßem Recht ginge, ihn noch schärfer bestrafen müsste. Hiobs Strafe sei also zu mild gemessen an der Menge seiner Missetaten. Auch hier hat er Recht. Wir erkennen unsere Sünden und unsere Sünde nur schwach. Zahllose Missetaten übersehen wir, die Größe unserer Bosheit verkennen wir. Darum haben Heilige immer wieder gebetet, dass Gott sie erkennen und erforschen möchte (Ps 139,23.24), und haben bekannt, dass wir nur in Gottes Licht das Licht sehen (Ps 36,10).

     

     

    2. Was will ein Frevler wie Hiob gegen den Allmächtigen?  11,7–12

     

    7 Kannst du die Tiefe Gottes erreichen, oder gar die Vollkommenheit des Allmächtigen fassen?

    8 Himmelhoch sind sie – was kannst du tun? Tiefer als die Unterwelt – was kannst du wissen?

    9 Länger als die Erde ist ihr Maß und breiter als das Meer.

    10 Wenn er vorüberzieht und gefangennimmt und zum Gericht versammelt, wer will ihm dann wehren?

    11 Denn er kennt die falschen Leute, und er sieht Frevel, und er sollte es für nichts achten?

    12 Auch ein Hohlköpfiger kann verständig werden, wo doch jeder Mensch als ein Wildeselsfüllen geboren wird.

     

    Zophar sagt nichts Neues. Gott ist allmächtig, sein Wesen ist nicht zu ergründen. Wie er ganz richtig vermerkt, kann kein Mensch die Höhe, die Tiefe, die Länge und die Weite Gottes und fassen. Wir finden im Neuen Testament so etwas wie eine Anspielung auf diese Deklaration, die gleichzeitig eine großartigen Gegensatz bildet. In Christus ist es uns gegeben, zusammen mit allen Heiligen die Höhe, die Tiefe, die Länge und die Weite Gottes zu erkennen (Eph 3,18).

                Aus der Unfähigkeit des Menschen, Gott zu erreichen, zieht Zophar aber den gleichen falschen Schluss wie seine Freunde: Er sagt, wenn Gott in seiner Allmacht straft, dann hat Er seine Gründe, und diese können keine anderen sein, als Frevel; denn »er kennt die falschen Leute«. Hiob muss zu diesen falschen Leuten gehören. Er hat nicht nur Böses getan, er leugnet es auch, ist also ein Heuchler, eine falsche Person. Darum ist es vergeblich, dass Hiob versucht, sich gegen Gottes Hand zu wehren (V. 10). Wie sicher ist sich Zophar seiner Sache, und wie gründlich irrt er! Er hält sich für sehr Weise und meint, Hiob nicht allein zu den Heuchlern, sondern auch zu den »Hohlköpfigen« zählen zu dürfen, von dem er befürchten müsse, er werde erst zu spät Verstand gewinnen, dann nämlich, wenn Gott ihn seiner Sünde wegen unwiderruflich heimgesucht und gerichtet hat.

     

    3. Entferne den Frevel aus deiner Hand!  11,13–20

     

    13 Wenndu dein Herz auf ihn richtest und deine Hände zu ihm ausbreitest –

    14 wenn Frevel in deiner Hand ist, so entferne ihn, und lass Unrecht nicht wohnen in deinen Zelten –

     

    Weder Zophar noch Eliphas noch Bildad haben den  »Frevel in deiner Hand« gesehen. Sie behaupten aber, dass Frevel in seiner Hand sei. Sie wollen das gesehen haben, was nicht einmal Gott gesehen hat. Wie schlimm ist es, wenn wir uns zum Richter über die Brüder aufwerfen, wo wir es nicht sind, nie sein werden. Wie übel ist es von Zophar zu unterstellen, «Unrecht...wohne in (seinen) Zelten«.  Achan hatte seinen verbotenen Besitz in seinem Zelt verborgen; bei ihm wohnte wirklich das Unrecht. Aber es wäre einem Josua nicht eingefallen, das irgend jemandem zu unterstellen. Er lag so lange vor Gottes Angesicht, bis Gott es an den Tag brachte. Gott ist Richter, nicht wir. Wehe uns, wenn wir den Platz einnehmen wollen, der nur Gott zusteht!

