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Gedanken zum 3. Buch Mose

C. H. Mackintosh

 

Vorwort

 

In dem Herrn Jesus Christus und in Seinem Versöhnungswerk liegt eine unermeßliche Fülle, die jedes Verlangen eines Menschen ‑ sei er noch Sünder oder schon Anbeter ‑ vollkommen stillt. Die Größe und Herr­lichkeit Seiner Person macht Sein Werk in alle Ewigkeit so groß und herrlich.

 

Das erste Buch Mose zeigt uns schon etwas von dem Heilmittel Gottes für den Fall des Menschen: Der verheißene Same, die Rettungsarche und vielerlei Gnadenerweisungen Gottes dem sündigen Menschen ge­genüber. Da sehen wir gleichsam die Knospe , deren voll erblühte Schönheit Himmel und Erde mit Freude und Wonne erfüllen wird.

 

Im zweiten Buch Mose finden wir den Menschen nicht nur außerhalb Edens, sondern auch unter der Gewalt eines grausamen und mächtigen Feindes. Er ist ein Sklave der Welt. Wie kann er der Knechtschaft des Pharao, dem Feuerofen Ägyptens entrissen werden, wie kann er erlöst, gerechtfertigt und in das verheißene Land gebracht werden? Nur Gott konnte diese Frage beantworten, und Er tat es in dem Blut des ge­schlachteten Lammes. Durch die Erlösungsmacht dieses Blutes ist jede Frage beantwortet. Es begegnet den höchsten Anforderungen des Him­mels und den tiefsten Bedürfnissen des Menschen. Es verherrlicht Gott, sichert das Volk vor den Schrecken des Gerichts, befreit es aus den Händen des Feindes und bringt es zu Gottes heiliger Wohnung.

 

Im dritten Buch Mose sehen wir, wie Gott alles gibt, was der Mensch nötig hat, der Ihm nahen will: ein Opfer, einen Priester und einen Platz der Anbetung. Gott allein hat hier Anordnungen zu geben, Sein Wort allein ist maßgebend. "Es kommt die Stunde und ist jetzt, da die wahr­haftigen Anbeter den Vater in Geist und Wahrheit anbeten werden; denn auch der Vater sucht solche als seine Anbeter" (Johannes 4, 23). Aufrichtigkeit allein genügt nicht. Die Kraft des Heiligen Geistes und die Wahrheit Gottes sind unerläßlich zur wahren Anbetung.

 

1. Das 0 p f e r bildet die Grundlage der Anbetung. Der Mensch ist in sich selbst schuldig und unrein; er braucht ein Opfer zur Tilgung seiner Schuld und zur Reinigung von allen Befleckungen, um in Gottes heilige Gegenwart treten zu können.

 

"Ohne Blutvergießung gibt es keine Vergebung." Und ohne die Gewiß­heit der Vergebung ist es unmöglich, Gott von Herzen zu preisen und anzubeten. Jesus Christus ist das wahre Opfer. Sein Blut allein reinigt unser Gewissen, um dem lebendigen Gott zu dienen (Hebräer 9, 14).

 

2. Nach den Opfern (Kapitel 1 bis 7) wird das P r i e s t e r t u m ein­geführt (Kap. 8 und 9). In Israel brachte der Anbeter sein Opfer dem Priester. Nur der Priester konnte das Opfer auf dem Altar dem Herrn darbringen. Der Herr Jesus Christus ist unser großer Hoherpriester in der Gegenwart Gottes, und i e d e r , der das Leben aus Gott empfan­gen hat, steht vor Gottes Auge als Priester, um geistliche Schlachtopfer darzubringen, Gott wohlgefällig durch Jesus Christus (i. Petrus 2

 

3. Die S t ä t t e d e r A n b e t u n g war für Israel ein "weltliches Heiligtum" mit vielerlei äußerlichen Satzungen. Nur das Blut Jesu konnte den Weg zum h i m m 1 i s c h e n Heiligtum öffnen. Der Todes­stoß, der das Lamm Gottes traf, zerriß den Vorhang des Tempels "von oben bis unten". Der Platz des Christen ist jetzt "innerhalb des Vor­hangs" und "außerhalb des Lagers".

 

Kaum ein Buch der Bibel ist so vernachlässigt worden wie das dritte Buch Mose. Auch heute noch ist es für viele nur eine trockene Auf­zählung längst veralteter jüdischer Gebräuche und Zeremonien. Wenn wir daran denken, daß " a 11 e s , was zuvor geschrieben ist, zu un­serer Belehrung geschrieben ist" (Römer 15, 4), und daß "alle Schrift von Gott eingegeben und nütze ist zur Belehrung...", dann wird das dritte Buch Mose lebendig, und wir finden eine Fülle der schönsten Vorbilder auf Christus und Seinen "unausforschlichen Reichtum".

 

Die Bibelstellen sind nach der Elberfelder Bibelübersetzung zitiert. Das hebräische "Jehova" bzw. "Jahwe" wird durch "der HERR" wieder­gegeben.

 

Kapitel 1

 

DAS BRANDOPFER (3. Mose 1 und 6)

 

Bevor wir auf die Einzelheiten des ersten Kapitels näher eingehen, wol­len wir kurz zwei Dinge betrachten, nämlich einmal die Stellung des HERRN und dann die Reihenfolge, in der die Opfer dargestellt sind.

 

"Und der HERR rief Mose, und er redete zu ihm aus dem Zelte der Zusammenkunft" (V. 1). Das war die Stellung, von der aus der HERR die in diesem Buch enthaltenen Mitteilungen machte. Er hatte früher vom Berg Sinai aus gesprochen, und dieser Platz verlieh diesen Mittei­lungen einen besonderen Charakter. Von dem brennenden Berg ging ein brennendes Gesetz aus, aber hier redet Er "aus dem Zelte der Zu­sammenkunft". Er nimmt also eine ganz andere Stellung ein. Im vor­hergehenden Buch haben wir Mose das Zelt der Zusammenkunft auf­richten sehen (vgl. 2. Mose 40, 33‑38).

 

Das Zelt der Zusammenkunft war die Wohnstätte Gottes in Gnade. Dort konnte Er Seine Wohnung aufschlagen, weil Er von allen Seiten von dem umringt war, was die Grundlage Seiner Verbindung mit dem Volk lebendig darstellte. Wäre Er in der völligen Entfaltung des auf dem Berg Sinai geoffenbarten Charakters in ihre Mitte getreten, so hätte dies die augenblickliche Vernichtung Israels als "eines halsstarri­gen Volkes" zur Folge gehabt. Aber Er zog sich hinter den Vorhang, ein Bild des Fleisches Christi (Hebr. 10, 20), zurück und nahm Seinen Platz auf dem Sühnmittel, wo das Blut der Versöhnung und nicht die Halsstarrigkeit Israels Seinem Blick begegnete und den Forderungen Seiner Natur genügte. Das Blut, das der Hohepriester ins Heiligtum brachte, war ein Bild jenes kostbaren Blutes Jesu Christi, das von aller Sünde reinigt, und obwohl Israel nichts davon sah, so rechtfertigte es dennoch Gottes Wohnen unter ihnen ‑ es "heiligte die Unreinen zur Reinigkeit des Fleisches" (Hebr. 9, 13).

 

Soviel zum besseren Verständnis über die Stellung des HERRN in diesem Buch. Wir werden eine unbeugsame Heiligkeit mit der reinsten Gnade vereinigt finden. Gott ist heilig, von welcher Stätte aus Er auch reden mag. Er war heilig auf dem Berg Sinai und heilig über dem Gnaden­stuhl, aber im ersten Fall war Seine Heiligkeit mit "einem verzehrenden Feuer", im letzten mit einer geduldigen Gnade verbunden. Gerade diese Verbindung vollkommener Heiligkeit mit vollkommener Gnade ist es, was die Erlösung in Christus charakterisiert, und diese Erlösung wird in verschiedener Weise im 3. Buch Mose bildlich dargestellt. Gott ist heilig; das muß sich sogar in der ewigen Verdammung unbußfertiger Sünder zeigen; aber die völlige Entfaltung Seiner Heiligkeit in der Erlösung der Sünder ruft das erhabenste Lob des Himmels wach. "Herrlichkeit Gott in der Höhe, und Friede auf Erden, an den Menschen ein Wohlgefallen" (Luk. 2, :L4)! Dieser Lobpreis konnte nicht mit dem "brennenden Ge­setz" in Verbindung stehen. Wohl gab es dort ein "Herrlichkeit Gott in der Höhe aber weder ein "Friede auf Erden", noch ein "Wohlgefallen an den Menschen", weil das Gesetz erklärte, was der Mensch sein muß, bevor Gott Sein Wohlgefallen an ihm haben kann. Doch als "der Sohn" Seinen Platz als Mensch auf der Erde nahm, da konnte der Himmel seine ganze Wonne ausdrücken an Ihm, dessen Person und Werk die Verherrlichung Gottes n‑dt der Segnung der Menschheit in vollkomme­ner Weise verband.

 

Und jetzt noch ein Wort über die Reihenfolge der Opfer in den ersten Kapiteln des 3. Buches Mose. Der Herr beginnt mit dem Brandopfer und endet mit dem Schuldopfer. Das will sagen, Er hört da auf, wo wir beginnen. Diese Anordnung ist bemerkenswert und belehrend. Wenn der erste Pfeil der Oberführung in die Seele dringt, dann finden tiefe übungen des Gewissens bezüglich wirklich begangener Sünden statt. Die Erinnerung läßt ihr erleuchtetes Auge über das vergangene Leben hingehen und sieht es besudelt mit zahllosen Vergehungen gegen Gott und Menschen. Auf dieser Stufe ihrer Geschichte beschäftigt sich die Seele nicht so sehr mit der Wurzel, aus der jene Vergehungen hervor­kamen, als vielmehr mit der ernsten Tatsache, daß diese und jene Sün­den wirklich von ihr begangen worden sind. Sie muß daher wissen, daß Gott ein Opfer vorgesehen hat, durch das "alle Vergehungen umsonst vergeben" werden können. Das wird uns im Schuldopfer dargestellt.

 

Wenn aber jemand im göttlichen Leben Fortschritte macht, so wird er sich bewußt, daß die Sünden, die er begangen, nur Zweige einer Wurzel, Ausflüsse einer Quelle sind, und weiter, daß die S ii n de in seiner Natur jene Quelle, jene Wurzel ist. Dies leitet zu einer weit tieferen Übung, der nur mit einer tieferen Einsicht in das Werk am Kreuz begegnet werden kann. Es muß, mit einem Wort, das Kreuz als das erkannt wer­den, wodurch Gott selbst "die Sünde im Fleische verurteilt hat" (Röm. 8, 3). Der Leser beachte, daß in der angeführten Stelle nicht von den im Leben begangenen Sünden die Rede ist, sondern von der "Sünde im Fleische", als der Wurzel, aus der die einzelnen Sünden entsprossen sind. Das ist eine überaus wichtige Wahrheit. Nicht nur "starb Christus für unsere Sünden nach den Schriften", sondern Er "wurde auch für uns zur Sünde gemacht" (2. Kor. 5, 21). Das ist die Lehre vom Sündopfer.

 

Nachdem auf diese Weise Herz und Gewissen durch die Erkenntnis des Werkes Christi zur Ruhe gebracht sind, nähren wir uns von Ihm selbst, als der Grundlage unseres Friedens und unserer Freude, in der Gegen­wart Gottes. Unmöglich könnte von Friede oder Freude die Rede sein, bevor wir alle unsere Vergehungen vergeben und unsere Sünden gerich­tet sehen. Beide, Schuld‑ und Sündopfer, müssen von uns gekannt sein, ehe wir das Friedens‑ oder Dankopfer zu würdigen verstehen. Der Platz, den das Friedensopfer in der Reihe der Opfer einnimmt, steht daher in Übereinstimmung mit der Entwicklung unseres geistlichen Verständnis­ses von Christus.

 

Dieselbe vollkommene Anordnung ist bezüglich des Speisopfers bemerk­bar. Ist die Seele dahin geleitet worden, die Freude der Gemeinschaft mit Christus zu genießen, sich von Ihm in Frieden und Dankbarkeit in der Gegenwart Gottes zu nähren, so erwacht in ihr das ernstliche Verlangen, noch mehr von den Geheimnissen Seiner Person kennenzulernen. Diesem Verlangen wird in dem Speisopfer, als dem Bild von Christus als dem vollkommenen Menschen, auf schöne Weise entsprochen.

 

Schließlich werden wir in dem Brandopfer zu dem Werk am Kreuz ge­führt, als erfüllt unter dem unmittelbaren Auge Gottes, und als dem Ausdruck der unwandelbaren Ergebenheit des Herzens Christi. Alle diese Dinge werden wir im Laufe unserer Betrachtungen in ihren schö­nen Einzelheiten sehen. Hier betrachten wir nur die Reihenfolge der Opfer, die, welchen Weg wir auch einschlagen mögen, ob von innen

 

nach außen, von Gott zu uns, oder von außen nach innen, von uns zu Gott, wunderbar ist. In jedem Fall beginnen und enden wir mit dem Kreuz. Beginnen wir mit dem Brandopfer, so sehen wir Christus am Kreuz den Willen Gottes erfüllen, indem Er die Versöhnung bewirkte, und zwar nach dem Maße Seiner vollkommenen Hingabe an Gott. Be­ginnen wir mit dem Schuldopfer, so sehen wir Christus am Kreuz unsere Sünden tragen und sie, nach der Vollkommenheit Seines ver­söhnenden Opfers, hinwegtun. In allem erblicken wir die Vortrefflich­keit und Schönheit Seiner göttlichen und anbetungswürdigen Person. Möge der Heilige Geist, der Verfasser des 3. Buches Mose, seinen Inhalt in lebendiger Kraft unseren Herzen klarmachen, damit wir hinterher reichlich Ursache haben, den Namen Gottes zu preisen für die vielen herzbelebenden Blicke auf die Person und das Werk unseres hoch­gelobten Herrn Jesus Christus, dem Ehre und Herrlichkeit sei, jetzt und bis in Ewigkeit!

 

In dem Brandopfer, mit dem unser Buch beginnt, haben wir ein Bild von Christus als dem, der "sich selbst ohne Flecken Gott geopfert hat." Daher räumt der Heilige Geist Ihm diesen bevorzugten Platz ein. Als der Herr Jesus Christus erschien, um das Werk der Erlösung zu voll­bringen, war die Verherrlichung Gottes Sein erhabenster Zweck. "Siehe, ich komme, um deinen Willen, o Gott, zu tun", war der große Wahl­spruch, der in jeder Handlung und in allen Umständen Seines Lebens zum Ausdruck kam, aber nirgends ausgeprägter als in dem Werk am Kreuz. Was der Wille Gottes auch sein mochte ‑ Er kam, um ihn zu tun. Wir wissen, was uns durch die Erfüllung dieses Willens zuteil geworden ist, denn durch ihn sind wir "geheiligt durch das ein für allemal geschehene Opfer des Leibes Jesu Christi" (Hebr. 10, 10). Dennoch war die erste und vornehmste Richtung des Werkes Christi zu Gott hin. Es war für Ihn eine unaussprechliche Wonne, den Willen Got­tes auf dieser Erde zu erfüllen. Niemand hatte dies je zuvor getan. Wohl hatten einige durch die Gnade getan, "was recht war in den Augen Gottes", aber niemals hatte jemand vollkommen, unveränderlich, von Anfang bis Ende, ohne Zögern und ohne Abweichen den Willen Gottes erfüllt. Das aber war es, was der Herr Jesus tat. "Er ward gehorsam bis zum Tode, ja, zum Tode am Kreuze" (Phil. 2, 8). "Er stellte sein An­gesicht fest, nach Jerusalem zu gehen." Und als Er aus dem Garten Gethsemane zum Kreuz auf Golgatha ging, drückte sich die völlige Ergebenheit Seines Herzens in den Worten aus: "Den Kelch, den mir der Vater gegeben hat, soll ich den nicht trinken?"

 

Wirklich, in all dieser selbstverleugnenden Hingabe an Gott gab es einen köstlichen Wohlgeruch. Ein vollkommener Mensch auf Erden, der den Willen Gottes selbst im Tode erfüllte, war für den Himmel ein Gegenstand von größtem Interesse. Wer als nur Gott konnte die Tiefen jener Hingabe am Kreuz ergründen? In dieser, wie in jeder anderen Beziehung steht es fest, daß "niemand den Sohn kennt, als nur der Vater". Der Verstand des Menschen kann zu einem gewissen Grade irgendeinen Gegenstand des Wissens "unter der Sonne" erfassen. Menschliche Wissenschaft kann von menschlichem Verstand erfaßt werden, aber niemand erkennt den Sohn, als nur insoweit der Vater Ihn durch die Kraft des Heiligen Geistes mittels des geschriebenen Wortes offenbart. Der Heilige Geist liebt es, den Sohn zu offenbaren ‑ von den Dingen Jesu zu nehmen, und sie uns zu verkündigen. Diese Dinge be­sitzen wir in ihrer ganzen Fülle und Schönheit im Wort. Es kann keine neue Offenbarung stattfinden, weil der Heilige Geist "alles den Aposteln in Erinnerung brachte und sie in "alle Wahrheit" leitete. Über "alle Wahrheit" hinaus kann es nichts geben, und deshalb bedeu­tet jeder Anspruch auf eine neue Offenbarung und die Enthüllung einer neuen, sogenannten Wahrheit, die in dem inspirierten Worte nicht enthalten ist, nur eine Anstrengung von menschlicher Seite, dem noch etwas beizufügen, was Gott "alle Wahrheit" nennt. Ohne Zweifel kann der Heilige Geist eine im Wort enthaltene Wahrheit mit neuer Kraft entfalten und anwenden, aber das ist etwas ganz anderes, als außerhalb des Bereichs göttlicher Offenbarung Grundsätze, Gedanken oder Lehr­sätze entdecken zu wollen, die das Gewissen beherrschen sollen. Das kann nur als eine gottlose Vermessenheit betrachtet werden.

 

In den Evangelien finden wir Christus in den verschiedenen Seiten Seines Charakters, Seiner Person und Seines Werkes dargestellt. Zu diesen kostbaren Schriften hat sich das Volk Gottes zu allen Zeiten hin­gewandt, um sich zu erfreuen an den himmlischen Offenbarungen des Gegenstandes ihrer Liebe und ihres Vertrauens, dem sie alles für Zeit und Ewigkeit zu verdanken haben. Aber es sind nur verhältnismäßig wenige dahin geleitet worden, die Satzungen und Gebräuche der levi­tischen Haushaltung zu betrachten, die eine so reiche, bis in die klein­sten Einzelheiten gehende Belehrung über dasselbe erhabene Thema bieten. So sind z. B. die Opfer des 3. Buches Mose meist nur als ver­altete Urkunden jüdischer Gebräuche betrachtet worden, die für unsere Ohren eine unverständliche Sprache reden und unserem Verständnis kein geistliches Licht bringen können, während doch zugegeben werden muß, daß diese scheinbar dunklen Berichte ebensogut ihren Platz unter den "Dingen, die zuvor geschrieben sind", einnehmen, wie die erhabe­nen Gesänge eines Jesaja, und daß sie deshalb "zu unserer Belehrung" bestimmt sind. Freilich haben wir nötig, diese Urkunden, wie die ganze Heilige Schrift, niit einem demütigen Geist, frei von Anmaßung und Dünkel zu lesen, in ehrerbietiger Abhängigkeit von der Unterweisung dessen, der sie in Seiner Gnade für uns hat aufzeichnen lassen, sowie unter aufmerksamer Beachtung des allgemeinen Zwecks, der Bedeutung und inneren Übereinstimmung der gesamten göttlichen Offenbarung; schließlich müssen wir die eigene Einbildungskraft zügeln, damit sie uns nicht in eine unheilige Schwärmerei führt. Wenn wir aber so durch die Gnade die Erforschung der Bilder des 3. Buches Mose beginnen, so finden wir in ihm eine Ader des reinsten Goldes.

 

Setzen wir jetzt die Untersuchung des Brandopfers fort. Wie bereits be­merkt, stellt es Christus als den dar, der "sich selbst ohne Flecken Gott geopfert hat".

 

"Wenn seine Opfergabe ein Brandopfer ist vom Rindvieh, so soll er sie darbringen, ein Männliches ohne Fehl" (V. 3). Die Herrlichkeit und Würde der Person Christi bilden die Grundlage des Christentums. Er teilt diese Herrlichkeit und Würde allem mit, was Er tut, jedem Amte, das Er bekleidet. Kein Amt könnte irgendwie die Herrlichkeit dessen erhöhen, der "Gott ist über alles, gepriesen in Ewigkeit", "Gott, ge­offenbart im Fleische", der "Emmanuel.: Gott mit uns", das ewige Wort, der Schöpfer und Erhalter des Weltalls. Welches Amt könnte der Würde des über alles Erhabenen noch etwas hinzufügen? Tatsächlich wissen wir, daß alle Seine Ämter mit der Tatsache in Verbindung stehen, daß Er Mensch wurde; Er kam hernieder aus jener Herrlichkeit, die Er beim Vater hatte, ehe die Welt war. So sehr erniedrigte Er sich, um Gott voll­kommen zu verherrlichen, und zwar inmitten einer Szene, wo Ihm alles feindselig gegenüberstand. Er kam, um "verzehrt" zu werden von einem heiligen, unauslöschlichen Eifer für die Herrlichkeit Gottes und für die Ausführung Seiner ewigen Ratschlüsse.

 

Das "Männliche ohne Fehl" war ein Hinweis auf den Herrn Jesus, wie Er sich selbst opfert für die vollkommene Erfüllung des Willens Gottes. Nichts, was Schwachheit oder Unvollkommenheit ausdrückte, durfte vorhanden sein. "Ein Männliches ohne Fehl" wurde geopfert. Bei der Betrachtung der anderen Opfer werden wir sehen, daß in einzelnen Fällen ein "weibliches Tier" erlaubt war. Obwohl dies keineswegs einen Man­gel in dem Opfer selbst andeutete, weil es in dem einen wie in dem an­deren Fall "ohne Fehl" sein mußte, so diente es doch zum Ausdruck der Unvollkommenheit des Verständnisses des Anbeters. Hier aber sehen wir ein Opfer von der höchsten Ordnung. Es ist Christus, der sich selbst Gott als Opfer darbringt. Im Brandopfer war Christus ausschließlich für das Auge und das Herz Gottes bestimmt. Dieser Punkt muß gut erkannt und verstanden werden. Gott allein vermochte die Person und das Werk Christi wahrhaft zu schätzen. Er allein konnte das Kreuz in Seiner ganzen Fülle würdigen, als den Ausdruck der völligen Hingabe Christi. Das Kreuz, wie es im Brandopfer bildlich dargestellt wird, enthielt ein Element, das nur der göttliche Geist erfassen konnte. Es hatte solch unendliche Tiefen, daß weder ein Sterblicher, noch ein Engel sie zu ergründen vermochte. Es redete eine Sprache, die nur für das Ohr des Vaters bestimmt und berechnet war. Es bestanden Verbindun­gen zwischen dem Kreuz auf Golgatha und dem Thron Gottes, die das höchste Verständnis aller geschaffenen Wesen weit, weit übersteigen.

 

"An dem Eingang des Zeltes der Zusammenkunft soll er sie darbringen, zum Wohlgefallen für ihn vor dem HERRN" (V. 3). Das Wort "Wohl­gefallen" bringt den erhabenen Gedanken in dem Brandopfer klar ans Licht. Es leitet uns dahin, das Kreuz von einem Gesichtspunkt aus zu betrachten, der selten genügend erfaßt wird. Wir sind nur zu sehr ge­neigt, das Kreuz als die Stätte zu betrachten, wo zwischen der ewigen Gerechtigkeit und dem fleckenlosen Opfer die große Frage der Sünde behandelt und geordnet, wo unsere Schuld gesühnt und Satan siegreich überwunden wurde. Nun, das Kreuz war die Stätte, wo alle diese herr­lichen Dinge zu Tatsachen wurden. Aber es war weit mehr als das. Es war auch die Stätte, wo die Liebe Christi zum Vater in einer Sprache Ausdruck fand, die nur der Vater hören und verstehen konnte. Und von dieser Seite wird das Kreuz im Brandopfer dargestellt und deshalb finden wir hier das Wort "Wohlgefallen". Handelte es sich nur um die Frage der Sündenzurechnung und des Ertragens des Zornes Gottes der Sünde wegen, so würde ein solcher Ausdruck nicht am Platze sein. Der Herr Jesus konnte, als "zur Sünde gemacht", genau genommen, auf kein "Wohlgefallen" rechnen. Vielmehr war der Zorn und das Verber­gen des Angesichtes Gottes Sein Teil, und aus dieser einen Tatsache sehen wir deutlich, daß das Brandopfer Christus auf dem Kreuze nicht als den Träger der Sünden, sondern als den Erfüller des Willens Gottes darstellt. Daß Christus selbst das Kreuz von diesen beiden Gesichts­

 

punkten aus betrachtet hat, geht klar aus Seinen eigenen Worten her­vor. Wenn Er auf das Kreuz als die Stätte des Sündentragens blickt und deshalb die damit verbundenen Schrecken im voraus empfindet, so lau­tet Sein Notschrei: Vater, wenn du diesen Kelch von mir wegnehmen willst ... 1' (Luk. 22, 42). Er bebte zurück vor dem, was für Ihn als den Sündenträger Sein Werk in sich schloß. Sein reiner und heiliger Sinn konnte nur mit Schaudern an die Berührung mit der Sünde denken, und Sein Herz erzitterte bei dem Gedanken, auch nur für einen Augenblick das Licht des Angesichtes Gottes zu verlieren.

 

Doch das Kreuz hatte noch eine andere Seite. Es war der Platz, wo Er die tiefen Geheimnisse Seiner Liebe zum Vater völlig zum Ausdruck bringen konnte ‑ eine Stätte, wo Er freiwillig und zum "Wohlgefallen" den Kelch, den der Vater Ihm gab, nehmen und bis aufs letzte leeren konnte. Natürlich war das ganze Leben Christi ein duftender Wohl­geruch, der allezeit zum Thron des Vaters emporstieg. Er tat immer, was dem Vater wohlgefiel, und vollbrachte stets den Willen Gottes. Aber nicht in Seinem Leben, so kostbar über alle Begriffe hinaus auch jede Handlung Seines Lebens war, stellt Ihn das Brandopfer dar, sondern in Seinem Tode, und zwar nicht als den, der "ein Fluch für uns geworden ist", sondern als den, der dem Herzen des Vaters zum unvergleichlichen Wohlgeruch war.

 

Diese Wahrheit verleiht dem Kreuz von Golgatha eine ganz besondere Anziehungskraft für das geistliche Verständnis. Sie gibt den Leiden unseres Herrn eine Bedeutung, wie sie tiefer nicht gedacht werden könnte. Ohne Zweifel findet der schuldbeladene Sünder in dem Kreuz die Antwort Gottes auf das Sehnen seines Herzens und Gewissens. Der wahre Gläubige entdeckt in dem Kreuz etwas, das jede Zuneigung seines Herzens gefangennimmt und sein ganzes sittliches Sein fesselt. Für die Engel ist es ein Gegenstand endloser Bewunderung. Alles das ist wahr. Aber es gibt in dem Kreuz noch etwas, das die höchsten Begriffe der Heiligen oder Engel weit übersteigt, nämlich die tiefe Ergebenheit des Sohnes, dargebracht dem Herzen des Vaters und von Ihm allein gewürdigt. Das ist die erhabenste Seite des Kreuzes, und sie wird so treffend im Brandopfer bildlich dargestellt.

 

Es darf nicht unerwähnt bleiben, daß die Schönheit des Brandopfers gänzlich preisgegeben wird, wenn wir der Vorstellung Raum geben, als ob Christus während Seines ganzen Lebens Sündenträger gewesen sei.

 

Das Wort "Wohlgefallen" ~ würde dann ohne Kraft, ohne Wert und Be­deutung sein. Wäre Christus während Seines Lebens Sündenträger ge­wesen und so durch Seine eigene Stellung gezwungen worden, Sein Leben hinzugeben, so wäre Sein Tod eine notwendige, nicht aber eine freiwillige Handlung gewesen. Es gibt in der Tat kein Opfer, dessen Schönheit durch die Behauptung, es habe der Herr Jesus während Sei­nes ganzen Lebens die Sünden getragen, nicht zerstört, und dessen Vollkommenheit nicht geschmälert werden würde. Vor allem ist dies bei dem Brandopfer der Fall, weil es sich hier durchaus nicht um das Sündentragen oder um das Ertragen des Zornes Gottes handelt, son­dern allein um die freiwillige Hingabe, geoffenbart in dem Tod am Kreuze. Im Brandopfer erkennen wir ein Vorbild auf Christus, der durch den Heiligen Geist den Willen Gottes, des Vaters, erfüllte. Dies tat Er freiwillig zum "Wohlgefallen. "Darum liebt mich der Vater, weil ich mein Leben lasse, auf daß ich es wiedernehme" (Joh. 10, 17). Hier haben wir den Tod Christi in der Bedeutung des Brandopfers. Andererseits sagt der Prophet, wenn er Ihn als das Sündopfer betrach­tet: "Sein Leben wird von der Erde weggenommen" (Apstgsch. 8, 33). Wiederum sagt Christus: "Niemand nimmt es von mir, sondern ich lasse es von mir selbst". War Er ein Sündenträger, als Er dies sagte? Beachten wir Seine Worte! Er sagt: "Niemand" ‑ weder Mensch, noch Engel, noch Teufel, noch sonst jemand. Es war Seine eigene, freiwillige Handlung, Sein Leben zu lassen, um es wiederzunehmen. "Dein Wohl­gefallen zu tun, o Gott, ist meine Lust." Das war die Sprache des gött­lichen Brandopfers, die Sprache dessen, der Seine unaussprechliche Freude darin fand, sich selbst ohne Flecken Gott zu opfern (Hebr. 9, 14).

 

Es ist daher sehr wichtig, den vornehmsten Zweck des Herzens Christi in dem Werk der Erlösung klar zu erfassen. Es dient dies zur Be­festigung des Friedens des Gläubigen. Die Erfüllung des Willens Gottes, die Bestätigung der Ratschlüsse und Entfaltung der Herrlichkeit Gottes nahmen den höchsten Platz in jenem ergebenen Herzen ein, das alles in Beziehung zu Gott betrachtete und schätzte. Nie beschäftigte sich der Herr Jesus mit der Frage, inwieweit irgendeine Handlung oder irgend­ein Umstand Ihn selbst treffen würde. "Er erniedrigte sich selbst." "Er machte sich selbst zu nichts." Er gab alles auf. Und darum konnte Er am Ende Seines Weges auf alles zurückblicken und die Augen gen Himmel richten und sagen: "Ich habe dich verherrlicht auf der Erde; das Werk habe ich vollbracht, welches du mir gegeben hast, daß ich es tun sollte" (Joh. 17, 4). Es ist unmöglich, das Werk Christi von diesem Gesichts­punkt aus zu betrachten, ohne daß das Herz mit inniger Zuneigung zu Seiner Person erfüllt wird. Die Erkenntnis, daß Er auch auf dem Kreuz Gott zu Seinem vornehmsten Gegenstand machte, kann unser Bewußt­sein von Seiner Liebe zu uns nicht im geringsten beeinträchtigen. Ganz im Gegenteil, denn Seine Liebe zu uns und unsere Errettung in Ihm konnten nur auf die durch Ihn bestätigte Herrlichkeit Gottes gegründet werden. Diese Herrlichkeit muß die unerschütterliche Grundlage von allem bilden. "So wahr ich lebe, soll von der Herrlichkeit des HERRN erfüllt werden die ganze Erde" (4. Mose 14, 21). Aber wir wissen, daß die ewige Herrlichkeit Gottes und die ewige Segnung des Geschöpfes in den göttlichen Ratschlüssen untrennbar miteinander verbunden sind, So daß, wenn die erstere gesichert ist, auch notwendigerweise die letztere es sein muß.

 

"Und er soll seine Hand auf den Kopf des Brandopfers legen, und es wird wohlgefällig für ihn sein, um Sühnung für ihn zu tun" (V. 4). Die Handlung des Handauflegens war der Ausdruck eines völligen Sicheinsmachens. Diese Handlung machte den Opfernden und das Opfer zu einer Einheit und übertrug so auf den Opfernden die volle An­nehmlichkeit seines Opfers. Die Anwendung hiervon auf Christus, und den Gläubigen stellt eine kostbare Wahrheit dar, eine Wahrheit, die im Neuen Testament ausführlich entwickelt ist, nämlich das ewige Einssein des Gläubigen mit Christus und seine Annahme in Christus. "Wie er ist, sind auch wir in dieser Welt." "Wir sind in dem Wahrhaftigen" (i. Joh. 4, 17; 5, 20). Etwas Geringeres als das würde uns nichts nützen. Der Mensch, der nicht in Christus ist, befindet sich noch in seinen Sünden. Einen Mittelweg gibt es hier nicht. Du bist entweder in Christus, oder du bist nicht in Ihm. Teilweise in Ihm zu sein, ist unmöglich. Wenn nur eine Haarbreite zwischen dir und Ihm ist, so stehst du noch unter dem Zorn und der Verdammnis. Aber andererseits, wenn du in Ihm bist, so bist du "wie er ist" vor Gott und wirst trotz Gottes unendlicher Heiligkeit von Ihm so betrachtet. Das ist die einfache Belehrung des Wortes Gottes. "Ihr seid vollendet in ihm", "begnadigt in dem Gelieb­ten", "Glieder seines Leibes, von seinem Fleische und von seinen Gebei­nen." "Wer aber dem Herrn anhängt, ist ein Geist mit ihm" (Kol. 2 ' 10 ­Eph. 1, 6; 5, 30; 1. Kor. 6, 17). Es ist nicht möglich, daß das Haupt auf einer Stufe der Huld Gottes steht und die Glieder auf einer anderen. Nein, das Haupt und die Glieder sind eins. Gott betrachtet sie als eins, und darum sind sie eins. Diese Wahrheit bildet gleichzeitig die Grund­lage des höchsten Vertrauens und der tiefsten Demut. Sie gibt die volle Gewißheit der "Freimütigkeit am Tage des Gerichts", weil es unmöglich ist, daß Ihm, mit dem wir einsgemacht sind, irgend etwas zur Last gelegt werden könnte. Sie verleiht uns ein tiefes Gefühl von unserem eigenen Nichts, weil unsere Vereinigung mit Christus auf den Tod der Natur und auf die gänzliche Vernichtung aller ihrer Forderungen und An­sprüche gegründet ist.

 

Da nun also das Haupt und die Glieder in derselben Stellung unend­licher Gunst und Huld vor Gott betrachtet werden, so ist es vollkom­men klar, daß sich alle Glieder in derselben Huld, in derselben Erret­tung, in demselben Leben und in derselben Gerechtigkeit befinden. Es gibt keine Grade oder Stufen in der Rechtfertigung. Das Kind in Christus steht in derselben Rechtfertigung wie der Gläubige, der auf eine fünfzigjährige Erfahrung zurückblicken kann. Der eine wie der andere befindet sich in Christus, und so wie dies der einzige Grund des Lebens ist, so ist es auch der einzige Grund der Rechtfertigung. Es gibt weder zwei Arten des Lebens, noch zwei Arten der Rechtfertigung. Freilich gibt es verschiedene Grade im Genuß dieser Rechtfertigung, ver­schiedene Grade in der Erkenntnis ihrer Fülle und Tragweite und ver­schiedene Stufen in der Fähigkeit, ihre Kraft auf Herz und Leben anzu­wenden, und diese Dinge werden oft mit der Rechtfertigung selbst verwechselt, die, da sie göttlich ist, notwendigerweise auch ewig, un­umschränkt und unveränderlich sein muß und durch die Unbeständig­keit menschlicher Gefühle und Erfahrungen durchaus nicht erschüttert werden kann.

 

Es gibt ferner keinen Fortschritt in der Rechtfertigung. Der Gläubige ist heute nicht mehr gerechtfertigt als er es gestern war, noch wird er es morgen mehr sein als er es heute ist. ja, eine Seele, die "in Christo Jesu" ist, ist so vollkommen gerechtfertigt, als wenn sie schon vor dem Thron Gottes stände. Sie ist "vollendet in Christo". Sie ist "wie" Christus. Sie ist nach Christi eigener Erklärung "ganz rein" (Joh. 13, 10). Was könnte sie diesseits der Herrlichkeit mehr sein? Sie kann und wird, wenn sie im Geist wandelt, in dem Gefühl und in dem Genuß dieser herrlichen Wirklichkeiten Fortschritte machen. Aber was die Sache selbst betrifft, so geht der Gläubige in demselben Augenblick, da er durch die Kraft des Heiligen Geistes dem Evangelium glaubt, aus dem Zustand der Ungerechtigkeit und der Verdammnis in den Zustand der Gerechtig­keit und der Gunst Gottes über. Alles gründet sich auf die göttliche Vollkommenheit des Werkes Christi, genau wie beim Brandopfer der Anbeter durch und in seinem Opfer angenommen wurde und Gott wohlgefällig war. Es handelte sich nicht um das, was er war, sondern einfach um das, was sein Opfer war. "Es wird wohlgefällig für ihn sein, um Sühnung für ihn zu tun."

 

"Und er soll das junge Rind schlachten vor dem HERRN; und die Söhne Aarons, die Priester, sollen das Blut herzubringen und das Blut ringsum an den Altar sprengen, der an dem Eingang des Zeltes der Zusammen­kunft ist" (V. 5). Beim Betrachten der Lehre von dem Brandopfer müssen wir uns immer wieder daran erinnern, daß der wichtige Punkt, um den es sich handelt, nicht der ist, dem Bedürfnis des Sünders zu begegnen, sondern Gott das darzubringen, was Ihm unendlich wohlge­fällig war. Christus, wie Er in dem Brandopfer dargestellt wird, ist nicht für das Gewissen des Sünders, sondern für das Herz Gottes. Ferner ist das Kreuz im Brandopfer nicht die Darstellung der Hassenswürdigkeit der Sünde, sondern der unerschütterlichen und unwandelbaren Hingabe Christi an den Vater. Auch ist es nicht der Schauplatz des über Christus, den Sündenträger, ausgegossenen Zornes Gottes, sondern des unver­mischten Wohlgefallens des Vaters an Christus, als dem freiwilligen und herrlich duftenden Opfer. Schließlich ist die im Brandopfer dar­gestellte "Versöhnung" nicht nur den Forderungen des menschlichen Gewissens angemessen, sondern auch dem Verlangen des Herzens Christi, den Willen Gottes zu erfüllen und die Ratschlüsse Gottes zu bestätigen ‑ ein Verlangen, das Ihn drängte, Sein fleckenloses, kost­bares Leben als ein "freiwilliges Opfer zum lieblichen Geruch" hinzu­geben.

 

Keine Macht der Erde oder der Hölle, der Menschen oder der Teufel, vermochte Ihn in der Ausführung dieses Verlangens zu erschüttern. Als Petrus in seiner Unwissenheit Ihm durch die Worte falscher Zärtlichkeit: "Gott behüte dich, Herr! dies wird dir nicht widerfahren!" abzuraten suchte, den Weg der Schande und der Erniedrigung bis ans Kreuz zu gehen, lautete die Antwort des Herrn "Gehe hinter mich, Satan! du bist mir ein Ärgernis, denn du sinnest nicht auf das, was Gottes, son­dern auf das, was der Menschen ist" (Matth. 16, 22. 23). Ebenso sagt Er bei einer anderen Gelegenheit zu Seinen Jüngern: "Ich werde nicht mehr vieles mit euch reden, denn der Fürst der Welt kommt und hat nichts in mir; aber auf daß die Welt erkenne, daß ich den Vater liebe und also tue, wie mir der Vater geboten hat" (Joh. 14, 30. 31). Diese und viele andere verwandte Schriftstellen zeigen uns das Werk Christi von dem Gesichtspunkt des Brandopfers aus. Der erste Gedanke ist hier, daß Christus "sich selbst ohne Flecken Gott geopfert hat.

 

in völliger Übereinstimmung mit allem, was bezüglich dieser besonde­ren, im Brandopfer dargestellten Wahrheit angeführt worden ist, steht die Stellung, die den Söhnen Aarons angewiesen war, sowie die ihnen aufgetragenen Verrichtungen. Sie "sprengen das Blut", sie "legen das Feuer auf den Altar", sie "richten das Holz zu auf dem Feuer und sie "richten die Stücke, den Kopf und das Fett zu auf dem Holze über dem Feuer, das auf dem Altar ist" (V. 5‑8). Das sind bedeutsame Handlun­gen, und sie bilden einen beachtenswerten Zug des Brandopfers, im Gegensatz zum Sündopfer, bei dem die Söhne Aarons gar nicht erwähnt werden. "Die Söhne Aarons" stellen die Kirche oder die Versammlung dar, jedoch nicht als den "einen Leib", sondern als ein priesterliches Haus. Das ist leicht zu verstehen. Wenn Aaron ein Bild von Christus war, so war das Haus Aarons ein Bild von dem Hause Christi. Wir lesen daher in Hebr. 3, 6: "Christus aber als Sohn über sein Haus, dessen Haus wir sind..." Und wiederum: "Siehe, ich und die Kinder, die Gott mir gegeben hat." Es ist das Vorrecht der Kirche, geleitet und belehrt durch den Heiligen Geist, diese Seite der Person Christi, die am Anfang des 3. Buches Mose bildlich dargestellt wird, zu betrachten und sich daran zu erfreuen. "Unsere Gemeinschaft ist mit dem Vater", der uns in Seiner Huld einlädt, Seine Gedanken über Christus zu teilen. Freilich können wir uns niemals zu der Höhe jener Gedanken erheben, aber durch die Kraft des in uns wohnenden Heiligen Geistes können wir mit Gott Gemeinschaft darin haben. Es handelt sich hier nicht um die Beruhigung des Gewissens durch das Blut Christi als des Sündenträ­gers, sondern um die Gemeinschaft mit Gott im Blick auf die vollkom­mene Hingabe Christi am Kreuz.

 

"Die Söhne Aarons, die Priester, sollen das Blut herzubringen und das Blut ringsum an den Altar sprengen, der an dem Eingang des Zeltes der Zusammenkunft ist" (V. 5). Hier haben wir ein Bild von der Versamm­lung, die ein vollbrachtes Opfer in Erinnerung bringt und es an der Stätte eines persönlichen Hinzunahens zu Gott darbringt. Doch müssen wir uns erinnern, daß es das Blut des Brandopfers und nicht das des Sündopfers ist. Es ist die Versammlung, die in der Kraft des Heiligen Geistes die erhabene vollkommene Hingabe Christi an Gott betrachtet, nicht ein überführter Sünder, der beginnt, den Wert des Blutes des Sündenträgers zu erkennen. "Die Söhne Aarons" stellen nicht über­führte Sünder, sondern anbetende Heilige dar. Als Priester haben sie es

 

mit dem Brandopfer zu tun. Viele irren in diesem Punkt. Sie meinen daß, wenn man ‑ eingeladen durch die Gnade Gottes und fähig gemacht durch das Blut Christi ‑ den Platz eines Anbeters einnimmt, man sich dadurch weigere, sich als einen armen, unwürdigen Sünder zu erken­nen. Das ist ein großer Irrtum. Der Gläubige ist in sich selbst gar nichts, aber in Christus ist er ein gereinigter Anbeter. Nicht als ein schuldiger Sünder sondern als ein anbetender Priester steht er im Heiligtum, und zwar bekleidet mit "Kleidern zur Herrlichkeit und zum Schmuck". In Gottes Gegenwart mit meiner Schuld beschäftigt zu sein ist nicht Demut, sondern Unglaube im Blick auf das Opfer.

