Zürich
21.06.2005 -- Tages-Anzeiger Online
Auf die Illusionen folgt oft eine tiefe Krise

Tausende von Geistheilern und esoterischen Therapeuten missbrauchen die Sehnsucht ihrer Klienten nach spiritueller Erlösung - und machen gutes Geld damit.

Von Hugo Stamm

Zürich. - Der esoterische Supermarkt hat sich zum Millionengeschäft entwickelt. Das Business mit der Sehnsucht nach Erleuchtung boomt in unserer Überflusskultur prächtig. Spirituelle Meister, Geistheiler, Schamanen und Magier locken ihre Kunden in eine Welt voller übersinnlicher Wunder. Der Fall aus den kosmischen Höhen ist oft entsprechend hart. Heute betreffen die meisten Anfragen zum Thema Sekten beim «Tages-Anzeiger» esoterische Anbieter. So erkundigte sich beispielsweise kürzlich eine Leserin aus dem Raum Zürich nach der esoterischen Therapeutin Jrene Wagner aus Stein AR, die verschiedene Kurse und Behandlungen anbietet und über 100 Klienten «therapiert».

Die Palette reicht von Transformationskinesiologie über Schamanentrommeln, Heilung des inneren Kindes, Göttinnenmeditation, Rückführungen, indianische Heilarbeit bis zur Lichtarbeit auf Hawaii. Anfänglich war die spirituell interessierte junge Frau begeistert, nach mehreren Jahren jedoch psychisch und finanziell am Ende. Zu einem Gespräch auf der Redaktion nimmt sie gleich vier weitere ehemalige Anhänger der esoterischen Therapeutin mit. Sie alle hatten einst gehofft, mit Hilfe ihrer übersinnlichen Führerin in die 5. Dimension vorstossen zu können. Doch heute fühlen sie sich als Opfer.

Die spirituellen Sucher liessen sich anfänglich vom angeblich hellsichtigen Medium blenden und verehrten es als weise Frau. Nach jahrelangem Einsatz kamen erste Zweifel an der Kompetenz der «Therapeutin»: «Als ich mich nicht mehr ganz gruppenkonform verhielt, wurde ich vor den andern Kursteilnehmern auf üble Weise gemassregelt», erklärt eine Teilnehmerin. Sie machte leichte Vorbehalte und war nicht mehr mit dem üblichen Übereifer bei der Sache. «Danach sprach niemand mehr mit mir. Es war, als würde ich nicht mehr existieren. Ich wurde wie eine Aussätzige geächtet. Noch nie hatte ich mich so einsam gefühlt.» Wie die andern Anhänger hatte sie mehrere Zehntausend Franken in die Seminare und Kurse investiert.

Anfänglich suchte sie - wie in solchen Abhängigkeiten üblich - die Fehler bei sich: «Ich ging hart mit mir ins Gericht, fiel in eine tiefe Krise und dann in eine Depression.» Sie befürchtete, auf ewige Zeit verloren zu sein. Ausserdem glaubte sie noch daran, dass Ausserirdische ihr Chips implantiert hätten, die ihre Schwingungen stören würden. «Es war ein Horror.»

Ähnliche Szenarien schilderten auch die anderen Anhänger der esoterischen Therapeutin. Einer war nicht nur im mentalen Sinn abhängig, sondern wurde auch ihr Liebhaber. «Sie machte mir schon in der dritten Sitzung eine Liebeserklärung», erzählt er. Das war vor zwölf Jahren. «Ich habe auch die andere Seite dieser Frau erlebt. Sie ist privat alles andere als stabil», sagt er. Trotzdem schaffte er es jahrelang nicht, sich von ihr zu lösen. «Sie glaubte oft selbst nicht an die übersinnlichen Phänomene, die sie uns in der Gruppe so wunderbar pries. Sie richtet viel Unheil an.»

Der Aberglaube grassiert wie selten

Was die fünf Personen erlebten, ist nichts Aussergewöhnliches. Es gibt in der Schweiz mehrere Tausend esoterische «Therapeuten», Heiler, spirituelle Meister und Medien. Sie versprechen ihren Klienten und Anhängern den Aufstieg ins kosmische Licht, die spirituelle Transformation, das höhere Bewusstsein, kurz: übersinnliche Wunder. Wahrscheinlich sind die meisten dieser Phänomene reine Illusionen. In unserer Zeit des Machbarkeitswahns wecken wundersame Versprechen ungestillte Sehnsüchte und fallen bei vielen verunsicherten Personen auf einen fruchtbaren Boden. Kommt hinzu, dass der Aberglaube grassiert wie selten in einer Epoche. Und: Die menschliche Einbildungskraft ist eine sehr machtvolle Energie, welche Vernunft und Verstand oft locker aushebelt. Deshalb gelingt es vielen Anbietern auf dem bunten Jahrmarkt der Esoterik, Kunden mit Wundern zu ködern und sie in ihren Bann zu ziehen. Und wer es wie die «Therapeutin» Jrene Wagner gar schafft, eine Gruppe um sich zu scharen, kann sich nicht nur als verehrter Guru fühlen, sondern hat auch stets eine dicke Schicht Butter auf dem Brot. Sie wollte zu den Vorwürfen keine Stellung nehmen.