     

    15 ja, dann wirst du dein Angesicht erheben ohne Makel, und wirst unerschütterlich sein und dich nicht fürchten.

     

    »dein Angesicht erheben«  als Ausdruck des guten Gewissens und der Zuversicht vor Gott (siehe 1Mo 4,5.6; vgl 2Sam 2,22; Lk 18,13).

     

    16 Denn du wirst die Mühsal vergessen, wirst ansie denken wie Wasser, die vorüber fließen;

    17 und heller als der Mittag wird dein Lebenaufgehen, das Dunkel wird wie der Morgen sein.

    18 Und du wirst Zuversicht haben, weil es Hoffnung gibt; und du siehst dich um und legst dich sicher nieder.

    19 Du liegst auf deinem Lager und niemand wird dich aufschrecken; und viele werden deine Gunst suchen.

     

    Alles, was Zophar hier sagt, wird Hiob noch erfahren. Er wird »sein Angesicht erheben ohne Makel«, er wird »der Mühsal vergessen«, sein Leben wird »heller als der Mittag erstehen«, usw. Nur wird das, wie schon weiter oben festgestellt, nicht unter den Voraussetzungen und auf dem Weg geschehen, denn Zophar verkündigt.

     

    20 Aber die Augen der Gottlosen werden verschmachten; jede Zuflucht ist ihnen verloren, und ihre Hoffnung ist das Aushauchen der Seele.

     

    Ja, »die Augen der Gesetzlosen werden verschmachten«, weil sie nicht zu sehen bekommen, was sie begehrt haben (siehe Ps 69,4; Jer 14,6; Kll 4,17). Aber da Hiob kein Gesetzloser ist, werden seine Augen nicht verschmachten; sondern er wird bald mit seinem geistlichen Auge seinen Gott sehen (42,5),  und in der Auferstehung wird er mit neuen Augen den Herrn so sehen, wie Er ist (19,26). Der Gottlosen »Hoffnung ist das Aushauchen der Seele«, Hiob wird aber leben und seine Wohlfahrt genießen, denn er ist kein Gottloser, sondern ein Knecht und ein Geliebter Gottes.

     

     

    Sprachliche Erläuterungen zu Kap 11:

    V. 2 »Schwätzer«,’îsch sefatajim, wörtl. »Mann der Lippen«. Buber: »Soll ein Lippenmann bewahrheitet werden?«

     

    V. 6 »viel zu hoch«,  kiflajim, wörtl. »doppelt« (Elbf »das Doppelte«; Buber: »ein Doppelwesen«; Luther 12: »mehr«; AV: »double«); neuere Übersetzungen wollen die Konsonanten lesen als kifla’îm, »wie Wunder«.  Luther 84: »zu wunderbar«; Zürcher: »ein Wunder«, Rev Elbf »wie Wunder«, wofür man allerdings einen im masoretischen Text nicht vorhandenen Konsonanten einfügen muss (’Alef). Leider verhüllt die Rev Elbf in ihrer Fußnote diese Tatsache.

     

    V. 10 »zum Gericht versammelt« jaqhîl, eigentlich nur »versammeln« (die meisten kennen das hebr. Wort für »Versammlung«, qâhâl) wie in 5Mo 4,10; 31,12 etc.  aber hier zeigt der Zusammenhang, dass es um eine göttliche Vorladung zum Gericht geht.

     

    V. 12 Der Sinn dieses Verses ist nicht leicht zu bestimmen. Zürcher und Buber fassen ihn so auf, dass auch für Hohlköpfige Hoffnung ist, wo doch jeder Mensch als Unwissender zur Welt kommt und jeder lernen muss, was er vorher nicht wusste. Dieser Aussage bereitet die anschließende Aufforderung vor, Gott zu suchen, was der Ausdruck der höchsten Weisheit wäre. Luther 12 interpretiert ihn anders: »Ein unnützer Mann bläht sich, und ein geborener Mensch will sein wie ein junges Wild«. So auch AV: »For vain man would be wise, though man be born like a wild ass's colt.«

    Tatsächlich kann das Verb labab soviel heißen wie »Herz (=Verstand) gewinnen«, oder auch das Gegenteil: »Herz verlieren« (wie in Hoh 4,9). Das ist eine Rüge an den Menschen, der sich in seiner Einbildung erst recht zum Toren macht und sich damit benimmt wie ein Esel.