 

Der Gedanke des Sündentragens, der Zurechnung der Sünde und des Zornes Gottes kommt also in dem Brandopfer durchaus nicht zum Aus­druck. Zwar lesen wir: "Es wird wohlgefällig für ihn sein, um Sühnung für ihn zu tun." Allein es ist in diesem Fall nicht eine Sühnung im Blick auf die Tiefe und Größe der menschlichen Schuld, sondern gemäß der Vollkommenheit der Hingabe Christi an Gott und der Größe der Freude Gottes an Christus. Das ist der höchste Begriff der Versöhnung. Wenn ich Christus als das Sündopfer betrachte, so sehe ich eine Sühnung voll­bracht gemäß den Ansprüchen der göttlichen Gerechtigkeit hinsichtlich der Sünde. Betrachte ich aber die Sühnung in dem Brandopfer, so ent­spricht sie dem Maße der Willigkeit und Fähigkeit Christi, den Willen Gottes zu erfüllen, sowie dem Maße des Wohlgefallens Gottes an Christus und Seinem Werk. Wie vollkommen muß eine Versöhnung sein, welche die Frucht der Hingabe Christi an Gott ist! Könnte es etwas. Höheres geben? Sicher nicht. Gerade die Brandopferseite des Versöh­nungswerkes ist es wohl, welche die priesterliche Familie in den Vor­höfen des Hauses Gottes für immer beschäftigen wird.

 

"Und er soll dem Brandopfer die Haut abziehen und es in seine Stücke zerlegen" (V. 6). Die zeremonielle Handlung des "Hautabziehens" ist besonders bezeichnend. Es war die Wegnahme der äußeren Hülle, um das Innere vollständig bloßzulegen. Es genügte nicht, daß das Äußere des Opfers "fehlerlos" war, auch die "verborgenen Teile mußten ent­hüllt werden, damit jede Sehne und jedes Glied gesehen werden konnte. Nur bei dem Brandopfer wird diese Handlung besonders genannt. Es steht dies in Übereinstimmung mit seinem Charakter und dient dazu, die Tiefe der Hingabe Christi an den Vater darzustellen. Es war bei Ihm kein oberflächliches Werk. Je mehr die Geheimnisse Seines inne­ren Lebens entfaltet und die Tiefen Seines Wesens erforscht wurden, um so klarer trat es ans Licht, daß reine Ergebung in den Willen des Vaters und ernstes Verlangen, Ihn zu verherrlichen, die Quellen des Handelns in dem großen Gegenbilde des Brandopfers waren. Er war in der Tat ein ganzes Brandopfer.

 

„Und er soll es in seine Stücke zerlegen." Diese Handlung stellt uns eine ähnliche Wahrheit vor Augen, wie die, welche uns in dem "wohl­riechenden, kleingestoßenen Räucherwerk" gelehrt wird. (3. Mose 16) Es ist die Freude des Heiligen Geistes, bei der Lieblichkeit und dem Wohlgeruch des Opfers, nicht nur als Ganzes, sondern auch in seinen kleinsten Einzelheiten betrachtet, zu verweilen. Beschäftigen wir uns mit dem Brandopfer als einem Ganzen, so sehen wir es "ohne Fehl", betrachten wir es in seinen einzelnen Teilen, so finden wir dasselbe. So war Christus, und so wird Er uns in diesem wichtigen Bild vor Augen geführt.

 

"Und die Söhne Aarons, die Priester, sollen Feuer auf den Altar legen und Holz auf dem Feuer zurichten; und die Söhne Aarons, die Priester, sollen die Stücke, den Kopf und das Fett auf dem Holze zurichten über dem Feuer, das auf dem Altar ist" (V. 7. 8). Das war in der Tat eine hohe Stellung für die priesterliche Familie. Das Brandopfer wurde ganz und gar Gott geopfert. Alles wurde auf dem Altar verbrannt.*) Der Mensch hatte keinen Anteil daran, aber die Söhne Aarons, des Priesters,

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*) Es mag bei dieser Gelegenheit gut sein, zu bemerken, daß das hebräische, hier durch "räuchern" übersetzte Wort ein ganz anderes ist, als das beim Sündopfer gebrauchte. Da der Gegenstand von besonderem Interesse ist, möchte ich auf einige Stellen hinweisen, in denen jenes Wort vorkommt. Das beim Brandopfer gebrauchte Wort bezeichnet "Weihrauch" oder "Weihrauch­verbrennen", "räuchern", und kommt an vielen Stellen in der einen oder anderen Form vor. So z. B. 2. Mose 30, 1: "Und du sollst einen Altar machen zum "Räuchern des Räucherwerks." Psalm 66, 15: "samt Räucherwerk von Widdern.' Jer. 44, 21: "Das Räuchern, mit welchem ihr in den Städten Judas geräuchert habt." Hohel. 3, 6: "wie Rauchsäulen, durchduftet von Myrrhe und Weihrauch." Eine ganze Reihe ähnlicher Fälle könnte noch angeführt werden, aber diese werden genügen, um den Gebrauch des Wortes zu zeigen.

Das Wort dagegen, das in Verbindung mit dem Sündopfer gebraucht und dort durch "verbrennen" übersetzt ist, bezeichnet ein Verbrennen im allgemeinen und kommt u. a. in folgenden Stellen vor: 1. Mose 11, 3: "Wohlan, laßt uns

Ziegel streichen und hart brennen." 3. Mose 10, 16: "Und Mose suchte eifrig den Bock des Sündopfers, und siehe, er war verbrannt." 2. Chron. 16, 14: "Und man veranstaltete für ihn einen sehr großen Brand."

Das Sündopfer wurde also nicht nur an einem besonderen Platze verbrannt, sondern es ist auch durch den Heiligen Geist ein besonderes Wort gewählt Worden, um sein Verbrennen auszudrücken.

 

die selbst auch Priester waren, sieht man hier um den Altar Gottes stehen, um die Flamme eines Ihm wohlgefälligen Opfers als einen lieb­lichen Wohlgeruch zu Ihm aufsteigen zu lassen. Das war eine hohe Stellung, eine hohe Art von Gemeinschaft, eine hohe Ordnung des priesterlichen Dienstes, ein treffendes Bild der Versammlung, wie sie Gemeinschaft hat mit Gott bezüglich der vollkommenen Erfüllung Sei­nes Willens im Tode Christi. Als überführte Sünder schauen wir auf das Kreuz unseres Herrn Jesus Christus und erblicken darin das, was unse­rem Bedürfnis völlig entspricht, und von dieser Seite betrachtet, gibt das Kreuz dem Gewissen vollkommenen Frieden. Dann aber, als Priester, als gereinigte Anbeter, als Glieder der priesterlichen Familie, können wir das Kreuz in einem anderen Licht betrachten, nämlich als die Voll­endung des Vorsatzes Christi, den Willen des Vaters selbst bis zum Tode zu erfüllen. Als überführte Sünder stehen wir an dem ehernen Altar und finden Frieden durch das Blut der Versöhnung, aber als Prie­ster stehen wir an ihm, um die Vollkommenheit jenes Brandopfers, die vollkommene Hingabe und Darbringung des einen Fleckenlosen an Gott, zu betrachten und zu bewundern.

 

Wir würden ein sehr unvollkommenes Verständnis von dem Geheimnis des Kreuzes haben, wenn wir in ihm nur das sehen würden, was die Bedürfnisse des Menschen als Sünder, befriedigen kann. Es waren Tiefen in diesem Geheimnis, die nur der Geist Gottes ergrün­den konnte. Wenn der Heilige Geist uns eine bildliche Darstellung von dem Kreuz gibt, so zeigt diese zuerst das Kreuz in seiner Bedeutung für Gott. Das allein schon wäre genügend, uns zu überzeugen, daß im Kreuz Höhen und Tiefen enthalten sind, die der Mensch nie erreichen kann. Er mag sich jener wunderbaren Quelle der Freude nahen und un­aufhörlich trinken, er mag das höchste Sehnen seines Geistes stillen, er mag das Kreuz mit der ganzen Kraft der erneuerten Natur erforschen, ‑ und doch gibt es im Kreuz etwas, das nur Gott allein zu erkennen und zu würdigen vermag. Daher kommt es, daß das Brandopfer den ersten Platz einnimmt. Es stellt den Tod Christi dar, so wie er von Gott allein geschaut und geschätzt wird. Und sicher könnten wir ein solches Bild nicht entbehren, denn es gibt uns nicht nur die höchste Sicht von dem Tode Christi, sondern auch einen sehr schönen Gedanken bezüglich des besonderen Interesses Gottes an diesem Tode. Schon die Tatsache, daß Er ein Bild vom Tode Christi einsetzte, das ausschließlich die Bedeutung dieses Opfers für Ihn zum Ausdruck bringt, könnte ein ganzes Buch voll Belehrung für ein geistlich gesinntes Herz füllen.

 

Doch obwohl weder Mensch noch Engel die Tiefen der Geheimnisse des Todes Christi völlig zu ergründen vermögen, so können wir doch wenig­stens einige Züge darin erkennen, die ihn dem Herzen Gottes über alle Maßen kostbar machen mußten. Am Kreuz sammelte Gott die reichsten Früchte der Herrlichkeit ein. Auf keine andere Weise hätte Er so ver­herrlicht werden können, wie durch den Tod Christi. In Christi frei­williger Hingabe in den Tod strahlt die göttliche Herrlichkeit in ihrem vollen Glanz. Auch wurde hierdurch die unerschütterliche Grundlage zur Ausführung aller göttlichen Ratschlüsse gelegt. Wie trostreich ist diese Wahrheit! Die Schöpfung hätte niemals eine solche Grundlage bieten können. Überdies schuf das Kreuz einen Kanal, durch den die göttliche Liebe fließen kann, ohne daß der Gerechtigkeit Gottes Abbruch geschieht.

 

Endlich ist auch Satan durch das Kreuz auf ewig zuschanden gemacht, "Fürstentümer und Gewalten sind öffentlich zur Schau gestellt" worden. Das sind herrliche, durch das Kreuz hervorgebrachte Früchte, und wenn wir daran denken, so können wir auch verstehen, warum eine bildliche Darstellung des Kreuzes ausschließlich im Hinblick auf Gottes Ansprüche und Gottes Wohlgefallen gegeben worden ist, und warum dieses Bild den vornehmsten Platz einnehmen mußte.

 

"Und sein Eingeweide und seine Schenkel soll er mit Wasser waschen; und der Priester soll das Ganze auf dem Altar räuchern: es ist ein Brandopfer, ein Feueropfer lieblichen Geruchs dem HERRN" (V. 9). Diese Handlung machte das Opfer bildlich zu dem, was Christus in Wirklichkeit war: innerlich und äußerlich rein. Zwischen den inneren Beweggründen und dem äußeren Verhalten Christi herrschte voll­kommene Übereinstimmung. Sein Verhalten war in jeder Hinsicht der Ausdruck seines Inneren. Alles zielte auf den einen Punkt hin: die Ver­herrlichung Gottes. Die Glieder Seines Leibes führten in vollkommenem Gehorsam die Ratschläge seines ergebenen Herzens aus ‑ eines Her­zens, das in der Errettung des Menschen nur für Gott und für Seine Verherrlichung schlug. Der Priester mußte "das Ganze räuchern auf dem Altar". Alles war rein, und alles nur zur Speise für den Altar Gottes, bestimmt. Von einzelnen Opfern aßen die Priester, von anderen der Op­fernde, aber das Brandopfer wurde "ganz" auf dem Altar verbrannt. Es war ausschließlich für Gott. Die Priester durften das Holz und das Feuer in Ordnung bringen und die Flamme aufsteigen sehen ‑ und das war wirklich ein hohes, heiliges Vorrecht, aber sie aßen nicht von dem Opfer. In dem Tode Christi, als Brandopfer betrachtet, war Gott allein der Gegenstand Christi. Wir können diese Dinge nicht einfältig genug erfassen. Von dem Augenblick an, wo das "Männliche ohne Fehl" am Eingang des Zeltes der Zusammenkunft dargebracht wurde, bis es durch das Feuer zu Asche verbrannt war, entdecken wir in ihm Christus, wie Er "sich selbst durch den ewigen Geist ohne Flecken Gott geopfert hat."

 

Dies macht das Brandopfer für die Seele unsagbar schön. Es zeigt uns die erhabenste Seite des Werkes Christi. An diesem Werk hatte Gott Seine eigene besondere Freude, eine Freude, die kein geschaffenes Wesen mit Ihm zu teilen vermag. Dies dürfen wir nie aus den Augen verlieren. Es ist in dem Brandopfer entwickelt und wird durch das "Gesetz des Brandopfers", das wir in Kap. 6, 1‑6 haben, bestätigt.

 

In dieser Stelle wird uns mitgeteilt, wie das Feuer auf dem Altar das Brandopfer und die Fettstücke des Friedensopfers verzehrte. Es war der passende Ausdruck der göttlichen Heiligkeit, die in Christus und Seinem vollkommenen Opfer eine geeignete Speise fand. Das Feuer durfte niemals erlöschen. Das, was die Wirkung der göttlichen Heiligkeit darstellte, mußte fortwährend unterhalten werden. Während der dunk­len, stillen Nachtwachen brannte das Feuer auf dem Altar des Herrn.

 

"Und der Priester soll sein leinenes Kleid anziehen usw." (Kap. 6, 3 ff.). Hier nimmt der Priester im Bilde den Platz Christi ein, dessen persön­liche Gerechtigkeit durch das weiße leinene Kleid dargestellt wird. Nachdem Er sich zum Tode am Kreuz hingegeben hat, um den Willen Gottes zu erfüllen, ist Er in Seiner eigenen ewigen Gerechtigkeit in den Himmel eingegangen, indem Er die Zeichen Seines vollendeten Werkes mit sich nahm. Die Asche bezeugte die Vollendung des Opfers und seine Annahme von seiten Gottes. Die neben den Altar geschüttete Asche deutete an, daß das Feuer das Opfer verzehrt hatte, und daß es nicht nur ein vollendetes, sondern auch ein angenommenes Opfer war. Die Asche des Brandopfers verkündigte die Annahme des Opfers, wäh­rend die Asche des Sündopfers das Gericht über die Sünde bezeugte. Bei der weiteren Betrachtung der Opfer werden viele der bereits berühr­ten Punkte mit zunehmender Klarheit, Fülle und Kraft vor unser Auge treten. jedes Opfer erscheint dadurch, daß es im Gegensatz zu den übrigen betrachtet wird, in noch hellerem Licht. Alle Opfer zusammen­genommen geben uns ein vollständiges Bild vom Opfer Christi. Sie sind sozusagen verschiedene Spiegel, die so angeordnet sind, daß sie das Bild des wahren und allein vollkommenen Opfers in vielfältiger Weise zurückwerfen. Kein einzelnes Bild konnte Ihn völlig darstellen. Wir mußten Ihn abgebildet haben in Seinem Leben wie in Seinem Tode, als Mensch und als Opfer in Seinem Verhältnis zu Gott und zu uns, und so finden wir Ihn in den Opfern des 3. Buches Mose. Gott ist in Gnade unserem Bedürfnis entgegengekommen. Möge Er uns die Fähig­keit geben, in das, was Er für uns vorgesehen hat, tiefer einzudringen und es mehr zu genießen!

 

2. Kapitel

 

DAS SPEISOPFER (3. Mose 2 und 6)

 

Wir kommen jetzt zur Betrachtung des Speisopfers, das den "Menschen Christus Jesus" darstellt. So wie das Brandopfer Christus im Tode darstellt, so stellt das Speisopfer Ihn im Leben dar. Weder bei dem einen noch bei dem anderen handelt es sich um die Frage des Sünden­tragens. Im Brandopfer sehen wir die Versöhnung, aber weder das Tragen der Sünde noch die Zurechnung der Sünde, noch auch ein Aus­schütten des Zornes der Sünde wegen. Woher können wir das wissen? Weil alles auf dem Altar verzehrt wurde. Hätte es sich beim Brandopfer in irgendeiner Weise um das Tragen der Sünde gehandelt, so würde es außerhalb des Lagers verbrannt worden sein. (Vergl. 3. Mose 4, 11. 12 mit Hebr. 13, 11)

 

Im Speisopfer aber finden wir nicht einmal ein Blutvergießen. Es ist vielmehr ein herrliches Vorbild auf Christus, wie Er hier auf Erden lebte und diente.

 

Die Lehre von dem Menschsein Christi ist ungeheuer wichtig. Sie bildet die eigentliche Grundlage des Christentums, und eben darum hat Satan von jeher mit allem Eifer danach getrachtet, die Menschen nach dieser Seite hin irre zu leiten. Fast alle Irrlehren, die ihren Weg in die beken­nende Kirche gefunden haben, verraten die satanische Absicht, die Wahrheit bezüglich der Person Christi zu untergraben. Und selbst wenn ernste, gottesfürchtige Männer sich bemüht haben, jene Irrlehren zu bekämpfen, sind sie in vielen Fällen in entgegengesetzte Irrtümer ver­fallen. Wie nötig ist es daher, sich genau an die Worte zu halten, deren sich der Heilige Geist bei der Enthüllung dieses tiefen und heiligen Ge­heimnisses bedient hat! Unterwürfigkeit unter die Autorität der Heili­gen Schrift, sowie die Kraft des göttlichen Lebens in der Seele werden sich in jedem Fall als die wirksamsten Schutzmittel gegen jede Art .von Irrtum erweisen. Es sind keine hohen theologischen Ehrentitel nötig, um eine Seele bezüglich der Lehre Christi vor Irrtümern zu bewahren. Wenn nur "das Wort des Christus reichlich in uns wohnt“, und der Geist Christi mit Macht in der Seele wirkt, dann bleibt für Satan mit seinen finsteren Verführungen kein Raum. Wenn das Herz sich des Christus erfreut, den die Schrift uns offenbart, so wird es sicher vor dem falschen Christus zurückschrecken, den Satan zu bringen trachtet. Wenn wir uns von der Wirklichkeit Gottes nähren, so werden wir die Nachbildung Satans ohne weiteres zurückweisen. Das ist der sicherste Weg, um den Verstrickungen des Irrtums in jeder Form und jedem Charakter zu entgehen. "Die Schafe hören seine Stimme und ... folgen ihm, weil sie seine Stimme kennen. Einem Fremden aber werden sie nicht folgen, sondern werden vor ihm fliehen, weil sie die Stimme des Fremden nicht kennen" (Joh. 10, 3‑5). Es ist gar nicht nötig, mit der Stimme eines Fremden bekannt zu sein. Alles was wir nötig haben, ist, die Stimme des "guten Hirten" zu kennen. Das wird uns sicher­stellen vor dem verstrickenden Einfluß jeder fremden Stimme.

 

Sehr oft sind wir uns viel zu wenig bewußt, daß wir mit unserem Herrn Jesus als dem vollkommenen Menschen in einer lebendigen Gemein­schaft stehen sollten. Daher kommt es auch, daß wir so viel an innerer Dürre, Unruhe und Verirrungen leiden. Würden wir mit einem einfäl­tigeren, kindlicheren Glauben uns die Wahrheit zu eigen machen, daß sich zur Rechten der Majestät in den Himmeln ein wirklicher Mensch befindet, ein Mensch, dessen Mitgefühl vollkommen, dessen Liebe un­ergründlich, dessen Macht allgewaltig, dessen Weisheit unendlich, des­sen Mittel unerschöpflich, dessen Reichtümer unerforschlich sind, dessen Ohr für jeden Seufzer geöffnet, und dessen Hand für alle unsere Be­dürfnisse aufgetan ist, ‑ wieviel glücklicher würden wir sein, und wie­viel unabhängiger von menschlichen Strömen, durch welchen Kanal diese auch fließen mögen! Es gibt kein Bedürfnis des Herzens, das in dem Herrn Jesus nicht Befriedigung fände. Sehnen wir uns nach wahrem Mitgefühl? Wo anders könnten wir das finden, als bei Ihm, der mit den trauernden Schwestern von Bethanien Tränen vergoß? Sehnen wir uns nach dem Genuß einer aufrichtigen Zuneigung? Nur in Seinem Herzen können wir sie finden, das Seine Liebe durch Sein eigenes Blut besiegelte. Suchen wir den Schutz einer wirklichen Macht? Wir brau­chen nur emporzublicken zu Ihm, der die Welten gemacht hat. Fühlen wir das Bedürfnis, von einer nie irrenden Weisheit geleitet zu werden?

 

Wenden wir uns zu Ihm, der die Weisheit in Person ist, und der uns "von Gott zur Weisheit geworden" ist (i. Kor. 1, 30). Mit einem Wort, wir haben alles in Christus. Gott selbst hat in dem "Menschen Christus Jesus" vollkommene Befriedigung gefunden, und wirklich, wenn die Person Christi Gott vollkommen befriedigen kann, so wird in Ihm auch das sein, was uns befriedigen sollte und befriedigen wird in demselben Maß, wie wir durch die gnädige Wirksamkeit des Heiligen Geistes in Gemeinschaft mit Gott leben.

 

Der Herr Jesus Christus war der einzige vollkommene Mensch, der je diese Erde betrat. Er war ganz und gar vollkommen: vollkommen in Seinen Gedanken, Worten und Werken. In Ihm begegneten sich alle moralischen Eigenschaften in göttlichem und darum vollkommenem Ver­hältnis. Kein einziger Zug überragte die anderen. In Ihm war eine über­wältigende Majestät mit einer Güte verbunden, die eine vollkommene Freimütigkeit in Seiner Gegenwart verlieh. Die Schriftgelehrten und Pharisäer traf Sein vernichtender Tadel, während die arme Samariterin und die "große Sünderin" sich in einer unerklärlichen, unwidersteh­lichen Weise zu Ihm hingezogen fühlten. Nicht ein Charakterzug ver­drängte den anderen. Alles befand sich in einem schönen und angemes­senen Ebenmaß. Wir können dies in jedem Abschnitt Seines Lebens wahrnehmen. Er konnte bezüglich der hungernden Volksmenge sagen: "Gebet ihr ihnen zu essen!" und dann, als sie gesättigt waren: "Sam­melt die übrigen Brocken, daß nichts umkomme!" Freigebigkeit und Sparsamkeit sind hier beide vollkommen. Die eine tut der anderen keinen Abbruch. Die Hungrigen konnte Er nicht ungesättigt fortschik­ken, noch konnte Er zugeben, daß ein einziges Bröckchen von der Gabe Gottes verschwendet würde. Mit freigebiger Hand begegnet Er den Bedürfnissen der menschlichen Familie, aber war dieses geschehen, so wollte Er jedes Krümchen aufgelesen wissen. Dieselbe Hand, die für alle menschliche Not geöffnet war, war fest geschlossen gegen jede Art von Verschwendung.

 

Welch eine Lektion für uns! Wie leicht artet unsere Freigebigkeit in Verschwendung aus, und wie oft äußert sich andererseits in unserer Sparsamkeit Geldliebe und ein habsüchtiger Geist! Oft verschließen wir unsere Herzen vor offenbaren Bedürfnissen, während wir zu an­derer Zeit auf unbesonnene und leichtfertige Art das verschleudern, was manchen unserer notleidenden Mitmenschen hätte helfen können. Laßt uns sorgfältig das göttliche Gemälde betrachten, das uns in dem Leben des "Menschen Christus Jesus" vor Augen gestellt wird!

 

Betrachte Ihn im Garten Gethsemane! Dort kniet Er in der Tiefe einer Demut, die niemand außer Ihm zur Schau tragen konnte. Aber gegen­über der Bande des Verräters zeigt Er eine Majestät, vor der die Feinde zurückweichen und zu Boden stürzen. Sein Verhalten Gott gegenüber ist Unterwürfigkeit, Sein Verhalten Seinen Richtern und Anklägern gegenüber unbeugsame Würde. Alles ist vollkommen. Die Selbstver­leugnung und die Autorität, die Erniedrigung und die Würde, alles ist göttlich. Dieselbe Vollkommenheit finden wir, wenn wir die Harmonie in Seinen Beziehungen zu Gott und zu den Menschen betrachten. Er konnte sagen: "Was ist es, daß ihr mich gesucht habt? Wußtet ihr nicht, daß ich in dem sein muß, was meines Vaters ist?" Und zu derselben Zeit konnte Er mit nach Nazareth hinabgehen und dort ein Beispiel vollkommener Unterwürfigkeit unter die elterliche Autorität geben. (Siehe Luk. 2, 49‑51.) Er konnte zu Seiner Mutter sagen: "Was habe ich mit dir zu schaffen, Weib?" und doch mitten in den Qualen des Kreuzes diese Mutter zärtlich der Fürsorge Seines geliebten Jüngers anbefehlen. Im ersten Fall sonderte Er sich im Geiste eines vollkom­menen Nasiräertums ab, um den Willen Seines Vaters zu erfüllen, wäh­rend Er im letzten den zärtlichen Gefühlen Seines vollkommenen menschlichen Herzens Ausdruck gab. Die Widmung des Nasirs und die Liebe des Menschen, beides war vollkommen. Keines beeinträchtigte das andere. Jedes leuchtete mit ungetrübtem Glanz in dem ihm eigenen Bereich.

 

Nun, den Schatten oder das Bild dieses vollkommenen Menschen er­blicken wir in dem "Feinmehl" (V. 1), das die Grundlage des Speis­opfers bildete. Nicht ein einziges grobes Körnchen war in dem Mehl zu finden. Da war nichts uneben, nichts ungleich, nichts erschien rauh bei der Berührung. Welcher Druck auch von außen kommen mochte, immer blieb die Außenseite glatt. Keine Umstände, keine Verwick­lungen der schwierigsten Art vermochten den Herrn je aus der Fassung zu bringen. Er brauchte niemals einen Schritt zurückzugehen oder ein Wort zu widerrufen. Er begegnete allem, was auch kommen mochte, mit jener Gleichmäßigkeit, die so treffend durch das "Feinmehl" dar­gestellt wird.

 

Es ist kaum nötig, zu bemerken, daß Er in dem allem einen entschie­denen Gegensatz zu Seinen geehrtesten und ergebensten Dienern bil­dete. So z. B. redete Mose, obwohl er der "sanftmütigste Mann auf dem Erdboden" war, dennoch "unbedacht mit seinen Lippen". Wir finden bei Petrus zu gewissen Zeiten einen übertriebenen Eifer, und zu anderer Zeit eine Feigheit, die vor einem klaren Zeugnis und der Schmach zu­rückschreckte. Er rühmte sich einer Ergebenheit, die ihn, wenn die Zeit des Handelns kam, im Stich ließ. Johannes, der in so reichem Maß die Atmosphäre der unmittelbaren Gegenwart Christi einatmete, zeigte zu­weilen einen unduldsamen Geist. Auch in Paulus, dem ergebenen Die­ner, bemerken wir beträchtliche Ungleichheiten. Er ließ sich vor dem Hohenpriester zu Worten hinreißen, die er widerrufen mußte. Er sandte den Korinthern einen Brief, über den er zuerst Reue fühlte, der ihn aber nachher nicht gereute. In allen finden wir irgendein Gebrechen, ausge­nommen in dem "Ausgezeichneten vor Zehntausenden", "an dem alles lieblich ist" (Hohel. 5, 10. 16).

 

Bei der Betrachtung des Speisopfers wollen wir zunächst die Bestand­teile ins Auge fassen, aus denen es zusammengesetzt war, dann die verschiedenen Formen, in denen es dargebracht wurde, und endlich die Personen, die an ihm beteiligt waren.

 

Was die Bestandteile betrifft, so kann das "Feinmehl", wie bereits ge­sagt, als die Grundlage des Opfers betrachtet werden. Wir finden darin ein Vorbild auf Christus als Mensch, der in sich alle Vollkommenheit vereinigte. jede Tugend war vorhanden und zum tätigen Handeln im geeigneten Augenblick bereit. Es ist die Freude des Heiligen Geistes, die Herrlichkeit der Person Christi zu entfalten und Ihn in Seiner ganzen unvergleichlichen Vortrefflichkeit, sowie im Gegensatz zu allen anderen vor unser Auge zu stellen. Er zeigt uns Ihn im Gegensatz zu Adam, selbst in dessen bestem und höchstem Zustand, wie wir lesen: "Der erste Mensch ist von der Erde, von Staub; der zweite Mensch vom Himmel" (i. Kor. 15, 47). Der erste Adam war, selbst vor dem Fall, "von der Erde", der zweite Mensch aber war "der Mensch vom Himmel".

 

Das "öl" im Speisopfer ist ein Bild vom Heiligen Geist, und wie das Öl auf zweifache Weise angewandt wurde, so wird auch der Heilige Geist von einem zweifachen Gesichtspunkt aus in Verbindung mit der Menschwerdung des Sohnes dargestellt. Das Feinmehl wurde mit Öl "gemengt", und das Öl wurde darüber "gegossen". So war das Bild. In der Erfüllung des Bildes sehen wir den Herrn Jesus zunächst von dem Heiligen Geist "empfangen", und dann durch Ihn "gesalbt (vergl. Matth. 1, 18 u. 20 mit Kap. 3, 16). Das ist göttlich! Die Genauigkeit, die hier hervortritt, ist bewundernswert. Es ist ein und derselbe Geist, der die Bestandteile des Bildes aufzeichnet und uns die Tatsachen in ihrer Erfüllung berichtet. Er, der mit solch erstaunlicher Genauigkeit die Schatten und Bilder des 3. Buches Mose mitgeteilt hat, stellt uns ihn, den allein Vollkommenen, in den Berichten der Evangelien mit gleicher Sorgfalt vor Augen.

 

Die Zeugung Christi als Mensch durch den Heiligen Geist im Mutter­leib der Jungfrau Maria ist eines der tiefsten Geheimnisse. Sie wird am ausführlichsten im Lukas‑Evangelium berichtet, und dies ist charakte­ristisch, weil es in diesem ganzen Evangelium der besondere Zweck des Heiligen Geistes zu sein scheint, den "Menschen Christus Jesus" darzu­stellen. In Matthäus haben wir den "Sohn Abrahams, den Sohn Da­vids", in Markus den göttlichen Diener, den himmlischen Arbeiter, und in Johannes den "Sohn Gottes", das ewige Wort, das Leben, das Licht ‑Ihn, durch den alle Dinge geworden sind. Aber das erhabene Thema des Heiligen Geistes im Evangelium des Lukas ist Jesus, "der Sohn des Menschen."

 

Als der Engel Gabriel der Jungfrau Maria die Würde ankündigte, die ihr in Verbindung mit der Menschwerdung Christi zuteil werden sollte, stellte sie, jedoch nicht im Geist der Zweifelsucht, sondern in ehrlicher Unwissenheit die Frage: "Wie wird dies sein, dieweil ich keinen Mann kenne?" Sie dachte offenbar, daß die Geburt dieser herrlichen Person, die nun bald erscheinen sollte, nach den gewöhnlichen Regeln der Zeu­gung stattfinden würde, und dieser Gedanke bot der großen Güte Got­tes Gelegenheit, unschätzbares Licht über die Grundwahrheit der Menschwerdung zu schenken. Die Erwiderung des Engels auf die Frage der Jungfrau ist von höchstem Interesse. "Und der Engel antwortete und sprach zu ihr: Der Heilige Geist wird über dich kommen, und Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum wird auch das Heilige, das geboren werden wird, Sohn Gottes genannt werden" (Luk. 1, 35).

 

Aus dieser herrlichen Stelle ersehen wir, daß der menschliche Leib, in den die zweite Person der ewigen Dreieinheit einzog, durch die "Kraft des Höchsten" gebildet wurde. "Einen Leib hast du mir bereitet" (vergl. Ps. 40, 6 mit Hebr. 10, 5). Es war ein wahrer menschlicher Leib, wahres .Fleisch und Blut‑. Hier gibt es nicht die geringste Grundlage für die geist ‑ und wertlosen Theorien des Gnostizismus oder des Mystizismus. Alles ist göttliche Wirklichkeit, gerade das, was unsere Herzen nötig haben und was Gott uns gegeben hat. Die erste Verheißung hatte erklärt ' daß der Same des Weibes der Schlange den Kopf zertreten sollte, und nur Einer, dessen Natur ebenso wirklich menschlich wie rein und un­verderblich war, konnte diese Verheißung erfüllen. "Du wirst im Leibe empfangen", sagte der Engel, "und einen Sohn gebären." *) Und dann, um bezüglich der Art und Weise dieser Empfängnis keinen Raum für irgendeinen Irrtum zu lassen, fügt er Worte hinzu, die den unwiderleg­baren Beweis liefern, daß das "Fleisch und Blut", an dem der ewige Sohn "teilnahm" (Hebr. 2, 14), obschon wahres, wirkliches Fleisch und Blut, dennoch keinen einzigen Flecken aufwies. Der Leib, die mensch­liche Natur des Herrn Jesus, wird nachdrücklich "das Heilige" genannt, und weil sie ganz und gar fleckenlos war, so trug sie auch keinen Keim der Sterblichkeit in sich. Sterblichkeit können wir uns nur in Verbin­dung mit der Sünde denken, und die menschliche Natur Christi hatte nichts mit der Sünde zu tun. Die Sünde wurde Ihm auf dem Kreuze; zugerechnet; Er wurde dort für uns "zur Sünde gemacht". Das Speis­opfer aber ist nicht ein Bild von Christus als dem Sündenträger, son­dern es stellt uns Ihn in Seinem vollkommenen Leben hier auf der Erde dar ‑ einem Leben, in dem Er ohne Zweifel litt, jedoch nicht als Sün­denträger, nicht als Stellvertreter, nicht von der Hand Gottes. Das ist sehr wichtig. Weder im Brandopfer noch im Speisopfer finden wir Christus als Sündenträger. Im Speisopfer sehen wir Ihn lebend, im Brandopfer sterbend, aber in keinem handelt es sich um Sündenzurech­nung oder um das Ertragen des Zornes Gottes wegen der Sünde. Mit einem Wort, Christus als Stellvertreter des Sünders irgendwo anders als auf dem Kreuz darzustellen, hieße Sein Leben all seiner göttlichen Schönheit und Vortrefflichkeit berauben und das Kreuz gänzlich von seiner Stelle rücken. Zugleich würde dies unter den Bildern des 3. Bu­ches Mose hoffnungslose Verwirrung anrichten.

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*) "Als aber die Fülle der Zeit gekommen war, sandte Gott seinen Sohn geboren von einem Weibe, geboren unter Gesetz." (Gal. 4) Das ist eine sehr wichtige Stelle, da sie unseren Herrn als Sohn Gottes und als Sohn des Men­schen vor uns stellt. "Gott sandte seinen Sohn, geboren von einem Weibe." Wunderbares Zeugnis!

 

Bezüglich der Wahrheit von der Person des Herrn Jesus Christus möchte ich an dieser Stelle ein ernstes Warnungswort an den gläubigen Leser richten. Ist bezüglich dieses Punktes ein Irrtum vorhanden, so gibt es keine Sicherheit für irgendeinen anderen. Die Person Christi ist der lebendige, der göttliche Mittelpunkt aller Wirkungen des Heiligen Geistes. Lag die Wahrheit in bezug auf Ihn fahren, und du bist gleich einem Schiff, das, losgerissen von seinen Ankern, ohne Ruder und Kompaß auf der wilden Wasserwüste umhertreibt und sich in höchster Gefahr befindet, an den Klippen des Unglaubens oder des Atheismus zu zer­schellen. Beginne zu zweifeln an der ewigen Sohnschaft Christi, an Seiner Gottheit, an Seinem fleckenlosen Menschsein, und du hast eine Schleuse geöffnet, durch die eine Flut der traurigsten Irrtümer herein­bricht.

 

Der Herr Jesus, der ewige Sohn Gottes, die zweite Person der heili­gen Dreieinheit, "Gott geoffenbart im Fleische", "Gott über alles, ge­priesen in Ewigkeit", nahm einen Leib an, der in sich selbst göttlich rein und heilig, gänzlich frei von jedem Samen oder Grundsatz der Sünde oder der Sterblichkeit, und ohne die Möglichkeit einer Befleckung war. Christus war derart Mensch, daß Er in jedem Augenblick, soweit es Ihn persönlich betraf, in den Himmel, von woher Er gekommen war und dem Er angehörte, hätte zurückkehren können. Ich spreche hier nicht von den ewigen Ratschlüssen der erlösenden Liebe, nicht von der Liebe Jesu, Seiner Liebe zu Gott und Seiner Liebe zu den Auserwählten Gottes, auch nicht von dem Werk, das nötig war, um den ewigen Bund Gottes mit dem Samen Abrahams und mit der ganzen Schöpfung zu bestätigen. Die eigenen Worte Christi belehren uns, daß Er "also leiden und am dritten Tage auferstehen mußte aus den Toten" (Luk. 24, 46). Sein Leiden war für die Offenbarung und vollkommene Erfüllung des großen Geheimnisses der Erlösung absolut notwendig. Es war Sein Vorsatz, "viele Söhne zur Herrlichkeit zu bringen" (Hebr. 2, 10). Er wollte nicht "allein bleiben", und darum mußte Er, "das Weizenkorn, in die Erde fallen und sterben" (Joh. 12). Je mehr wir in die Wahrheit Seiner Person eindringen, um so höher werden wir die in Seinem Werk geoffenbarte Gnade schätzen.

 

Wenn der Apostel von Christus als "durch Leiden vollkommen ge­macht", spricht, so betrachtet er Ihn als den "Anführer unserer Erret­tung", nicht aber als den Sohn, der, was Seine Person und Natur betraf ' so göttlich vollkommen war, daß Ihm unmöglich etwas hinzugefügt werden konnte. Ebenso nimmt der Herr, wenn Er sagt: "siehe, ich treibe Dämonen aus und vollbringe Heilungen heute und morgen, und am dritten Tage werde ich vollendet" (Luk. 13, 32), Bezug auf Sein Vollendetwerden in der Kraft der Auferstehung, als der Erfüller des Erlösungswerkes. Soweit es Ihn persönlich betraf, konnte Er sogar auf dem Weg aus dem Garten Gethsemane sagen: "Meinst du, daß ich nicht jetzt meinen Vater bitten könne, und er mir mehr als zwölf Legionen Engel stellen werde? Wie sollten denn die Schriften erfüllt werden, daß es also geschehen muß" (Matth. 26, 53. 54)?

 

Es ist gut, wenn wir hierüber Klarheit besitzen und ein göttliches Be­wußtsein haben von der Übereinstimmung, die zwischen jenen Schrift­stellen besteht, die Christus in der Würde Seiner Person und der gött­lichen Reinheit Seiner Natur darstellen und jenen, die Ihn in Seinen Be­ziehungen zu Seinem Volk und als den Erfüller des großen Erlösungs­werkes betrachten. Zuweilen finden wir beide Dinge in derselben Stelle vereinigt, wie z. B. in Hebr. 5, 8. 9, wo wir lesen: "Obwohl er Sohn war, lernte er an dem, was er litt, den Gehorsam, und, vollendet wor­den, ist er allen, die ihm gehorchen, der Urheber ewigen Heils gewor­den." Wir müssen uns jedoch daran erinnern, daß nicht eine einzige jener Beziehungen, in die Christus freiwillig eintrat ‑ sei es als der Ausdruck der göttlichen Liebe gegen eine verlorene Welt, oder als der Diener der göttlichen Ratschlüsse ‑ irgendwie die Reinheit, Vortreff­lichkeit und Herrlichkeit Seiner Person beeinträchtigen konnte. Der Heilige Geist kam über die Jungfrau, und Kraft des Höchsten über­schattete sie, und darum wurde "das Heilige, das von ihr geboren wurde, Sohn Gottes genannt". Wie herrlich entfalten diese Worte das tiefe Geheimnis, daß Christus reiner und vollkommener Mensch war! Das ist das große Gegenbild des "mit Öl gemengten Feinmehls"!

 

Hier möchte ich noch die Bemerkung einflechten, daß zwischen der menschlichen Natur, wie wir sie in dem Herrn Jesus Christus sehen, und unserer menschlichen Natur keine Vereinigung stattfinden konnte. Das Reine konnte sich nie mit dem Unreinen vermengen. Das, was unver­derblich ist, konnte sich unmöglich verbinden mit dem, was verderb­lich ist. Niemals kann sich das Geistliche mit dem Fleischlichen, das Himmlische mit dem Irdischen vereinigen. Hieraus folgt, daß die hier und da aufgetauchte Lehre, Christus habe sich mit unserer gefallenen Natur vereinigt, durchaus falsch ist, denn, hätte Er dies tun können, so wäre der Tod am Kreuz keine Notwendigkeit gewesen. In diesem Fall hätte das Weizenkorn nicht in die Erde zu fallen und zu sterben brauchen. Unmöglich konnte sich Christus mit der sündigen Menschheit vereinigen. Hören wir, was der Engel im ersten Kapitel des Matthäusevangelium zu Joseph sagt: "Joseph, Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria, dein Weib, zu dir zu nehmen; denn das in ihr Gezeugte ist von dem Heiligen Geiste!" So sind die natürlichen Gefühle Josephs wie auch die fromme Unwissenheit Marias zu einer Gelegenheit geworden, das hei­lige Geheimnis der Menschwerdung Christi klarer zu entfalten und zu­gleich gegen alle gotteslästerlichen Angriffe des Feindes zu schützen.

 

In welcher Weise aber sind die Gläubigen mit Christus vereinigt? In Seiner Menschwerdung oder in Seiner Auferstehung? Ohne Zweifel in Seiner Auferstehung, denn "wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein" (Joh. 12, 24). Diesseits des Todes war eine Vereinigung zwischen Christus und Seinem Volk eine Unmöglich­keit. Die Gläubigen sind in der Kraft eines neuen Lebens mit Christus vereinigt. Sie waren tot in Sünden, und Er kam in vollkommener Gnade hernieder und ward, obwohl selbst rein und ohne Sünde, "zur Sünde gemacht , "starb der Sünde", tat sie hinweg, stand wieder auf, über sie und alles mit ihr Verbundene triumphierend, und wurde in der Aufer­stehung das Haupt eines neuen Geschlechts. Adam war das Haupt der alten Schöpfung, die mit ihm fiel. Christus stellte sich durch Sein Ster­ben unter das volle Gewicht des Zustandes Seines Volkes, und nachdem Er allem, was wider Sein Volk war, begegnet war, verließ Er als Sieger über alles das Grab und führte die Seinigen mit sich in die neue Schöpfung ein, von der Er selbst das herrliche Haupt und der Mittel­punkt ist. Deshalb lesen wir: "Wer aber dem Herrn anhängt, ist ein Geist mit ihm (l. Kor. 6, 17). "Gott aber, der reich ist an Barmherzig­keit, wegen seiner vielen Liebe, womit er uns geliebt hat, als auch wir in den Vergehungen tot waren, hat uns mitauferweckt und mitsitzen lassen in den himmlischen Örtern in Christo Jesu" (Eph. 2, 4‑6). "Denn wir sind Glieder seines Leibes, von seinem Fleische und von seinen Ge­beinen" (Eph. 5, 30). "Und euch, als ihr tot waret in den Vergehungen und in der Vorhaut eures Fleisches, hat er mit lebendig gemacht mit ihm, indem er uns alle Vergehungen vergeben hat" (Kol. 2, 13).

 

Wir könnten noch viele ähnliche Stellen anführen, aber diese genügen, um zu beweisen, daß Christus nicht in der Menschwerdung, sondern im Tode eine Stellung einnahm, in der Sein Volk, "mit ihm lebendig" gemacht werden konnte.

 

Wenden wir uns jetzt zu den Worten: "Er soll Öl darauf gießen". Hier entdecken wir einen anderen Punkt, der ebenfalls sehr wichtig ist. Wir haben hier nämlich ein Bild von der Salbung des Herrn Jesus Christus durch den Heiligen Geist. Der Leib des Herrn Jesus war nicht nur durch den Heiligen Geist geheimnisvoll gebildet, sondern dieses reine und heilige Gefäß wurde auch durch dieselbe Macht zum Dienst gesalbt. "Es geschah aber, als das ganze Volk getauft wurde, und Jesus getauft war und betete, daß der Himmel aufgetan wurde, und der Heilige Geist in leiblicher Gestalt, wie eine Taube, auf ihn herabstieg, und eine Stimme aus dem Himmel kam: Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen gefunden" (Luk. 3, 21. 22).

 

Die Salbung des Herrn Jesus durch den Heiligen Geist vor Seinem Eintritt in Seinen öffentlichen Dienst ist für jeden, der ein wahrer Die­ner Gottes sein möchte, von großer praktischer Wichtigkeit. Obwohl Er, was Sein Menschsein betrifft, durch den Heiligen Geist empfangen wurde, obwohl Er in Seiner eigenen Person "Gott geoffenbart im Fleische" war, obwohl die ganze Fülle der Gottheit "leibhaftig in ihm wohnte", verrichtete Er doch (und man beachte dies recht), wenn Er als Mensch zur Erfüllung des Willens Gottes auf der Erde erschien, alles durch den Heiligen Geist ‑ mochte jener Wille die Verkündigung des Evangeliums, das Heilen der Kranken, das Austreiben der Teufel, das Speisen der Hungrigen oder das Auferwecken der Toten in sich fassen. Das heilige und himmlische Gefäß, in dem es Gott, dem Sohne wohlge­fiel, in dieser Welt zu erscheinen, war gebildet, erfüllt, gesalbt und ge­leitet durch den Heiligen Geist.

 

Welch eine Belehrung für uns! Und wie notwendig ist diese Belehrung! Wie geneigt sind wir zu laufen, ohne gesandt zu sein! Wie geneigt, in der bloßen Kraft des Fleisches zu handeln! Wie vieles von dem, was wie Dienst aussieht, ist nur die unruhige Tätigkeit einer Natur, die nie­mals in der Gegenwart Gottes verurteilt und gerichtet worden ist! In der Tat, wir haben nötig, unser göttliches "Speisopfer" genauer zu betrach­ten, die Bedeutung des mit "öl gesalbten Feinmehls" genauer zu ver­stehen. Wir haben nötig, über Christus selbst tiefer nachzusinnen. Obwohl Er in Seiner eigenen Person göttliche Macht besaß, vollbrachte Er dennoch durch den Heiligen Geist Sein ganzes Werk; so wirkte Er alle Seine Wunder und so opferte Er sich "selbst durch den ewigen Geist ohne Flecken". Er konnte sagen: "Ich treibe Dämonen aus durch den Geist Gottes."

 

Alle unsere Tätigkeit ist unnütz und wertlos, wenn sie nicht durch den Heiligen Geist gewirkt und geleitet wird. Jemand mag schreiben; aber wenn seine Feder nicht von dem Heiligen Geist geleitet wird, so werden seine Schriften keine bleibenden Ergebnisse hervorbringen. Ein ande­rer mag reden; aber wenn seine Lippen nicht von dem Heiligen Geist gesalbt sind, so wird sein Wort nicht Wurzel fassen. Das sind ernste Erwägungen, die uns zu großer Wachsamkeit gegenüber uns selbst und zu einer beständigen Abhängigkeit von dem Heiligen Geist leiten wer­den. Es ist für uns nötig, ganz leer zu sein von uns selbst, damit so dem Geist mehr Raum gelassen wird, durch uns zu handeln. Unmöglich kann ein Mensch, der von sich selbst erfüllt ist, das Gefäß des Heiligen Geistes sein. Ein solcher muß, bevor der Heilige Geist ihn benutzen kann, zunächst leer werden von sich selbst. Wenn wir die Person und den Dienst des Herrn Jesus betrachten, dann sehen wir, daß Er in jedem Augenblick und in jeder Lage durch die Kraft des Heiligen Geistes han­delte. Nachdem Er als Mensch hier auf der Erde Seinen Platz eingenommen hatte, zeigte Er, daß der Mensch nicht nur durch das Wort leben, sondern auch durch die Kraft des Geistes Gottes handeln sollte. Obwohl als Mensch Sein Wille, Seine Gedanken, Seine Worte und Handlungen, ja alles vollkommen war, so wollte Er dennoch nicht handeln, außer auf­grund der Autorität des Wortes und durch die Kraft des Heiligen Geistes.

 

Der nächste Bestandteil des Speisopfers ist "der Weihrauch". Wie bereits bemerkt, bildete das "Feinmehl" die Grundlage des Opfers. Das "öl" und der "Weihrauch‑ waren die beiden hervorragendsten Zusätze, und die Kombination dieser beiden ist in der Tat sehr lehrreich. Das ,Öl" ist ein Bild von der Kraft des Dienstes Christi, der "Weihrauch" von dem Zweck dieses Dienstes. Das Öl belehrt uns, daß Er alles durch den Geist Gottes verrichtete, der Weihrauch, daß Er alles zur Verherr­lichung Gottes tat. Der Weihrauch stellte dasjenige im Leben Christi dar, was ausschließlich für Gott war. Dies geht deutlich aus dem zweiten Vers hervor, wo wir lesen: "Und er soll es zu den Söhnen Aarons, den Priestern, bringen; und er nehme davon seine Hand voll, von seinem Feinmehl und von seinem Öl samt all seinem Weihrauch, und der Prie­ster räuchere das Gedächtnisteil desselben auf dem Altar: es ist ein Feueropfer lieblichen Geruchs dem HERRN". So war es bei dem eigent­lichen, dem wahren Speisopfer, dem Menschen Christus Jesus. In Sei­nem gesegneten Leben gab es etwas, was ausschließlich für Gott war. Jeder Gedanke, jedes Wort, jede Handlung von Ihm verbreitete einen Wohlgeruch, der unmittelbar zu Gott emporstieg. Und wie im Bild das "Feuer des Altars den lieblichen Geruch des Weihrauchs hervorrief, so offenbarte sich in dem Herrn Jesus, je mehr Er in Seinem Leben "ver­sucht" wurde, nur um so klarer, daß in Seiner menschlichen Natur nichts war, was nicht als ein Wohlgeruch zum Thron Gottes aufsteigen konnte. Wenn wir im Brandopfer Christus sehen, wie Er "sich selbst ohne Flecken Gott geopfert hat“, so sehen wir Ihn im Speisopfer die ganze innere Vortrefflichkeit und die vollkommenen Handlungen Seiner menschlichen Natur Gott darbringen. Ein vollkommener, ein sich selbst verleugnender, ein gehorsamer Mensch auf der Erde, der den Willen Gottes erfüllte und durch die Autorität des Wortes und durch die Kraft des Geistes handelte, besaß einen Wohlgeruch, der nur von Gott voll gewürdigt und entgegengenommen werden konnte. Der Umstand, daß der "ganze Weihrauch" auf dem Altar verzehrt wurde, zeigt klar dessen Bedeutung.

 

Es bleibt uns jetzt nur noch ein Bestandteil übrig, der eine unerläßliche Beigabe des Speisopfers war, nämlich das Salz. "Und alle Opfergaben deines Speisopfers sollst du mit Salz salzen und sollst das Salz des Bundes deines Gottes nicht fehlen lassen bei deinem Speisopfer; bei allen deinen Opfergaben sollst du Salz darbringen" (V. 13). Der Aus­druck "Salz des Bundes" stellt den bleibenden Charakter dieses Bundes dar. Das Salz ist ein außerordentlich wichtiger Bestandteil. "Euer Wort sei allezeit in Gnade, mit Salz gewürzt" (Kol. 4, 6). Das ganze Verhal­ten des vollkommenen Menschen brachte die Kraft dieses Grundsatzes zum Ausdruck. Seine Worte waren nicht nur Worte der Gnade, sondern ­auch Worte von schneidender Kraft, Worte, die göttlich angemessen wa­ren, um vor jeder Fäulnis und jedem verderblichen Einfluß zu bewah­ren. Er sprach niemals ein Wort, das nicht von "Weihrauch" duftete und nicht "mit Salz gesalzen" war. Das eine war wohlannehmlich für Gott, das andere nützlich für den Menschen.

 

Leider konnte das böse Herz und der verdorbene Geschmack des Men­schen das Schneidende des göttlich gesalzenen Speisopfers nicht ertra­gen. Betrachten wir z. B. die Szene in der Synagoge zu Nazareth. (Luk. 4, 16‑29) Das Volk konnte "ihm Zeugnis geben und sich über die Worte der Gnade verwundern, die aus seinem Munde hervorgingen". Als Er aber fortfuhr, diese Worte mit "Salz" zu würzen, was so unum­gänglich nötig war, um Seine Zuhörer vor dem verderblichen Einfluß ihres Nationalstolzes zu bewahren, da hätten sie Ihn gern hinabge­stürzt von dem Rande des Berges, auf dem ihre Stadt erbaut war. So auch in Luk. 14. Als Seine Worte der Gnade eine große Volksmenge zu Ihm gezogen hatten, brachte Er gleich darauf das Salz in Anwendung, indem Er die unausbleiblichen Konsequenzen der Nach­folge zeigte. "Kommt, denn schon ist alles bereit!" ‑ das war die Gnade. Aber dann: "Wenn jemand zu mir kommt und haßt nicht seinen Vater und seine Mutter .... dazu aber auch sein eigenes Leben, so kann er nicht mein Jünger sein", ‑ das war das "Salz". Die Gnade ist anziehend, aber "das Salz ist gut". Eine Rede voll Gnade mag volks­tümlich sein. Eine gesalzene Rede ist es nie. Dem reinen Evangelium von der Gnade Gottes mag "die Volksmenge" zu gewissen Zeiten und unter gewissen Umständen eine Weile nachlaufen. Sobald aber das "Salz" einer scharfen und treuen Anwendung hinzugefügt wird, leeren sich die Bänke; ausharren werden i. a. nur solche, die die heilsame Macht des Wortes an sich verspüren.

 

Nachdem wir so die Bestandteile geprüft haben, aus denen sich das Speisopfer zusammensetzte, müssen wir noch auf jene hinweisen, die ausdrücklich verboten waren. Zu diesen letzteren gehört zunächst der Sauerteig. "Alles Speisopfer, das ihr dem HERRN darbringt, soll nicht aus Gesäuertem gemacht werden" (V. 11). Der Sauerteig wird in der ganzen Heiligen Schrift, ohne eine einzige Ausnahme, als ein Symbol des Bösen gebraucht. Wie wir später in 3. Mose 23 finden werden, war bei den beiden Broten, die am Pfingsttage dargebracht wurden, der Sauerteig gestattet. Beim Speisopfer aber war er ausdrücklich verboten. Nichts Saures, nichts was aufblähen konnte, nichts was Böses aus­drückte, durfte sich in dem vorfinden, was den "Menschen Christus Jesus" darstellte. In Ihm konnte nichts sein, was nach der Bitterkeit der Natur schmeckte, nichts Schwülstiges, nichts Aufgeblasenes. Alles war rein, gediegen und echt. Sein Wort mochte zu Zeiten bis ins lebendige Fleisch schneiden, aber nie war es herb. Seine Redeweise war jedem vorliegenden Fall immer genau angemessen. Sein Betragen bekundete Immer die tiefe Wirklichkeit eines Weges in der unmittelbaren Gegen­wart Gottes.

 

Wir wissen leider nur zu gut, wie sich der Sauerteig in all seinen Eigenschaften und Wirkungen immer wieder in denen zeigt, die den Namen Jesu tragen. Es hat nur eine unverdorbene Garbe menschlicher Frucht gegeben, nur ein völlig ungesäuertes Speisopfer. Doch, Gott sei geprie­sen! dieser Eine ist unser, unser, damit wir uns von Ihm nähren im Heiligtum der göttlichen Gegenwart, in Gemeinschaft mit Gott. In der Tat, nichts kann für das erneuerte Herz erbaulicher und erfrischender

 

sein, als bei der "ungesäuerten" Vollkommenheit des Menschen Jesus Christus zu verweilen, das Leben und den Dienst dieses Einen zu be­trachten, der durch und durch "ungesäuert" war. In all den Quellen Seiner Gedanken, Gefühle und Wünsche fand sich nicht die kleinste Spur vom Sauerteig. Er war der sündlose, fleckenlose, vollkommene Mensch. Und je mehr wir durch die Kraft des Geistes befähigt sind, in das alles einzudringen, um so gründlicher wird unsere Erfahrung von der Gnade sein, in diesen Vollkommenen bewegte, sich unter all die Folgen der Sünde Seines Volkes zu stellen, wie Er dies am Kreuz getan hat. Indessen steht dieser Gedanke in Verbindung mit unserem gelieb­ten Herrn, als Sündopfer betrachtet. Im Speisopfer handelt es sich durchaus nicht um die Sünde.

 

Ebenso entschieden wie der Sauerteig war aber auch der Honig ver­boten. "Denn aller Sauerteig und aller Honig, davon sollt ihr kein Feueropfer dem HERRN räuchern" (V. 11). So wie der "Sauerteig" das ausdrückt, was offenbar böse in der Natur ist, so können wir den "Honig" als ein Symbol des scheinbar Sii2en und Anziehenden betrach­ten. Beides ist nicht von Gott gestattet. Beides mußte beim Speisopfer unbedingt vermieden werden. Beides paßte nicht für den Altar. Es gibt ohne Zweifel manche guten sittlichen Eigenschaften im Menschen, die wir nicht ausnahmslos abwerten wollen. "Hast du Honig gefunden, so iß dein Genüge", aber vergiß nicht, daß er weder im Speisopfer, noch in dessen Gegenbild einen Platz fand. Da war die Fülle des Heiligen Geistes, der liebliche Wohlgeruch des "Weihrauchs", die konservierende Kraft des "Salzes des Bundes". Alle diese Dinge kamen zu dem „Fein­mehl" in der Person des wahren Speisopfers hinzu, aber "kein Honig".

 

Eine heilsame Lehre für uns! Unser Herr wußte der Natur und ihren Beziehungen ihren wahren Platz anzuweisen. Er wußte, wieviel Honig sich geziemte. Er konnte zu Seiner Mutter sagen: "Wußtet ihr nicht, daß ich in dem sein muß, was meines Vaters ist?" Und doch konnte Er wiederum an Seinen geliebten jünger die Worte richten: "Siehe, deine Mutter!" Mit anderen Worten, den Ansprüchen der Natur wurde nie­mals erlaubt, die Darstellung Christi als vollkommener Mensch vor Gott zu beeinträchtigen. Maria und andere mit ihr mögen gedacht haben, daß ihre menschliche Verwandtschaft mit dem Hochgelobten ihr irgend­einen besonderen Anspruch oder Einfluß auf Ihn auf bloß natürlichem Boden einräume. So lesen wir: Es kommen seine Mutter und seine Brüder; und draußen stehend sandten sie zu ihm und riefen ihn. Und

 

eine Volksmenge sag um ihn her; sie sagten aber zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder draußen suchen dich" (Mark. 3, 31. 32). Was aber war die Antwort des wahren Speisopfers? Verließ Er Sein Werk, um den Anforderungen der Natur zu entsprechen? Keineswegs. Hätte Er das getan, so wäre es eine Vermengung des Speisopfers mit Honig gewesen, und das durfte nicht sein. Der Honig war ausgeschlossen bei dieser, wie bei jeder anderen Gelegenheit, wenn den Forderungen Gottes Folge geleistet werden mußte. Statt dessen finden wir die Kraft des Geistes, den Wohlgeruch des "Weihrauchs" und die Kraft des "Salzes": "Und Er antwortete ihnen und sprach: Wer ist meine Mutter oder meine Brüder? Und im Kreise umherblickend auf die um ihn her Sitzenden, spricht er: Siehe da, meine Mutter und meine Brüder; denn wer irgend den Willen Gottes tun wird, derselbe ist mein Bruder und meine Schwe­ster und meine Mutter." *)

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*) Wie wichtig ist es, in dieser herrlichen Stelle zu sehen, daß das Tun des Willens Gottes die Seele in ein verwandtschaftliches Verhältnis zu Christus bringt, von dem Seine Brüder nach dem Fleische nichts kannten: "Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen." Maria hätte nicht errettet werden können durch die bloße Tatsache, daß sie die Mutter Jesu war. Sie bedurfte ebenso sehr des persönlichen Glau­bens an Christus wie jedes andere Glied der gefallenen Familie Adams. Sie mußte durch die Wiedergeburt aus der alten Schöpfung in die neue über­gehen, und dadurch, daß sie die Worte Christi in ihrem Herzen bewahrte, wurde sie errettet. Sie war ohne Zweifel hoch begnadigt, indem sie als Gefäß zu einem so heiligen Dienst ausersehen wurde, aber als arme Sünderin hatte sie nötig, "in Gott, ihrem Heilande, zu frohlocken", wie alle andern. Sie steht auf demselben Boden, ist in demselben Blut gewaschen, in dieselbe Gerechtigkeit gekleidet und wird dasselbe Lied singen wie alle übrigen Er­lösten Gottes.

Das macht einen bereits erwähnten Punkt noch klarer, nämlich, daß Christus durch die Menschwerdung nicht unsere Natur in Verbindung mit sich gebracht hat. Diese Wahrheit wird in 2. Kor. 5, 14‑17 klar dargestellt.

 

Er, gibt wenige Dinge, die dem Diener Christi schwerer fallen, als mit geistlicher Genauigkeit die Ansprüche der natürlichen Verwandtschaft so zu regeln, daß sie die Anforderungen des Herrn in keiner Weise beeinträchtigen. Bei Ihm war dieses alles göttlich geregelt, während es bei uns nur zu häufig geschieht, daß Pflichten, die uns von Gott auf­erlegt sind, um solcher Dinge willen vernachlässigt werden, die wir für den Dienst Christi halten. Wahre Hingabe sucht in erster Linie, allen göttlichen Anforderungen völlig zu genügen. Wie oft wird die Lehre Gottes einem scheinbaren Werke des Evangeliums geopfert! Wenn ich eine Stellung einnehme, die meine Kräfte täglich von morgens 8 bis abends 7 Uhr in Anspruch nimmt, so habe ich kein Recht, während dieser Stunden zu predigen oder Besuche zu machen. Habe ich ein Ge­schäft, so bin ich verpflichtet, es sehr korrekt zu führen. Ich habe kein Recht, hier und dort zu predigen, während mein Geschäft daheim in Unordnung liegt, so daß die heilige Lehre Gottes dadurch verlästert wird. Vielleicht sagt jemand: "Ich fühle mich berufen, das Evangelium zu predigen, aber meine Stellung oder mein Geschäft steht mir im Weg." Nun, wenn du von Gott für das Werk des Evangeliums berufen und befähigt bist, und du die beiden Dinge nicht miteinander vereinigen kannst, so gib deine Stellung auf oder wickle dein Geschäft in einer Gott wohlgefälligen Weise ab und gehe dann im Namen des Herrn voran. Aber solange ich eine Stellung innehabe oder ein Geschäft be­treibe, darf meine Arbeit im Evangelium erst beginnen, wenn die göttlichen Anforderungen bezüglich dieser Stellung oder dieses Geschäftes               völlig befriedigt sind. Das ist wahre Hingabe. Alles andere, so gut es auch gemeint sein mag, ist Verwirrung. Wir haben, Gott sei Dank, ein vollkommenes Vorbild in dem Leben des Herrn Jesus vor uns, und das Wort Gottes enthält für den neuen Menschen klare Wegweisung, so daß wir nicht nötig haben, Fehler zu machen, weder hinsichtlich der mannigfachen Beziehungen, in welche die Vorsehung Gottes uns gestellt hat, noch hinsichtlich der mancherlei Anforderungen, welche die Re­gierung Gottes in Verbindung mit diesen Beziehungen an uns stellt.

 

Der zweite Punkt in unserer Betrachtung ist die Art und Weise, wie das Speisopfer zubereitet wurde. Dies geschah durch das Feuer. Das Speis­opfer war entweder ein "Ofengebäck", oder ein "Speisopfer in der Pfanne", oder ein "Speisopfer im Napfe". Der Vorgang des Backens ruft unwillkürlich den Gedanken an Leiden wach. Da aber das Speis­opfer ein "lieblicher Geruch" genannt wird (ein Ausdruck, der bei dem Sünd ‑ und Schuldopfer niemals vorkommt), so kann augenscheinlich hier an das Ertragen des Zornes wegen der Sünde und an ein Leiden für die Sünde von seiten der göttlichen Gerechtigkeit nicht gedacht wer­den. Lieblicher Geruch" und Leiden für die Sünde sind nach der leviti­schen Haushaltung zwei ganz unvereinbare Begriffe. Wollten wir daher in das Speisopfer den Gedanken des Leidens um der Sünde willen bringen, so würden wir die Bedeutung dieses Bildes zerstören.

 

Bei dem Betrachten des Lebens des Herrn Jesus, ‑ und darum geht es ja im Speisopfer in allererster Linie ‑ entdecken wir drei verschiedene Arten von Leiden: zunächst Leiden um der Gerechtigkeit willen, dann Leiden durch Sein vollkommenes Mitgefühl, und endlich Leiden durch Vorempfindung.

 

Als der gerechte Diener Gottes litt der Herr Jesus in einer Umgebung, in der alles gegen Ihn war; aber das war gerade das Gegenteil von einem Leiden für die Sünde. Es ist sehr wichtig, diese beiden Arten von Leiden zu unterscheiden. Übersieht man das, so gerät man in ernste Irrtümer. Das Leiden um Gottes willen als ein Gerechter unter den Men­schen ist eine ganz andere Sache als das Leiden an Stelle des Menschen unter der Hand Gottes. Der Herr Jesus litt während Seines Lebens um der Gerechtigkeit willen. In Seinem Tode litt Er um der Sünde willen. Während Seines Lebens taten der Mensch und Satan ihr Äußerstes, und selbst am Kreuz entfalteten sie ihre ganze Kraft. Aber als alles das, was sie tun konnten, geschehen war, als sie in ihrem tödlichen Haß die äußerste Grenze menschlichen und teuflischen Widerstandes erreicht hatten, da lag noch weit darüber hinaus ein Bereich von undurchdring­lichem Dunkel und Schrecken, in den der Sündenträger zur Vollendung Seines Werkes einzutreten hatte. Während Seines Lebens wandelte Er stets in dem ungetrübten Licht des göttlichen Angesichts, aber auf dem Fluchholz trat der finstere Schatten der Sünde dazwischen, verbarg jenes Licht vor Seinen Augen und ließ Ihn den schrecklichen Schrei tun: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Das war ein Augenblick, der in den Jahrbüchern der Ewigkeit völlig allein steht. Während des Lebens Christi auf der Erde hatte sich der Himmel von Zeit zu Zeit geöffnet, um dem göttlichen Wohlgefallen an dem geliebten Sohn Ausdruck zu geben; aber auf dem Kreuz verließ Gott Ihn, weil Er Seine Seele zum Sündopfer stellte. Wäre Christus Sein ganzes Leben hindurch Sündenträger gewesen, wo wäre dann der Unterschied zwischen dem Kreuz und irgendeinem anderen Zeitabschnitt Seines Erdenweges? Warum war Er nicht während Seiner ganzen Laufbahn von Gott ver­lassen? Worin bestand der Unterschied zwischen Christus auf dem Kreuz und Christus auf dem heiligen Berg der Verklärung? War Er auf diesem Berg von Gott verlassen? War Er dort Sündenträger? Das sind sehr einfache Fragen, die jene sich vorlegen sollten, die an dem Ge­danken eines Sündentragens während Seines Lebens festhalten.

 

Der einfache Tatbestand ist dieser: Weder in dem Menschen Jesus Christus, noch in der Natur Seiner Beziehungen gab es etwas, das Ihn irgendwie mit Sünde, Zorn oder Tod in Verbindung bringen konnte.

 

Auf dem Kreuz aber "wurde er zur Sünde gemacht". Dort trug Er den Zorn Gottes, und dort gab Er Sein Leben hin, als eine volle Sühnung für die Sünde. Aber nichts von all dem findet einen Platz im Speis­opfer. Wohl finden wir hier das Backen, die Wirkung des Feuers, aber das ist nicht der Zorn Gottes. Das Speisopfer war kein Sündopfer, sondern ein Opfer "lieblichen Geruchs". Dadurch ist seine Bedeutung klar gekennzeichnet. Den Herrn Jesus infolge Seiner Geburt zu einem Sündenträger zu machen und Ihn dadurch unter den Fluch des Gesetzes und den Zorn Gottes stellen, heißt der ganzen Wahrheit Gottes bezüg­lich der Menschwerdung widersprechen ‑ einer Wahrheit, die durch den Engel angekündigt und immer wieder durch den Heiligen Geist in den apostolischen Briefen bekräftigt worden ist. Zugleich zerstört man dadurch den ganzen Charakter und den Zweck des Lebens Christi, raubt dem Kreuz seine besondere Herrlichkeit und schwächt das Gefühl für die Bedeutung von Sünde und Versöhnung. Mit einem Wort, man reißt den Schlußstein aus dem Gewölbe der Offenbarung und bringt alles in hoffnungslose Verwirrung.

 

Der Herr Jesus litt dann aber auch durch Sein vollkommenes Mitgefühl, und diese Art Leiden läßt uns einen Blick tun in die tiefen Geheimnisse Seines Herzens. Menschliche Trauer und menschliches Elend berührten stets eine Saite in diesem liebeerfüllten Herzen. Unmöglich konnte ein vollkommen menschliches Herz anders als nach Seiner göttlichen Empfindsamkeit all das Elend fühlen, das die Sünde über das Menschen­geschlecht gebracht hatte. Obwohl Er persönlich frei von der Ursache und der Wirkung der Sünde war, obwohl Er dem Himmel angehörte und auf der Erde ein vollkommen himmlisches Leben führte, stieg Er doch in der Kraft eines innigen Mitgefühls in die tiefsten Tiefen des menschlichen Elends hinab. Ja, Er fühlte, weil Er als Mensch vollkom­men war, den Schmerz weit tiefer als diejenigen, die ihm unmittelbar unterworfen waren. Zudem war Er fähig, sowohl das Leiden, als auch dessen Ursache nach ihrem richtigen Maß und Charakter in der Gegen­wart Gottes zu betrachten. Er fühlte, wie niemand außer Ihm fühlen konnte. Seine Gefühle und Seine Neigungen, Sein ganzes sittliches und geistiges Sein, alles war vollkommen. Aus diesem Grunde vermag niemand zu beurteilen, was Er auf Seinem Gang durch diese Welt gelit­ten haben muß. Er sah, was das menschliche Geschlecht unter der schwe­ren Last seiner Schuld und seines Elends durchmachte. Er sah, wie die ganze Schöpfung unter dem Joch seufzte. Das Wehklagen des Gefan­genen drang in Sein Ohr. Er sah die Tränen der Witwe. Beraubung und Armut bewegten Sein mitfühlendes Herz. Krankheit und Tod ließen Ihn "tief im Geist seufzen" (Joh. 11). Sein Leiden aufgrund Seines Mit­gefühls überstieg weit alle menschlichen Begriffe.

 

ich führe hier eine Stelle an, die zur Erläuterung dieses Charakters Sei­ner Leiden dienen mag. "Als es aber Abend geworden war, brachten sie viele Besessene zu ihm; und er trieb die Geister aus mit einem Worte, und er heilte alle Leidenden, damit erfüllt würde, was durch den Pro­pheten Jesajas geredet ist, welcher spricht: Er selbst nahm unsere Schwachheiten und trug unsere Krankheiten (Matth. 8, 16. 17). Das war völliges Mitgefühl, vollkommenes Mitleiden. Er hatte keine eige­nen Krankheiten und Schwachheiten. Aber durch Sein vollkommenes Mitfühlen "nahm Er unsere Schwachheiten und trug unsere Krank­heiten". Nur ein vollkommener Mensch war dazu imstande. Wir können für ‑ und miteinander fühlen, aber nur der Herr Jesus konnte mensch­liche Schwachheiten und Krankheiten zu Seinen eigenen machen.

 

Hätte Er alle diese Dinge als eine notwendige Folge Seiner Geburt oder Seiner Verwandtschaft mit Israel und der menschlichen Familie zu erdulden gehabt, so würden wir die ganze Schönheit und Kostbarkeit Seines freiwilligen Mitgefühls verlieren. Es wäre dann für eine frei­willige Handlung kein Raum mehr. Wenn wir Ihn dagegen persönlich frei sehen von dem menschlichen Elend und dessen Ursachen, so können wir verstehen, daß es nur vollkommene Gnade und vollkommenes Er­barmen war, die Ihn leiteten, in wahrem Mitgefühl "unsere Schwach­heiten auf sich zu nehmen und unsere Krankheiten zu tragen". Es be­steht also ein sehr deutlicher Unterschied zwischen den Leiden Christi als dem, der freiwillig mit dem menschlichen Elend mitleidet, und Seinem Leiden als Stellvertreter des Sünders. Die ersteren begegneten Ihm während Seines ganzen Lebens, die letzteren beschränken sich auf Seinen Tod.

 

Schließlich haben wir noch die durch. Vorempfindung erduldeten Lei­den Christi zu betrachten. Das Kreuz warf seine finsteren Schatten auf den Weg des Herrn voraus und brachte für Ihn eine sehr bittere Art von Leiden hervor, die aber klar von Seinem versöhnenden Leiden und von Seinem Leiden um der Gerechtigkeit willen oder durch Mitgefühl unterschieden werden muß. Zum Beweis des Gesagten vergleiche man Luk. 22, 39‑44; Matth. 26, 37‑39.

 

Aus diesen Stellen ist ersichtlich, daß etwas für den Herrn in Aussicht stand, dem Er nie vorher begegnet war. Hier wurde ein "Kelch" für Ihn gefüllt, aus dem Er noch nie getrunken hatte. Wäre Er Sein ganzes Leben hindurch Sündenträger gewesen, warum dann diese "Seelenangst" bei dem Gedanken an die Berührung mit der Sünde und an das Ertra­gen des Zornes Gottes der Sünde wegen? Worin bestand der Unter­schied zwischen Christus in Gethsemane und Christus auf Golgatha, wenn Er während Seines ganzen Lebens Sündenträger war? Hierin: In Gethsemane hatte Er das Vorgefühl des Gerichtes, auf Golgatha ertrug Er es in Wirklichkeit. In Gethsemane erschien ihm ein Engel vom Himmel, der ihn stärkte. Auf Golgatha war Er von allen verlassen, und kein Engel nahte, um Ihm zu dienen. In Gethsemane redete Er zu Gott als Seinem Vater, da befand Er sich im Genuß dieses unaus­sprechlichen Verhältnisses. Auf Golgatha stieß Er den Schrei aus: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Hier schaute der Sündenträger empor, sah den Thron der ewigen Gerechtigkeit mit finsteren Wolken umhüllt und das Antlitz der unwandelbaren Heilig­keit von sich abgewandt, und weshalb? Weil Er „für uns zur Sünde gemacht" war (2. Kor. 5).

 

Es ist also wichtig, die drei Arten der Leiden während des Lebens un­seres Herrn von den Leiden in Seinem Tode, den Leiden für die Sünde, zu unterscheiden. Nachdem der Mensch und Satan ihr Äußerstes getan hatten, blieb noch eine ganz besondere Art von Leiden übrig, nämlich das Leiden unter der Hand Gottes wegen der Sünde, ein Leiden als Stellvertreter des Sünders. Bis zu den Stunden der Finsternis am Kreuz konnte der Herr stets emporschauen und sich an dem hellen Licht des Angesichts Seines Vaters erfreuen. Selbst in den dunkelsten Zeiten fand Er droben eine sichere Zuflucht. Sein irdischer Weg war rauh. Wie hätte es auch anders sein können in einer Welt, wo alles Seiner reinen, heili­gen Natur unmittelbar zuwider war, wo Er den "Widerspruch von den Sündern gegen sich" zu erdulden hatte, wo die Schmähungen derer, die Gott schmähten, auf Ihn gefallen sind"? Welchen Leiden war Er nicht ausgesetzt! Er wurde mißverstanden, falsch beurteilt, geschmäht, ange­feindet, angeklagt, von Sinnen zu sein und einen Dämon zu haben. Er wurde verraten, verleugnet, verlassen, verspottet, geschlagen, bespieen, mit Dornen gekrönt, ausgestoßen, verurteilt und zwischen zwei Mördern ans Kreuz geheftet. Alle diese Dinge erduldete Er von der Hand des Menschen, neben den unaussprechlichen Schrecken, die Satan auf Sei­nen Geist einwirken ließ. Aber nachdem der Mensch und Satan alle ihre Kraft und Feindschaft erschöpft hatten, gab es noch etwas für unseren Herrn und Heiland zu erdulden, mit dem verglichen alles andere be­deutungslos war ‑ nämlich, daß Gott Ihn verlassen mußte. Es waren jene drei Stunden der Finsternis und des schrecklichen Dunkels, in denen Er Leiden ausgesetzt war, deren Schwere außer Gott niemand zu er­fassen vermag.

 

Wenn die Schrift von unserer Gemeinschaft mit den Leiden Christi spricht, so hat das nur Bezug auf Seine von Menschenhand erduldeten Leiden um der Gerechtigkeit willen. Christus litt wegen der Sünde, um uns vor dem Gericht und den ewigen Qualen der Verdammnis zu er­retten. Er trug den Zorn Gottes, damit wir ihn nicht zu ertragen hätten. Das ist die Grundlage unseres Friedens. An diesen Leiden konnten wir unmöglich teilhaben. Wenn aber Seine von seiten der Menschen erdul­deten Leiden in Betracht kommen, so werden wir stets finden, daß wir, je treuer wir den Fußspuren Christi folgen, um so mehr in dieser Be­ziehung zu leiden haben werden. Doch das ist ein Vorrecht, eine Gunst, eine Ehre. (Vergl. Phil. 1, 29. 30) In den Fußspuren Christi zu wandeln, Gemeinschaft mit Ihm zu genießen, auf einen Platz des Mitleidens mit Ihm gestellt zu sein, das sind Vorrechte höchsten Ranges. Möchten wir das alle tiefer und völliger erfahren! Leider sind wir nur zu gern bereit, wie Petrus, Ihm "von ferne nachzufolgen", fern von einem verach­teten und leidenden Heiland. Das ist ohne Zweifel ein großer Verlust für uns. Hätten wir mehr Gemeinschaft mit Seinen Leiden, so würde sicher auch die Krone weit glänzender vor unserem Geistesauge stehen. Schrecken wir zurück vor der Gemeinschaft der Leiden Christi, so be­rauben wir uns der tiefen Freude Seiner Gegenwart, Seiner unmittel­baren Nähe, sowie der inneren Kraft, welche die Hoffnung auf Seine ‑ und damit auch unsere ‑ zukünftige Herrlichkeit verleiht.

 

Nachdem wir so die Bestandteile des Speisopfers, sowie die verschiede­nen Formen, in denen es dargebracht wurde, betrachtet haben, wollen wir nur noch kurz auf die daran beteiligten Personen hinweisen: Das Haupt und die Glieder der priesterlichen Familie. "Das Übrige von dem Speisopfer soll für Aaron und für seine Söhne sein: ein Hochheiliges von den Feueropfern des HERRN" (V. 10). So wie wir bei dem Brand­opfer die Söhne Aarons als Bilder aller wahren Gläubigen, nicht als überführte Sünder, sondern als anbetende Priester eingeführt sahen, finden wir sie beim Speisopfer, wie sie sich nähren von dem Überrest dessen, was sozusagen auf den Tisch des Gottes Israels gelegt worden war. Das war ein erhabenes und heiliges Vorrecht. Ausschließlich die Priester konnten es genießen. Dies kommt sehr deutlich in dem "Gesetz des Speisopfers" zum Ausdruck (Kap. 6, 7‑11).

 

In diesem "Gesetz des Speisopfers" haben wir ein schönes Bild von der Versammlung, die an "heiligem Orte", in der Kraft einer praktischen Heiligkeit, sich von den Vollkommenheiten "des Menschen Christus Jesus" nährt. Dies ist durch die Gnade Gottes unser Teil. Aber verges­sen wir nicht, daß es "ungesäuert" gegessen werden muß, Wir können uns nicht von Christus nähren, wenn wir an irgend etwas Bösem fest­halten. "Alles was sie anrührt, wird heilig sein." Überdies muß es "an heiligem Orte" gegessen werden. Unsere Stellung, unser praktisches Verhalten, unsere Verbindungen, alles muß heilig sein, bevor wir von dem Speisopfer essen dürfen. Ferner heißt es: "Alles Männliche unter den Kindern Aarons soll es essen." Das will sagen: Wahre, nach gött­lichen Gedanken gemessene priesterliche Kraft ist erforderlich, um dieses heilige Teil zu genießen. Aarons "Söhne" stellen in ihren priesterlichen Handlungen das Symbol der Kraft ' seine "Töchter" das der Schwachheit dar. (Vergl. 4. Mose 18, 8‑13.) Es gab verschiedene Dinge, welche die Söhne nicht aber die Töchter essen durften. Unsere Herzen sollten mit allem Ernst nach dem höchsten Maß priesterlicher Kraft verlangen, um die höchsten priesterlichen Dienste verrichten und an der höchsten Art der priesterlichen Nahrung teilhaben zu können.

 

Laßt mich nur noch darauf hinweisen, daß wir als solche, die durch die Gnade zu "Teilhabern der göttlichen Natur‑ gemacht worden sind, in den Fußstapfen dessen zu wandeln vermögen, der im Speisopfer dargestellt ist, wenn wir wirklich in der Kraft dieser Natur leben. Sind wir nur leer von uns selbst, so wird jede unserer Handlungen einen Wohlgeruch für Gott enthalten. Der kleinste wie der größte Dienst vermag durch die Kraft des Heiligen Geistes den Wohlgeruch Christi darzustellen. Ein Besuch, ein Brief, der öffentliche Dienst am Wort, ein Glas Wasser an einen Bruder, eine Gabe an einen Armen, ja, die ge­wöhnlichen Handlungen des Essens und Trinkens ‑ alle diese Dinge können den Wohlgeruch des Namens und der Gnade Jesu hervorkom­men lassen. So können auch wir, wenn wir nur die alte Natur im Tode halten, das darstellen, was nicht verweslich ist und können Worte zum Ausdruck bringen, die mit dem "Salz" einer beständigen Gemeinschaft mit Gott gewürzt sind. Aber in allen diesen Dingen versagen wir viel. Wir betrüben den Heiligen Geist auf unseren Wegen. In unseren besten.

 

Diensten neigen wir zur Selbstsucht und Menschengefälligkeit und las­sen es daran fehlen, unsere Rede zu würzen. Daher der beständige Mangel an "Öl", an "Weihrauch" und an "Salz", während wir dem "Sauerteig" und dem "Honig" der Natur nur zu oft erlauben, zum Vorschein zu kommen.

 

Es hat nur ein vollkommenes "Speisopfer“ gegeben, und wir sind in Ihm angenommen. Wir sind Söhne des wahren Aaron. Unser Platz ist im Heiligtum, wo wir uns von dem Heiligen nähren können. Glück­seliger Platz! Glückseliges Teil! Möchten wir das alles reichlicher als bisher genießen! ja, möchte unser Herz treuer für Ihn schlagen und unser Blick beständig auf Ihn gerichtet sein,' daß wir für die schädlichen Reize der Welt um uns her kein Auge mehr haben, noch für die tau­senderlei Kleinigkeiten und Umstände auf unserem Weg, die so leicht das Herz niederdrücken und den Geist verwirren! Möchten wir uns an Christus erfreuen, sowohl im Sonnenschein als im Dunkel, wenn wir uns auf der ruhigen Fläche eines stillen Sees befinden, oder wenn die Wellen eines stürmischen Ozeans unser Schifflein zu verschlingen drohen! Gott sei Dank! "wir haben den gefunden" (Joh. 1, 45), der auf ewig unser herrliches Teil ist. Wir werden die Ewigkeit damit zubringen, die göttlichen Vollkommenheiten Jesu zu betrachten. Nie werden sich unsere Augen wieder von Ihm abwenden, wenn wir Ihn einmal gesehen haben, wie Er ist.

 

Möge der Geist Gottes uns befähigen, uns zu nähren von diesem voll­kommenen Speisopfer, das Gott selbst genossen hat! Das ist unser heiliges und glückseliges Vorrecht.

 

3. Kapitel

 

DAS FRIEDENSOPFER (3. Mose 3 und 7)

 

je eingehender wir die Opfer betrachten, um so deutlicher erkennen wir, daß ein einzelnes Opfer allein kein vollständiges Bild von Christus geben kann. Nur in ihrer Gesamtheit geben sie uns eine einigermaßen richtige Vorstellung.

 

Beim Vergleich des Friedensopfers mit dem Brandopfer finden wir, daß beim Friedensopfer die dreifache Handlung des "Hautabziehens", des "Zerstückens" und des "Waschens des Eingeweides und der Schen­kel" fehlt. Das entspricht durchaus seinem Charakter. Im Brandopfer sehen wir Christus sich selbst Gott opfern, und von Gott angenommen, und daher mußte die Vollkommenheit Seiner Selbstübergabe sowie die gründliche Prüfung, der Er sich unterwarf, bildlich gezeigt werden. Beim Friedensopfer ist die Gemeinschaft des Anbeters mit Gott der Hauptge­danke. Hier ist es nicht Christus, wie Er in Seiner Hingabe ausschließlich durch Gott genossen wird, sondern Christus, genossen durch den An­beter in Gemeinschaft mit Gott. Darum erreicht auch die ganze Hand­lung nicht die Höhe wie beim Brandopfer. Kein Herz, so stark seine Liebe auch sein mag, wäre imstande, sich einigermaßen zu der Höhe der Hingabe Christi an Gott oder der Annahme Christi von seiten Gottes zu erheben, und darum war ein Bild nötig, um diese Seite des Todes Christi, Seine vollkommene Hingabe an Gott, darzustellen. Dieses Bild besitzen wir im Brandopfer, und hier allein finden wir die oben er­wähnte dreifache Handlung.

 

Auch im Blick auf die Art des Opfers sehen wir einen Unterschied. Im Brandopfer mußte es ein "Männliches" ohne Fehl sein, während es im Friedensopfer ein "Männliches oder ein Weibliches", allerdings ebenfalls "ohne Fehl", sein durfte. Die Natur Christi, mögen wir Ihn als aus­schließlich durch Gott, oder durch den Anbeter in Gemeinschaft mit Gott, genossen betrachten, ist stets dieselbe. Hierin kann niemals eine Wandlung stattfinden. Ein "Weibliches“ war nur deshalb im Friedens­opfer gestattet, weil es sich hier um die Fähigkeit des Anbeters handelte, den Hochgelobten zu genießen, der in sich selbst derselbe ist gestern und heute und in Ewigkeit (Hebr. 13).

 

Beim Brandopfer lesen wir. "Der Priester soll das Ganze räuchern", während beim Friedensopfer nur ein Teil geräuchert wurde, nämlich die Nieren, das Fett und das Netz. Dies macht die Sache außerordent­lich einfach. Der beste Teil des Opfers wurde auf den Altar Gottes gelegt. Die inneren Teile, die verborgenen Kräfte, die zärtlichen Gefühle des hochgelobten Herrn wurden Gott als dem Einzigen gewidmet, der sie vollkommen genießen konnte. Aaron und seine Söhne nährten sich von der "Brust des Webeopfers" und von dem "Schenkel des Heb­opfers" *) (vergl. sorgfältig Kap. 7, 28‑36). Alle Glieder der priester­lichen Familie hatten in Gemeinschaft mit ihrem Haupt ihr besonderes Teil an dem Friedensopfer. Und jetzt können sich alle wahren Gläubi­gen, durch die Gnade zu Priestern Gottes gemacht, von den Zuneigun­gen und der Kraft des wahren Friedensopfers nähren und die glückse­lige Zuversicht genießen, Sein Herz voller Liebe und Seine starke Schul­ter beständig zu ihrem Trost und ihrer Stütze zu haben. **) "Das ist das Salbungsteil Aarons und das Salbungsteil seiner Söhne von den Feueropfern des HERRN an dem Tage, da man sie herzunahen ließ ' um dem HERRN den Priesterdienst auszuüben, das der HERR geboten hat, ihnen zu geben von seiten der Kinder Israel, an dem Tage, da man sie salbte: eine ewige Satzung bei ihren Geschlechtern" (Kap. 7, 35. 36).

 

In diesen Dingen sehen wir wichtige Unterschiede zwischen dem Brand­opfer und dem Friedensopfer, die uns, wenn wir sie zusammen betrach­ten, die beiden Opfer mit größerer Klarheit erkennen lassen. Im Frie­densopfer finden wir etwas mehr als die Hingabe Christi in den Willen Gottes. Der Anbeter ist da, und zwar nicht nur als Zuschauer, sondern auch als Teilhaber, nicht nur um anzustaunen, sondern auch um zu ge­nießen. Das verleiht diesem Opfer einen ganz besonderen Charakter. Wenn ich den Herrn Jesus im Brandopfer betrachte, so erkenne ich Ihn als den, dessen Herz dem einen Zweck gewidmet war, Gott zu verherrlichen und den Willen Gottes zu erfüllen. Wenn ich Ihn dagegen im Dank‑ oder Friedensopfer schaue, so finde ich Einen, der in Seinem Herzen voller Liebe und auf Seiner kräftigen Schulter einen Platz hat

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*) Die "Brust" und der Schenkel" sind Sinnbilder der Liebe und Macht, der Zuneigung und Kraft.

**) Es liegt viel Kraft und Schönheit in dem 31. Vers des 7. Kapitels: "Die Brust soll Aaron und seinen Söhnen gehören." Es ist das Vorrecht aller wahren Gläubigen, sich zu nähren von den Zuneigungen Christi, von der unwandelbaren Liebe jenes Herzens, das ununterbrochen für sie schlägt.

 

für einen unwürdigen, hilflosen Sünder. Beim Brandopfer wurden Brust und Schultern, Beine und Eingeweide, Kopf und Fett auf dem Altar ver­brannt ‑ alles stieg als ein lieblicher Wohlgeruch zu Gott empor. Im Friedensopfer aber bleibt gerade das für mich übrig, was meinen Bedürf­nissen entspricht. Auch bin ich nicht allein gelassen, um mich einsam von dem zu nähren, was ich nötig habe. Keineswegs. Ich genieße es in Gemeinschaft ‑ in Gemeinschaft mit Gott und in Gemeinschaft mit meinen Mitpriestern. Ich genieße es mit der völligen und beglückenden Einsicht, daß dasselbe Opfer, das meine Seele nährt, schon das Herz Gottes erquickt hat, und zugleich, daß dasselbe Teil, das mich nährt, auch meinen Mitarbeitern zur Speise dient. Hier geht es um Gemein­schaft, Gemeinschaft mit Gott, Gemeinschaft mit den Heiligen. Im Friedensopfer hatte Gott Sein Teil, und auch die priesterliche Familie.

 

Ebenso ist es beim Gegenbild des Friedensopfers. Derselbe Jesus, wel­cher der Gegenstand der Wonne des Himmels ist, ist auch die Quelle der Freude, der Kraft und des Trostes für jedes gläubige Herz, und nicht nur für jedes Herz im einzelnen, sondern auch gemeinschaftlich für die ganze Kirche Gottes. Gott hat in Seiner unaussprechlichen Gnade Sei­nem Volke dasselbe Kleinod gegeben, das Er selbst besitzt. "Und zwar ist unsere Gemeinschaft mit dem Vater und mit seinem Sohne ' Christus" (i. Joh. 1, 3). Freilich können sich unsere Gedanken über den Herrn Jesus nie zu der Höhe der Gedanken Gottes erheben. Unsere Wertschätzung Christi wird immer weit hinter Seiner zurückbleiben. Darum konnte hier auch das Haus Aarons kein Teil an dem "Fett" haben. Aber obwohl wir uns niemals zu der Höhe der göttlichen Wert­schätzung der Person und des Opfers Christi erheben können, sind wir dennoch mit demselben Gegenstand beschäftigt, und darum bekam das Haus Aarons "die Brust des Webopfers" und "den Schenkel des Hebopfers". Wie ist das alles voll Trost und Freude für das Herz!

 

Der Herr Jesus, Er, "der tot war und lebendig ist von Ewigkeit zu Ewig­keit", ist jetzt der ausschließliche Gegenstand für das Auge und die Ge­danken Gottes, und in Seiner Gnade hat Gott auch uns ein Teil an die­ser gesegneten Person gegeben. Christus ist auch das Zentrum für unsere Herzen und für unser Lob, "nachdem er Frieden gemacht hat durch das Blut seines Kreuzes", ist Er gen Himmel gefahren und hat den Heiligen Geist herniedergesandt, jenen "anderen Sachwalter", durch dessen machtvollen Dienst wir uns von der "Brust" und dem "Schenkel" unseres göttlichen Friedensopfers nähren. Er ist in Wahrheit unser Friede, und es ist unsere höchste Freude zu wissen, daß das Wohl­gefallen Gottes an der Gründung unseres Friedens so groß ist, und daß der Wohlgeruch unseres Friedensopfers Sein Herz erquickt hat. Diese Tatsache verleiht diesem Bild eine ganz besondere Schönheit. Christus als Brandopfer ruft die Bewunderung des Herzens wach. Christus als Friedensopfer befestigt den Frieden des Gewissens und begegnet den tiefen und vielerlei Bedürfnissen der Seele. Die Söhne Aarons mochten den Altar des Brandopfers umringen. Sie mochten die Flammen dieses Opfers zu dem Gott Israels emporsteigen sehen. Sie mochten sehen, wie das Opfer selbst in Asche verwandelt wurde. Sie mochten beim An­schauen all dieser Vorgänge ihr Haupt neigen und anbeten ‑ aber für sich selbst trugen sie nichts davon. Beim Friedensopfer war es anders. Da schauten sie nicht nur das, was seinen Wohlgeruch zu Gott empor­sandte, sondern auch das, was ihnen einen wesentlichen Anteil gab, wovon sie sich in glückseliger und heiliger Gemeinschaft nähren konnten.

 

Es erhöht sicher den Genuß jedes wahren Priesters, wenn er weiß, daß, bevor er die Brust und den Schenkel erhält, Gott (um in der Sprache unseres Bildes zu reden) Seinen Teil bereits empfangen hat. Der Gedanke daran verleiht der Anbetung und Gemeinschaft Ausdruck und Kraft, Salbung und Erhabenheit. Er entfaltet die bewundernswerte Gnade dessen, der uns an demselben Gegenstand und an derselben Freude mit sich teilnehmen läßt. Nichts Geringeres, nichts weniger als das konnte Ihn zufriedenstellen. Es ist der Wille des Vaters, daß der verlorene Sohn in Gemeinschaft mit Ihm das gemästete Kalb genießt. Er will ihm keinen geringeren Platz anweisen als den an Seinem Tisch, und auch kein anderes Teil als das, was Er selbst genießt. Die Sprache des Friedensopfers ist: "Es geziemt sich fröhlich zu sein und sich zu freuen" ‑ "laßt uns essen und fröhlich sein!" Das ist kostbare Gnade Gottes. Ohne Zweifel haben wir als Teilhaber einer solchen Gnade alle Ursache, fröhlich zu sein, aber wenn wir Gott sagen hören: "Laßt .uns essen und fröhlich sein!‑ so sollte das in unseren Herzen ununter­brochen Lob und Dank hervorrufen. Die Freude Gottes an dem Heil der Sünder und Seine Freude an der Gemeinschaft der Heiligen wird sicher während der ganzen Ewigkeit die Bewunderung von Menschen und Engeln wachrufen.

 

Werfen wir jetzt noch einen Blick auf das Friedensopfer in Verbindung mit dem Speisopfer. Der Hauptunterschied zwischen diesen beiden Opfern besteht darin, daß bei dem ersten Blut vergossen wurde, während das beim Speisopfer nicht geschah. Beide waren Opfer "lieb­lichen Geruchs", und wie wir aus Kap. 7, 12 ersehen, waren beide eng miteinander verbunden. Doch sowohl die übereinstimmenden als auch die unterschiedlichen Merkmale sind voller Belehrung.

 

Nur in Gemeinschaft mit Gott kann die Seele an der Betrachtung des vollkommenen Menschen Jesus Christus ihre Wonne haben. Gott, der Heilige Geist, muß das Auge, durch das wir den "Menschen Christus Jesus" schauen, sowohl geben als auch durch das Wort leiten. Er mochte "in Gleichgestalt des Fleisches der Sünde geoffenbart sein. Er mochte auf dieser Erde leben und wirken, Er mochte inmitten der Finsternis dieser Welt all den Glanz himmlischer Schönheit ausstrahlen ‑ dennoch hätte Er während der ganzen Zeit außerhalb des Fassungsbereiches des Sünders bleiben können. Der Mensch konnte nicht in die tiefe Freude der Gemeinschaft mit all diesem eintreten, einfach weil kein Grund gelegt war, auf dem diese Gemeinschaft bestehen konnte. Im Friedens­opfer sehen wir diese Grundlage. "Und er soll seine Hand auf den Kopf seines Opfers legen und es schlachten an dem Eingang des Zeltes der Zusammenkunft; und die Söhne Aarons, die Priester, sollen das Blut an den Altar sprengen ringsum" (Kap. 3, 2). Hier haben wir das, was das Speisopfer nicht bietet, nämlich eine feste Grundlage für die Gemein­schaft des Anbeters mit der Fülle, Kostbarkeit und Schönheit Christi, insoweit er durch die Wirkung des Heiligen Geistes befähigt wird, in diese Dinge einzudringen. Auf dem Boden, den das kostbare Blut Christi" uns anweist, können wir mit beruhigtem Herzen und anbeten­dem Geist bei all den wunderbaren Szenen verweilen, die uns den Herrn als den vollkommenen Menschen zeigen. Würden wir Christus nur als Speisopfer kennen, so hätten wir kein Recht, Ihn zu betrachten und zu genießen. Hätte kein Blutvergießen stattgefunden, so gäbe es für den Sünder weder ein Anrecht noch einen Boden, auf dem er stehen könnte. Aber 3. Mose 7, 12 verbindet das Speisopfer mit dem Friedens­opfer und belehrt uns auf diese Weise, daß, wenn unsere Seelen Frieden gefunden haben, wir uns erfreuen können in Ihm, der Frieden gemacht hat, und der unser Friede ist.

 

Vergessen wir jedoch nicht, daß im Friedensopfer vom Sündentragen durchaus keine Rede ist, wenn auch das Blut des Opfertieres vergossen und gesprengt wurde. Betrachten wir Christus im Friedensopfer, so steht Er nicht vor uns als der Träger unserer Sünden, wie in den Sünd ‑ und Schuldopfern, sondern (indem Er sie getragen hat) als der Grund unse­rer friedvollen und glücklichen Gemeinschaft mit Gott. Wenn es sich um Sündentragen handelte, so könnte nicht gesagt werden: "Es ist ein Feueropfer lieblichen Geruchs dem HERRN." (vergl. Kap. 3, 5 mit Kap. 4, 10‑12). Doch obgleich hier kein Gedanke an Sündentragen ist, so ist dennoch reichliche Vorsorge für den getroffen, der sich als Sünder kennt. Anders könnte er kein Teil daran haben. Um Gemeinschaft mit Gott zu haben, müssen wir "in dem Lichte" sein, und wie ist das möglich? Nur aufgrund der Wahrheit, daß das Blut Jesu Christi, Seines Sohnes, uns von aller Sünde reinigt (i. Joh. 1, 7). Je mehr wir in dem Licht bleiben, um so tiefer werden wir fühlen, was dem Licht zuwider ist, und wir werden den Wert des Blutes höher schätzen, das uns be­rechtigt, dort zu sein. je inniger wir mit Gott unseren Weg gehen, um so mehr werden wir "den unausforschlichen Reichtum des Christus" kennenlernen.

 

Es ist notwendig, in der Wahrheit befestigt zu sein, daß wir nur als Teilhaber des göttlichen Lebens und als solche, die in der göttlichen Gerechtigkeit stehen, in der Gegenwart Gottes weilen können. Der Vater konnte den verlorenen Sohn nicht anders an Seinem Tisch haben, als bekleidet mit dem "besten Kleide" und in der ganzen Tragweite jener Beziehungen, in denen Er ihn betrachtete. Wäre der Sohn in seinen Lumpen geblieben, oder hätte er als "ein Tagelöhner" im Hause einen Platz gefunden, so würden wir nie die herrlichen Worte gehört haben: "Laßt uns essen und fröhlich sein; denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, war verloren und ist gefunden worden." So ist es mit allen wahren Gläubigen. Ihre alte Natur existiert nicht mehr vor Gott. Gott hält sie für tot, und dasselbe sollen auch sie tun. Sie ist tot für Gott, tot für den Glauben. Nicht durch Veredelung un­serer alten Natur, sondern als ein Besitzer einer neuen Natur sind wir in die Gegenwart Gottes gekommen. Der verlorene Sohn erhielt nicht durch Ausbesserung der Lumpen seines früheren Zustandes einen Platz am Tisch des Vaters, sondern dadurch, daß er mit einem Gewand beklei­det wurde, das er zuvor nie gesehen, an das er nie gedacht hatte. Er brachte dieses Kleid nicht mit aus dem "fernen Lande", noch hatte er es sich unterwegs besorgt. Der verlorene Sohn machte es nicht, noch half er bei seiner Herstellung, sondern der Vater hatte es im Hause für ihn bereit und freute sich, ihn damit bekleidet zu sehen. Und dann setzten sie sich zusammen nieder, um in glücklicher Gemeinschaft das gemästete Kalb zu essen.

 

Im "Gesetz des Friedensopfers" (Kap. 7, 11‑21) finden wir einige andere Besonderheiten von großem Interesse.

 

Zunächst ist es sehr wichtig, daß wir den Unterschied zwischen der Sünde im Fleische und der Sünde auf dem Gewissen klar verstehen. Wenn wir diese beiden Dinge miteinander vermengen, so muß unser Friede und unsere Anbetung geschwächt werden. 1. Joh. 1, 8‑10 ist für das Verständnis dieser Fragen und der ganzen Lehre des Friedensopfers besonders wichtig. Niemand wird sich der in ihm wohnenden Sünde so bewußt sein, wie der, der im Licht wandelt. "Wenn wir sagen, daß wir keine Sünde haben, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns." Im vorhergehenden Vers lesen wir: "Das Blut Jesu Christi, seines Sohnes, reinigt uns von aller Sünde." In diesen Versen wird der Unterschied zwischen der Sünde in uns und der Sünde auf uns klar herausgestellt. Zu sagen, daß der Gläubige in der Gegenwart Gottes Sünde auf sich habe, hieße die reinigende Wirkung des Blutes Jesu in Frage stellen und die Wahrheit des göttlichen Zeugnisses leugnen. Wenn das Blut Jesu vollkommen zu reinigen vermag, dann ist das Gewissen des Gläubigen vollkommen gereinigt. So spricht das Wort Gottes darüber, und es ist doch klar, daß wir nur von Gott selbst er­fahren können, was die wirkliche Stellung des Gläubigen in Seinen Augen ist. Von Natur aus neigen wir dazu, uns mit uns selbst zu be­schäftigen und dann Gott zu sagen, was wir in uns selbst sind; aber es ist viel wichtiger, daß wir Ihm erlauben, daß Er uns sagt, was wir vor Ihm in Christus sind. Mit anderen Worten, wir bleiben so leicht bei dem stehen, was wir in uns selbst sehen an Schwachheit und Zukurzkom­men; entscheidend aber ist das, was Gott von sich selbst offenbart. Sein Wort gibt den Ausschlag. Gott spricht zu uns aufgrund dessen, was Er in sich selbst ist, und was Er in Christus vollendet hat. Das ist die Natur und der Charakter Seiner Offenbarung, an die der Glaube sich klammert und die so die Seele mit Frieden erfüllt.

 

Dasselbe Wort aber, das uns sagt, daß wir vor Gott keine Sünde auf uns haben, sagt uns auch, daß wir Sünde in uns haben. "Wenn wir sagen, daß wir keine Sünde haben, so betrügen wir uns Selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns" (i. Joh. :t, 8). jeder, der "Wahrheit" in sich hat, wird wissen, daß auch "Sünde" in ihm ist. Denn die Wahrheit offenbart alles, wie es ist. Was haben wir nun zu tun? Es ist unser Vorrecht, so in der Kraft der neuen Natur unseren Weg zu gehen, daß sich die "Sünde", die in uns wohnt, nicht in der Form von "Sünden" offenbart. Die Stellung des Christen vor Gott ist eine Stellung des Sieges und der Freiheit. Er ist nicht nur von der Schuld der Sünde, son­dern auch von der Sünde als dem alles beherrschenden Prinzip in seinem

 

Leben befreit. "Indem wir dieses wissen, daß unser alter Mensch mitgekreuzigt worden ist, auf daß der Leib der Sünde abgetan sei, daß wir der Sünde nicht mehr dienen. Denn wer gestorben ist, ist freige­sprochen von der Sünde ... So herrsche denn nicht die Sünde in eurem sterblichen Leibe, um seinen Lüsten zu gehorchen ... Denn die Sünde wird nicht über euch herrschen, denn ihr seid nicht unter Gesetz, son­dern unter Gnade" (Röm. 6, 6‑14). Die Sünde ist da in ihrer ganzen ursprünglichen Häßlichkeit, aber der Gläubige ist für die Sünde tot. Wie ist das möglich? Er starb in Christus. Von Natur war er tot in Sünde. Durch die Gnade ist er der Sünde gestorben. Welche Forderun­gen könnte irgend etwas oder irgend jemand an einen toten Menschen stellen? Gar keine. Christus "ist ein für allemal der Sünde gestorben", und der Gläubige starb mit Ihm. "Wenn wir aber mit Christo gestorben sind, so glauben wir, daß wir auch mit ihm leben werden, da wir wissen, daß Christus, aus den Toten auferweckt, nicht mehr stirbt; der Tod herrscht nicht mehr über ihn. Denn was er gestorben ist, ist er ein für allemal der Sünde gestorben; was er aber lebt, lebt er Gott" (Röm. 6, 8‑10). Was folgt hieraus im Blick auf die Gläubigen? Also auch ihr, haltet euch der Sünde für tot, Gott aber lebend in Christo Jesu." Das ist die unwandelbare Stellung des Gläubigen vor Gott; es ist sein heiliges Vorrecht, Befreiung von der Sünde zu genießen; sie wohnt noch in ihm, aber sie herrscht nicht mehr über ihn.

 

Wenn nun aber jemand sündigt, was ist dann zu tun? Der Heilige Geist gibt uns durch den Apostel die Antwort: "Wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, daß er uns die Sünden vergibt und uns reinigt von aller Ungerechtigkeit" (i. Joh. 1, 9). Das Bekenntnis ist der Weg, auf dem das Gewissen frei erhalten wird. Der Apostel sagt nicht "Wenn wir um Verzeihung bitten, so ist Er gnädig und barm­herzig, uns zu vergeben." Ohne Zweifel ist es immer beglückend für ein Kind, dem Vater seine Not ins Ohr flüstern, ihm von seiner Schwachheit erzählen, ihm seine Torheiten und Gebrechen bekennen zu können, und ebenso wahr ist es, daß unser Vater sehr gnädig und barmherzig ist und Seinen Kindern in all ihrer Schwachheit und Un­wissenheit entgegenkommt. Aber während das alles so ist, erklärt der Heilige Geist doch durch den Apostel, daß, "wenn wir bekennen“, Gott "treu und gerecht" ist, die Sünden zu vergeben. Bekennen ist also der göttliche Weg. Ein Christ, der gefehlt hat, könnte Wochen, ja, Monate lang um Vergebung bitten, ohne aus 1. Joh. 1, 9 die Zuversicht zu erlangen, daß ihm vergeben ist, sobald er aber in Wahrheit seine Sünde vor Gott bekennt, ist es eine einfache Sache des Glaubens, zu wissen daß ihm vergeben und daß er gereinigt ist.

 

Es besteht ein großer Unterschied zwischen dem "Bitten um Vergebung" und dem "Bekennen unserer Sünden", ob wir die Sache nun in 13ezie­hung zu dem Charakter Gottes, oder zu dem Opfer Christi, oder zu dem Zustand unserer Seele betrachten. Es ist sicher möglich, daß das Gebet eines Menschen das Bekenntnis seiner Sünde, welcher Art diese auch sein mag, in sich schließt und also die Sache auf eins hinausläuft. Aber es ist immer gut, uns in allem genau an das Wort Gottes zu halten. Wenn der Heilige Geist von Bekennen spricht, meint Er nicht Bitten. Das Bekennen enthält eben moralische Elemente und erzielt praktische Ergebnisse, die nicht zum Bitten um Vergebung gehören. Tatsächlich hat man oft gefunden, daß sich in der Gewohnheit, Gott um Vergebung der Sünden zu bitten, große Unwissenheit zeigte, sowohl hinsichtlich des Weges, in welchem Gott sich in der Person und dem Werke Christi geoffenbart hat, als auch betreffs des Verhältnisses, in welches das Opfer Christi den Gläubigen versetzt hat, sowie schließlich bezüglich der Weise Gottes, das Gewissen von der Last der Sünde zu befreien und von ihrer Befleckung zu reinigen.

 

Gott ist, was die Sünden des Gläubigen betrifft, durch das Kreuz Christ" vollkommen zufriedengestellt worden. An jenem Kreuz wurde für alle Art von Sünde, sei sie in der Natur des Gläubigen, oder auf seinem Gewissen, ein vollkommenes Versöhnungswerk dargebracht. Gott be­darf keiner weiteren Sühne. Er bedarf keines Antriebs, um Sein Herz zu dem Gläubigen hinzuneigen. Wir haben nicht nötig, Ihn anzuflehen, "treu und gerecht" zu sein, wenn Seine Treue und Gerechtigkeit durch den Tod Christi so herrlich entfaltet und befriedigt worden sind. Un­sere Sünden können nie in die Gegenwart Gottes kommen, weil Chri­stus, der sie alle trug und hinwegtat, an ihrer Stelle dort ist. Wenn wir aber sündigen, so wird unser Gewissen es fühlen und muß es fühlen, ja, der Heilige Geist selbst wird dieses Gefühl in ‑uns wach­rufen. Er kann nicht erlauben, daß ein einziger leichtsinniger Gedanke ungerichtet bleibt. Und was dann? Hat sich unsere Sünde einen Weg in die Gegenwart Gottes gebahnt? Hat sie ihren Platz in dem ungetrüb­ten Licht des inneren Heiligtums gefunden? 0 nein, "der Sachwalter" ist dort, "Jesus Christus, der Gerechte", um das Verhältnis, in dem wir stehen, unversehrt aufrecht zu erhalten. Aber obgleich die Sünde die Gedanken Gottes in bezug auf uns nicht zu verändern vermag, so kann sie doch unsere Gedanken in bezug auf Gott verändern, und sie tut dies tatsächlich. *) Obschon sie sich keinen Weg in die Gegenwart Gottes zu bahnen und den Sachwalter nicht vor dem Auge Gottes zu verbergen vermag, so kann sie Ihn doch unseren Blicken entziehen. Sie sammelt sich gleich einer dunklen, schweren Wolke an unserem geist­lichen Horizont, so daß unsere Seelen sich nicht an dem Licht des Vaterantlitzes Gottes zu erfreuen vermögen. Sie kann unser Verhältnis zu Gott nicht antasten, aber sie kann unsere Freude an Ihm sehr empfindlich stören. Was haben wir daher zu tun? Die Schrift antwor­tet: "Wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, daß er uns die Sünden vergibt und uns reinigt von aller Ungerechtigkeit­(i. Joh. 1, 9). Durch das Bekenntnis wird unser Gewissen gereinigt das liebliche Bewußtsein unseres Verhältnisses zum Vater wiederher­gestellt, die dunkle Wolke zerstreut, und unsere Gedanken über Gott werden wieder zurechtgebracht. Das ist die Weise Gottes, mit uns zu handeln, und wir können in Wahrheit sagen, daß ein Herz, das einmal den Platz des Bekenntnisses kennengelernt hat, auch die göttliche Kraft der Worte des Apostels fühlen wird: "Meine Kinder, ich schreibe euch dieses, auf daß ihr nicht sündiget" (i. Joh. 2, 1).

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*) Der hier behandelte Gegenstand läßt die wichtige und praktische Wahr­heit von Joh. 14, 21‑23 völlig unberührt, jene besondere Liebe des Vaters nämlich zu einem gehorsamen Kind, sowie die besondere Gemeinschaft eines solchen Kindes mit dem Vater und dem Sohne.

 

Weiterhin gibt es eine gewisse Art des Bittens um Vergebung, die be­weist, daß man den vollkommenen, in dem Kreuzesopfer gelegten Grund der Vergebung aus den Augen verloren hat. Wenn Gott Sünden vergibt, so muß Er, indem Er es tut, "treu und gerecht" sein. Es ist aber ganz klar, daß unsere Gebete, wie ernst und aufrichtig sie auch sein mögen, niemals die Grundlage der Treue und Gerechtigkeit Gottes bil­den können, wenn Er uns unsere Sünden vergibt. Das Werk am Kreuz allein war dazu imstande. Dort fanden die Treue und die Gerechtigkeit Gottes ihre Bestätigung, und zwar sowohl in Beziehung zu unseren tatsächlichen Sünden, als auch zu ihrer Wurzel in unserer Natur. Gott hat bereits "auf dem Holze" unsere Sünden in der Person unseres Stellvertreters gerichtet, und durch unser Bekenntnis richten wir uns selbst. Dies ist im Blick auf göttliche Vergebung und Wiederherstellung sehr wichtig. Die kleinste, nicht bekannte, nicht gerichtete Sünde auf dem Gewissen wird und muß unsere Gemeinschaft mit Gott stören. Nicht die Sünde in uns ist die Ursache dieser Störung. Wenn wir aber der Sünde gestatten, auf uns zu bleiben, so können wir keine Gemeinschaft mit Gott haben. Er hat unsere Sünden so völlig hinweggetan, daß Er uns einen Platz in Seiner Gegenwart einräumen kann, und solange wir in Seiner Gegenwart bleiben, wird uns die Sünde nicht beunruhigen. Sobald wir aber Seine Gegenwart verlassen und, sei es auch nur in Gedanken, eine Sünde begehen, so muß notwendig unsere Gemeinschaft so lange unterbrochen sein, bis wir durch ein Bekenntnis wieder von der Sünde befreit worden sind. Ich brauche wohl kaum zu bemerken, daß sich alles dieses auf das Opfer und die Fürsprache des Herrn Jesus Christus gründet.

 

Es besteht ein großer Unterschied zwischen dem Bekennen der Sünde und dem Bitten um Vergebung im Blick auf den Zustand des Herzens vor Gott und auf unser Gefühl über die Häßlichkeit der Sünde. Es ist viel leichter, in einer allgemeinen Weise um Vergebung unserer Sünden zu bitten, als diese Sünden zu bekennen. Bekenntnis schließt Selbst­gericht in sich. Ein Bitten um Vergebung tut das an und für sich nicht. Das allein würde schon genügen, um den Unterschied zu kennzeichnen. Das Selbstgericht ist eine der wertvollsten und heilsamsten Übungen des christlichen Lebens, und darum muß alles, was dem Selbstgericht dient, von jedem wahren Christen hoch geschätzt werden.

 

Der Unterschied zwischen einem bloßen "Bitten um Vergebung" und einem ehrlichen Bekennen der Sünde" tritt uns im Verkehr mit Kin­dern stets sehr deutlich vor Augen. Wenn ein Kind sich irgend etwas hat zu Schulden kommen lassen, so wird es ihm weit weniger schwer, seinen Vater um Vergebung zu bitten, als offen und rückhaltlos das Unrecht zu bekennen. Bei dem Bitten um Vergebung kann das Kind allerlei im Sinn haben, was das Gefühl über das Unrecht bei ihm ver­mindert. Es kann im geheimen den Gedanken nähren, daß der began­gene Fehler zwar nicht so tadelnswert sei, daß es sich aber doch gezieme, den Vater um Vergebung zu bitten, während bei einem Bekenntnis des begangenen Unrechts gerade jene so wichtige Sache, das Selbstgericht, vorhanden sein muß. Ferner kann das Kind bei der Bitte um Vergebung hauptsächlich durch den Wunsch geleitet werden, dadurch den Folgen seines Unrechtes zu entgehen, während verständige Eltern stets ver­suchen werden, ein wahres Gefühl über das begangene Böse hervorzu­rufen, und dieses Gefühl kann nur in Verbindung mit einem umfas­senden Bekenntnis des Fehlers, in Verbindung mit Selbstgericht, vor­handen sein.

 

Genauso verhält es sich auch bezüglich der Handlungsweise Gottes mit Seinen Kindern, wenn sie Unrecht tun. Er muß die ganze Sache ans Licht gebracht und völlig gerichtet sehen. Er will uns nicht nur dahin bringen, daß wir die Folgen der Sünde fürchten, sondern daß wir die Sache selbst hassen, weil sie häßlich ist in Seinen Augen. Würden wir, nachdem wir gesündigt haben, bloß infolge unseres Bittens Vergebung erlangen, so würde unser Gefühl über die Sünde und unser Abscheu vor ihr bei weitem nicht so groß, und demzufolge auch unsere Wertschät­zung der Gemeinschaft bei weitem nicht so tief sein. Welch eine Wir­kung dies alles auf unseren geistlichen Zustand, sowie auf unseren ganzen Charakter und praktischen Wandel ausüben muß, wird jedem erfahrenen Christen einleuchten. *)

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*) Vielleicht hat ein Leser in diesem Zusammenhang Schwierigkeiten im Blick auf den Fall von Simon dem Zauberer (Apostelgeschichte 8). Offensicht­lich kann aber einer, der "in Galle der Bitterkeit und in Banden der Ungerechtigkeit" ist, nicht als Vorbild für Kinder Gottes hingestellt werden. Sein Fall widerspricht absolut nicht der Lehre von 1. Joh. 1, 9. Er stand nicht im Kindesverhältnis, und deshalb kam für ihn die Sachwalterschaft Christi gar nicht in Frage. ‑ Ich möchte noch bemerken, daß die obigen Ausführungen sich nicht auf das sog. "Vaterunser" beziehen; es gehört nicht direkt zu unserem Thema. Wir müssen uns in jedem Fall davor hüten, starre Regeln aufzustellen. Wenn jemand unter dem Druck irgendwelcher Umstände zu Gott ruft, ‑ Er ist stets bereit zu hören und zu antworten.

 

Dieser ganze Gedankengang steht mit zwei in dem "Gesetz des Frie­densopfers" niedergelegten Grundsätzen in enger Verbindung.

 

In Kap. 7, 13 heißt es: "Nebst den Kuchen soll man gesäuertes Brot als Opfergabe darbringen", und doch lesen wir im 20. Vers desselben Kapitels: "Aber die Seele, welche Fleisch von dem Friedensopfer isset, das dem HERRN gehört, und ihre Unreinigkeit ist an ihr, selbige Seele soll ausgerottet werden aus ihren Völkern." Hier werden die beiden Dinge klar nebeneinandergestellt: Die Sünde in unserem Fleisch und die Sünde auf unserem Gewissen. Der "Sauerteig" war gestattet wegen der Sünde in der Natur des Anbeters, aber "Unreinigkeit" war verboten, weil keine Sünde auf dem Gewissen des Anbeters sein sollte. Wenn Sünde auf dem Gewissen liegt, kann von Gemeinschaft keine Rede sein. Gott hat der Sünde gegenüber, die Er in uns erblickt, durch das Blut der Versöhnung geeignete Vorkehrungen getroffen, und darum lesen wir in bezug auf das gesäuerte Brot im Friedensopfer: "Und man soll je eines davon, von der ganzen Opfergabe, dem HERRN als Hebopfer darbringen; dem Priester, der das Blut des Friedensopfers sprengt, ihm soll es gehören" (Kap. 7, 14). Mit anderen Worten: dem "Sauerteig" in der Natur des Anbeters war durch das "Blut" des Opfers vollkom­men begegnet. Der Priester, der das gesäuerte Brot empfing, mußte zugleich das Blut sprengen. Gott hat unsere Sünde für immer aus Seiner Gegenwart entfernt. Obwohl sie noch in uns ist, ist sie doch nicht der Gegenstand, auf dem Sein Auge ruht. Er sieht nur das Blut, und darum kann Er mit uns vorangehen und uns die ungehinderte Gemeinschaft mit sich gestatten. Aber wenn wir der in uns wohnenden "Sünde" erlauben, sich in irgendeiner Form von "Sünden" zu offenbaren, dann muß Bekenntnis, Vergebung und Reinigung stattfinden, bevor wir wieder von dem Fleisch des Friedens‑ oder Dankopfers essen dürfen. Das Ausrotten des Anbeters wegen Unreinigkeit entspricht in unseren Tagen der Aufhebung der Gemeinschaft des Gläubigen wegen nicht gerichteter Sünde. Der Versuch, in unseren Sünden mit Gott Gemein­schaft zu haben, wäre Gotteslästerung, denn er würde die Möglichkeit voraussetzen, daß Gott in Gemeinschaft mit der Sünde sein könnte. "Wenn wir sagen, daß wir Gemeinschaft mit ihm haben, und wandeln in der Finsternis, so lügen wir und tun nicht die Wahrheit" (i. Joh.:[, 6).

 

Das bisher Gesagte läßt uns erkennen, daß wir uns sehr täuschen, wenn wir uns einbilden, ein Beschäftigtsein mit unseren Sünden sei ein Zeichen von Geistlichkeit. Könnten die Sünden oder die Sünde je die Grundlage oder den Gegenstand unserer Gemeinschaft mit Gott bilden? Nein. Wir haben im Gegenteil gesehen, daß, solange die Sünde uns be­schäftigt, die Gemeinschaft unterbrochen sein muß. Die Gemeinschaft kann nur "im Lichte" sein, und sicher ist im Licht keine Sünde. Dort ist nichts zu sehen als das Blut, das unsere Sünden getilgt und uns nahe gebracht hat, sowie der Stellvertreter, der uns in dieser Stellung be­wahrt. Die Sünde ist für immer von jenem Boden entfernt, auf dem Gott und der Anbeter sich in heiliger Gemeinschaft befinden. Was machte den Gegenstand der Gemeinschaft zwischen dem Vater und dem verlorenen Sohne aus? Waren es die Lumpen des Sohnes? Waren es die Träber des "fernen Landes"? Keineswegs. Es war nicht irgend etwas, was der verlorene Sohn mitbrachte. Es war die reiche Vorsorge der väterlichen Liebe, "das gemästete Kalb“. Ebenso ist es mit Gott und jedem wahren Anbeter. Sie genießen miteinander in heiliger und erha­bener Gemeinschaft Ihn, dessen kostbares Blut sie in eine ewige Ver­bindung gebracht hat, und zwar in jenem Licht, in das keine Sünde je kommen kann.

 

Wir dürfen auch nicht denken, daß ein intensives Betrachten unserer Sünden oder ein Verweilen bei ihnen ein Zeichen wahrer Demut sei.

 

Eine schwermütige Kopfhängerei mag dadurch hervorgerufen werden, aber wahre Demut entspringt aus einer ganz anderen Quelle. Wann war der verlorene Sohn am tiefsten gebeugt? Als er in dem fernen Lande ..zu sich selbst kam", oder als er sich in den Armen des Vaters befand und die Schwelle des Vaterhauses überschritt? Ist es nicht offenbar, daß die Gnade, die uns zu den Höhen der Gemeinschaft mit Gott erhebt, auch allein imstande ist, uns in die Tiefen einer aufrichtigen Demut zu führen? Ohne Zweifel. Die Demut, die aus der Tilgung unserer Sünden entspringt, sollte stets tiefer sein als diejenige, welche aus der Entdek­kung unserer Sünden hervorgeht. Ersteres verbindet uns mit Gott, letz­teres hat es mit dem eigenen Ich zu tun. Um wahrhaft demütig zu sein, müssen wir unseren Weg mit Gott gehen in der Erkenntnis und der Kraft des Verhältnisses, in das Er uns versetzt hat. Er hat uns zu Seinen Kindern gemacht, und wenn wir uns nur als solche verhalten, so werden

wir demütig sein.

 

Bevor wir diesen Abschnitt verlassen, möchte ich eine Bemerkung in bezug auf das Abendmahl des Herrn machen, wo die Gemeinschaft der Versammlung in besonderer Weise zum Ausdruck kommt, und das deshalb mit Recht in Verbindung mit der Lehre vom Dankopfer betrach­tet werden kann. Wir können das Abendmahl nur dann einsichtsvoll feiern, wenn wir sehen, daß es ausschließlich um Danksagung geht. Es ist in ganz besonderem Sinn ein Fest der Danksagung, der Danksagung für eine vollbrachte Erlösung. "Der Kelch der Segnung, den wir segnen, ist er nicht die Gemeinschaft des Blutes des Christus? Das Brot, das wir brechen, ist es nicht die Gemeinschaft des Leibes des Christus" (l. Kor. 10, 16). Steht jemand unter dem Gefühl der Last seiner Sünde, so kann er unmöglich das Mahl des Herrn mit geistlichem Verständnis feiern, da ja dieses Fest der Ausdruck der vollständigen Tilgung der Sünde durch den Tod Christi ist. Ihr verkündiget den Tod des Herrn, bis er kommt" (i. Kor. 11, 26). In dem Tod Christi sieht der Glaube das Ende alles dessen, was unserer Stellung in der alten Schöpfung ange­hörte, und da das Mahl des Herrn diesen Tod verkündigt, so muß es auch als das Erinnerungszeichen der herrlichen Tatsache betrachtet werden, daß die Sündenlast des Gläubigen durch Ihn getragen und für immer beseitigt worden ist. Ja, das Abendmahl erklärt uns, daß die Sündenketten, die uns ehedem gebunden und gefesselt hielten, durch den Tod Christi gesprengt worden sind und uns nie wieder fesseln können. Wir versammeln uns um den Tisch des Herrn in der vollen Freude von 19berwindern. Wir blicken zurück auf das Kreuz, wo der Kampf gekämpft und der Sieg errungen wurde, und wir schauen vor­wärts auf die Herrlichkeit, wo wir die ganze Tragweite des Sieges er­kennen und genießen werden.

 

In der Tat, wir haben "Sauerteig" in uns, aber keine "Unreinigkeit" auf uns. Wir haben daher nicht auf unsere Sünden, sondern auf Ihn zu schauen, der sie auf dem Kreuz getragen und für immer hinweggetan hat. Wir dürfen uns freilich nicht "selbst betrügen" durch die törichte Einbildung, daß wir "keine Sünde" in uns hätten. Aber wir dürfen auch ebensowenig die Wahrheit des Wortes Gottes und die Wirksamkeit des Blutes Christi leugnen, indem wir uns die Freude der köstlichen Wahr­heit versagen, daß wir keine Sünde mehr auf uns haben, denn "das Blut Jesu Christi, seines Sohnes, reinigt uns von aller Sünde" ' Leider ist das Urteil vieler Christen über das Abendmahl des Herrn sehr un­klar. Mehr als alles andere verrät dies die Größe der Unwissenheit, die bezüglich der einfachsten Grundwahrheiten des Evangeliums herrscht. Wenn das Mahl des Herrn auf einen anderen Boden als den eines bewußten Heils, einer empfangenen Vergebung und einer bewußten Befreiung gestellt wird, muß die Seele in einen undurchdringlichen Nebel gehüllt werden. Das, was uns nur als ein Gedächtnis an Christus dienen sollte, wird dazu benutzt, Ihn beiseite zu schieben. Das, was eine vollbrachte Erlösung verherrlicht, wird als ein Mittel betrachtet, um die Erlösung zu erlangen. Auf diese Weise werden die Anordnungen Gottes mißbraucht und die Seelen geraten in Verwirrung und Irrtum.

 

Wie sehr unterscheidet sich hiervon die schöne Einsetzung des Friedens­opfers! Betrachten wir es in seiner bildlichen Bedeutung, so sehen wir, daß, sobald das Blut vergossen war, Gott und der Anbeter in friedlicher Gemeinschaft das Opfer genießen konnten. Nichts war weiter nötig. Der Friede war gemacht durch das Blut, und auf diesem Boden fand die Ge­meinschaft statt. Ein Zweifel hinsichtlich der Frage, ob Friede gemacht ist, muß jede Gemeinschaft aufheben. Wenn wir uns mit dem frucht­losen Versuch, Frieden mit Gott zu machen, beschäftigen, so sind uns Gemeinschaft oder Anbetung völlig fremde Dinge. Wenn das Blut des Friedensopfers nicht vergossen worden ist, so können wir uns unmög­lich von der Webebrust" oder der "Hebeschulter" nähren. Ist dagegen das Blut vergossen, dann ist der Friede bereits gemacht. Gott selbst hat ihn gemacht, und das ist für den Glauben genug. Und darum haben wir durch den Glauben Gemeinschaft mit Gott, und zwar in der Erkenntnis und der Freude der vollbrachten Erlösung. Wir genießen die Frische der Freude Gottes selbst in dem, was Er gewirkt hat, und nähren uns von Christus in der ganzen Fülle und Glückseligkeit der Gegenwart Gottes.

 

Dieser letzte Punkt steht mit einer anderen wichtigen Wahrheit, die im ..Gesetz des Friedensopfers" niedergelegt ist, in enger Verbindung. ..Und das Fleisch seines Dank‑Friedensopfers soll am Tage seiner Dar­bringung gegessen werden; er soll nichts davon liegen lassen bis an den Morgen" (Kap. 7, 15). Das will sagen. Die Gemeinschaft des Anbeters darf nie von dem Opfer getrennt werden, auf das sie gegründet ist. Solange man geistliche Kraft besitzt, diese Verbindung aufrecht zu erhalten, werden auch Anbetung und Gemeinschaft erhalten bleiben, aber auch nicht länger. Wir müssen in unserem Geiste, in den Zunei­gungen unseres Herzens und in der Erfahrung unserer Seele ganz nahe bei dem Opfer bleiben. Das wird unserer Anbetung Kraft und Ausdauer verleihen. Unsere Herzen mögen im Anfang irgendeiner gottesdienst­lichen Handlung wohl mit Christus beschäftigt sein, aber noch ehe wir ihr Ende erreichen, richten sich unsere Gedanken vielleicht auf das, was wir tun oder sagen wollen, oder auf die Personen, die uns anhören, und wir fallen auf diese Weise in etwas, was als eine "Ungerechtigkeit der heiligen Dinge" bezeichnet werden kann. Das ist sehr ernst und sollte uns zur Wachsamkeit anspornen. Wir können unsere Anbetung im Geist beginnen und im Fleisch enden. Es sollte daher stets unsere Sorge sein, daß wir über das Maß der Kraft, das der Geist uns zur Zeit dar­reicht, nicht hinausgehen, denn der Geist wird uns stets unmittelbar mit Christus beschäftigt halten. Wenn der Heilige Geist „fünf Worte" zur Anbetung oder zur Danksagung darreicht, so laßt uns diese fünf Worte sagen und dann still sein. Wenn wir weiter fortfahren, so essen wir das Fleisch unseres Opfers über die Zeit hinaus, und anstatt "an­genehm" zu sein, ist es in Wirklichkeit ein "Greuel". Laßt uns daran denken und wachsam sein. Es braucht uns nicht zu erschrecken. Gott will uns durch den Geist geleitet und bei all unserer Anbetung von Christus erfüllt sehen. Er kann nur das annehmlich finden, was göttlich ist, und darum will Er auch nur das von uns dargebracht sehen.

 

"Und wenn das Schlachtopfer seiner Opfergabe ein Gelübde oder eine freiwillige Gabe ist, so soll es an dem Tage, da er sein Schlachtopfer darbringt, gegessen werden; und am anderen Tage soll dann was davon übrig bleibt gegessen werden" (Kap. 7, 16). Wenn die Seele in "freiwilliger" Anbetung Gott naht, so wird eine solche Anbetung das Ergebnis eines größeren Maßes geistlicher Kraft sein, als wenn sie bloß aus einem gelegentlichen Gnadenbeweis hervorgeht, den man gerade erfahren hat. Wenn jemand eine besondere Gunst aus der Hand des Herrn zuteil geworden ist, so erhebt sich die Seele sogleich in Dank­sagung zu Gott. In diesem Fall ist die Anbetung durch jene Gunst her­vorgerufen und steht mit ihr in Verbindung, und damit endet sie auch. Wo aber das Herz durch den Heiligen Geist zu einer "freiwilligen" oder wohlbedachten Darbringung des Lobes geführt wird, da wird diese auch von länger dauernder Art sein. Immer aber wird alle wahre An­betung mit dem kostbaren Opfer Christi in Verbindung stehen.

 

"Und was vom Fleische des Schlachtopfers am dritten Tage übrigbleibt, soll mit Feuer verbrannt werden. Und wenn irgendwie vom Fleische seines Friedensopfers am dritten Tage gegessen wird, so wird es nicht wohlgefällig sein; wer es dargebracht hat, dem wird es nicht zugerech­net werden: ein Greuel wird es sein; und die Seele, die davon isset, wird ihre Ungerechtigkeit tragen" (Kap. 7, 17. 18). Nach dem Urteil Gottes hat nichts Wert, was nicht unmittelbar mit Christus in Verbin­dung steht. Da mag vieles sein, was wie Anbetung aussieht, was sich aber bei einer genaueren Betrachtung nur als eine Äußerung der natür­lichen Gefühle erweist. Die große Andacht, die vorhanden zu sein scheint, ist im Grunde vielleicht nichts als fleischliche Frömmigkeit. Viele Dinge können in religiöser Beziehung auf die Natur einwirken, wie z. B. ein schönes Gepränge, Zeremonien, Musik, Ornate, eine ansprechende Liturgie samt all den Reizen eines glänzenden Ritus, während wahre Anbetung im Geist vollständig fehlt. Ja, man kann sagen, daß gerade die Wünsche und Neigungen, die durch die anziehenden Formen eines sogenannten Gottesdienstes hervorgerufen und befriedigt werden, meist eine passendere Nahrung in der Oper oder im Konzertsaal finden würden. Diesen Dingen gegenüber müssen alle wachsam sein, die fest­halten: "Gott ist ein Geist, und die ihn anbeten, müssen in Geist und Wahrheit anbeten" (Joh. 4). Die sogenannte Religion hat die Auswüchse des Mittelalters hinter sich gelassen und schmückt sich mit Charme, mit Kultur, mit den Errungenschaften der modernen Welt. Bildhauerkunst, Musik und Malerei stehen ihr zu Diensten und so wiegt sie die gedan­kenlosen Massen in einen Schlummer, der erst durch die Schrecken des Todes, des Gerichts und des Feuersees sein Ende findet. Auch sie kann sagen: "Friedensopfer lagen mir ob, heute habe ich meine Gelübde bezahlt ... Mit Teppichen habe ich mein Bett bereitet, mit bunten Decken von ägyptischem Garn; ich habe mein Lager benetzt mit Myrrhe, Aloe und Zimmet" (Sprüche 7). So lockt die verdorbene, verweltlichte Religion alle, die nicht auf die Stimme der Weisheit, die vom Himmel her redet, hören wollen.

 

Lieber Leser, hüte dich vor diesem! Sieh zu, daß dein Gottesdienst un­trennbar mit dem auf dem Kreuz vollbrachten Werk verbunden ist. Sieh zu, daß Christus die Grundlage und der Gegenstand, und daß der Heilige Geist die Kraft deiner Anbetung ist. Trage Sorge, daß die äußere Kundgebung deiner Anbetung nicht über die innere Kraft hinausgeht. Es erfordert viel Wachsamkeit, um vor diesem Übel bewahrt zu bleiben. Wir rnögen ein Lied im Geist wahrer Anbetung beginnen und können, noch ehe wir das Lied zu Ende gesungen haben, aus Mangel an geist­licher Kraft in jenes Übel verfallen, das in unserem Bild dem Essen von dem Fleische des Friedensopfers am dritten Tage entspricht. Unsere einzige Sicherheit besteht darin, uns nahe zu Jesus zu halten. Wenn wir wegen eines besonderen Gnadenbeweises unsere Herzen in Danksagung erheben, so laßt es uns in der Kraft des Namens und des Opfers Christi tun. Wenn unsere Seelen in "freiwilliger" Anbetung nahen, so möge es in der Kraft des Heiligen Geistes geschehen. Auf diese Weise wird unser Gottesdienst jene Frische, jenen Wohlgeruch, jene Tiefe und Erhabenheit offenbaren, die sich ergeben müssen, wenn der Vater der Gegenstand, der Sohn die Grundlage und der Heilige Geist die Kraft unserer Anbetung ist.

 

Anmerkung ‑ Es ist beachtenswert, daß, obwohl das Friedensopfer als drittes in der Reihenfolge dasteht, uns sein "Gesetz" zuletzt gegeben wird, und das ist nicht ohne Bedeutung. In keinem Opfer wird die Gemeinschaft des Anbeters so völlig entfaltet wie im Friedensopfer. Im Brandopfer ist es Christus, wie Er sich selbst Gott opfert. Im Speisopfer haben wir Christus als den vollkommenen Menschen. Dann zeigt uns das Sündopfer, daß der Sünde in ihrer Wurzel völlig begegnet ist, wäh­rend wir im Schuldopfer die Antwort auf die im Leben geschehenen, tatsächlichen Sünden haben. Die Lehre von der Gemeinschaft des An­beters mit Gott wird allein im Friedensopfer entwickelt, und darum steht nach meiner Meinung das Gesetz dieses Opfers zuletzt. Es bildet den Schluß von allem und belehrt uns dadurch, daß, wenn es sich darum handelt, daß die Seele sich von Christus nährt, es ein vollkommener Christus sein muß, und zwar gesehen in jeder Hinsicht Seines Lebens, Seines Charakters, Seiner Person, Seines Werkes und Seiner Ämter, und daß ferner, wenn wir für immer mit der Sünde und den Sünden ab­geschlossen haben werden, wir uns die ganze Ewigkeit hindurch an Christus erfreuen und uns von Ihm nähren werden.

 

Kapitel 4 ‑ 5, 13

 

DAS SÜNDOPFER

 

Wir verlassen nun die Opfer „lieblichen Geruchs" und kommen zu den "Opfern für die Sünde". Wir finden sie in zwei Klassen eingeteilt, näm­lich in Sündopfer und Schuldopfer. Vom Sündopfer gab es drei oder, wenn man will, vier Arten, 1. das Opfer für den gesalbten Priester, 2. für die ganze Versammlung, 3. für einen Fürsten, und 4. für jemand vom Volke des Landes. Die beiden ersteren unterschieden sich bezüglich ihrer Gebräuche und Zeremonien nicht voneinander. (Vergl. V. 3‑12 mit V. 13‑21.) Das Ergebnis war dasselbe, ob der Stellvertreter der Gemeinde oder die Gemeinde selbst gesündigt hatte. In diesem Falle wurden drei Dinge davon berührt: die Wohnstätte Gottes in der Ver­sammlung, die Anbetung der Versammlung und das persönliche Gewis­sen, und da für diese drei das Blut so grundlegend wichtig war, finden wir in diesen beiden Arten des Sündopfers drei Verrichtungen mittels des Blutes. Zunächst wurde es siebenmal vor dem HERRN gesprengt gegen den Vorhang des Heiligtums hin". Dadurch wurde die Verbin­dung des HERRN mit dem Volk und Sein Wohnen in seiner Mitte sichergestellt. Dann lesen wir: "Und der Priester tue von dem Blute an die Hörner des Altars des wohlriechenden Räucherwerks, der im Zelte der Zusammenkunft ist, vor dem HERRN." Dies sicherte die Anbetung der Versammlung. Dadurch, daß das Blut auf den goldenen Altar" ge­bracht wurde, blieb die wahre Grundlage der Anbetung aufrechterhal­ten, so daß die Flamme des Weihrauchs und dessen Wohlgeruch be­ständig emporsteigen konnten. Endlich mußte der Priester "alles Blut des Farren an den Fuß des Brandopferaltars gießen, der an dem Eingang des Zeltes der Zusammenkunft ist". Hierdurch wurde den Bedürfnissen des persönlichen Gewissens völlig entsprochen, denn der eherne Altar war die Stätte des persönlichen Hinzunahens, der Ort, wo Gott dem Sünder begegnete.

 

In den beiden übrigen Arten des Sündopfers für einen „Fürsten" und für Jemand vom Volke des Landes" handelte es sich nur um das per­sönliche Gewissen, und darum wurde mit dem Blut nur eine Handlung vollzogen. Der Priester mußte es "an den Fuß des Brandopferaltars gießen" (vergl. V. 7 mit V. 25. 30). In diesem allem zeigt sich eine göttliche Genauigkeit. *)

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*) Der Unterschied zwischen dem Opfer für einen Fürsten" und dem für ,jemand vom Volke des Landes" bestand darin, daß für ersteren "ein Ziegen­bock ohne Fehl" und für letzteren "eine Ziege ohne Fehl" geschlachtet werden mußte. Die Sünde eines Fürsten übte natürlich einen größeren Einfluß aus als die einer gewöhnlichen Person, und darum war eine kräftigere Anwendung des Wertes des Blutes erforderlich. Im 5. Kapitel finden wir sogar Fälle, wie z. B. unbedachtsames Schwören oder das Anrühren von Unreinem, die eine noch geringere Anwendung des Sündopfers erlaubten. Hier war selbst ein Zehntel Epha Feinmehl zum Sündopfer" genügend, um Sühnung zu tun. Doch wie groß der Unterschied zwischen einer durch den Ziegenbock des Fürsten und einer durch die Handvoll Feinmehl des armen Mannes dargestellten Versöhnung auch sein mochte, so heißt es doch in beiden Fällen: "Und es wird ihm vergeben werden".

Kap. 5, 1‑13 gehört eigentlich zu Kapitel 4 und stellt mit ihm die Lehre des Sündopfers in allen seinen Teilen dar, von dem jungen Farren bis zur Hand. voll Feinmehl. Zu Beginn jeder Opferklasse finden wir die Worte: "Und der HERR redete zu Mose." Sie finden sich zu Beginn der Opfer des lieblichen Geruchs (Kap. 1, 1), dann zu Beginn des Sündopfers (Kap. 4, 1), ferner zu B es Schuldopfers für Versündigungen "an den heiligen Dingen des 1 i24 (Kap. 5, 15), und endlich zu Beginn des Schuldopfers für ein an dem Nächsten begangenes Unrecht.

Diese Einteilung ist wunderschön einfach und erleichtert sehr das Verständnis der verschiedenen Opferklassen. Die verschiedenen Grade in jeder Klasse ‑sei es ein junger Farre, ein Ziegenbock, eine Ziege, eine Taube, oder eine Handvoll Feinmehl ‑ scheinen ebenso viele verschiedene Anwendungen derselben großen Wahrheit zu sein.

 

Die Wirkung der persönlichen Sünde ging nicht über den Bereich des persönlichen Gewissens hinaus. Die Sünde eines Fürsten" oder Je­mandes vom Volke des Landes" konnte in ihrem Einfluß weder den ,Räucheraltar", den Ort der priesterlichen Anbetung, noch den Vorhang „des Heiligtums", die heilige Grenze der Wohnstätte Gottes in der Mitte Seines Volkes, berühren. Das ist beachtenswert. An der Stätte der priesterlichen Anbetung oder, mit anderen Worten, in der Versamm­lung sollte niemals von persönlichen Sünden oder Fehltritten die Rede sein. Diese Dinge müssen beim persönlichen Hinzunahen in Ordnung gebracht werden. Viele irren in dieser Beziehung. Sie erscheinen in der Versammlung oder an der Stätte der priesterlichen Anbetung mit einem befleckten Gewissen und ziehen so die ganze Versammlung herab und hindern ihre Anbetung. Wenn wir fehlen, was ja leider so vielfältig geschieht, dann laßt uns im Verborgenen mit unseren Fehlern zu Gott kommen, damit die wahre Anbetung und die wahre Stellung der Ver­sammlung stets lebendig und klar vor der Seele stehen.

 

Nach diesen allgemeinen Bemerkungen über die drei Arten des Sünd­opfers kommen wir zu den einzelnen Grundsätzen, die in der ersten Art entfaltet werden. Auf diesem Wege können wir uns ein Urteil über die Grundsätze bilden, die alle drei Arten kennzeichnen. Vorher möchte ich jedoch die Aufmerksamkeit des Lesers auf einen wichtigen Punkt in Kap. 4, 2 lenken. Ich meine die Worte: "Wenn jemand aus Versehen sündigt." Hier wird uns in Verbindung mit dem Sühnopfer des Herrn Jesus Christus eine gesegnete Wahrheit gezeigt. Wenn wir dieses Sühn­opfer betrachten, so entdecken wir weit mehr, als die bloße Befriedigung selbst des zartesten, empfindlichsten Gewissens. Es ist unser Vorrecht, das darin zu erblicken, was alle Anforderungen der göttlichen Heiligkeit, Gerechtigkeit und Majestät völlig befriedigt hat. Für die Heiligkeit der Wohnung Gottes, sowie für die Grundlage Seiner Verbindung mit Sei­nem Volk kann das Gewissen des Menschen, so zart es auch sein mag, nie zum Maßstab dienen. Es gibt viele Dinge, die von dem Gewissen des Menschen übersehen werden, viele Dinge, die der Kenntnis des Menschen entgehen, viele Dinge, die von seinem Herzen für ganz richtig gehalten werden mögen, während Gott sie nicht dulden kann, und die infolgedessen das Hinzunahen des Menschen zu Gott, sowie seine Anbetung und seinen Umgang mit Ihm verhindern. Hätte daher das Sühnungswerk Christi nur für solche Sünden vorgesorgt, die der Mensch selbst zu erkennen vermag, so würden wir noch sehr weit von dem wahren Grund des Friedens entfernt sein. Wir müssen verstehen, daß die Sünde, so wie Gott sie gemessen hat, gesühnt worden, und daß den Ansprüchen Seines Thrones vollkommen Genüge geschehen ist ‑ daß die Sünde, wie sie im Licht Seiner unwandelbaren Heiligkeit geschaut wird, auf göttliche Weise ihr Gericht gefunden hat. Das verleiht der Seele einen tief gegründeten Frieden. Sowohl für die Sünden des Gläu­bigen, die er aus Versehen, als auch für die, die er wissentlich begangen hat, ist Sühnung geschehen. Das Opfer Christi legte den Grund zu dem Verhältnis und der Gemeinschaft des Gläubigen mit Gott, und zwar gemäß der göttlichen Schätzung der an dieses Verhältnis geknüpften Ansprüche.

 

Es ist von großem Wert, ein klares Verständnis über diese Dinge zu haben. Wenn diese Seite des Versöhnungswerkes nicht verstanden wird, so kann weder ein fester Friede, noch ein richtiges Gefühl für die Fülle des Werkes Christi oder für die wahre Natur der darauf gegründeten Beziehungen vorhanden sein. Gott wußte, was der Mensch benötigte, um ohne Furcht in Seiner Gegenwart sein zu können, und auf dem Kreuz hat Er da in jeder Hinsicht Vorsorge getroffen. Eine Gemeinschaft zwischen Gott und dem Menschen wäre unmöglich gewesen, wenn nicht mit der Sünde gehandelt worden wäre gemäß den Gedanken Gottes über sie; denn wenn auch das Gewissen des Menschen Befriedigung gefunden hätte, so wäre doch immer wieder die Frage aufgetaucht: Ist Gott wirklich befriedigt worden? Und solange diese Frage nicht bejaht werden könnte, würde die Gemeinschaft unmöglich sein. *) Beständig würde sich uns der Gedanke aufdrängen, daß ja im täglichen Leben Dinge zutage treten, die die göttliche Heiligkeit nicht dulden kann. Freilich würden wir jene Dinge "aus Versehen" tun, aber das würde vor Gott, da Ihm ja alles bekannt ist, die Sache nicht ändern, und darum würde die Seele stets in Furcht und Zweifel sein. Allen diesen Dingen aber ist auf göttliche Weise durch die Tatsache, daß die Sünde gesühnt ist, begegnet worden, und zwar nicht nach dem Maßstab unse­res "Versehens", sondern nach der Kenntnis Gottes. Die Gewißheit hierüber verleiht dem Herzen und Gewissen völlige Ruhe.

 

Nichts kann des Menschen Unfähigkeit, der Sünde entgegenzutreten, besser beweisen, als die Tatsache, daß er "aus Versehen" sündigen kann. Wie könnte er einer Sache begegnen, deren er sich nicht bewußt ist? Wie könnte er sich von dem befreien, was nie in den Bereich seines Gewissens gekommen ist? Unmöglich! Wenn dem Menschen eine Sünde unbekannt ist, was kann er dann betreffs ihrer tun? Nichts. Er ist ebenso machtlos wie unwissend. Aber das ist nicht alles. Wenn nicht das Herz durch das Zeugnis der Heiligen Schrift zu der Gewißheit gebracht wird, daß die Forderungen der göttlichen Gerechtigkeit be­friedigt sind, so muß unbedingt ein Gefühl von Unruhe vorhanden sein,

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*) Ich möchte daran erinnern, daß der vorliegende Text nur von Versöhnung redet. Der Besitz der "göttlichen Natur" ist zur Gemeinschaft mit Gott un­bedingt nötig. Ich brauche nicht nur das Recht, Gott nahen zu dürfen, sondern auch eine Natur, die fähig ist, Ihn zu genießen. Jeder, der an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes glaubt, hat aber das eine wie das andere. (Siehe Joh. 1, 12. 13; 3, 36; 5, 24; 20, 31; 1. Joh. 5, 11‑13.)

 

und jedes Gefühl dieser Art stellt für unsere Anbetung, für unsere Gemeinschaft und unser Zeugnis ein großes Hindernis dar. Wenn ich wegen der Regelung der Sündenfrage noch beunruhigt bin, so kann ich nicht anbeten. Ich kann keine Gemeinschaft genießen, weder mit Gott noch mit Seinem Volk, und ebensowenig kann ich ein wirksamer Zeuge für Christus sein. Das Herz muß bezüglich der Vergebung der Sünde in Ruhe vor Gott sein, bevor wir Ihn "in Geist und Wahrheit anbeten" können. Liegt noch irgendeine Schuld auf dem Gewissen, so muß Furcht im Herzen sein, und ein mit Furcht erfülltes Herz kann kein glückliches oder anbetendes Herz sein. Nur aus einem Herzen, das mit der heiligen Ruhe, die das Blut Christi gibt, erfüllt ist, kann jene wahre Anbetung zum Vater emporsteigen. Derselbe Grundsatz gilt im Blick auf unsere Gemeinschaft mit dem Volk Gottes, sowie betreffs unseres Dienstes und unseres Zeugnisses unter den Menschen.

 

Wenn wir jetzt das Sündopfer mit dem Brandopfer vergleichen, so werden wir zwei ganz verschiedene Seiten von Christus entdecken. Natürlich ist es immer ein und derselbe Christus, und deshalb war das Opfer in jedem Fall "ohne Fehl". Das ist leicht zu verstehen. Von wel­chem Gesichtspunkt aus wir den Herrn Jesus auch betrachten mögen, immer stellt Er sich unseren Blicken als derselbe Reine, Heilige und Vollkommene dar. Freilich erniedrigte Er sich selbst in Seiner überströ­menden Gnade, um der Sündenträger Seines Volkes zu werden, aber der dies tat, war ein vollkommener, fleckenloser Christus. Die innere Vortrefflichkeit, die ungetrübte Reinheit und die göttliche Herrlichkeit unseres Herrn erscheinen ebenso klar im Sündopfer wie im Brandopfer. Welche Stellung Er auch einnimmt, welchen Dienst Er erfüllt, welches Werk Er vollbringt ‑ immer strahlt uns Seine persönliche Herrlichkeit in ihrem göttlichen Glanz entgegen.

 

Diese Wahrheit, daß wir im Brandopfer wie im Sündopfer denselben Christus finden, geht nicht nur aus der Tatsache hervor, daß das Opfer in jedem Fall "ohne Fehl" war, sondern findet auch in dem Gesetz des Sündopfers ihre Bestätigung. Wir lesen im 6. Kapitel: "Rede zu Aaron und zu seinen Söhnen und sprich: Dies ist das Gesetz des Sündopfers. An dem Orte, wo das Brandopfer geschlachtet wird, soll das Sündopfer geschlachtet werden vor dem HERRN, hochheilig ist es." Beide Bil er weisen also auf dasselbe große Gegenbild hin, obwohl sie den Herrn in solch entgegengesetzten Seiten Seines Werkes darstellen. Im Brand­opfer entspricht Christus den göttlichen Zuneigungen, im Sündopfer begegnet Er den Tiefen des menschlichen Bedürfnisses. Das eine stellt Ihn dar als den, der den Willen Gottes erfüllt, das andere als den, der die Sünde des Menschen trägt. In einem lernen wir die Kostbarkeit des Opfers, im anderen die Hassenswürdigkeit der Sünde kennen.

 

Bei der Betrachtung des Brandopfers bemerkten wir, daß es dargebracht wurde "zum Wohlgefallen für ihn vor dem HERRN" (Kap. 1, 3). Diese Worte fehlen beim Sündopfer. Das Brandopfer stellt uns Christus als den dar, der sich freiwillig, ohne Flecken, in Seinem ganzen kostbaren Wert Gott geopfert hat. Es war Seine Speise und Sein Trank, den Willen Gottes zu tun und Ihn nach jeder Richtung hin zu verherrlichen. im Sündopfer dagegen sehen wir eine ganz andere Seite der Wahrheit. Da erblicken wir Christus nicht als den, der "zum Wohlgefallen" für uns den Willen Gottes erfüllte, sondern als den, der jene schreckliche Sache, "Sünde" genannt, trägt, sowie als den, der alle ihre entsetzlichen Folgen erduldet, unter denen das Verbergen des Angesichtes Gottes eine der schrecklichsten war. Die Worte "zum Wohlgefallen für ihn" würden daher nicht mit dem Zweck des Geistes im Sündopfer in Einklang zu bringen sein. Ihr Vorhandensein in dem einen und ihr Fehlen in dem anderen Fall liefert einen Beweis für die göttliche Genauigkeit der Bilder des dritten Buches Mose.

 

Der soeben betrachtete Gegensatz erklärt zwei Aussprüche unseres Herrn oder bringt sie vielmehr in Übereinstimmung. Bei einer Gelegen­heit sagt Er: "Den Kelch, den mir der Vater gegeben hat, soll ich den nicht trinken?" und bei einer anderen: "Mein Vater, wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber" (Joh. 18, 11; Matth. 26, 39). Der erste dieser Aussprüche war die völlige Verwirklichung der Worte: "Siehe, ich komme, um deinen Willen, o Gott, zu tun“, mit denen Er Seinen Weg auf der Erde begann. Zugleich vernehmen wir darin die Sprache Christi als Brandopfer. Der zweite ist eine Äußerung Christi, als Er auf den Platz schaute, den Er als Sündopfer einnehmen sollte. Was dieser Platz war, und was er für Ihn, indem Er ihn einnahm, ent­hielt, werden wir im Laufe unserer Betrachtungen deutlicher erkennen. Es war Seine Wonne, den Willen Gottes zu tun, aber Er bebte vor dem Gedanken zurück, des Lichtes Seines Angesichts beraubt zu sein. Kein Opfer hätte Ihn in diesen beiden Stellungen zugleich darstellen können. Wir bedurften eines Bildes, um uns Ihn als den vorstellen zu können, dessen Freude es war, den Willen Gottes zu tun, und eines anderen, um uns Ihn als den vorzustellen, dessen heilige Natur vor den Folgen der Sünde zurückbebte, die Ihm zugerechnet wurde. Gott sei Dank! wir haben beides. Das Brandopfer zeigt uns die eine, das Sündopfer die andere Seite. Und das Sündopfer allein liefert uns das passende Bild von dem Herrn Jesus als dem, der jene Worte tiefster Seelenangst ausrief: "Wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber!" Nur hier finden wir Umstände, die solche Worte aus Seiner fleckenlosen Seele hervorkommen ließen. Der finstere Schatten des Kreuzes mit seiner Schande, seinem Fluch und dem Abgeschnittensein von dem Licht des Angesichtes Gottes ging an Seinem Geist vorüber, und Er vermochte es nicht anzuschauen, ohne auszurufen: "Wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber." Aber kaum war dieser Ausruf über Seine Lippen gekommen, da offenbarte sich Seine tiefe Unterwürfigkeit in den Worten: "Dein Wille geschehe!" Welch ein bitterer Kelch muß es ge­wesen sein, der ein völlig ergebenes Herz zu den Worten veranlaßte: "Er gehe an mir vorüber"! Und welch eine vollkommene Unterwürfig­keit, die angesichts eines so schrecklichen Kelches von Herzen ausrufen konnte: "Dein Wille geschehe"!

 

Betrachten wir jetzt das "Händeauflegen". Diese Handlung kam bei beiden Opfern, beim Brand‑ und Sündopfer, vor, aber während sie bei dem ersteren den Opfernden mit einem fleckenlosen Opfer einsmachte, bedeutete sie bei dem letzteren die Übertragung der Sünde des Opfern­den auf das Haupt des Opfertieres.

 

Was wird uns nun in dem Händeauflegen vorgestellt? Christus wurde für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm" (2. Kor. 5, 21). Er nahm unsere Stellung mit allen ihren Folgen ein, damit wir Seine Stellung mit allen ihren Folgen einnehmen könn­ten. Er wurde auf dem Kreuz als Sünde behandelt, damit wir in Gegen­wart der unendlichen Heiligkeit als Gerechtigkeit behandelt werden könnten. Er wurde aus der Gegenwart Gottes verstoßen, weil Er durch Zurechnung die Sünde auf sich hatte, damit wir in das Haus Gottes und in Seinen Schoß aufgenommen werden könnten, weil wir durch Zurech­nung eine vollkommene Gerechtigkeit besitzen. Er mußte es erdulden, daß Gott Sein Angesicht vor Ihm verbarg, damit wir das Licht Seines Angesichts sehen könnten. Er mußte durch jene drei schrecklichen Stun­den der Finsternis gehen, damit wir in ewigem Licht wandeln möchten. Er wurde von Gott verlassen, damit wir Seine Gegenwart für immer genießen möchten. Alles, was uns als verderbten Sündern gebührte, wurde auf Ihn gelegt, damit alles, was Ihm, dem Vollender des Erlösungswerkes, gebührte, unser Teil werden möchte. Alles war gegen Ihn, als Er am Fluchholz hing, damit nichts gegen uns sein möchte. Er wurde in Gericht und Tod mit uns einsgemacht, damit wir in Leben und Gerechtigkeit mit Ihm einsgemacht würden. Er trank den Kelch des Zornes, den Kelch des Zitterns, damit wir den Kelch des Heils, den Kelch unendlicher Gunst, trinken könnten. Er wurde nach unseren Ver­diensten behandelt, damit wir nach Seinen Verdiensten behandelt wer­den könnten.

 

Das ist die in dem Händeauflegen dargestellte Wahrheit. Hatte der Anbeter seine Hand auf den Kopf des Brandopfers gelegt, so handelte es sich nicht mehr um das, was er war oder was er verdiente, sondern allein um die Frage, was das Opfer nach dem Urteil des HERRN war. War das Opfer ohne Fehl, so war es auch der Opfernde. Wurde das Opfer angenommen, dann auch der Opfernde. Das Händeauflegen machte sie völlig eins in den Augen Gottes. Er betrachtete den Opfern­ den gleichsam mittels des Opfers. So war es beim Brandopfer. Beim Sündopfer war es umgekehrt. Sobald der Opfernde seine Hand auf das Opfer gelegt hatte, handelte es sich um das, was der Opfernde war und was er verdiente. Das Opfer wurde nach dem Verdienst des Opfernden behandelt. Im Sündopfer wurde die Sünde des Opfernden gesühnt, während im Brandopfer die Person des Opfernden Annahme fand. Ob­wohl daher beide Bilder das Händeauflegen gemeinsam hatten, und obwohl in jedem Falle dadurch das Einssein ausgedrückt wurde, war doch der Unterschied sehr groß und die Folgen denkbar verschieden. Der Gerechte wurde behandelt wie der Ungerechte, und der Ungerechte angenommen in dem Gerechten. "Christus hat einmal für Sünden ge­litten, der Gerechte für die Ungerechten, auf daß er uns zu Gott führe" (i. Petr. 3, 18). Das ist die Lehre. Unsere Sünden brachten Christus an das Kreuz. Er bringt uns zu Gott, und zwar in Seiner eigenen Annehm­lichkeit, als der Auferstandene aus den Toten, nachdem Er gemäß der Vollkommenheit Seines Werkes unsere Sünden hinweggetan hat. Er trug sie weit von dem Heiligtum Gottes hinweg, um uns nahe herzu, ja ins Allerheiligste führen zu können, in voller Freimütigkeit des Her­zens und mit einem Gewissen, das durch Sein kostbares Blut von jedem Sündenflecken gereinigt ist.

 

Im ersten Kapitel dieses Buches, beim Brandopfer, traten "die Söhne Aarons“ in Tätigkeit. Beim Sündopfer finden wir sie nicht. Als Priester hatten sie das Vorrecht, um den Altar her zu stehen und die Flamme eines angenehmen Opfers zum Herrn emporsteigen zu sehen. Beim Sünd­opfer aber steht nicht priesterliche Anbetung oder Bewunderung, son­dern das feierliche Gericht über die Sünde im Vordergrund, und darum treten hier die Söhne Aarons nicht in Erscheinung. Als überführte Sün­der haben wir es mit Christus als dem Gegenbild des Sündopfers zu tun. Als anbetende und mit den "Kleidern des Heils" bekleidete Priester betrachten wir Christus als das Gegenbild des Brandopfers.

 

Ferner wurde dem Brandopfer "die Haut abgezogen“, nicht aber dem Sündopfer. Auch mußte das Brandopfer "in seine Stücke zerlegt" wer­den, und "sein Eingeweide und seine Schenkel" wurden "mit Wasser gewaschen". Von alledem finden wir beim Sündopfer nichts. Schließlich mußte das Brandopfer auf dem Altar, das Sündopfer aber außerhalb des Lagers verbrannt werden.

 

Das sind wesentliche Unterschiede, hinter denen wir die Absicht des Heiligen Geistes suchen sollten. Vielleicht müssen wir dabei unsere Un­wissenheit eingestehen. Gleichgültigkeit solchen Unterschieden gegen­über wäre jedenfalls eine sehr bedauerliche Haltung; sollte der Heilige Geist sich bei der Inspiration Mühe gemacht haben, Dinge nieder­schreiben zu lassen, die wir für so wertlos halten, daß wir nicht einmal den Wunsch haben, sie zu verstehen? Das wäre eine glatte Geringschät­zung des göttlichen Autors; viel Segen würde uns dabei verlorengehen. Wie oft dürfen wir doch in den kleinsten Einzelheiten Gottes Weisheit bewundern und anbeten!

 

Beim Sündopfer steht die Sünde im Vordergrund, das, was Christus für uns wurde, und nicht das, was Er in sich selbst war. Wenn wir das im Auge behalten, erklären sich die oben erwähnten Unterschiede zwanglos durch den unterschiedlichen Charakter der beiden Opfer. Eine Handlung jedoch bringt auch im Sündopfer die persönliche An­nehmlichkeit Christi vor Gott lebendig zum Ausdruck. Wir finden sie in den Worten: "Und alles Fett von dem Farren des Sündopfers soll er von ihm abheben: das Fett, welches das Eingeweide bedeckt, und alles Fett, das am Eingeweide ist, und die beiden Nieren und das Fett, das an ihnen, das an den Lenden ist, und das Netz über der Leber: samt den Nieren soll er es abtrennen, so wie es abgehoben wird von dem Rinde des Friedensopfers; und der Priester soll es auf dem Brandopferaltar räuchern" (V. 8‑‑10). So wird also die innere Vortrefflichkeit Christi selbst im Sündopfer nicht übergangen. Das auf dem Altar verbrannte

 

Fett ist der Ausdruck der göttlichen Würdigung der Kostbarkeit der Person Christi, welchen Platz Er auch in vollkommener Gnade um unsertwillen oder an unserer Statt einnehmen mochte. Er wurde für uns zur Sünde gemacht, und das Sündopfer ist in dieser Beziehung das göttlich entworfene Bild von Ihm. Aber eben weil es der Herr Jesus Christus, der Auserwählte Gottes, Sein Heiliger, Sein reiner, flecken­loser und ewiger Sohn war, der zur Sünde gemacht wurde, so wurde das Fett des Sündopfers auf dem Altar als etwas verbrannt, was für jenes Feuer passend war, das die vollkommene göttliche Heiligkeit bildlich darstellte.

 

Aber selbst in diesem Punkt sehen wir, welch ein Gegenstand zwischen dem Sündopfer und dem Brandopfer bestand. Beim Brandopfer wurde, weil es Christus ohne jegliche Erinnerung an das Sündentragen dar­stellte, nicht nur das Fett, sondern das ganze Opfer auf dem Altar geräuchert, während dies beim Sündopfer nur mit dem Fett geschah, weil es sich um das Tragen der Sünden handelte, wiewohl Christus es war, der sie trug. Die göttliche Herrlichkeit der Person Christi leuchtet selbst aus den finstersten Schatten des Kreuzes hervor, an das Er sich als ein Fluch für uns nageln ließ. Die Häßlichkeit dessen, mit dem Er, in Ausübung der göttlichen Liebe, Seine Person in Verbindung brachte, konnte nicht verhindern, daß der liebliche Geruch Seiner Kost­barkeit zu dem Thron Gottes emporstieg. Auf diese Weise enthüllt sich das tiefe Geheimnis, wie das Angesicht Gottes sich vor dem ver­barg, wozu Christus gemacht wurde, und wie Sein Herz sich an dem erquickte, was Christus in sich selbst war. Das ist ein schöner und besonderer Zug des Sündopfers. Die glänzenden Strahlen der persön­lichen Herrlichkeit Christi brachen mitten aus der schrecklichen Finster­nis Golgathas hervor. Sein persönlicher Wert, dargestellt in den tiefsten Tiefen Seiner Erniedrigung, die Wonne Gottes an Ihm, vor dem Er zur Befriedigung Seiner Gerechtigkeit und Heiligkeit Sein Angesicht ver­bergen mußte, alles das wird in der Tatsache dargestellt, daß das Fett des Sündopfers auf dem Altar geräuchert wurde.

 

Nachdem wir gesehen haben, was mit dem Blut und mit dem Fett des Sündopfers geschehen mußte, wollen wir noch betrachten, was mit dem Fleisch des Sündopfers gemacht wurde. "Und die Haut des Farren und all sein Fleisch ... den ganzen Farren soll er hinausbringen außerhalb des Lagers an einen reinen Ort, nach dem Schutthaufen der Fettasche, und soll ihn auf Holzscheiten mit Feuer verbrennen; auf dem Schutt­haufen der Fettasche soll er verbrannt werden" (V. 11. 12). In dieser Handlung erblicken wir die Hauptkennzeichen des Sündopfers, durch die es sich sowohl vom Brandopfer als auch vom Friedensopfer unter­schied. Sein Fleisch wurde nicht, wie beim Brandopfer, auf dem Altar geräuchert, noch wurde es, wie beim Friedensopfer, von dem Priester oder von dem Anbeter gegessen. Es wurde gänzlich außerhalb des Lagers verbrannt. *) "Alles Sündopfer, von dessen Blut in das Zelt der Zusammenkunft gebracht wird, um im Heiligtum Sühnung zu tun, soll nicht gegessen werden; es soll mit Feuer verbrannt werden" (Kap. 6). "Denn von den Tieren, deren Blut für die Sünde in das Heiligtum hineingetragen wird durch den Hohenpriester, werden die Leiber außer­halb des Lagers verbrannt" (Hebr. 13, 11).

 

Bei einem Vergleich dessen, was mit dem Blut und was mit dem Fleisch oder dem Leib des Opfertieres geschah, treten zwei wichtige Dinge in unseren Gesichtskreis, nämlich Anbetung und Jüngerschaft. Das ins Heiligtum gebrachte Blut ist die Grundlage der Anbetung, und der außerhalb des Lagers verbrannte Leib die Grundlage der Jüngerschaft. Bevor wir mit ruhigem Gewissen und in Freimütigkeit des Herzens an­beten können, müssen wir, gestützt auf die Autorität des Wortes und durch die Kraft des Heiligen Geistes, wissen, daß die Sündenfrage durch das Blut des göttlichen Sündopfers für immer geregelt, daß Sein Blut vor den Herrn gesprengt, und daß allen Forderungen Gottes, sowie allen unseren Bedürfnissen als verlorene und schuldige Sünder für immer be­gegnet worden ist. Das gibt vollkommenen Frieden, und im Genuß dieses Friedens beten wir Gott an. Wenn ein Israelit damals sein Sünd­opfer dargebracht hatte, so war sein Gewissen zur Ruhe gebracht, inso­weit das Opfer Ruhe geben konnte. Freilich war es, als die Frucht eines zeitlichen Opfers, nur eine zeitliche Ruhe. Aber welche Art von Ruhe das Opfer auch zu schenken vermochte, der Opfernde durfte sie ge­nießen. Da nun unser Opfer ewig und göttlich ist, so ist auch unsere Ruhe ewig und göttlich. Wie das Opfer, so ist auch die darauf gegrün­dete Ruhe. Ein Jude hatte niemals ein für ewig gereinigtes Gewissen, weil er eben kein ewig wirksames Opfer hatte. Er konnte in einem ge­wissen Sinn sein Gewissen für einen Tag, für einen Monat oder für ein Jahr gereinigt haben, aber niemals für immer.

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*) Dies bezieht sich jedoch nur auf die Sündopfer, deren Blut ins Heiligtum getragen wurde. Es gab Sündopfer, von denen Aaron und seine Söhne aßen. (Vgl. das Gesetz des Sündopfers im 6. Kapitel und 4. Mose 18, 9. 10.)

 

„Christus aber, gekommen als Hoherpriester der zukünftigen Güter, in Verbindung mit der größeren und vollkommeneren Hütte, die nicht mit Händen gemacht (das heißt nicht von dieser Schöpfung ist), auch nicht mit Blut von Böcken und Kälbern, sondern mit seinem eigenen Blute, ist ein für allemal in das Heiligtum eingegangen, als er eine ewige Erlösung erfunden hatte. Denn wenn das Blut von Böcken und Stieren und die Asche einer jungen Kuh, auf die Unreinen gesprengt, zur Reinigkeit des Fleisches heiligt, wieviel mehr wird das Blut des Christus, der durch den ewigen Geist sich selbst ohne Flecken Gott geopfert hat, eure Ge­wissen reinigen von toten Werken, um dem lebendigen Gott zu dienen" (Hebr. 9, 11‑14).

 

Hier haben wir die volle, bestimmte Lehre des Neuen Testamentes. Das Blut von Böcken und Kälbern verschaffte eine zeitliche Erlösung. Dem Blut Christi verdanken wir eine ewige Erlösung. Das erstere reinigte äußerlich, das letztere innerlich. Jenes reinigte das Fleisch für eine Zeit, dieses das Gewissen für immer. Es handelt sich hier nicht um den Charakter oder den Zustand des Opfernden, sondern um den Wert des Opfers. Es handelt sich durchaus nicht darum, ob ein Christ ein besse­rer Mensch ist als ein Jude, sondern ob das Blut Christi besser ist als das Blut eines Stieres. Der Sohn Gottes teilt den ganzen Wert Seiner göttlichen Person dem Opfer mit, das Er dargebracht hat, und wenn das Blut eines Stieres das Fleisch für ein Jahr reinigte, "wieviel mehr" wird dann das Blut des Sohnes Gottes das Gewissen für immer reinigen! Wenn jenes Blut einige Sünden hinwegnahm, wieviel mehr wird dann dieses alle hinwegnehmen!

 

Wodurch aber war ein Israelit, nachdem er sein Sündopfer dargebracht hatte, innerlich zur Ruhe gebracht? Wie wußte er, daß die besondere Sünde, für die er geopfert hatte, vergeben war? Weil Gott gesagt hatte: "Es wird ihm vergeben werden." Der Friede seines Herzens bezüglich jener besonderen Sünde ruhte auf dem Zeugnis des Gottes Israels und auf dem Blut des Schlachtopfers. Ebenso ruht auch jetzt der Friede des Gläubigen bezüglich aller Sünden auf der Autorität des Wortes Gottes und auf dem kostbaren Blut Christi. Wenn ein Jude gesündigt hatte und sein Sündopfer darzubringen vernachlässigte, so mußte er "aus seinen Völkern ausgerottet werden". Wenn er aber seinen Platz als Sünder einnahm, wenn er seine Hand auf den Kopf eines Sündopfers legte, so wurde das Opfer an seiner Statt "ausgerottet", und er war insoweit frei. Das Opfer wurde behandelt nach dem Verdienst des Opfernden, und deshalb würde dieser, wenn er nicht überzeugt gewesen wäre, daß seine Sünden vergeben seien, Gott zu einem Lügner gemacht und das Blut des göttlich verordneten Sündopfers für nichts geachtet haben.

 

Und wenn das schon für jemand galt, der nur das Blut eines Bockes als Ruhestätte für sein Gewissen hatte, "wieviel mehr" findet das dann Anwendung auf alle, die in dem kostbaren Blut Christi Ruhe gefunden haben! Der Gläubige schaut in Christus den, der für alle seine Sünden gerichtet worden ist, den, der, als Er am Kreuze hing, die ganze Last seiner Sünden trug, den, der sich für jede Sünde verantwortlich gemacht hat und nun sicher nicht zur Rechten Gottes sitzen könnte, wenn die ganze Frage der Sünde nicht gemäß allen Anforderungen der Gerechtig­keit Gottes in Ordnung gebracht worden wäre. So bedingungslos nahm Christus auf dem Kreuz den Platz des Gläubigen ein, so gänzlich war dieser mit Ihm einsgemacht, und so völlig wurde Christus dort die Sünde des Gläubigen zugerechnet, daß jede Frage von Verantwort i ‑keit für den Gläubigen, jeder Gedanke an seine Schuld, jede Befürch­tung, dem Gericht und Zorn bloßgestellt zu werden, für ewig beseitigt ist. Auf dem Fluchholz wurde alles zwischen der göttlichen Gerechtig­keit und dem fleckenlosen Schlachtopfer geordnet, und nun ist der Gläubige so vollkommen mit Christus auf dem Thron einsgemacht, wie es Christus mit dem Gläubigen auf dem Kreuz war. Die Gerechtigkeit hat gegen den Gläubigen keine Anklage vorzubringen, weil sie keine Anklage gegen Christus vorzubringen hat. Und dabei bleibt es für immer. Könnte noch eine Anklage wider den Gläubigen erhoben wer­den, so wäre sowohl die Wahrheit des Einsgemachtseins Christi mit ihm auf dem Kreuz, als auch die Vollkommenheit des um seinetwillen voll­brachten Werkes Christi in Frage gestellt. Wenn damals ein Anbeter, nachdem er sein Sündopfer dargebracht hatte, auf dem Heimwege von irgend jemand wegen der besonderen Sünde, für die sein Opfer geblutet hatte, angeschuldigt worden wäre, was würde seine Antwort gewesen sein? "Die Sünde ist durch das Blut des Schlachtopfers hinweggetan worden, und der HERR hat gesagt: Es wird ihm vergeben werden." ‑Das Schlachtopfer war an seiner Statt gestorben, und er lebte an Stelle des Schlachtopfers.

 

So war es bei dem alttestamentlichen Bild. Und wenn bei dem Gegen­bild das Auge des Glaubens auf Christus als dem Sündopfer ruht, so schaut es in Ihm den, der vollkommen Sein vollkommenes menschliches Leben, das Er angenommen hatte, auf dem Kreuz dahingab, weil ihm dort und nur dort die Sünde zugerechnet wurde. Aber es schaut in Ihm auch den, der im Besitz der Macht des göttlichen und ewigen Lebens aus dem Grabe auferstand und jetzt dieses Sein göttliches und ewiges Auferstehungsleben allen denen mitteilt, die an Seinen Namen glauben. Die Sünde ist verschwunden, weil das Leben, an das sie geknüpft wurde, verschwunden ist, und anstatt eines mit der Sünde verbundenen Lebens besitzen jetzt alle wahren Gläubigen ein Leben, mit dem die Gerechtig­keit verbunden ist. In bezug auf das siegreiche Auferstehungsleben Christi kann von Sünde nicht mehr die Rede sein, und gerade dieses Leben ist es, das die Gläubigen besitzen. Es gibt kein anderes Leben. Alles außer ihm ist der Tod, weil alles unter der Macht der Sünde ist. "Wer den Sohn hat, hat das Leben", und wer das Leben hat, hat auch die Gerechtigkeit. Die beiden Dinge sind untrennbar miteinander ver­bunden, weil Christus beides, das eine wie das andere ist. Waren das Gericht und der Tod Christi am Kreuz Wirklichkeiten, dann sind auch das Leben und die Gerechtigkeit des Gläubigen Wirklichkeiten. War die Zurechnung der Sünde für Christus eine Wirklichkeit, so ist auch die Zurechnung der Gerechtigkeit für den Gläubigen eine Wirklichkeit. Das eine ist so wahr und so wirklich wie das andere. Wenn es nicht so wäre, dann wäre Christus vergeblich gestorben. Der wahre und unumstößliche Grund des Friedens besteht darin, daß den Forderungen der Natur Gottes bezüglich der Sünde vollkommen entsprochen worden ist. Der Tod Jesu hat sie alle befriedigt, auf ewig befriedigt. Und worin findet das erwachte Gewissen einen vollgültigen Beweis hierfür? In der Tat­sache der Auferstehung. Die Auferstehung Christi bestätigt die völlige Erlösung des Glaubenden, seine vollkommene Befreiung von jeder nur möglichen Forderung. Er ist "unserer Übertretungen wegen dahinge­geben und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt worden" (Röm. 4, 25). Wenn ein Christ nicht weiß, daß seine Sünde hinweggetan und zwar für immer hinweggetan ist, so bedeutet das eine Geringschätzung des Blutes seines göttlichen Sündopfers. Er leugnet damit die vollkom­mene Darbringung, das siebenmalige Sprengen des Blutes vor dem Auge Gottes.

 

Bevor wir weitergehen, noch eine persönliche Frage: Weißt du, ob deine Sünden vergeben sind? Hast du im Glauben deine Hand auf den Kopf des wahren Sündopfers gelegt? Oder klagt dein Gewissen dich noch an? Jeder Christ, auch der schwächste, darf sich aufgrund des Erlösungs­werkes Christi der vollen und ewig gültigen Vergebung seiner Sünden erfreuen. Wer anders lehrt, erniedrigt das Opfer Christi auf das Niveau von "Böcken und Stieren". Wenn wir nicht wissen können, ob uns unsere Sünden vergeben sind, wo bleibt dann die frohe Botschaft des Evangeliums? Sollte ein Christ in der Frage der Sündenvergebung gegenüber einem Juden benachteiligt sein? Der Jude wußte wenigstens, daß ihm durch das alljährliche Opfer für ein Jahr vergeben war.

 

Das Bewußtsein der vollen Vergebung ist grundlegend wichtig für die Anbetung. Es bewirkt nicht Selbstzufriedenheit, sondern Preis und Dank; es führt nicht zur Freude und zum Wohlgefallen an uns selbst, sondern zur Freude und zum Wohlgefallen an Christus. Wenn wir das Kreuz vor Augen behalten, können wir nicht oberflächlich oder leicht­fertig gegenüber der Sünde werden. Hat der Heilige Geist uns die Ge­wißheit geschenkt, daß die Sünden gesühnt sind, dann ist die Folge tiefer Abscheu vor der Sünde und eine echte Liebe zu Christus, Seinem Volk und Seiner Sache.

 

Betrachten wir jetzt, was mit dem Fleisch oder dem Leib des Opfertieres geschah, worin, wie bereits bemerkt, die wahre Grundlage der Jünger­schaft vorgebildet ist. "Den ganzen Farren soll er hinausbringen außer­halb des Lagers an einen reinen Ort, nach dem Schutthaufen der Fett­asche, und soll ihn auf Holzscheiten mit Feuer verbrennen; auf dem Schutthaufen der Fettasche soll er verbrannt werden" (V. 12). Diese Handlung ist von zwei Seiten zu betrachten. Zunächst bezeichnet sie den Platz, den der Herr Jesus als Träger unserer Sünden einnahm, und dann die Stätte, wohin Ihn die Welt in ihrem Haß verstieß. Auf diesen letzten Punkt möchte ich hier aufmerksam machen.

 

Die Anwendung, die der Apostel in Hebr. 13 von der Tatsache macht, daß Christus "außerhalb des Tores gelitten hat", ist praktisch sehr wichtig. "Deshalb laßt uns zu ihm hinausgehen, außerhalb des Lagers, seine Schmach tragend" (V. 13). Wenn die Leiden Christi uns den Ein­gang in den Himmel gesichert haben, so drückt die Stätte, wo Er gelitten hat, unsere Verwerfung von seiten der Welt aus. Sein Tod hat uns droben eine Stadt verschafft. Die Stätte Seines Leidens nimmt uns eine Stadt hienieden. *) Er litt "außerhalb des Tores" und zeigte dadurch,

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*) Der Epheserbrief liefert uns die erhabenste Beschreibung von dem Platz der Kirche droben, nicht nur betreffs des Anrechts auf ihn, sondern auch betreffs der Art und Weise, wie er ihr zuteil geworden ist. Das Anrecht grün­det sich ohne Frage nur auf das Blut. Die Art und Weise wird mit den Worten beschrieben: "Gott aber, der reich ist an Barmherzigkeit, wegen seiner vielen Liebe, womit er uns geliebt hat, als auch wir in den Vergehungen tot waren, hat uns mit dem Christus lebendig gemacht, ‑ durch Gnade seid ihr errettet, ‑ und hat uns mitauferweckt und mitsitzen lassen in den himm­lischen Örtern in Christo Jesu." (Eph. 2, 4‑6.)

 

daß Er Jerusalem als den damaligen Mittelpunkt des göttlichen Han­delns beiseite gesetzt hatte. Es gibt jetzt keinerlei geweihte Stätte mehr auf Erden. Christus hat als Dulder Seinen Platz außerhalb des Bereichs der Religion dieser Welt eingenommen, außerhalb ihrer Politik und alles dessen, was ihr angehört. Die Welt hat Ihn gehaßt und verworfen. Darum heißt es: "Laßt uns hinausgehen." Das ist der Wahlspruch in bezug auf alles, was der Mensch hier in der Form eines "Lagers", von welcher Art dieses auch sei, aufrichten mag. Wenn Menschen eine „heilige Stadt" bauen, so mußt du einen verworfenen Christus "außer­halb des Tores" suchen. Wenn Menschen, unter welchem Namen es auch sei, ein religiöses Lager aufrichten, so mußt du aus ihm "hinaus­gehen", um einen verworfenen Christus zu finden. Der blinde Aber­glaube sucht freilich unter den Ruinen Jerusalems eifrig nach irgend­welchen Reliquien von Christus. Er trachtet danach, die Stätte Seines Kreuzes und Seines Grabes zu entdecken und ihr Ehre zu erweisen. Die Habsucht der menschlichen Natur hat aus dem Aberglauben Nutzen gezogen und seit Jahrhunderten einen einträglichen Handel getrieben, unter dem listigen Vorwand, die sogenannten heiligen Stätten des Alter­tums zu verehren. Doch ein einziger Lichtstrahl von dem himmlischen Leuchter der Offenbarung reicht hin, um dir die Notwendigkeit zu zeigen, daß du aus diesem allem "hinausgehen" mußt, wenn du mit dem verworfenen Christus Gemeinschaft haben willst.

 

Wir dürfen nicht vergessen, daß die feierliche Aufforderung zum Hin­ausgehen" weit mehr in sich schließt, als ein bloßes Sichabwenden von den Ungereimtheiten eines unwissenden Aberglaubens oder den listigen Plänen menschlicher Habsucht. Es gibt viele, die die genannten Dinge in ihrem wahren Licht darstellen können, die aber weit von dem Ge­danken entfernt sind, der Aufforderung des Apostels Folge zu leisten. Wenn Menschen ein "Lager" aufrichten und sich um ein Banner scha­ren, das mit irgendeinem wichtigen Lehrsatz oder einer wertvollen Ver­ordnung geziert ist, wenn sie sich auf ein orthodoxes Glaubensbekennt­nis, auf ein klares Lehrsystem, auf feierliche religiöse Gebräuche berufen können, die das fromme Sehnen der Natur des Menschen befriedigen, so erfordert es viel geistliche Einsicht, um die wahre Tragweite der Worte: Laßt uns hinausgehen!" zu verstehen, sowie viel geistliche Entschiedenheit, um dieser Aufforderung zu folgen. Es lohnt sich, sie zu verstehen und demgemäß zu handeln, denn es ist gewiß, daß die Atmosphäre eines Lagers (mag seine Grundlage und sein Banner be­stehen, worin es will), für eine persönliche Gemeinschaft mit einem ver­worfenen Christus verderblich ist, und keine der sogenannten religiösen Vorteile können den Verlust dieser Gemeinschaft ersetzen. Unser Herz neigt stets dazu, in kalte Formen zu verfallen. Diese Neigung hat sich von jeher in den bekennenden Kirchen gezeigt. jene Formen mögen ihren Ursprung in wirklicher Kraft gehabt haben; aber die Versuchung liegt nahe, die bloße Form festzuhalten, während der Geist und die Kraft längst geschwunden sind. Grundsätzlich heißt das nichts anderes als ein Lager aufrichten. Das jüdische System konnte sich eines gött­lichen Ursprungs rühmen. Ein Israelit konnte auf den Tempel mit seinem Gottesdienst, seinem Priestertum, seinen Opfern und seinen ganzen Einrichtungen hinweisen und sagen, daß dies alles so von dem Gott Israels angeordnet worden sei. Er konnte, wie wir sagen, Kapitel und Vers für alles anführen, was mit dem System, zu dem er sich be­kannte, in Verbindung stand. Wo ist ein System, sei es aus dem Alter­tum, dem Mittelalter, oder der neueren Zeit, das solch hohe Ansprüche erheben, oder mit einem solchen Gewicht von Autorität auf das Herz einwirken könnte? Und dennoch wurde gerade den gläubigen Hebräern gesagt: "Laßt uns hinausgehen!"

 

Das ist eine äußerst ernste Sache. Sie geht uns alle an, weil wir alle die Neigung haben, uns aus der Gemeinschaft mit dem lebendigen Christus zu entfernen und in tote Formen zu versinken. Daher die praktische Kraft der Worte: "Laßt uns zu ihm hinausgehen!" Es heißt nicht. "Laßt uns von einem System zu einem anderen, von einer Art von Meinungen zu einer anderen gehen." Nein, wir sollen vielmehr von allem, was den Namen eines Lagers verdient, "zu ihm" hinausgehen, der "außerhalb des Tores gelitten hat". Der Herr Jesus ist heute ebenso außerhalb des Tores wie vor neunzehn Jahrhunderten, als Er dort litt. Was brachte Ihn in diese Stellung? Die religiöse Welt jener Zeit. Und die damalige re­ligiöse Welt ist nach Gesinnung und Grundsatz die religiöse Welt un­serer Tage. Die Welt ist und bleibt die Welt. "Es gibt nichts Neues unter der Sonne." Christus und die Welt sind nie eins. Die Welt hat sich in den Mantel des Christentums gehüllt, aber nur, um unter ihm ihren Haß gegen Christus in noch tödlicheren Formen zu entfalten.

 

Täuschen wir uns nicht! Wollen wir mit einem verworfenen Christus unseren Weg gehen, so müssen wir ein verworfenes Volk sein. Hat unser Herr "außerhalb des Tores“ gelitten, so können wir nicht erwar­ten, innerhalb des Tores zu herrschen. Wenn wir in Seinen Fußstapfen wandern, wohin werden sie uns führen? Ganz sicher nicht zu den Höhen dieser gottlosen, christuslosen Welt!

 

Unser Herr ist ein verachteter Christus, ein verworfener Christus, ein Christus außerhalb des Lagers. Darum gilt es, "zu ihm hinauszugehen, seine Schmach tragend!" Diese Welt hat den Geliebten gekreuzigt und haßt mit demselben ungeschwächten Haß noch heute Ihn, dem wir alles, unser gegenwärtiges und ewiges Glück, zu verdanken haben, und der uns mit einer Liebe liebt, die große Wasser nicht auszulöschen ver­mögen. Laßt uns daher nicht eine Sache anerkennen, die sich nach Sei­nem heiligen Namen nennt, aber in Wirklichkeit Seine Person, Seine Wahrheit, ja selbst die bloße Erwähnung Seiner Wiederkunft haßt. 'Laßt uns unserem abwesenden Herrn treu sein und Ihm leben, der für uns gestorben ist! Möchten wir Ihn, während unser Gewissen auf Sei­nem vollbrachten Werk ruht, von ganzem Herzen lieben, damit unsere Trennung von dem "gegenwärtigen bösen Zeitlauf" nicht nur eine Sache kalter Grundsätze, sondern die Entscheidung eines Herzens ist, das den Gegenstand seiner Liebe auf Erden nicht findet! Möge der Herr uns befreien von dem Einfluß der heutzutage so verbreiteten, sich heilig dünkenden, weltklugen Selbstsucht, die nicht ohne Religion sein möchte, die aber das Kreuz Christi haßt! Um dieser schrecklichen Form des *Bösen mit Erfolg entgegenzutreten, bedarf es nicht besonderer Ansich­ten, Grundsätze und Lehren, sondern einer tiefen Hingebung an die Person des Sohnes Gottes. Möchten wir uns nach Leib, Seele und Geist Seinem Dienst weihen und aufrichtig nach Seiner herrlichen Wieder­kunft verlangen!

 

Kapitel 5, 14 ‑ 7

 

VOM SÜNDIGEN "AUS VERSEHEN‑

 

Der vor uns liegende Abschnitt enthält zunächst die Lehre vom Schuld­opfer, von dem es zwei verschiedene Arten gab‑ Schuld gegen Gott und Schuld gegen Menschen. "Wenn jemand Untreue begeht und aus Versehen an den heiligen Dingen des HERRN sündigt, so soll er sein Schuldopfer dem HERRN bringen, einen Widder ohne Fehl vom Klein­vieh, nach deiner Schätzung an Sekeln Silber, nach dem Sekel des Hei­ligtums, zum Schuldopfer" (Kap. 5, 15). Hier haben wir einen Fall, wo "an den heiligen Dingen des HERRN" ein bestimmtes Unrecht began­gen worden war. Mochte es auch "aus Versehen" geschehen sein, so konnte es doch nicht übersehen werden. Gott kann jede Art von Schuld vergeben, aber Er kann nicht das geringste übersehen. Seine Gnade ist vollkommen, und darum kann Er alles vergeben. Seine Heiligkeit ist vollkommen, und darum kann Er nichts übersehen. Er kann keiner Art von Ungerechtigkeit Seine Zustimmung geben, aber Er kann sie aus­tilgen nach der Vollkommenheit Seiner Gnade und nach den vollkom­menen Forderungen Seiner Heiligkeit.

 

Es ist ein großer Irrtum, wenn man meint, daß es mit einem Menschen gut stehe, wenn er nur nach den Eingebungen seines Gewissens handelt. Der Friede, der auf einer solchen Grundlage ruht, wird sich als nichtig erweisen, sobald das Licht des Richterstuhls das Gewissen zu erleuchten beginnt. Gott kann unmöglich Seine Forderungen so stark reduzieren. Bei der Betrachtung des Sündopfers hatten wir bereits Gelegenheit, die­sen Punkt ins Auge zu fassen, doch kann er nicht genug betont werden. Zwei Dinge hängen eng damit zusammen. Zunächst ein richtiges Erfas­sen dessen, was Gottes Heiligkeit wirklich ist, und dann ein klares Verständnis der Grundlage für den Frieden eines Gläubigen in der Gegenwart Gottes.

 

Mag es sich um meinen Zustand oder um mein Verhalten, um meine Natur oder um meine Taten handeln, Gott allein kann Richter sein über das, was Ihm angemessen und was mit Seiner heiligen Gegenwart im Einklang ist. Kann menschliche Unwissenheit als Entschuldigungs­grund gelten, wenn es sich um eine Verletzung göttlicher Forderungen handelt? Unmöglich. Ein Unrecht ist begangen worden an den heiligen Dingen des HERRN, aber das Gewissen des Menschen hat kein Bewußt­sein davon. Was nun? Hat die Sache damit ihr Bewenden? Dürfen die Forderungen Gottes so leichthin abgetan werden? Sicherlich nicht. Das würde jede Beziehung zu Gott, welcher Art sie auch sein mag, unmög­lich machen. Die Gerechten werden aufgefordert, das heilige Gedächtnis des HERRN zu preisen (Ps 97, 12). Inwiefern können sie das tun? Weil ihr Friede auf dem Boden der vollkommenen Aufrechthaltung und Be­friedigung der Heiligkeit Gottes gesichert ist. je höher daher ihre Er­kenntnis von dieser Heiligkeit ist, um so tiefer und fester wird ihr Friede sein. Das ist eine überaus kostbare Wahrheit. Der nicht wiedergeborene Mensch kann sich niemals über die Heiligkeit Gottes freuen. Sein Be­streben wird stets dahin gehen, das Vorhandensein dieser Heiligkeit zu leugnen, oder, wenn er das nicht vermag, sie doch zu verringern. Er wird sich mit dem Gedanken trösten, daß Gott gütig, gnädig und barmherzig ist, aber niemals wird man finden, daß er sich darüber freut, daß Gott heilig ist. Er hat unheilige Gedanken bezüglich der Güte, der Gnade und Barmherzigkeit Gottes, und möchte gern in diesen Eigenschaften Gottes eine Entschuldigung finden, um in der Sünde verharren zu können.

 

Der Wiedergeborene hingegen freut sich über die Heiligkeit Gottes. Er erblickt ihren völligen Ausdruck in dem Kreuz des Herrn Jesus. Gerade diese Heiligkeit ist es, die den Grund zu seinem Frieden gelegt hat. Und nicht nur das, sondern er ist auch zu ihrem Teilhaber gemacht und erfreut sich in ihr, während er die Sünde haßt. Die göttliche Natur bebt vor der Sünde zurück und sehnt sich nach Heiligkeit. Unmöglich könnten wir wahren Frieden und wahre Freiheit des Herzens genießen, wenn wir nicht wüßten, daß allen Anforderungen im Blick auf "die heiligen Dinge des HERRN" vollkommen durch unser göttliches Schuld­opfer entsprochen worden ist. Stets würde das entmutigende Gefühl in unseren Herzen aufsteigen, jene Anforderungen durch unsere vielerlei Schwachheiten und Gebrechen vernachlässigt zu haben. Unsere besten Handlungen, unsere heiligsten Übungen werden wohl immer etwas, Aas nicht getan werden sollte", irgendeine Versündigung "an den hei­ligen Dingen des Herrn" an sich tragen. Wie oft werden die Stunden unserer öffentlichen Anbetung oder unserer Hausandacht durch Dürre und Zerstreutheit gehemmt und gestört! Wir brauchen daher die Ge­wißheit, daß allen unseren Vergehungen durch das kostbare Blut Christi auf göttliche Weise begegnet worden ist. In unserem hochgelobten Herrn finden wir den, der sich selbst erniedrigt hat, um allen unseren Bedürfnissen ‑ wir waren Sünder von Natur und Schuldner durch die Tat ‑ völlig zu entsprechen. In Ihm finden wir hinsichtlich aller unserer Sünden und aller unserer Vergehungen eine vollkommene Antwort auf alle Beschuldigungen unseres Gewissens und auf alle Forderungen der göttlichen Heiligkeit, so daß der Gläubige mit gereinigtem Gewissen und mit befreitem Herzen in dem vollen Licht jener Heiligkeit stehen kann, die zu rein ist, "um Böses zu sehen und Unheil anzuschauen".

 

"Und was er an dem Heiligen gesündigt hat, soll er erstatten und dessen Fünftel darüber hinzufügen und es dem Priester geben; und der Priester soll Sühnung für ihn tun mit dem Widder des Schuldopfers, und es wird ihm vergeben werden" (Kap. 5, 16). In der Hinzufügung des "Fünftels" finden wir einen Charakterzug des wahren Schuldopfers, der wohl zu wenig gewürdigt wird. Wenn wir an all das Böse und all die Vergehungen denken, deren wir uns dem Herrn gegenüber schuldig gemacht haben, und wenn wir uns ferner daran erinnern, wie Gott in dieser bösen Welt Seiner Rechte beraubt worden ist, mit welcher Dank­barkeit können wir dann das Werk am Kreuz betrachten, wodurch Gott nicht nur das Verlorene wiedererlangt, sondern wodurch Er in Wirk­lichkeit gewonnen hatl Er gewann durch die Erlösung mehr, als Er durch den Sündenfall verloren hatte. Er erntet auf den Feldern der Erlösung eine reichere Ernte an Herrlichkeit, Ehre und Lob, als Er je auf den Feldern der Schöpfung hätte ernten können. Die "Söhne Gottes" konn­ten angesichts der leeren Gruft Jesu einen erhabeneren Lobgesang an­stimmen, als sie es je angesichts des vollendeten Schöpfungswerkes getan hatten. Das Unrecht ist durch das Werk des Kreuzes nicht nur völlig gesühnt, sondern es ist auch ein ewiger Vorteil gewonnen worden. Welch eine bewundernswerte Wahrheit! Durch das auf Golgatha voll­brachte Werk ist Gott Gewinner. Wer hätte je so etwas erdenken können? Wenn wir den Menschen und die ihm unterworfene Schöpfung zu den Füßen des Feindes in Trümmern liegen sehen, wie könnten wir dann ahnen, daß Gott aus diesen Trümmern heraus eine reichere und edlere Beute sammeln würde, als die, welche eine nicht gefallene Welt je hätte liefern können? Für alles das sei der Name Jesu gepriesen! Ihm allein verdanken wir alles. Nur durch Sein Kreuz konnte eine so wunderbare, göttliche Wahrheit zum Ausdruck gelangen. Wirklich, dieses Kreuz schließt eine geheimnisvolle Weisheit in sich, eine Weis­heit, "welche keiner von den Fürsten dieses Zeitlaufs erkannt hat, denn wenn sie dieselbe erkannt hätten, so würden sie wohl den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt haben" (l. Kor. 2, 8). Kein Wunder, daß Propheten und Apostel, Märtyrer und Heilige in inniger Liebe stets dies Kreuz und den umklammert haben, der daran hing. Kein Wunder, daß der Heilige Geist das feierliche, aber gerechte Urteil verkündigt hat: "Wenn jemand den Herrn Jesus Christus nicht lieb hat, der sei Anathema; Maran atha!" (i. Kor. 16, 22). Ja, Himmel und Erde werden zu diesem Anathema ein lautes und ewiges Amen widerhallen lassen. Kein Wunder, daß es der feste und unwandelbare Vorsatz Gottes ist, "daß in dem Namen Jesu jedes Knie sich beuge, der Himmlischen und Irdischen und Unterirdischen, und jede Zunge bekenne, daß Jesus Christus Herr ist, zur Verherrlichung Gottes, des Vaters" (Phil. 2, 10.11).

 

jene Verordnung bezüglich des "Fünftels" fand auch ihre Anwendung auf ein an einem Menschen begangenes Vergehen, denn wir lesen: "Wenn jemand sündigt und Untreue wider den HERRN *) begeht, daß er seinem Nächsten ein anvertrautes Gut ableugnet oder ein Darlehn oder etwas Geraubtes ... und er soll es erstatten na(2ri seiner vollen Summe und dessen Fünftel darüber hinzufügen; wem es gehört, dem soll er es geben am Tage seines Schuldopfers."

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*) In dem Ausdruck "wider den HERRN` ist ein schöner Grundsatz enthalten. Obwohl von einem an dem Nächsten verübten Vergehen die Rede ist, sieht der HERR es doch als eine Schuld gegen sich selbst an. Alles muß in Beziehung zu dem HERRN betrachtet werden. Es tut nichts zur Sache, wer davon berührt wird, der HERR muß den ersten Platz haben. Als das Gewissen Davids wegen seiner Handlungsweise gegen Urija von dem Pfeil des Wortes Gottes durchbohrt und überführt wurde, rief er aus: "Ich habe gegen den HERRN gesündigt!" (2. Sam. 12, 13.) Dieser Grundsatz schwächt nicht im geringsten die Ansprüche des Menschen, dem die Beleidigung oder das Unrecht zugefügt worden ist.

 

Ob wir also an den Beleidigten oder an den Beleidiger denken, stets begegnen uns die herrlichen Triumphe der Erlösung, sowie die mäch­tigen praktischen Folgen, die jenem Evangelium entspringen, das die Seele mit der seligen Zuversicht erfüllt, daß "alle Vergehungen ver­geben sind, und daß die Wurzel, aus der sie hervorkamen, ihr Gericht empfangen hat. "Das Evangelium der Herrlichkeit des seligen Gottes" (i. Tim. 1, 11), ist allein imstande, einen Menschen zu einem Schauplatz hinzuführen, der einst Zeuge seiner Sünden, seiner Vergehungen und seiner bösen Wege war, ja, ihn zurückzuführen zu allen denen, die in irgendeiner Weise durch seine bösen Taten gelitten haben, und zwar ausgerüstet mit Gnade, um nicht nur das geschehene Unrecht wieder­gutzumachen, sondern in all seinem Tun praktische Wohltätigkeit an den Tag zu legen; ja, seine Feinde zu lieben, Gutes zu tun denen, die ihn hassen, und zu bitten für die, die ihn beleidigen und verfolgen. Das ist die kostbare Gnade Gottes! So handelt sie in Verbindung mit unse­rem großen Schuldopfer. Das sind ihre reichen Früchte!

 

Welch eine triumphierende Antwort auf die spitzfindige Frage des Fleisches: "Sollen wir in der Sünde verharren, auf daß die Gnade über­ströme?" Die Gnade hat nicht nur die Sünde in ihren Wurzeln getrof­fen, sondern sie verwandelt auch den Sünder aus einem Fluch in einen Segen, aus einer sittlichen Plage in einen Kanal göttlicher Barmherzig­keit, aus einem Abgesandten Satans in einen Boten Gottes, aus einem Kind der Finsternis in einen Sohn des Lichts, aus einem selbstsüchtigen Vergnügungsmenschen in einen sich selbst verleugnenden Freund Got­tes, aus einem Sklaven häßlicher Lüste und Begierden in einen willigen Diener Christi, aus einem kalten, engherzigen Geizhals in einen frei­9>ebigen Diener der Not seiner Mitmenschen. Man hört oft den Ein­wand: "Haben wir denn nichts zu tun? Ist das nicht ein wunderbar leichter Weg, um errettet zu werden? Kann man bei einem solchen Evangelium denn nicht leben, wie man will?" Mögen alle, die eine solche Sprache führen, jenen Dieb anschauen (Eph. 4, 28), der zu einem frei­gebigen Wohltäter wurde. Wirklich, sie kennen die Gnade nicht. Sie haben nie deren heiligenden und erhebenden Einfluß erfahren. Sie ver­gessen, daß, während das Blut des Schuldopfers das Gewissen reinigt, das Gesetz dieses Opfers den Schuldner zu dem zurückschickt, dem er Unrecht getan hat, und zwar nicht nur mit der "vollen Summe", son­dern auch mit einem "Fünftel" darüber in seiner Hand. Welch ein edles Zeugnis von der Gnade und der Gerechtigkeit des Gottes Israels! Und welch eine herrliche Darstellung der Ergebnisse jenes wunderbaren Heilsplanes, durch den dem Beleidiger vergeben wird und der Beleidigte einen tatsächlichen Gewinn erlangt! Wenn das Gewissen bezüglich der Forderungen Gottes durch das Blut des Kreuzes zur Ruhe gebracht ist, so muß auch das Betragen bezüglich der Forderungen der prak­tischen Gerechtigkeit durch die Heiligkeit des Kreuzes geregelt werden.

 

Diese inge dürfen nie getrennt werden. Gott hat sie zusammengefügt, und der Mensch hüte sich, sie zu scheiden. Es ist leicht, die Grundsätze der Gnade zu bekennen, während man ihre Ausübung in der Praxis umgehen will. Es ist leicht, davon zu reden, daß man auf dem Blut des Schuldopfers ruht, während man die "volle Summe" und das "Fünftel ­nicht liefert. Solches Reden ist eitel. "Jeder, der nicht Gerechtigkeit tut, ist nicht aus Gott" (i. Joh. 3, 10).

 

Nichts ist für die Gnade des Evangeliums entehrender als die Behaup­tung, daß ein Mensch Gott angehören könne, ohne in seinem Betragen und Charakter die schönen Züge praktischer Heiligkeit zu offenbaren. Gewiß sind "Gott seine Werke von Ewigkeit her bekannt". Dennoch aber hat Er uns in Seinem heiligen Wort die Kennzeichen gegeben, an denen wir die, die Ihm angehören, erkennen können. "Der feste Grund Gottes steht und hat dieses Siegel: Der Herr kennt die sein sind; und: jeder, der den Namen des Herrn nennt, stehe ab von der Ungerechtig­keit" (2. Tim. 2, 19)! Wir haben kein Recht anzunehmen, daß einer, der Böses tut, Gott angehört. Das Wort Gottes spricht über diese Sache unzweideutig und mit großer Autorität. "Hieran sind offenbar die Kin­der Gottes und die Kinder des Teufels. Jeder, der nicht Gerechtigkeit tut, ist nicht aus Gott, und wer nicht seinen Bruder liebt" (l. Joh. 3, 10). In unseren Tagen der Schlaffheit und der Nachsicht gegen sich selbst ist es gut, sich an diese Worte zu erinnern. Weit und breit gibt sich ein erschreckendes Maß von leichtfertigem, kraftlosem Bekenntnis kund, gegen das der wahre Christ entschieden Front zu machen hat. Er ist berufen, ein strenges Zeugnis abzulegen ‑ ein Zeugnis, das hervorgeht aus der beständigen Offenbarung "der Frucht der Gerechtigkeit, die durch Jesus Christus ist, zur Herrlichkeit und zum Preise Gottes".

 

Vergleichen wir jetzt weiter die beiden Klassen des Schuldopfers, das Opfer für die Versündigung "an den heiligen Dingen des HERRN" und das für die Versündigung in den gewöhnlichen Verrichtungen und Be­ziehungen des menschlichen Lebens. Wir werden bei dieser Gelegenheit einige beachtenswerte Punkte finden. Zunächst ist es auffallend, daß die Worte: "Wenn jemand aus Versehen sündigt", in dem ersten Fall, nicht aber in dem zweiten vorkommen. Die Ursache für diesen Unterschied liegt auf der Hand. Die Ansprüche, die mit den heiligen Dingen des HERRN in Verbindung stehen, müssen weit über den Bereich des höchstentwickelten menschlichen Gefühls hinausgehen. Diesen Ansprü­chen mag beständig Eintrag geschehen; es mag immer wieder dagegen gesündigt werden, ohne daß dem Schuldigen diese Tatsache auch nur zum Bewußtsein kommt. Deshalb kann dem menschlichen Bewußtsein im Heiligtum Gottes niemals die Rolle des Entscheidens zufallen. Das ist eine unaussprechliche Gnade. Gottes Heiligkeit allein muß den Maßstab bestimmen, wenn es sich um Gottes Rechte handelt.

 

Andererseits kann das menschliche Gewissen alle menschlichen An­­sprüche leicht erfassen und ebenso leicht von jeder Beeinträchtigung solcher Ansprüche Kenntnis nehmen. Wie oft mögen wir gegen Gott, gegen Seine heiligen Dinge gesündigt haben, ohne daß unser Gewissen uns Vorwürfe gemacht hätte. ja, wir mögen selbst nicht die Fähigkeit besitzen, das begangene Unrecht zu entdecken. (Siehe Mal. 3, 8.) Ganz anders aber ist es, wenn menschliche Rechte in Frage kommen. Ein Unrecht, das das menschliche Auge zu unterscheiden und das mensch­liche Herz zu fühlen vermag, kann auch durch das menschliche Gewissen wahrgenommen werden. Ein Israelit konnte sich "aus Versehen" gegen die damals im Heiligtum herrschenden Gesetze versündigen, ohne sich dessen bewußt zu werden, bis ein höheres Licht in sein Gewissen hin­einleuchtete. Aber er konnte nicht "aus Versehen" lügen, falsch schwö­ren, eine Gewalttat ausüben, den Nächsten betrügen, oder Verlorenes finden und es nachher ableugnen. Alle diese Dinge waren einfache und handgreifliche Tatsachen, die selbst von dem trägsten Gewissen empfun­den werden mußten. Das also ist der Grund, weshalb der Ausdruck "aus Versehen", den wir bezüglich der "heiligen Dinge des HERRN" angeführt finden, bei den gewöhnlichen Angelegenheiten des Menschen ausgelassen ist. Wie gut ist es zu wissen, daß das kostbare Blut Christi ,alle Fragen, sowohl in bezug auf Gott als auch auf den Menschen, sowohl in bezug auf unsere wissentlichen als auch unsere unwissent­lichen Sünden, beantwortet hat! Hier ist die tiefe und feste Grundlage des Friedens eines Gläubigen.

 

Ferner ist bei einer Versündigung "an den heiligen Dingen des HERRN" zuerst von dem Opfer die Rede und danach erst von der

"vollen Summe" und dem "Fünftel". Diese Ordnung aber war umge­kehrt, wenn es sich um die gewöhnlichen Dinge des Lebens handelte. (Vergl. Vers 15 u. 16 mit Vers 23‑26.) Die Ursache für diese Verschiedenheit liegt auch hier wieder klar. Wenn die Rechte Gottes verletzt worden waren, so nahm das Blut der Versöhnung den ersten Platz ein. War hingegen eine Beeinträchtigung der menschlichen Rechte geschehen, so mußte naturgemäß die Wiedererstattung im Vordergrund stehen.

 

Aber da es in dem zweiten Fall, ebenso wie im ersten, um die Beziehung der Seele zu Gott ging, so finden wir, wenn auch zuletzt, das Opfer eingeführt. Wenn ich meinem Nächsten Unrecht tue, so wird sicherlich dadurch meine Gemeinschaft mit Gott gestört, und diese Gemeinschaft kann nur aufgrund der Versöhnung wiederhergestellt werden. Eine bloße Entschädigung würde nicht genügen. Vielleicht würde eine Ent­schädigung den Beleidigten zufriedenstellen, aber niemals könnte sie die Grundlage zur Wiederherstellung der Gemeinschaft mit Gott bilden. Ich könnte wer weiß wie oft die "volle Summe“ zurückerstatten und das "Fünftel" hinzufügen, und dennoch würde meine Sünde bleiben, denn. ,ohne Blutvergießen ist keine Vergebung" (Hebr. 9, 22). Nichtsdesto­weniger muß ich versuchen, wenn ich an meinem Nächsten ein Unrecht begangen habe, zunächst dieses Unrecht wiedergutzumachen. "Wenn du nun deine Gabe darbringst zu dem Altar und dich daselbst erinnerst, daß dein Bruder etwas wider dich habe, so laß daselbst deine Gabe vor dem Altar und gehe zuvor hin, versöhne dich mit deinem Bruder; und dann komm und bringe deine Gabe dar“ (Matth. 5, 23. 24). *)

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*) Vergleichen wir Matth. 5, 23. 24 und Matth. 18, 21. 22, so können wir hinsichtlich der Art und Weise, wie Unrecht und Beleidigungen zwischen zwei Brüdern geregelt werden sollen, einen schönen Grundsatz kennenlernen. Der Beleidiger wird vom Altar zurückgeschickt, um seine Angelegenheiten mit dem Beleidigten zu ordnen. Wie aber soll der Beleidigte den Beleidiger empfangen? "Herr, wie oft soll ich meinem Bruder, der wider mich sündigt, vergeben? bis siebenmal?" ‑ Antwort: "Nicht sage ich dir, bis siebenmal, sondern bis siebenzigmal sieben." Das ist die göttliche Weise, alle Fragen zwischen Brüdern zu ordnen. "Einander ertragend und euch gegenseitig ver. gebend, wenn einer Klage hat wider den anderen; wie auch der Christus euch vergeben hat, also auch ihr' (Kol. 3, 13).

 

Die beim Schuldopfer vorgeschriebene göttliche Ordnung enthält weit mehr, als man auf den ersten Blick denken mag. Die Ansprüche, die aus unseren menschlichen Beziehungen entstehen, dürfen nicht gering­geschätzt werden. Sie müssen stets ihren rechten Platz im Herzen ein­nehmen. Dies wird uns im Schuldopfer deutlich gezeigt. Wenn ein Israelit durch irgendeine Übertretung seine Beziehung zu dem HERRN verletzt hatte, so war die Reihenfolge: Opfer und Wiedererstattung. Hatte er in irgendeiner Weise seine Beziehung zu seinem Nächsten ver­letzt, so war die Reihenfolge: Wiedererstattung und Opfer. Ist diese Veränderung in der Reihenfolge zufällig, oder ist sie von Gott ange­ordnet, so daß wir etwas daraus zu lernen haben? Jeder Punkt ist bedeutungsvoll, wenn wir nur dem Heiligen Geist gestatten, diese Be­deutung unseren Herzen mitzuteilen, und sie nicht mit unseren armen, eitlen Einbildungen zu erfassen suchen. jedes Opfer liefert uns einen besonderen Charakterzug von dem Herrn Jesus und Seinem Werk. jedes wird in seiner charakteristischen Ordnung dargestellt. Eine Nicht­achtung der besonderen Ordnung eines jeden Opfers heißt auch die Darstellung einer besonderen Seite Christi in jedem Opfer beiseite setzen und das Vorhandensein eines Unterschiedes zwischen dem Brand‑ und Sündopfer, zwischen dem Sünd ‑ und Schuldopfer usw. leugnen. Hieraus aber würde folgen, daß die sieben ersten Kapitel des 3. Buches Mose nichts als Wiederholungen sind, und daß jedes Kapitel dieselben Dinge behandelt. Ein Christ, der seinen Herrn kennt, ver­abscheut solche ungeheuerlichen, unwürdigen Gedanken. Wer glaubt, daß "alle Schrift von Gott eingegeben ist", wird die verschiedenen Bilder in ihrer eigenen Ordnung wie verschiedenartig gestaltete Schmuckkäst­chen betrachten, in denen der Heilige Geist "den unausforschlichen Reichtum des Christus" für das Volk Gottes aufbewahrt hat. Hier gibt es keine ermüdende, weitschweifige Wiederholung, sondern nur reiche, göttliche Mannigfaltigkeit, und wir brauchen nur mit dem großen Gegenbild bekannt zu sein, um die Schönheiten und die feinen, zarten Züge eines jeden Bildes erfassen zu können. Sobald das Herz sich bewußt wird, daß wir in jedem Bild Christus haben, kann es mit geist­lichem Interesse bei jeder Einzelheit verweilen. Es findet dann in allem Bedeutsamkeit und Schönheit, denn es findet in allem Christus. Wie das Fernrohr und das Vergrößerungsglas die Wunder im Reich der Natur in ihren Besonderheiten dem Auge darstellen, so ist es auch mit dein Wort Gottes. Mögen wir es als ein Ganzes betrachten, oder jedes Satz­glied genau prüfen ‑ alles ruft die Anbetung und Danksagung unserer Herzen wach.

 

Kapitel 6 und 7 handeln von den Gesetzen der verschiedenen Opfer, von denen bereits gesprochen worden ist. Einige Punkte im Gesetz des Sündopfers wollen wir noch kurz streifen, bevor wir diesen reich­haltigen Abschnitt des dritten Buches Mose beschließen.

 

In keinem der Opfer wird die persönliche Heiligung Christi treffender dargestellt als im Sündopfer. "Rede zu Aaron und zu seinen Söhnen und sprich: Dies ist das Gesetz des Sündopfers. An dem Orte, wo das Brandopfer geschlachtet wird, soll das Sündopfer geschlachtet werden vor dem HERRN: hochheilig ist es ... Alles was sein Fleisch anrührt, wird heilig sein.. . Alles Männliche unter den Priestern soll es essen: hochheilig ist es." So heißt es auch von dem Speisopfer: "hochheilig ist es, wie das Sündopfer und wie das Schuldopfer". Das ist bezeichnend. Der Heilige Geist hatte beim Brandopfer nicht nötig, die persönliche Heiligkeit Christi mit einer solchen Sorgfalt zu betonen. Aber damit die Seele bei der Betrachtung des Platzes, den Christus im Sündopfer einnahm, diese Heiligkeit in keiner Weise aus dem Auge verliert, werden wir immer wieder mit den Worten daran erinnert: "Hochheilig ist es!" Derselbe Punkt tritt im Gesetz des Schuldopfers hervor (Kap. 7, 1‑6). Nie erschien der Herr Jesus völliger in Seinem Charakter als "der Heilige Gottes" als in dem Augenblick, da Er am Fluchholz "zur Sünde gemacht" war. Die Unreinigkeit und Verabscheuungswürdigkeit dessen, womit Er am Kreuz einsgemacht wurde, diente nur dazu, um noch klarer ans Licht zu stellen, daß Er der "Hochheilige" war. Obwohl Sündenträger, war Er doch ohne Sünde. Obwohl Er den Zorn Gottes erduldete, war Er doch die Wonne des Vaters. Obwohl Er das Licht des Angesichts Gottes entbehren mußte, wohnte Er doch im Schoß des Vaters. Kostbares Geheimnis! Wer könnte seine Tiefen ergründen?

 

Es erforderte ein höheres Maß priesterlicher Kraft, um von dem Sünd­opfer oder dem Schuldopfer zu essen, als nur von den Heb ‑ und Web­opfern. Von den letzteren konnten auch die "Töchter" Aarons essen. Von den ersteren aber nur die "Söhne". Im allgemeinen ist das "Männ­liche" der Ausdruck dessen, was den Gedanken Gottes gemäß ist, wäh­rend das "Weibliche" mehr der menschlichen Entwicklung entspricht. Das erstere stellt die Sache in ihrer vollen Kraft, das letztere in ihrer Unvollkommenheit dar. Wie wenige unter uns besitzen priesterliche Kraft genug, um die Sünde oder die Schuld eines anderen zu ihrer eigenen zu machen! Unser Herr hat dies vollkommen getan. Die Sünde Seines Volkes machte Er zu Seiner eigenen und ertrug das Gericht für sie am Kreuz. Dort machte Er Sich völlig mit uns eins, so daß wir mit voller Gewißheit sagen dürfen, daß die ganze Frage der Sünde und Schuld in göttlicher Weise geregelt ist. War jene Einsmachung Christi vollkommen, so war auch die Regelung vollkommen, und daß sie es war, das bezeugt Golgatha. Alles ist vollbracht. Die Sünde, die Schuld, die Anforderung Gottes, die Ansprüche des Menschen ‑ alles ist für immer in Ordnung gebracht, und ein vollkommener Friede ist jetzt das Teil aller, die durch die Gnade das Zeugnis Gottes als wahr annehmen. Es ist so einfach, wie Gott es nur machen konnte, und die Seele, die dem Zeugnis Gottes glaubt, wird glücklich.

 

Hiermit beenden wir unsere Betrachtungen über diesen reichen Teil der von Gott eingegebenen Schriften. Wir haben nur wenig aus ihnen zu sammeln vermocht. Wir sind gleichsam kaum durch die oberste Schicht eines unerschöpflichen Bergwerks gedrungen. Sollte jedoch der Leser zum ersten Mal dahin geleitet worden sein, die Opfer als Darstellun­gen des einen großen Opfers zu betrachten, ja, sollte er dahin geleitet worden sein, sich dem großen Lehrer zu Füßen zu werfen, um noch mehr von den Tiefen dieser Dinge kennenzulernen, so sind wir von Herzen dankbar.

 

Kapitel 8 und 9

 

AARON UND SEINE SÖHNE

 

Nachdem wir die Lehre von den Opfern, wie sie in den sieben ersten Kapiteln unseres Buches enthalten ist, betrachtet haben, kommen wir jetzt zu dem Priestertum. Die Opfer und das Priestertum stehen mitein­ander in enger Verbindung. Der Sünder bedarf eines Opfers, der Gläubige bedarf eines Priesters. Wir finden beides, Opfer und Priester, in Christus; nachdem Er sich selbst ohne Flecken Gott geopfert hat, ist Er droben im Heiligtum in den Bereich Seines priesterlichen Dienstes eingetreten. Wir benötigen kein anderes Opfer und keinen anderen Priester. Er teilt jedem Dienst, den Er verrichtet, und jedem Werk, das Er vollbringt, die Würde und den Wert Seiner Person mit. Betrachten wir Ihn als Opfer, so wissen wir, daß wir in Ihm alles besitzen, was ein vollkommenes Opfer nur sein kann. Betrachten wir Ihn als Priester, so wissen wir, daß jeder priesterliche Dienst vollkommen durch Ihn erfüllt wird. Als Opfer führt Er Sein Volk in ein festgegründetes Verhältnis zu Gott, und als Priester bewahrt Er es darin gemäß der Vollkommenheit Seiner Person. Das Priestertum ist für die bestimmt, die sich bereits in einer bestimmten Beziehung zu Gott befinden. Als Sünder von Natur und nach all unserem Tun sind wir "durch das Blut des Kreuzes" Gott nahe gebracht worden. Wir stehen vor Ihm als die Frucht Seines eigenen Werkes. Er hat unsere Sünden hinweggetan, so daß wir zum Preise Seines Namens vor Ihm sein können als lebendiger Beweis für das, was Er durch die Kraft des Todes und der Auferstehung zu vollbringen vermag.

 

Aber obwohl völlig befreit von allem, was wider uns sein konnte, obwohl begnadigt und vollkommen angenehm gemacht in dem Gelieb­ten, obwohl vollendet in Christus und hoch erhoben, sind wir dennoch, solange wir uns auf der Erde befinden, in uns selbst armselige, schwache Geschöpfe, stets geneigt, abzuirren und zu straucheln, den mannig­faltigen Versuchungen, Prüfungen und Fallstricken bloßgestellt. So haben wir den ununterbrochenen Dienst unseres "großen Hohenprie­sters" nötig, dessen Gegenwart im Heiligtum droben uns in der vollen Unverletzlichkeit des Platzes und Verhältnisses, in dem wir uns aus Gnade befinden, bewahrt und aufrechterhält, "indem er immerdar lebt, um sich für uns zu verwenden" (Hebr. 7, 25). Wir würden hier unten auf der Erde unseren Platz behaupten können, wenn Er nicht droben für uns lebte. "Weil ich lebe, werdet auch ihr leben (Joh. 14, 19). "Denn wenn wir, da wir Feinde waren, mit Gott versöhnt wurden durch den Tod seines Sohnes, vielmehr werden wir, da wir versöhnt sind, durch sein Leben gerettet werden" (Röm. 5, 10). Der "Tod" und das "Leben" sind in der Haushaltung der Gnade untrennbar mitein­ander verbunden. Aber man vergesse nicht, daß das Leben nach dem Tode kommt. Es ist das Leben des aus den Toten auferstandenen Christus, und nicht Sein Leben auf der Erde, auf das der Apostel in der soeben angeführten Schriftstelle hinweist. Dieser Unterschied verdient unsere Beachtung. Natürlich war das Leben unseres Herrn Jesus hier auf der Erde von unendlichem Wert, aber Er nahm nicht eher den Platz Seines priesterlichen Dienstes ein, bis das Werk der Erlösung durch Ihn vollbracht war. Auch hatte Er als Mensch auf der Erde kein Priester sein können, "denn es ist offenbar, daß unser Herr aus Juda entspros­sen ist, zu welchem Stamm Moses nichts in bezug auf Priester geredet hat" (Hebr. 7, 14). "Denn jeder Hohepriester wird bestellt, um sowohl Gaben als auch Schlachtopfer darzubringen; daher ist es notwendig, daß auch dieser etwas habe, das er darbringe. Wenn er nun auf Erden wäre, So wäre er nicht einmal Priester, weil solche da sind, die nach dem Gesetz die Gaben darbringen" (Hebr. 8, 3. 4; vergl. auch Kap. 9, 11.12.24).

 

Der Himmel, und nicht die Erde, ist der Beweis des priesterlichen Dienstes Christi, und in diesen Bereich ist Er eingetreten, nachdem Er sich ohne Flecken Gott geopfert hatte. Nie erschien Er als ein Priester in dem Tempel auf der Erde. Er ging oft hinein, um zu lehren, nie aber, um zu opfern oder zu räuchern. Außer Aaron und seinen Söhnen ist nie jemand von Gott verordnet worden, den Dienst des Priesteramtes zu erfüllen. "Wenn er nun auf Erden wäre, so wäre er nicht einmal Priester." Dieser Punkt ist in Verbindung mit der Lehre vom Priester­tum sehr bedeutsam. Der Himmel ist der Bereich, und die volle Erlösung ist die Grundlage des Priestertums Christi. Außer in dem Sinne, daß alle Gläubigen Priester sind (l. Petr. 2, 5), gibt es jetzt keinen Priester auf Erden. Wenn nicht jemand seine Abkunft von Aaron nachweisen, wenn er seinen Stammbaum nicht bis zu dieser Wurzel hin verfolgen kann, so hat er kein Recht, das Priesteramt auszuüben. Könnte selbst eine apostolische Nachfolge nachgewiesen werden, so wäre sie ohne Wert, da die Apostel selbst keine Priester waren, außer in dem oben angedeute­ten Sinn. Das schwächste Glied der Haushaltung des Glaubens ist eben­sogut ein Priester, wie der Apostel Petrus selbst es war. Der jüngste Gläubige ist ein geistlicher Priester. Er betet an in einem geistlichen Tempel. Er steht vor einem geistlichen Altar. Er ist bekleidet mit geist­lichen Gewändern. "Auch ihr selbst seid, als lebendige Steine, aufgebaut, ein geistliches Haus, ein heiliges Priestertum, um darzubringen geistliche Schlachtopfer, Gott wohlannehmlich durch Jesum Christum" (l. Petr. 2, 5). "Durch ihn nun laßt uns Gott stets ein Opfer des Lobes dar­bringen, das ist die Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen. Des Wohltuns aber und Mitteilens vergesset nicht, denn an solchen Opfern hat Gott Wohlgefallen“ (Hebr. 13, 15. 16).

 

Wenn ein direkter Abkömmling des Hauses Aarons heute bekehrt würde, so würde er in einem ganz neuen Charakter und auf einer ganz neuen Grundlage in den priesterlichen Dienst eintreten. Und beachten wir es wohl, daß in den soeben angeführten Schriftstellen die beiden großen Klassen der geistlichen Opfer dargestellt werden, die der geistliche Priester darbringen darf: das Opfer des Lobes Gott gegenüber und das Opfer des Wohltuns den Menschen gegenüber. Fortwährend geht ein doppelter Strom von einem Gläubigen aus, der im bewußten Genuß seiner priesterlichen Stellung lebt: der Strom eines zu dem Thron Gottes emporsteigenden dankbaren Lobes, und der Strom einer der be­dürftigen Welt zufließenden regen Wohltätigkeit. Der geistliche Priester steht da, die eine Hand zur Darbringung des Weihrauchs dankbaren Lobes zu Gott emporgehoben, und die andere weit geöffnet, um dem menschlichen Bedürfnis zu begegnen. Würden diese Dinge klarer er­faßt werden, welch eine Erhabenheit, welch eine Schönheit würden sie dem christlichen Charakter verleihen! ‑ Erhabenheit, insofern das Herz sich stets zu der unendlichen Quelle alles dessen, was erheben kann, emporrichten, und Schönheit, insofern es sich allezeit den Ansprüchen auf Mitgefühl geöffnet zeigen würde. Diese beiden Dinge sind nicht zu trennen. Ein unmittelbarer Verkehr des Herzens mit Gott muß es unbe­dingt erheben und weit machen, während andererseits ein Wandel in der Entfernung von Gott dürre macht und verschließt. Eine vertraute

 

Blick auf seine Bedürfnisse und Schwachheiten auf Erden für ihn ge­troffen. Dieser Unterschied könnte auch in folgender Weise erläutert werden: der Gläubige wird als zur Kirche gehörend und als im Reich befindlich dargestellt. Als zur Kirche gehörend ist der Himmel sein Platz, sein Vaterland, sein Teil und der Ort seiner Zuneigungen. Als im Reich befindlich ist er auf der Erde, der Stätte der Prüfung, der Ver­antwortlichkeit und des Kampfes. Das Priestertum ist daher eine gött­liche Vorsorge für solche, die sich, obwohl sie der Versammlung und dem Himmel angehören, in dem Reich befinden und auf der Erde wan­dern. Dieser Unterschied ist sehr einfach, und, wenn er verstanden wird, erklärt er eine große Anzahl von Schriftstellen, deren Verständnis vielen Gläubigen nicht geringe Schwierigkeiten bereitet.*)

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*) Ein Vergleich des Epheserbriefes mit dem ersten Brief des Petrus wird dem Leser bezüglich der beiden Seiten der Stellung des Gläubigen reiche Belehrung liefern. Der Epheserbrief zeigt uns den Gläubigen als in den Himmel versetzt, während Petrus uns ihn als Pilgrim und Dulder auf Erden vorstellt.

 

Wenn wir den Inhalt des vor uns liegenden Kapitels näher ins Auge fassen, so fallen uns drei Dinge besonders auf, nämlich die Autorität des Wortes, der Wert des Blutes und die Kraft des Geistes, lauter Ge­genstände von größter Bedeutung, die von jedem Christen unbestreitbar als Grundwahrheiten betrachtet werden müssen.

 

Was zunächst die Autorität des Wortes anbelangt, ist es von Interesse zu sehen, daß wir sowohl bei der Einweihung der Priester, als auch bei der ganzen Reihe der Opfer unmittelbar unter diese Autorität gestellt werden. "Und Mose sprach zu der Gemeinde: Dies ist es, was der HERR zu tun geboten hat" (Kap. 8, 5). Und ferner: "Und Mose sprach: Dies ist es, was der HERR geboten hat, daß ihr es tun sollt; und die Herrlichkeit des HERRN wird euch erscheinen" (Kap. 9, 6). Mose sagt nicht: "Dies ist es, was ratsam, angenehm und angemessen ist", auch nicht: Dies ist es, was durch die Stimme der Väter, durch den Beschluß der Ältesten, oder nach der Meinung der Lehrer angeordnet ist." Von solchen Quellen der Autorität kannte Mose nichts. Für ihn gab es nur eine heilige und erhabene Quelle der Autorität, und das war das Wort des HERRN, und er trachtete danach, jedes Glied der Gemeinde mit dieser gesegneten Quelle in unmittelbare Verbindung zu bringen. Das gab dem Herzen Sicherheit und stellte alle Gedanken auf einen festen Boden. Es blieb kein Raum übrig, weder für die Überlieferung mit ihren ungewissen Behauptungen, noch für den Menschen mit seinen Zweifeln und mit seinen Streitfragen. Alles war klar, entschieden und bestimmt. Der HERR hatte gesprochen, und es war nichts weiter nötig, als Seine Worte zu hören und ihnen zu gehorchen. Für Überlieferungen und menschliche Anordnungen gibt es keinen Raum in einem Herzen, das gelernt hat, das Wort Gottes zu ehren und ihm zu gehorchen.

 

Und was sollte das Ergebnis dieser völligen Unterwürfigkeit unter das Wort Gottes sein? "Die Herrlichkeit des HERRN wird euch erscheinen." Würde das Wort nicht beachtet worden sein, so wäre auch die Herrlich­keit nicht erschienen. Die beiden Dinge standen miteinander in engster Verbindung. Die geringste Abweichung von den Worten des HERRN würde die Strahlen der göttlichen Herrlichkeit verhindert haben, der Gemeinde Israels zu erscheinen. Wären irgendwelche, nicht durch das Wort des Herrn gebotene Gebräuche oder Zeremonien eingeführt, oder wäre etwas durch jenes Wort Gebotenes versäumt worden, so würde der HERR Seine Herrlichkeit nicht geoffenbart haben. Er konnte unmöglich die Vernachlässigung oder Verwerfung Seines Wortes durch die Herr­lichkeit Seiner Gegenwart bestätigen. Er kann mit Unwissenheit und Schwachheit Geduld haben, aber nie kann Er Nachlässigkeit und Un­gehorsam gutheißen.

 

Oh, wenn doch das alles mehr beachtet würde in diesen Tagen, wo Tradition und Zweckmäßigkeit so oft den Ausschlag geben! Möchten wir doch alles prüfen an dem Maßstab des Wortes Gottes und alles zurückweisen, was dem nicht entspricht. Jeder von uns sollte sich in der Gegenwart dessen, der die Herzen erforscht, ganz bewußt die Frage stellen: "Mache ich dabei mit, daß man Gottes Wort außer acht läßt?" Wenn das bei dir zutrifft, und du bleibst mit solchen Dingen in Ver­bindung, dann heißt du gut, was Gott nicht gutheißt. Wie ernst ist in Gottes Augen eine derartige Gleichgültigkeit gegenüber Seinem Willen!

 

"Und Aaron und seine Söhne taten alles, was der HERR durch Mose geboten hatte" (Kap. 8, 36). "Und Mose und Aaron gingen hinein in das Zelt der Zusammenkunft; und sie kamen heraus und segneten das Volk. Und die Herrlichkeit des HERRN erschien dem ganzen Volke; und es ging Feuer aus von dem HERRN und verzehrte auf dem Altar das Brandopfer und die Fettstücke; und das ganze Volk sah es, und sie jauchzten und fielen auf ihr Angesicht" (Kap. 9, 23. 24). Hier haben wir eine Szene des "achten Tages", eine Szene der Auferstehungs­herrlichkeit. Nach der Darbringung des Opfers erhebt Aaron seine Hände zu priesterlicher Segnung über das Volk und zieht sich dann mit Mose in das Zelt der Zusammenkunft zurück, während die ganze Ge­meinde draußen in einer abwartenden Stellung verharrt. Schließlich treten Mose und Aaron, indem sie Christus in Seinem zweifachen Cha­rakter als Priester und König darstellen, wieder heraus und segnen das Volk. Die Herrlichkeit erscheint in ihrem vollen Glanz. Das Feuer ver­zehrt das Opfer, und die ganze Gemeinde fällt anbetend auf die Knie in der Gegenwart des Herrn der ganzen Erde.

 

Alles dieses geschah buchstäblich bei der Einweihung Aarons und seiner Söhne, und es war das Ergebnis einer völligen Unterwürfigkeit unter das Wort des HERRN. Doch ist der ganze Inhalt dieses Kapitels nur "ein Schatten der zukünftigen Güter" (Hebr. 10, ‑1). Das trifft im Blick auf die ganze mosaische Haushaltung zu. Aaron in Gemeinschaft mit seinen Söhnen stellt Christus und Sein priesterliches Haus dar. Aaron allein stellt Christus in Seinen amtlichen Verrichtungen als Priester und Mittler dar, während Aaron und Mose gemeinschaftlich Ihn als Prie­ster und König darstellen. Der "achte Tag" ist die bildliche Darstellung des Tages der Auferstehungs‑Herrlichkeit, wenn die Gemeinde der Kinder Israel den Messias als königlichen Priester auf Seinem Throne sitzen sehen, und wenn die Herrlichkeit des Herrn die ganze Erde er­füllen wird, wie die Wasser den Meeresgrund bedecken. Diese herr­lichen Wahrheiten sind ausführlich im Worte entwickelt. Sie leuchten gleich Edelsteinen von himmlischem Glanz durch die ganze heilige Ur­kunde hindurch. (Vergl. 4. Mose 14, 21; Jes. 9, 6. 7; 11; 25, 6‑12; 32, 1. 2; 35; 37, 31. 32; 40, 1‑5; 54; 59, 16‑21; 60‑66; Jer. 23, 5‑8; 30, 10‑24; 33, 6‑22; Hes. 48, 35; Dan. 7, 13. 14; Hos. 14, 4‑9;. Zeph. 3, 14‑20; Sach. 3, 8‑10; 6, 12. 13; 14)

 

Betrachten wir jetzt den zweiten in unserem Schriftabschnitt entwickel­ten Punkt, nämlich die Kraft des Blutes. Dieses Thema wird sehr aus­führlich behandelt und sichtbar in den Vordergrund gerückt. Ob wir die Lehre von den Opfern oder die Lehre von dem Priestertum betrach­ten, überall finden wir, daß die Blutvergießung denselben wichtigen Platz einnimmt. "Und er brachte den Farren des Sündopfers herzu; und Aaron und seine Söhne legten ihre Hände auf den Kopf des Farren des Sündopfers. Und er schlachtete ihn, und Mose nahm das Blut und tat davon mit seinem Finger an die Hörner des Altars ringsum und entsündigte den Altar; und das Blut goß er an den Fuß des Altars und heiligte ihn, indem er Sühnung für ihn tat" (Kap. 8, 14. 15). "Und er brachte den Widder des Brandopfers herzu; und Aaron und seine Söhne legten ihre Hände auf den Kopf des Widders. Und er schlachtete ihn, und Mose sprengte das Blut an den Altar ringsum" (V. 18. 19). "Und er brachte den zweiten Widder, den Widder der Einweihung, herzu; und Aaron und seine Söhne legten ihre Hände auf den Kopf des Wid­ders. Und er schlachtete ihn, und Mose nahm von seinem Blute und tat es auf das rechte Ohrläppchen Aarons und auf den Daumen seiner rech­ten Hand und auf die große Zehe seines rechten Fußes. Und er ließ die Söhne Aarons herzunahen, und Mose tat von dem Blute auf ihr rechtes Ohrläppchen und auf den Daumen ihrer rechten Hand und auf die große Zehe ihres rechten Fußes; und Mose sprengte das Blut an den Altar ringsum" (Vers 22‑24).

 

Die Bedeutsamkeit der verschiedenen Opfer ist bereits einigermaßen in den ersten Kapiteln dieses Buches entwickelt worden, aber die hier an­geführten Stellen zeigen uns den hervorragenden Platz, den das Blut bei der Einweihung des Priesters einnimmt. Ein mit Blut benetztes Ohr war nötig zum Horchen auf die göttlichen Mitteilungen. Eine mit Blut be­netzte Hand war nötig, um den Dienst im Heiligtum verrichten zu kön­nen, und ein mit Blut benetzter Fuß war erforderlich, um die Vorhöfe des Hauses des Herrn zu betreten. Dies alles ist vollkommen in seiner Art. Die Blutvergießung war die große Grundlage aller Opfer für die Sünde. Sie betraf alle Geräte des Dienstes und alle Verrichtungen des Priesteramtes. In dem ganzen Bereich des levitischen Dienstes sehen wir den Wert, die Kraft, die Wirkung und die weitgehende Anwendung des Blutes. Fast alle Dinge werden mit Blut gereinigt nach dem Gesetz­(Hebr. 9, 22). Christus ist durch Sein eigenes Blut in den Himmel selbst eingegangen. Er erscheint auf dem Thron der Majestät droben in dem Wert alles dessen, was Er am Kreuz vollbracht hat. Seine Gegenwart auf dem Thron bezeugt den Wert Seines versöhnenden Blutes. Er ist dort für uns. Gesegnete Gewißheit! Er lebt immerdar. Er verändert sich nie, und wir sind in Ihm und wie Er ist. In Seiner ewigen Vollkommenheit stellt Er uns dem Vater dar, und so dargestellt, ruht auf uns dasselbe Wohlgefallen des Vaters wie auf Ihm, der uns darstellt. Diese Eins­machung findet ihre bildliche Darstellung in "Aaron und seinen Söh­nen", wenn sie ihre Hände auf das Haupt jedes Opfers legten. Sie alle Standen vor Gott in dem Wert desselben Blutes. Mochte es der "Farren des Sündopfers", oder der "Widder des Brandopfers", oder der "Widder der Einweihung" sein, sie legten auf jedes Opfertier gemeinschaftlich ihre Hände. Zwar wurde Aaron allein gesalbt, bevor das Blut vergossen war. Auch wurde er mit seinen Amtsgewändern bekleidet und mit dem heiligen Öl gesalbt, ehe seine Söhne bekleidet und gesalbt wurden. Der Grund dazu liegt nahe. Aaron, allein betrachtet, stellt Christus in Seiner unvergleichlichen Vortrefflichkeit und Würde bildlich dar, und wie wir wissen, erschien Christus in all Seiner persönlichen Würde und wurde gesalbt durch den Heiligen Geist, bevor Er Sein Versöhnungswerk vollbrachte. Er hat "in allen Dingen den Vorrang" (Kol. 1). Dennoch findet nachher die völlige Einsmachung zwischen Aaron und seinen Söhnen statt, ebenso wie die völlige Einsmachung zwischen Christus und Seinem Volk geschehen ist. "Der, welcher heiligt, als auch die, welche geheiligt werden, sind alle von einem" (Hebr. 2). Die persönliche Verschiedenheit erhöht den Wert der verborgenen Einheit.

 

Diese Verschiedenheit und zugleich Einheit des Hauptes und der Glieder leitet uns naturgemäß zu dem dritten und letzten Punkt unserer Be­trachtung, nämlich zu der Kraft des Geistes. Wir werden bemerken, wie vieles zwischen der Salbung Aarons und der seiner Söhne stattfand. Das Blut ist vergossen, das Fett auf dem Altar verzehrt und die Brust vor dem HERRN gewebt. Mit anderen Worten, das Opfer ist vollendet. Sein Wohlgeruch steigt zu Gott empor, und der, welcher das Opfer dargebracht hat, erhebt sich in der Macht der Auferstehung und nimmt Seinen Platz in der Höhe ein. Alles dieses findet statt zwischen der Salbung des Hauptes und der Salbung der Glieder. Vergleichen wir die sich hierauf beziehenden Stellen. Wenn von Aaron allein die Rede ist, lesen wir: "Und er legte ihm den Leibrock an und umgürtete ihn mit dem Gürtel; und er bekleidete ihn mit dem gewirkten Gürtel des Ephods und band es ihm damit an; und er setzte das Brustschild darauf und legte in das Brustschild die Urim und die Thummim; und er setzte den Kopfbund auf sein Haupt und setzte an den Kopfbund, an seine Vor­derseite, das Goldblech, das heilige Diadem: so wie der HERR dem Mose geboten hatte. Und Mose nahm das Salböl und salbte die Woh­nung und alles was darin war, und heiligte sie. Und er sprengte davon siebenmal auf den Altar, und er salbte den Altar und alle seine Geräte und das Becken und sein Gestell, um sie zu heiligen. Und er goß von dem Salböl auf das Haupt Aarons, und salbte ihn, um ihn zu heilige..

(Kap. 8, 7‑12).

 

Hier steht Aaron allein vor uns. Das Salböl wird, und zwar in un­mittelbarer Verbindung mit der Salbung aller Geräte der Stiftshütte, auf sein Haupt gegossen. Die ganze Gemeinde durfte den mit den Amtsgewändern und dem Kopfbund bekleideten, gesalbten Hohen­priester anschauen und konnte zugleich sehen, wie jeder Teil des Ge­wandes, jede Handlung, jede Zeremonie auf die Autorität des Wortes gegründet war. Hier gab es nichts Unbestimmtes, nichts Willkürliches und nichts Ersonnenes. Alles stand auf göttlichem Boden. Den Bedürf­nissen der Gemeinde wurde in solcher Weise entsprochen, daß gesagt werden konnte: "Dies ist es, was der HERR zu tun geboten hat."

 

In der alleinigen Salbung Aarons, ehe das Blut vergossen wurde, haben wir ein Bild von Christus als dem, der völlig allein stand, bevor Er sich auf dem Kreuz opferte. Eine Vereinigung zwischen Ihm und Seinem Volk konnte nicht stattfinden, außer aufgrund des Todes und der Auferstehung. Diese wichtige Wahrheit ist bereits bei der Betrachtung der Opfer berührt und einigermaßen entwickelt worden, aber sie gewinnt an Bedeutung, wenn wir sie in Verbindung mit dem Priester­tum so deutlich ausgeprägt sehen. Ohne Blutvergießen gab es keine Vergebung. Das Opfer war noch nicht vollendet. So konnten auch Aaron und seine Söhne ohne Blutvergießen nicht gemeinschaftlich gesalbt werden.

 

"Und Mose nahm von dem Salböl und von dem Blute, das auf dem Altar war, und sprengte es auf Aaron, auf seine Kleider, und auf seine Söhne und auf die Kleider seiner Söhne mit ihm; und er heiligte Aaron, seine Kleider, und seine Söhne und die Kleider seiner Söhne mit ihm" (Kap. 8, 30). Warum wurden die Söhne Aarons nicht zugleich mit ihm gesalbt? Einfach, weil das Blut noch nicht vergossen war. Solange das "Blut" und das "Öl" nicht miteinander vereinigt werden konnten, war es unmöglich, Aaron und seine Söhne gemeinschaftlich zu salben und zu heiligen. "Ich heilige mich selbst für sie, auf daß auch sie Geheiligte seien durch Wahrheit" (Joh. 17, 19).

 

Die Verse 31‑35 stellen uns ein schönes Bild von Christus und Seinem Volk vor Augen, indem sie sich gemeinschaftlich nähren von den Er­gebnissen der Versöhnung. Aaron und seine Söhne, miteinander auf­grund des vergossenen Blutes gesalbt, treten hier vor uns, als "sieben Tage" hindurch in den Bereich des Zeltes eingeschlossen. Ein herrliches Bild von der gegenwärtigen Stellung Christi und Seiner Glieder, als mit Gott während der ganzen Dauer der gegenwärtigen Haushaltung ab­gesondert und auf die Offenbarung der Herrlichkeit wartend. Welch eine gesegnete Stellung! Welch ein herrliches Teil, und welch eine Hoff­nung! Mit Christus vereinigt, mit Gott abgesondert zu sein, den Tag der Herrlichkeit zu erwarten und während dieser Zeit sich in Heiligkeit von den Reichtümern der göttlichen Gnade zu nähren, das sind wirklich Segnungen und Vorrechte der kostbarsten Art! Gott gebe uns Gnade, um uns entschieden von allem abzuwenden, was der gegenwärtige Zeit­lauf bietet, damit wir uns nähren können von dem Inhalt des "Korbes des Einweihungsopfers", in dem wir unsere passende Speise als Priester im Heiligtum Gottes finden!

 

Nachdem Aaron und seine Söhne "sieben Tage" in der Einsamkeit des Zeltes eingeschlossen waren, wird am achten Tage (vergl. Kap. 9, 1‑4) zu der ganzen Gemeinde geredet, und die Herrlichkeit des HERRN er­scheint. Dies vervollständigt die ganze Szene. Die Schatten der zukünf­tigen Güter ziehen hier in ihrer göttlichen Ordnung an unseren Blicken vorüber. Der "achte Tag" ist ein Schatten jenes lichten Morgens des Tausendjährigen Reiches, der über dieser Erde anbrechen wird, wenn die Gemeinde Israel den wahren Priester aus dem Heiligtum, wo Er jetzt vor den Blicken der Menschen verborgen ist, hervortreten sehen wird, begleitet von einer Schar von Priestern, den Genossen Seiner Zurückgezogenheit und den glücklichen Teilhabern Seiner geoffenbarten Herrlichkeit. In der Tat, nichts könnte als schattenhaftes Abbild des Zu­künftigen vollständiger sein. Zunächst sehen wir Aaron und seine Söhne mit Wasser gewaschen: ein Vorbild auf Christus und Sein Volk, als zusammen geheiligt in dem ewigen Ratschluß Gottes (Kap. s, 6). Dann finden wir die Weise und Ordnung, in der dieser Ratschluß ausgeführt werden mußte. Aaron allein wird bekleidet und gesalbt: ein Vorbild auf Christus als geheiligt, in die Welt gesandt und durch den Heiligen Geist gesalbt (V. 7‑12. Vergl. Luk. 3, 21. 22; Joh. 10, 36. Dann folgt die Darbringung und Annahme des Opfers, kraft dessen Aaron und seine Söhne gemeinschaftlich gesalbt und geheiligt werden (V. 14‑29); ein Vorbild auf das Kreuz und seine Anwendung auf die­jenigen, die jetzt die priesterliche Familie Christi bilden und, mit Ihm vereinigt, mit Ihm gesalbt und verborgen, den "achten Tag" erwarten, wo Er mit ihnen offenbar werden wird in dem vollen Glanz jener Herrlichkeit, die Ihm nach dem ewigen Ratschluß Gottes gebührt (Joh * 14, 19; Apgsch. 2, 33;19, 1‑7; Kol. 3, 1‑4). Schließlich sehen wir Israel in den völligen Genuß der Ergebnisse der vollbrachten Erlösung ein­geführt. Sie sind vor dem Herrn versammelt: "Und Aaron erhob seine Hände gegen das Volk und segnete sie; und er stieg herab nach der Opferung des Sündopfers und des Brandopfers und des Friedensopfers" (Siehe Kap. 9, 1‑22).

 

Was bleibt jetzt noch übrig? Nur dies noch, daß unter Siegesjubel und Lobgesängen der Schlußstein in dieses herrliche Gebäude eingefügt wird, und so lesen wir: "Und Mose und Aaron gingen hinein in das Zelt der Zusammenkunft; und sie kamen heraus und segneten das Volk. Und die Herrlichkeit des HERRN erschien dem ganzen Volke; und es ging Feuer aus von dem HERRN und verzehrte auf dem Altar das Brandopfer und die Fettstücke; und das ganze Volk sah es, und sie jauchzten und fielen auf ihr Angesicht (V. 23. 24). Das war der Sieges­jubel, das Niederfallen in Anbetung. Alles war vollkommen. Das Opfer, der Priester in seinem Gewand und Kopfbund, die mit ihrem Haupt vereinigte priesterliche Familie, der priesterliche Segen, die Erscheinung des Königs und Priesters ‑ kurz, es fehlte nichts. Und darum erschien die göttliche Herrlichkeit, und die ganze Gemeinde fiel in anbetender Huldigung auf ihr Angesicht nieder. In der Tat eine überaus herrliche Szene, ein wunderbar schöner Schatten von zukünftigen Gütern! Und vergessen wir nicht, daß alles, was hier bildlich vorgestellt ist, bald völlig verwirklicht werden wird. Unser großer Hoherpriester ist durch die Himmel gegangen in dem vollen Wert und der vollen Kraft einer vollbrachten Versöhnung. Jetzt ist Er, und mit Ihm alle Glieder Seiner priesterlichen Familie, dort verborgen. Aber wenn die "sieben Tage" erfüllt sind und der "achte Tag" seine Strahlen auf die Erde wirft, dann wird der Überrest Israels, ein bußfertiges und harrendes Volk, mit Triumphgeschrei die geoffenbarte Gegenwart des königlichen Priesters begrüßen, und in unmittelbarer Vereinigung mit dem kom­menden Herrn wird eine Schar von Anbetern in der erhabensten Stel­lung gesehen werden. Das sind die "zukünftigen Güter" ‑ Güter, die wirklich des Harrens wert sind, und in denen Gott ewig verherrlicht und Sein Volk ewig gesegnet sein wird.

 

Kapitel 10

 

NADAB UND ABIHU

 

Die Geschichte der Menschheit bildet von Anfang bis zu Ende ein Ver­zeichnis von Fehlern und Sünden. Inmitten all der Freuden Edens lauscht der Mensch auf die Lüge des Versuchers (i. Mose 3). Durch die Hand einer auserwählenden Liebe gegen das Gericht geschützt und zum Herrn einer wiederhergestellten Erde eingesetzt, macht er sich der Sünde der Unmäßigkeit schuldig. (i. Mose 9). Durch den ausgestreckten Arm des HERRN in das Land Kanaan gebracht, verläßt er den HERRN und dient dem Baal und den Astaroth (Richt. 2, 13). Auf den Gipfel irdi­scher Macht und Herrlichkeit geführt, im Besitz unermeßlicher Reich­tümer und mit allen Hilfsquellen der Welt zu seiner Verfügung, schenkt er sein Herz dem unbeschnittenen Fremdling (i. Kön. ‑11). Kaum sind in späteren Tagen die Segnungen des Evangeliums angekündigt, so sieht sich der Heilige Geist gezwungen, in prophetischer Weise von "verderblichen Wölfen", von "Abfall" und von allerlei Arten von Sünde zu reden (Apgsch. 20, 29; 1. Tim. 4, 1‑3; 2. Tim. 3, 1‑5; 2. Petr. 2; Judas). Und um allem die Krone aufzusetzen, wird uns in der Offen­barung der Abfall des aus dem vollen Glanz tausendjähriger Herrlich­keit kommenden Menschen vorausgesagt (Offb. 20, 7‑10).

 

So verdirbt der Mensch alles. Bekleide ihn mit der höchsten Würde, und er wird sich selbst erniedrigen. Beschenke ihn mit den reichsten Vor­rechten, und er wird sie mißbrauchen. Schütte eine Fülle von Segnungen über ihn aus, und er wird sich undankbar erweisen. Gib ihm Anord­nungen, die geeignet sind, den tiefsten Eindruck auf ihn zu machen, und er wird sie verderben. So ist der Mensch. So ist die Natur in ihren schönsten Formen und unter den günstigsten Umständen.

 

Wir sind daher einigermaßen auf die Worte vorbereitet, mit denen unser Kapitel beginnt: "Und die Söhne Aarons, Nadab und Abihu, nahmen ein jeder seine Räucherpfanne und taten Feuer hinein und legten Räucherwerk darauf und brachten fremdes Feuer vor dem HERRN dar, das er ihnen nicht geboten hatte" (V. 1). Welch ein Gegen­satz zu der Szene, mit der das neunte Kapitel schließt"! Dort geschah alles, "wie der HERR es geboten hatte", und die Offenbarung der Herrlichkeit war die Folge. Hier geschieht etwas, das "der HERR nicht geboten hatte", und das Gericht ist die Folge. Kaum ist der Siegesjubel verhallt, so zeigen sich auch schon die Grundzüge eines falschen Gottes­dienstes. Kaum ist die göttliche Stellung eingenommen, so wird sie schon wieder durch die Vernachlässigung des göttlichen Gebotes ver­lassen. Kaum sind Nadab und Abihu als Priester geweiht, so sündigen sie auch schon auf die traurigste Weise in der Erfüllung ihres priester­lichen Dienstes.

 

Und worin bestand ihr Vergehen? Waren sie falsche Priester? Hatten sie sich widerrechtlich in dieses Amt eingedrängt? Keineswegs. Sie waren wirkliche Söhne Aarons, wahre Glieder der priesterlichen Familie, gesetzmäßig verordnete Priester. Auch ihre Geräte für den Dienst und ihre priesterlichen Gewänder scheinen ganz in Ordnung gewesen zu sein. Worin bestand denn ihre Sünde? "Sie brachten fremdes Feuer vor dem HERRN dar, das er ihnen nicht geboten hatte." ja, das war ihre Sünde. Sie wichen von dem einfachen Wort des Herrn ab, das ihnen klar und deutlich die Art und Weise ihres Gottesdienstes vorgezeichnet hatte. Wir haben bereits darauf hingewiesen, wie das Wort des Herrn für jeden Zweig des priesterlichen Dienstes voll und ganz genügte.

 

Für den Menschen war kein Raum gelassen, um noch etwas hinzuzu­fügen, das er als wünschenswert oder nützlich hätte betrachten können. "Dies ist es, was der HERR geboten hat" ‑ das genügte vollkommen. Das Wort des Herrn machte alles klar und einfach. Von seiten des Menschen war nichts weiter nötig als ein Geist unbedingten Gehorsams gegenüber dem Gebot Gottes. Aber hierin fehlten sie. Der Mensch hat sich ja stets abgeneigt gezeigt, den schmalen Pfad strenger Unterwürfig­keit unter das Wort zu gehen. Der Seitenweg scheint von jeher einen unwiderstehlichen Reiz für das arme menschliche Herz gehabt zu haben. "Gestohlene Wasser sind süß, und heimliches Brot ist lieblich" (Spr. 9, 17). Das ist die Sprache des Feindes, aber das einfältige, gehor­same Herz weiß sehr wohl, daß der Pfad der Unterwerfung unter das Wort Gottes der einzige ist, der zu wirklich "süßen Wassern" und "lieblichem Brote" führt. Nadab und Abihu mochten das eine Feuer für ebenso gut halten wie das andere, aber es war nicht ihre Sache, hierüber zu urteilen. Sie hätten nach dem Wort des Herrn handeln sollen, aber statt dessen gingen sie ihren eigenen Weg und ernteten dessen schreck­liche Früchte. "Und er weiß nicht, daß dort die Schatten sind, in den Tiefen des Scheols ihre Geladenen" (Spr. 9, 18).

 

"Da ging Feuer von dem HERRN aus und verzehrte sie, und sie starben vor dem HERRN" (V. 2). Wie furchtbar! Der HERR wohnte in der Mitte Seines Volkes, um nach den Anforderungen Seiner Natur zu herrschen, zu richten und zu handeln. Am Ende des neunten Kapitels lesen wir. "Und es ging Feuer aus von dem HERRN und verzehrte auf dem Altar das Brandopfer und die Fettstücke." Das war des HERRN Annahme eines wahren Opfers. Aber im zehnten Kapitel sehen wir Sein Gericht über die irrenden Priester. Es ist eine zweifache Wirkung desselben Feuers. Das Brandopfer stieg als ein Wohlgeruch empor, das "fremde Feuer" wurde als ein Greuel verworfen. Im Brandopfer wurde der Herr verherrlicht, aber die Annahme des "fremden Feuers" wäre eine Un­ehre für Ihn gewesen. Die göttliche Gnade nahm mit Wonne das an, was ein Vorbild auf das kostbare Opfer Christi war. Die göttliche Hei­ligkeit verwarf das, was sich als die Frucht des verdorbenen Willens des Menschen erwies ‑ eines Willens, der nie abscheulicher und häß­licher ist, als wenn er sich mit göttlichen Dingen befaßt.

 

"Und Mose sprach zu Aaron: Dies ist es, was der HERR geredet hat, indem er sprach: In denen, die mir nahen, will ich geheiligt, und vor dem ganzen Volke will ich verherrlicht werden" (V. 3). Die Würde und Herrlichkeit der ganzen Haushaltung hing von der strengen Aufrecht­erhaltung der gerechten Forderungen des HERRN ab. Wurden diese geringgeschätzt, so war alles verloren. Wenn sich der Mensch erlaubte, das Heiligtum der göttlichen Gegenwart durch "fremdes Feuer" zu ent­ehren, so war alles vorbei. Nichts anderes durfte aus der priesterlichen Räucherpfanne emporsteigen, als der Rauch des auf dem Altar Gottes angezündeten und durch "fein zerstoßenes Räucherwerk" unterhaltenen, reinen Feuers, ‑ das herrliche Vorbild auf den wahren Gottesdienst der Heiligen, dessen Gegenstand der Vater, dessen Inhalt Christus, und dessen Kraft der Heilige Geist ist. Es ist dem Menschen nicht gestattet, seine eigenen Einfälle und Gedanken in den Dienst Gottes hineinzu­bringen. Alle seine Anstrengungen können nur auf die Darbringung eines "fremden Feuers", eines unheiligen Räucherwerks und eines fal­schen Gottesdienstes hinauslaufen.

 

Ich spreche hier nicht von den aufrichtig gemeinten Anstrengungen ernster Seelen, die nach Frieden mit Gott suchen, auch nicht von dem Streben eines aufrichtigen, obschon nicht erleuchteten Gewissens, um durch Gesetzeswerke oder durch die Erfüllung religiöser Vorschriften das Bewußtsein der Sündenvergebung zu erlangen. Alle solche Seelen werden ohne Zweifel durch die große Güte Gottes zu dem bewußten Genuß der Errettung gelangen. Ihre Anstrengungen bewiesen deutlich, daß sie ernsthaft Frieden suchen, aber zugleich auch, daß sie diesen Frieden noch nicht gefunden haben. jeder, der dem Lichtschimmer, der in seine Seele gefallen ist, aufrichtig gefolgt ist ‑ mag das Licht auch noch so schwach sein ‑ wird zu seiner Zeit mehr empfangen. "Denn wer da hat, dem wird gegeben werden", und: "der Pfad der Gerechten ist wie das glänzende Morgenlicht, das stets heller leuchtet bis zur Tages­höhe" (Spr. 4, 18).

 

Dies alles ist ebenso klar wie ermutigend, hat aber mit dem mensch­lichen Willen und seinen verkehrten Handlungen in Verbindung mit dem Dienste Gottes gar nichts zu tun. Alle solche Handlungen müssen unvermeidlich das ernste Gericht des gerechten Gottes nach sich ziehen, der nicht dulden kann, daß mit Seinen heiligen Forderungen gespielt wird.

 

"In denen, die mir nahen, will ich geheiligt, und vor dem ganzen Volke will ich verherrlicht werden." Jeder wird nach seinem Bekenntnis be­handelt werden. Wenn jemand aufrichtig sucht, so wird er sicherlich finden. Wenn aber jemand als Anbeter naht, so kann er nicht mehr als ein Suchender betrachtet werden, sondern als einer, der bereits gefunden zu haben bekennt. Und wenn seine priesterliche Räucherpfanne von fremdem Feuer raucht, wenn er Gott die Grundstoffe eines falschen Gottesdienstes darbringt, wenn er die Vorhöfe Gottes ungewaschen, un­geweiht und mit einem ungebrochenen Willen betritt, wenn er endlich die Wirkungen seines eigenen verderbten Willens auf den Altar Gottes bringt ‑ was muß dann die Folge sein? Das Gericht. Es mag zögern, aber es wird kommen. Und nicht nur wird schließlich das Gericht kom­men, sondern jetzt schon wird im Himmel jeder Gottesdienst verwor­fen, der nicht den Vater zum Gegenstand, Christus zu seinem Inhalt und den Heiligen Geist zu seiner Kraft hat. Die Heiligkeit Gottes verwirft ebenso schnell jedes "fremde Feuer", wie Seine Gnade bereit ist, die schwächsten Kundgebungen eines aufrichtigen Herzens ent­gegenzunehmen. Sein gerechtes Gericht muß über jeden falschen Gottes­dienst ergehen, aber "das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen". Dieser Gedanke ist sehr ernst, wenn man an die vielen Tausende von Räucherpfannen denkt, die in dem weiten Bereich des Christentums mit fremdem Feuer angefüllt sind. Möge der Herr in Seiner reichen Gnade die Zahl der wahren Anbeter, die "den Vater in Geist und Wahrheit anbeten“, ver­mehren! Jeder, der aus Gnaden die Vergebung seiner Sünden durch das Sühnungsblut Jesu kennt, kann den Vater in Geist und Wahrheit an­beten. Er kennt den wahren Boden und den wahren Gegenstand der Anbetung und ist fähig gemacht, sie darzubringen. Diese Dinge können jedoch nur auf göttliche Weise erkannt werden. Sie gehören weder der Natur noch der Erde an. Sie sind geistlich und himmlisch. Sehr vieles von dem, was bei Menschen als wahrer Gottesdienst durchgeht, ist im Grunde nichts anderes als "fremdes Feuer". Ihm fehlt sowohl das reine Feuer, als der reine Weihrauch. Deshalb kann der Himmel ihn nicht an­nehmen. Und wenn auch das göttliche Gericht über diejenigen, die einen solchen Gottesdienst üben, nicht in derselben Weise hereinbricht, wie einst über Nadab und Abihu, so hat dies nur darin seinen Grund, daß "Gott in Christo war, die Welt mit sich selbst versöhnend, ihnen ihre Übertretungen nicht zurechnend". Mit anderen Worten, es beweist nicht, daß Gott Wohlgefallen an einem solchen Gottesdienst hat, son­dern daß Er gnädig ist. Doch bald wird der Tag anbrechen, wo das "fremde Feuer" für immer ausgelöscht, und wo der Thron Gottes nicht länger durch Wolken unreinen Weihrauchs, dargebracht durch unreine Anbeter, verhöhnt wird, sondern wo alles Unechte und Falsche ver­schwinden und das ganze Weltall wie ein herrlicher und großer Tempel dastehen wird, in welchem dem einen wahren Gott ‑ Vater, Sohn und Heiliger Geist ‑ Anbetung dargebracht werden wird von Ewigkeit zu Ewigkeit.

 

Es liegt etwas ungemein Rührendes in der Art und Weise, in der Aaron den schweren Schlag des göttlichen Gerichts aufnahm. "Und Aaron schwieg" (V. 3). Es war eine feierliche Szene. Seine beiden Söhne lagen' verzehrt durch das Feuer des göttlichen Gerichts, an seiner Seite. *)

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*) Sollte irgendeinem meiner Leser die Frage bezüglich der Seelen Nadabs und Abihus Schwierigkeiten machen, so möchte ich darauf hinweisen, daß eine solche Frage nicht erhoben werden sollte. In allen solchen Fällen, wie Nadab und Abihu hier in 3. Mose 10, bei Korah und seiner Rotte (4. Mose 16), bei der ganzen Gemeinde, deren Leiber (Josua und Kaleb ausgenommen) in der Wüste fielen (4. Mose 14; Hebr. 3), bei Achan und seinem Geschlecht (Jos. 7), bei Ananias und Saphira (Apgsch. 5), sowie bei denen, die wegen des Mißbrauchs des Tisches des Herrn gerichtet wurden (i. Kor. 11) ‑ in allen solchen Fällen, sage ich, kommt die Frage der Errettung der Seelen nicht in Betracht. Wir erkennen in ihnen die ernsten Regierungswege Gottes in. mitten Seines Volkes. Das beseitigt alle Schwierigkeiten. Der HERR wohnte vor alters zwischen den Cherubim, um Sein Volk in allem zu richten, und Gott, der Heilige Geist, wohnt jetzt in der Kirche, um zu leiten und zu re­gieren gemäß der Vollkommenheit Seiner Gegenwart. Er war so wirklich und persönlich gegenwärtig, daß Ananias und Saphira Ihn belügen und Er das Gericht an ihnen ausüben konnte. Dies war eine ebenso bestimmte Dar. Stellung Seiner Regierung, wie wir sie bei Nadab, Abihu, Achan und anderen finden.

 

Er hatte sie soeben erst mit ihren herrlichen Gewändern bekleidet, ge­waschen und gesalbt gesehen. Sie hatten mit ihm vor dem Herrn ge­standen, um feierlich in das Priesteramt eingeführt zu werden. Sie hat­ten in Gemeinschaft mit ihm die verordneten Opfer dargebracht. Sie hatten die Strahlen der göttlichen Herrlichkeit aus der Wolke hervor­brechen und das Feuer des Herrn auf das Opfer herniederfallen sehen. Auch hatten sie das Jauchzen einer anbetenden Gemeinde vernommen. Alles das war eben erst geschehen. Und jetzt? Ach! Jetzt lagen seine beiden Söhne tot zu seinen Füßen. Das Feuer des Herrn, das soeben ein annehmliches Opfer verzehrt hatte, war im Gericht über sie gekom­men, und was konnte er sagen? Nichts. "Aaron schwieg." "Ich war ver­stummt, ich tat meinen Mund nicht auf; denn du, du hast es getan." Es war die Hand Gottes, und obwohl sie nach dem Urteil von Fleisch und Blut als eine schwere Hand erscheinen mochte, blieb Aaron dennoch nichts anderes übrig, als in stiller Ehrfurcht und Ergebung sein Haupt zu beugen. "Ich war verstummt. . . , denn du, du hast es getan" (Psalm 39, 9). Das war die angemessene Stellung gegenüber der gött­lichen Heimsuchung. Aaron fühlte ohne Zweifel die Grundpfeiler seines Hauses unter dem Schlag des göttlichen Gerichts wanken. Als Vater in einer solchen Weise und unter solchen Umständen seiner beiden Söhne beraubt zu werden, das war in der Tat kein gewöhnlicher Fall. Es war eine erschütternde Erläuterung des Wortes des Psalmisten: "Gott ist gar erschrecklich in der Versammlung der Heiligen, und furchtbar über alle, die rings um ihn her sind" (Ps. 89). "Wer sollte nicht dich, Herr, fürchten und deinen Namen verherrlichen" (Offb. 15, 4)? Möch­ten wir lernen, in der Gegenwart Gottes unseren Weg vorsichtig zu gehen und die Vorhöfe des HERRN mit unbeschuhten Füßen und in einem ehrerbietigen Geist zu betreten! Möchte unsere priesterliche Räucherpfanne immer nur das eine Material, den fein zerstoßenen Weihrauch der mannigfaltigen Vollkommenheiten Christi, enthalten, und möchte die Kraft des Heiligen Geistes die geweihte Flamme ent­zünden! Alles andere ist wertlos und unrein. Alles, was aus der Kraft der Natur hervorkommt, alles, was seinen Ursprung in dem mensch­lichen Willen hat, selbst das wohlriechendste Räucherwerk menschlicher Erfindung, die glühendste Hingebung der Natur ‑ alles wird sich als "fremdes Feuer" erweisen und das ernste Gericht des Herrn, des all­mächtigen Gottes, auf sich herabziehen.

 

Das Gesagte soll nicht dazu dienen, ein schüchternes, aber aufrichtiges Herz zu entmutigen. Es ist nur zu oft der Fall, daß solche, die Grund haben, sich zu fürchten, höchst sorglos sind, während die, für die der Geist der Gnade nur Worte des Trostes und der Ermunterung hat, die ernsten Warnungen der Heiligen Schrift in verkehrter Weise auf sich anwenden. Ein demütiges und bußfertiges Herz, das vor dem Wort des Herrn zittert, befindet sich ohne Zweifel in einem sicheren Zustand. Auch dürfen wir nicht vergessen, daß ein Vater sein Kind warnt, nicht weil er es nicht als sein Kind betrachtet, sondern gerade weil er es so betrachtet und einer der lieblichsten Beweise für die Verwandtschaft ist die Neigung, die Warnung anzunehmen und Nutzen aus ihr zu ziehen.

 

Die väterliche Stimme will, wenn auch im Ton einer ernsten Ermah­nung, das Herz des Kindes erreichen, aber ganz sicher nicht zu dem Zweck, um in diesem Herzen Zweifel bezüglich seiner Verwandtschaft mit dem Vater wachzurufen. So ließ auch das Gericht, durch welches das Haus Aarons heimgesucht wurde, diesen nicht daran zweifeln, daß er wirklich Priester sei. Es hatte einzig und allein die Wirkung, ihn fühlen zu lassen, wie er sich in dieser hohen und heiligen Stellung zu ver­halten habe.

 

"Und Mose sprach zu Aaron und zu Eleasar und zu Ithamar, seinen Söhnen: Eure Häupter sollt ihr nicht entblößen und eure Kleider nicht zerreißen, damit ihr nicht sterbet, und er nicht erzürne über die ganze Gemeinde; aber eure Brüder, das ganze Haus Israel, sollen diesen Brand beweinen, den der HERR angerichtet hat. Und von dem Eingang des Zeltes der Zusammenkunft sollt ihr nicht weggehen, daß ihr nicht ster­bet; denn das Öl der Salbung des HERRN ist auf euch. Und sie taten nach dem Worte Moses" (Kap. 10, 6. 7).

 

Aaron, Eleasar und Ithamar mußten auf ihrem erhabenen Platz in heiliger Würde und in ihrer Stellung priesterlicher Herrlichkeit verharren. Weder die Sünde, noch das dadurch heraufbeschworene Gericht durfte jene störend beeinflussen, die die priesterlichen Gewänder trugen und mit dem "Öl des HERRN" gesalbt waren. Dieses Öl hatte sie in einen geweihten Bereich versetzt, wo sie von den Einflüssen der Sünde, des Todes und des Gerichts nicht erreicht werden konnten. Alle, die sich draußen, in einiger Entfernung von dem Heiligtum, befanden und nicht Priester waren, mochten den "Brand beweinen", aber Aaron und seine Söhne mußten in der Verrichtung ihres heiligen Dienstes fortfahren, als wenn nichts geschehen wäre. Die Priester im Heiligtum waren nicht da, um zu wehklagen, sondern um anzubeten. Das Feuer des HERRN mochte das Gericht ausführen, aber für einen wahren Priester tat es nichts zur Sache, zu welchem Zweck das „Feuer" gekommen war. Mochte durch das Verzehren eines Opfers dem göttlichen Wohlgefallen, oder durch das Verzehren derer, die "fremdes Feuer" opferten, dem göttlichen Mißfallen Ausdruck gegeben werden ‑ er hatte nur anzu­beten. Dieses „Feuer‑ war in Israel eine wohlbekannte Offenbarung der Gegenwart Gottes, und mochte es nun in "Gnade" oder in "Gericht" handeln, der Dienst aller wahren Priester war anzubeten. "Von Güte und Recht will ich singen; dir, HERR, will ich Psalmen singen."

 

In diesem allem liegt für die Seele eine tiefe Unterweisung. Diejenigen, die durch die Kraft des Blutes und durch die Salbung des Heiligen Geistes Gott nahe gebracht sind, haben sich in einem Bereich zu bewe­gen, der außerhalb der Einflüsse der menschlichen Natur liegt. Als Priester in der Nähe Gottes zu sein, verleiht der Seele eine solche Ein­sicht in alle Seine Wege und ein solches Gefühl von der Richtigkeit aller Seiner Handlungen, daß man fähig ist, in Seiner Gegenwart anzubeten, selbst wenn Seine Hand den Gegenstand unserer zärtlichsten Zuneigung von unserer Seite genommen hat. Aber sollen wir denn kalte, gefühllose Menschen sein? Nun, waren Aaron und seine Söhne kalt und gefühllos? Nein, sie hatten Gefühle wie Menschen, aber sie beteten an als Priester. Um in die Tiefe und Bedeutung solch heiliger Geheimnisse eindringen zu können, müssen wir in priesterlicher Energie das Heiligtum Gottes betreten.

 

Der Prophet Hesekiel wurde später berufen, diese schwierige Lektion zu lernen. "Und das Wort des HERRN geschah zu mir also: Menschen­sohn, siehe, ich nehme die Lust deiner Augen von dir weg durch einen Schlag; und du sollst nicht klagen und nicht weinen, und keine Träne soll dir kommen. Seufze schweigend, Totenklage stelle nicht an! binde dir deinen Kopfbund um und ziehe deine Schuhe an deine Füße, und deinen Bart sollst du nicht verhüllen und Brot der Leute nicht essen. Und ich redete zu dem Volke am Morgen, und am Abend starb mein Weib. Und ich tat am Morgen, wie mir geboten war" (Hes. 24, 15‑28). Die Söhne Aarons und die Frau Hesekiels wurden hinweggenommen durch einen Schlag. Dennoch durften weder die Priester noch der Pro­phet das Haupt entblößen oder eine Träne vergießen.

 

"Und der HERR redete zu Aaron und sprach: Wein und starkes Ge­tränk sollst du nicht trinken, du und deine Söhne mit dir, wenn ihr in das Zelt der Zusammenkunft hineingehet, daß ihr nicht sterbet ‑ eine ewige Satzung bei euren Geschlechtern ‑ und damit ihr unterscheidet zwischen dem Heiligen und dem Unheiligen und zwischen dem Reinen und dem Unreinen, und damit ihr die Kinder Israel lehret alle die Sat­zungen, die der HERR durch Mose zu euch geredet hat" (V. 8‑11).

 

Der Wein hat die Wirkung, die Natur zu erregen, und jede Aufregung verhindert jenes ruhige, seelische Gleichgewicht, das zur angemessenen Erfüllung des priesterlichen Dienstes nötig ist. Weit davon entfernt, uns irgendeines Mittels zur Erregung der Natur zu bedienen, sollten wir sie vielmehr als eine Sache betrachten, die keine Daseinsberechtigung hat. Nur dann werden wir uns in dem Zustand befinden, der uns be­fähigt, im Heiligtum dienen, uns ein unbefangenes Urteil über das Reine und das Unreine bilden und den Willen Gottes erklären und mitteilen zu können. Es muß natürlich jedem einzelnen überlassen bleiben, zu beurteilen, was in seinem besonderen Fall wie "Wein oder starkes Getränk" auf ihn wirken könnte. *) Die Dinge, die die Natur erregen,

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*) Manche haben wegen der auffallenden Erwähnung dieses Verbots gerade an dieser Stelle gedacht, Nadab und Abihu könnten beim Opfern des "frem­den Feuers" unter dem Einfluß starker Getränke gestanden haben. Wie dem auch sein mag, jedenfalls haben wir Ursache, für einen äußerst wertvollen Grundsatz hinsichtlich unseres Verhaltens als geistliche Priester dankbar zu sein. Wir sollten uns von allem enthalten, was auf unseren geistlichen Men­schen dieselbe Wirkung ausübt, wie starkes Getränk auf den leiblichen Menschen.

Es ist wohl kaum nötig, darauf aufmerksam zu machen, daß der Christ sehr wachsam sein sollte im Blick auf den Genuß von Wein und starken Getränken. Timotheus bedurfte, wie wir wissen, eines apostolischen Gebotes, um ihn zu veranlassen, seiner Gesundheit wegen etwas Wein zu trinken (i. Tim. 5) ‑ ein schöner Beweis von seiner Enthaltsamkeit und von der fürsorglichen Liebe des Apostels! Ich muß gestehen, daß es mein Gefühl verletzt, wenn ich Christen starkes Getränk genießen sehe in Fällen, wo es augenscheinlich nicht als Heilmittel erforderlich ist. Ich sehe selten oder nie, daß sich ein geistlich gesinnter Mensch solchen Dingen hingibt. Es ist überhaupt sehr betrübend, wenn ein Christ der Sklave einer Gewohnheit wird, welcher Art sie auch sein mag. Es beweist, daß er seinen Leib nicht in Knechtschaft hält, und daß er in großer Gefahr ist, "verwerflich" zu werden. (l. Kor. 9, 27)

 

sind in der Tat zahlreich. Da sind Reichtum, Ehrgeiz, Politik, neben tausend anderen Dingen des Wetteifers rings um uns her. Alle diese Dinge wirken aufregend auf unsere Natur und machen uns ungeschickt zu jeder Art priesterlichen Dienstes. Wenn das Herz mit Gefühlen des Hochmuts, der Habsucht oder des Wetteifers erfüllt ist, kann es unmöglich die reine Luft des Heiligtums einatmen oder die heiligen pflichten des priesterlichen Dienstes erfüllen. Man spricht wohl von geistiger Gewandtheit oder von der Fähigkeit, schnell von einer Sache zu einer anderen übergehen zu können. Aber der gewandteste Geist wird niemals einen Menschen in den Stand setzen, von dem Kampfplatz wissenschaftlichen, geschäftlichen oder politischen Wetteifers auf einmal in die Zurückgezogenheit des Heiligtums der göttlichen Gegenwart zu treten. Und ebensowenig wird ein Auge, das durch die Einflüsse dieser Dinge verdunkelt worden ist, imstande sein, zwischen dem "Heiligen und Unheiligen" und dem "Reinen und Unreinen" zu unterscheiden.

 

Nein, lieber Leser, die Priester Gottes müssen sich von "Wein und starkem Getränk" fernhalten. Sie haben einen Pfad heiliger Absonde­rung und Abgeschiedenheit zu wandern. Sie müssen sowohl über die Einflüsse irdischer Freude wie irdischer Traurigkeit erhaben sein. Von "starkem Getränk" darf unter ihnen nur dann die Rede sein, wenn von ihm "im Heiligtum ein Trankopfer dem HERRN gespendet werden soll" (4. Mose 28, 7). Mit anderen Worten, die Freude der Priester ist nicht die Freude der Erde, sondern die Freude des Himmels, die Freude des Heiligtums. "Die Freude am Herrn ist ihre Stärke."

 

Möchten doch alle diese Belehrungen tiefer in unsere Herzen dringen! Wir haben das wirklich sehr nötig. Kommen wir den verschiedenen Seiten unserer priesterlichen Verantwortlichkeit nicht treu nach, so gerät alles in Verwirrung. Wenn wir das Lager Israels betrachten, so bemerken wir drei Kreise, deren innerster seinen Mittelpunkt im Heilig­tum hatte. Der erste dieser Kreise bestand aus Kriegsleuten (4. Mose 1 und 2), der zweite aus Leviten, die rings um das Zelt lagerten (4. Mose 3 und 4), und der letzte, der innerste, aus Priestern, die an heiliger Stätte dienten. Nun, der Gläubige ist berufen, sich in allen diesen Kreisen zu bewegen. Er zieht als Kriegsmann zum Streit aus (Eph. 6, 11‑17; 1. Tim. 1, 18; 6, 12; 2. Tim. 4, 7). Er dient nach seinem Maß und in seinem Wirkungskreis als Levit in der Mitte seiner Brüder (Matth. 25, 14. 15; Luk. 19, 12. 13). Und schließlich opfert und betet er an als Priester an heiliger Stätte (Hebr. 13, 15. 16; 1. Petr. 2, 5. 9). Dieser letzte Dienst wird ewig fortdauern. Und in dem Maße, wie wir geschickt sind, uns in diesem heiligen Kreis richtig zu bewegen, werden wir auch allen anderen Beziehungen und Verpflichtungen nachkommen. Alles was uns daher für unseren priesterlichen Beruf untüchtig macht, alles was uns von dem Mittelpunkt des innersten Kreises abzieht, in dem wir uns aufhalten dürfen, kurz, alles was geeignet ist, uns in unserem priesterlichen Beruf zu stören und unser priesterliches Auge zu trüben, muß uns notwendigerweise auch ungeschickt machen für den Dienst, den wir zu erfüllen, und für den Streit, den wir zu streiten haben. Der Priester muß sein Herz mit allem Fleiß bewahren, sonst kann der Levit nicht dienen, und der Kämpfer wird überwunden.

 

üben wir uns daher im Selbstgericht, und seien wir wachsam über unsere Gewohnheiten, unsere Wege und unsere Verbindungen mit anderen, und wenn wir durch die Gnade etwas entdecken, was uns für unseren erhabenen Beruf im Heiligtum unfähig zu machen droht, so laßt es uns hinwegtun, koste es was es wolle. Laßt uns nicht zu Sklaven dieser oder jener Gewohnheit werden. Die Gemeinschaft mit Gott sollte unseren Herzen kostbarer sein als alles andere, und in dem Maße, wie wir diese Gemeinschaft schätzen, in demselben Maße werden wir auch wachen und beten, um vor allem, was sie uns rauben könnte, bewahrt zu bleiben.*)

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*) Vielleicht könnte der eine oder andere denken, daß der Wortlaut von 3. Mose 10, 9 doch wohl Raum lasse für eine gelegentliche Nachgiebigkeit jenen Dingen gegenüber, die die Natur erregen können, weil es dort heißt: "Wein und starkes Getränk sollt ihr nicht trinken, wenn ihr in das Zelt der Zusammenkunft hineingehet." Hierauf möchte ich erwidern, daß das Heilig­tum nicht eine Stätte ist, die der Christ nur bei gewissen Gelegenheiten besuchen sollte. Nein, es sollte seine Gewohnheit sein, dort zu dienen und anzubeten. Das Heiligtum ist der Bereich, in welchem er „leben und weben und sein" sollte. je mehr wir in der Gegenwart Gottes leben, um so unerträglicher ist es uns, Seine Nähe zu entbehren, und jeder, der die hohe Freude, dort zu sein, kennengelernt hat, kann sich keiner Sache hingeben, die ihn aus dieser Gemeinschaft zu verdrängen sucht. Es gibt in der Tat auf dem ganzen Erdboden nichts, was nach dem Urteil eines geistlichen Gemüts auch nur für eine Stunde der Gemeinschaft mit Gott genügenden Ersatz bieten könnte.

 

 

"Und Mose redete zu Aaron und zu Eleasar und zu Ithamar, seinen Söhnen, den übriggebliebenen: Nehmet das Speisopfer, das von den Feueropfern des HERRN übrigbleibt, und esset es ungesäuert neben dem Altar; denn hochheilig ist es. Und ihr sollt es essen an heiligem Orte, denn es ist dein Bestimmtes und das Bestimmte deiner Söhne von den Feueropfern des HERRN; denn also ist mir geboten" (V. 12. 13).

 

Es gibt wenig Dinge, in denen wir so schnell fehlen, wie in der Auf­rechthaltung des göttlichen Standpunktes, wenn menschliche Verirrun­gen und Fehler stattgefunden haben. So fürchtete sich David an dem Tage, als "der HERR einen Bruch an Ussa gemacht hatte", weil dieser seine Hand nach der Bundeslade ausgestreckt hatte. "Und David fürch­tete sich vor Gott an selbigem Tage und sprach: Wie soll ich die Lade Gottes zu mir bringen?" (i. Chron. 13, 12) Es ist außerordentlich schwierig, sich unter das Gericht Gottes zu beugen und zugleich den göttlichen Boden festzuhalten. Die Versuchung liegt so nahe, den göttlichen Maßstab zu erniedrigen und von der erhabenen Höhe auf einen menschlichen Standpunkt herabzusteigen. Wir müssen gegen dieses Böse um so mehr auf der Hut sein, weil es sich den Schein von Demut und Bescheidenheit gibt. Aaron und seine Söhne mußten trotz alles Geschehenen an heiliger Stätte das Speisopfer essen. Sie mußten dies tun, nicht weil alles in vollkommener Ordnung geschehen, sondern weil es "ihr Bestimmtes" war, und weil der HERR es Mose "geboten" hatte. Trotz der Sünde von Nadab und Abihu war ihr Platz im Heilig­tum, und alle, die sich dort befanden, hatten "ihr Bestimmtes“ aufgrund des göttlichen Befehls. Und hätte der Mensch auch noch weit mehr gefehlt, so konnte doch das Wort Gottes nicht fehlen, und dieses Wort hatte allen wahren Priestern gewisse Vorrechte zugesichert, zu deren Genuß sie berufen und berechtigt waren. Sollte den Priestern die prie­sterliche Speise entzogen werden, weil ein Vergehen stattgefunden hatte? Sollten sie, die übriggebliebenen, darben, weil Nadab und Abihu "fremdes Feuer" geopfert hatten? Das war unmöglich. Gott ist treu und kann in Seiner Gegenwart niemand leer ausgehen lassen. Der verlorene Sohn mochte umherreisen, alles vergeuden und in Armut geraten, aber dieses eine blieb immer wahr ‑ "In meines Vaters Hause ist Überfluß an Brot."

 

"Und die Brust des Webopfers und den Schenkel des Hebopfers sollt ihr essen an reinem Orte, du und deine Söhne und deine Töchter mit dir; denn als dein Bestimmtes und das Bestimmte deiner Söhne sind sie gegeben von den Friedensopfern der Kinder Israel ... als eine ewige Gebühr, so wie der HERR geboten hat“ (V. 14. 15). Welch einer Kraft und Beständigkeit begegnen wir hier! Alle Glieder der priesterlichen Familie, "Töchter" wie "Söhne", alle mußten, wie verschieden auch das Maß ihrer Kraft oder Fähigkeit sein mochte, sich nähren von der "Brust" und dem "Schenkel von der Liebe und der Kraft des wahren Friedensopfers, als auferweckt aus den Toten und vor Gott dargestellt in der Auferstehung. Das war ihr kostbares Vorrecht, das ihnen "als eine ewige Gebühr gegeben“ worden war, "so wie der HERR geboten hatte“. Das Gebot des Herrn macht alles sicher und beständig, mag kommen was da will.

 

Wir müssen jedoch einen Unterschied machen zwischen den Vorrechten, an denen alle Glieder der Familie Aarons, Töchter wie Söhne, teilhatten, und solchen, deren sich nur der männliche Teil der Familie erfreuen durfte. Wir haben diesen Punkt bereits bei der Betrachtung der Opfer berührt. Es gibt gewisse Segnungen, die das gemeinsame Teil aller Gläubigen sind, aber es gibt auch solche, deren Verständnis und Genuß ein höheres Maß von geistlicher Fähigkeit und priesterlicher Energie erfordern. Nun ist es mehr als eitel, sich des Besitzes dieses höheren Maßes zu rühmen, wenn man es nicht wirklich besitzt. Es ist eine Sache, an den Vorrechten festzuhalten, die uns von Gott "gegeben" sind und uns nie geraubt werden können, aber es ist eine andere Sache, sich einen Grad geistlicher Fähigkeit anzumaßen, den man nie erreicht hat. Ohne Zweifel sollten wir ernstlich nach dem höchsten Grade priesterlicher Ge­meinschaft, nach der erhabensten Ordnung priesterlicher Vorrechte stre­ben, aber das Streben nach einer Sache, und das anmaßende Vorgeben, sie bereits zu besitzen, sind zwei sehr verschiedene Dinge.

 

Dieser Gedanke gibt uns Licht für den letzten Teil unseres Kapitels (V. 16‑20). Den "Töchtern" Aarons war es nicht gestattet, von dein "Sündopfer" zu essen. Dieses hohe Vorrecht kam nur den "Söhnen" zu; es deutete auf die erhabenste Form des priesterlichen Dienstes hin. Dar, Essen des Sündopfers drückte dessen vollkommene Einsmachung mit dem Opfernden aus, und dieses erforderte einen höheren Grad von priesterlicher Fähigkeit und Kraft, wovon die "Söhne Aarons" ein Bild waren. Im vorliegenden Fall ist es jedoch offenbar, daß Aaron und seine Söhne sich nicht in dem Zustand befanden, um diesen hohen und hei­ligen Boden einnehmen zu können. Sie hätten in jenem Zustand sein sollen, aber sie waren es nicht. "Solches ist mir begegnet", sagt Aaron. Sicher war dies zu beklagen, aber dennoch ‑ "Mose hörte es, und es war gut in seinen Augen". Es ist besser, im Bekenntnis unserer Fehler und Mängel aufrichtig zu sein, als sich einer geistlichen Kraft zu rüh­men, die man nicht besitzt.

 

Das zehnte Kapitel des dritten Buches Mose beginnt also mit einer posi­tiven Sünde und endigt mit einem negativen Vergehen. Nadab und Abihu opferten "fremdes Feuer", und Eleasar und Ithamar waren un­fähig, das Sündopfer zu essen. Der erste Fall wird durch göttliches Gericht heimgesucht, der zweite mit göttlicher Nachsicht getragen. ,Fremdes Feuer" konnte nicht geduldet werden. Es war eine unmittel­bare Übertretung des Gebotes Gottes. Zweifellos besteht ein großer Unterschied zwischen der vorsätzlichen Verwerfung eines deutlichen Gebotes und der bloßen Unfähigkeit, sich bis zu der Höhe eines gött­lichen Vorrechts zu erheben. Das erstere ist eine offenbare Veruneh­rung Gottes, das letztere ein Verscherzen der uns zugedachten Segnun­gen. Weder das eine noch das andere sollte stattfinden, aber der Unter­schied zwischen beiden ist leicht zu erkennen.

 

Möge der Herr in Seiner Gnade uns stets in der verborgenen Zurück­gezogenheit Seiner Gegenwart erhalten und uns schenken, in Seiner Liebe zu bleiben und uns von Seiner Wahrheit zu nähren! Dann werden wir vor "fremdem Feuer" und "starken Getränk", vor jedem falschen Gottesdienst und vor fleischlicher Aufregung in allen ihren Formen bewahrt bleiben. Dann werden wir auch fähig sein, uns in jedem Kreise unseres priesterlichen Dienstes richtig zu verhalten und alle Vorrechte unserer priesterlichen Stellung zu genießen. Die Gemeinschaft eines Christen mit Gott gleicht einer zarten, empfindsamen Blüte. Sie wird leicht beschädigt durch die rauhen Einflüsse dieser bösen Welt. Sie entfaltet sich unter der belebenden Wirkung der Luft des Himmels, aber sie verschließt sich unter dem kalten Hauch des Zeitgeistes und der Vernunft. Laßt uns dies bedenken und bestrebt sein, stets innerhalb der heiligen Grenzen der göttlichen Gegenwart zu verweilen. Dort herrscht die Atmosphäre beständiger Reinheit, Sicherheit und Glück­seligkeit.

 

Kapitel 11

 

REINE UND UNREINE TIERE

 

Das 3. Buch Mose könnte mit Recht "das Handbuch des Priesters" be­titelt werden. Es ist voll von Grundsätzen für alle, die gern in dem Genuß priesterlicher Gemeinschaft mit Gott leben möchten. Hätten die Kinder Israel ihren Weg mit dem HERRN fortgesetzt gemäß der Gnade, in der Er sie aus Ägypten geführt hatte, so würden sie Ihm ein "König­reich von Priestern und eine heilige Nation" gewesen sein (2. Mose 19,6). Aber darin versagten sie in der traurigsten Weise. Sie stellten sich in eine gewisse Entfernung von Gott, gerieten unter das Gesetz und über­traten es. Deshalb mußte der HERR einen gewissen Stamm erwählen, und aus diesem Stamm ein gewisses Geschlecht, und aus diesem Ge­schlecht einen gewissen Mann, und diesem Mann und seinem Hause wurde das hohe Vorrecht verliehen, als Priester Gott zu nahen.

 

Mit einer solchen Stellung waren außerordentlich große Vorrechte, aber auch eine schwere Verantwortung verbunden. Immer neu mußte ein Priester abwägen und Unterschiede machen. "Denn die Lippen des Priesters sollen Erkenntnis bewahren, und das Gesetz sucht man aus seinem Munde, denn er ist ein Bote des HERRN der Heerscharen" (Mal. 2, 7). Der Priester hatte nicht nur beständig das Gericht Israels vor dem Herrn zu tragen (2. Mose 28, 30), sondern er mußte auch der Gemeinde die Anordnungen des Herrn erklären. Er sollte das stets bereite Mittelglied der Gemeinschaft zwischen dem HERRN und der Gemeinde sein. Alles das erforderte natürlich eine ununterbrochene Wachsamkeit, ein eingehendes Erforschen der von Gott eingegebenen Schriften, so daß seine ganze Seele gleichsam durchdrungen wurde von allen Vorschriften, Urteilen, Verordnungen, Gesetzen und Geboten des Gottes Israels, um so imstande zu sein, die Gemeinde in bezug auf die "Dinge, die getan werden sollten", zu unterweisen und zu belehren.

 

Der Einbildungskraft des Menschen war nicht der geringste Spielraum gelassen. Alles wurde durch die gebietende Autorität eines "So spricht der Herr!" zum Schweigen gebracht. Die Opfer, die Zeremonien und Gebräuche waren bis ins kleinste mit solcher Genauigkeit angeordnet, daß für das menschliche Gehirn nichts mehr zu ersinnen übrigblieb. Es war dem Menschen nicht einmal gestattet, in dem einen oder anderen Fall das Opfer oder auch nur die Art und Weise seiner Darbringung zu bestimmen. Der HERR sorgte für alles. Sein Wort ordnete alles. Der Mensch hatte nur zu gehorchen.

 

Das war für ein gehorsames Herz eine unaussprechliche Gnade. Es ist ein unschätzbares Vorrecht, daß wir uns von uns weg ‑ und zu den Aussprüchen Gottes hinwenden dürfen und dort Aufschlüsse betreffs aller nötigen Einzelheiten unseres Glaubens und unseres Dienstes finden können. Alles was wir nötig haben, ist ein gebrochener Wille und ein einfältiges Auge. Das göttliche Handbuch ist so vollständig, wie wir es nur wünschen können. Wie unwürdig ist die Haltung, die viele ‑offen oder insgeheim ‑ dem Wort Gottes gegenüber einnehmen! Wenn Sein Wort nicht genügt, wohin sollen wir uns dann wenden? Gott sagt, daß Sein Buch vermag, den "Mensch Gottes vollkommen" zu machen, "zu jedem guten Werke völlig geschickt" (2. Tim. 3, 17). Der Mensch sagt: "Nein; über viele Dinge sagt die Bibel gar nichts." Wem will ich glauben? Gott oder Menschen? Wer so spricht, ist entweder kein "Mensch Gottes" (2. Tim. 3, 17), oder die Sache, für die man eine Be­rechtigung in der Bibel sucht, ist kein "gutes Werk"; das ist ganz klar. Hätten wir nur ein tieferes Empfinden für die Fülle, Majestät und Auto­rität des Wortes Gottes! Sein Wort ist absolut und vollständig für jedes Jahrhundert, jedes Land und für alle Umstände. Mögen unsere Herzen es immer mehr schätzen: "Die Summe deines Wortes ist Wahr­heit, und alles Recht deiner Gerechtigkeit währt ewiglich" (Ps. 119, 160). Man kann das 3. Buch Mose nicht lesen, ohne von der außergewöhn­lichen Sorgfalt beeindruckt zu werden, mit der der Gott Israels Seinem Volk über jeden mit Seinem Dienst und Seiner Anbetung verbundenen Punkt die eingehendste Unterweisung gibt. Wir finden in diesem Buch eine bis ins kleinste gehende Beschreibung von vierfüßigen Tieren, verbunden mit einer Aufzählung verschiedener Merkmale, an denen das Volk erkennen sollte, was rein und was unrein war. Den Gesamtinhalt dieses bemerkenswerten Kapitels finden wir in den beiden letzten Ver­sen zusammengefaßt: "Das ist das Gesetz von dem Vieh und dem Gevögel und von jedem lebendigen Wesen, das sich in den Wassern regt, und von jedem Wesen, das auf der Erde kriecht; um zu unterschei­den zwischen dem Unreinen und dem Reinen, und zwischen dem Getier, das gegessen wird, und dem Getier, das nicht gegessen werden soll" (V. 46. 47).

 

Was zunächst das Vieh betrifft, so waren zwei Dinge notwendig, um es als rein betrachten zu dürfen: es mußte gespaltene Hufe haben und wiederkäuen. "Alles was gespaltene Hufe, und zwar ganz gespaltene Hufe, hat und wiederkäut unter den Tieren, das sollt ihr essen" (V. 1). Während nun aber diese beiden Merkmale bezüglich der Reinheit oder Unreinheit eines Tieres für die Unterweisung eines Israeliten genügend waren, ohne daß er sich darum zu kümmern brauchte, warum diese Merkmale gegeben wurden, ist es dem Christen erlaubt, nach der geist­lichen Wahrheit zu forschen, die diesen gesetzlichen Bestimmungen zugrunde liegt.

 

Was bedeuten denn jene beiden Kennzeichen eines reinen Tieres? Das Wiederkäuen drückt den natürlichen Prozeß des inneren Verdauens der genossenen Speise aus, während die gespaltenen Hufe für den äußeren Wandel charakteristisch sind. Zwischen beiden Dingen besteht in dem Leben des Christen bekanntlich eine enge Verbindung. Wer sich auf den grünen Weiden des Wortes Gottes nährt und das Genossene inner­lich verdaut, wer ein ruhiges Nachsinnen mit einer sorgfältigen Prüfung unter Gebet und Flehen vereinigt, wird ohne Zweifel jenen Charakter des äußeren Wandels offenbaren, der zum Preis dessen ist, der uns aus Gnaden Sein Wort gegeben hat, um unsere Gewohnheiten zu bil­den und unser Verhalten zu beherrschen.

 

Es ist keine Frage, daß viele, die die Bibel lesen, das Wort nicht verdauen. Man kann nämlich Kapitel nach Kapitel und Buch auf Buch lesen und dennoch nicht eine Zeile davon verdauen. Man kann die Bibel aus stumpfer und nutzloser Gewohnheit lesen und, aus Mangel an wiederkäuender Kraft, an Verdauungsorganen, keinen Vorteil daraus ziehen. Das auf der Weide grasende Vieh kann uns in dieser Hinsicht eine heilsame Lehre geben. Zuerst nimmt es emsig das erfrischende Futter zu sich, und dann legt es sich ruhig nieder, um das Genossene wiederzukäuen. Ein schönes Bild von einem Christen, der sich von dem köstlichen Inhalt des Wortes Gottes nährt und ihn dann innerlich ver­daut! Möchte dies doch mehr unter uns gefunden werden! Wäre es mehr unsere Gewohnheit, uns mit dem Wort, als der nötigen Speise unserer Seelen, zu beschäftigen, so würden wir uns sicher in einem weit kräftigeren und gesunderen Zustand befinden. Hüten wir uns, die Bibel zu lesen als eine kalte Pflicht oder als ein Stück religiöser Gewohnheit.

 

Dieselbe Vorsicht ist auch in bezug auf die Verkündigung des Wortes nötig. möchten doch alle, die die Schrift anderen auslegen, zunächst sich selbst von ihr nähren und sie gründlich verdauen! Möchten sie sie im Verborgenen lesen und Wiederkäuen, und zwar nicht für andere, son­dern für sich selbst! Es ist eine armselige Sache, beständig anderen Speise bringen zu wollen und selbst vor Hunger umzukommen. Ande­rerseits mögen diejenigen, die der öffentlichen Verkündigung des Wor­tes beiwohnen, darauf achten, daß sie es nicht mechanisch, bloß aus religiöser Gewohnheit tun, sondern vielmehr mit dem ernsten Verlan­gen, das, was sie hören, auch in sich aufzunehmen, zu bewahren und zu verdauen. Dann wird sowohl bei dem, der das Wort bringt, als bei dem, der es hört, das geistliche Leben genährt und gepflegt, und der Weg wird zur Ehre Christi gereichen.

 

Doch vergessen wir nicht, daß das Wiederkäuen niemals von den ge­spaltenen Hufen getrennt werden darf. Wenn jemand, nur zum Teil vertraut mit dem "Handbuch des Priesters" und unbewandert in dem göttlichen Zeremonial‑Gesetz, ein Tier wiederkäuen gesehen hätte, so hätte er es vielleicht als rein bezeichnet. Und doch wäre das möglicher­weise ein ernster Irrtum gewesen. Eine sorgfältigere Beachtung der gött­lichen Unterweisung würde ihm sogleich gezeigt haben, daß er den Gang des Tieres, den durch jede Bewegung bewirkten Eindruck zu beachten und die Wirkung der "gespaltenen Hufe" abzuwarten hatte. "Nur diese sollt ihr nicht essen von den wiederkäuenden und von denen, die gespaltene Hufe haben: das Kamel, denn es wiederkäut, aber es hat keine gespaltenen Hufe: unrein soll es euch sein usw." (V. 4‑6).

 

Ebenso waren die gespaltenen Hufe ungenügend, wenn das Tier nicht gleichzeitig Wiederkäuer war. "Das Schwein, denn es hat gespaltene Hufe, und zwar ganz gespaltene Hufe, aber es wiederkäut nicht; unrein soll es euch sein" (V. 7). Mit einem Wort, diese beiden Merkmale ge­hörten bei jedem reinen Tier zusammen. Das ist für die geistliche An­wendung und in praktischer Hinsicht von Bedeutung. Das innere Leben und der äußere Wandel müssen miteinander im Einklang stehen. Jemand mag bekennen, daß er das Wort Gottes als die Speise seiner Seele liebt und sich von ihm nährt, daß er es erforscht und darüber nachsinnt, aber wenn sein Wandel nicht so ist, wie das Wort es erfordert, so ist er unrein. Und andererseits, wenn jemand einen Wandel von pharisäi­scher Unbescholtenheit zur Schau trägt, dieser Wandel aber nicht der Ausdruck eines verborgenen Lebens mit Gott ist, so ist er wertlos. Der göttliche Grundsatz, sich zu nähren und zu stärken auf der reichen Weide des Wortes Gottes, muß im Innern vorhanden sein, sonst hinter­läßt der äußere Wandel keinen klaren Eindruck.

 

Wir werden hier an eine ernste Stelle im ersten Brief des Apostels Johannes erinnert, wo er uns die beiden Merkmale an die Hand gibt, die uns diejenigen erkennen lassen, die aus Gott sind: "Hieran sind offenbar die Kinder Gottes und die Kinder des Teufels. Jeder, der nicht Gerechtigkeit tut, ist nicht aus Gott, und wer nicht seinen Bruder liebt" (i. Joh. 3, 10). Hier haben wir die beiden großen charakteristischen Kennzeichen des ewigen Lebens, in dessen Besitz alle wahren Gläubigen sind: "Gerechtigkeit" und "Liebe". Das Äußere und das Innere, beides gehört zusammen. Wenn das, was Liebe genannt wird, nicht Hand in Hand geht mit praktischer Gerechtigkeit, so ist es nur ein weichlicher und oberflächlicher Gemütszustand, der alle Arten von Sünde und Irrtum duldet. Und wenn das, was Gerechtigkeit genannt wird, nicht mit Liebe verbunden ist, so wird man einem stolzen, selbstgefälligen Seelenzustand begegnen, der auf dem armseligen Boden des eigenen guten Rufes basiert. Aber wo das göttliche Leben in Kraft wirkt, da wird die innere Liebe auch stets mit praktischer Gerechtigkeit verbun­den sein. Diese beiden Elemente sind notwendig zur Bildung des wahren christlichen Charakters. Die Liebe muß vorhanden sein, die der schwäch­sten Offenbarung dessen, was aus Gott ist, entgegenkommt, und zu gleicher Zeit eine Heiligkeit, die mit tiefem Abscheu vor allem, was aus dem Teufel ist, zurückschreckt.

 

Wir wollen jetzt betrachten, was uns in dem levitischen Zeremoniell von dem, "was in den Wassern ist", gesagt wird. Auch hier finden wir ein doppeltes Kennzeichen. "Dieses sollt ihr essen von allem, was in den Wassern ist: alles was Floßfedern und Schuppen hat in den Wassern, in den Meeren und in den Flüssen, das sollt ihr essen; aber alles was keine Floßfedern und Schuppen hat in den Meeren und in den Flüssen, von allem Gewimmel der Wasser und von jedem lebendigen Wesen, das in den Wassern ist, sie sollen euch ein Greuel sein" (V. 9. 10). Zwei Dinge­ waren also zur Reinheit eines Fisches nötig. "Floßfedern und Schup­pen." Sie stellen augenscheinlich eine gewisse Tauglichkeit für den Be­reich dar, in dem sich das betreffende Geschöpf zu bewegen hatte.

 

Doch das ist ohne Zweifel nicht alles. Ich glaube, daß es unser Vorrecht ist , in den natürlichen Eigenheiten, die Gott diesen im Wasser lebenden Geschöpfen geschenkt hat, gewisse geistliche Eigenschaften zu erkennen, die dem christlichen Leben eigen sind. Wenn ein Fisch "Floßfedern" nötig hat, um durch das Wasser schwimmen, und "Schup­pen", um seiner Wirkung widerstehen zu können, so bedarf auch der Gläubige jener geistlichen Fähigkeit, die ihn in den Stand setzt, die ihn umringende Welt zu durchschreiten und zugleich ihrem Einfluß Wider­stand zu bieten, ihr Eindringen zu verhindern. Das sind wertvolle Eigen­schaften. Die Floßfedern und Schuppen sind also von tiefer Bedeutung und enthalten eine Fülle von praktischer Belehrung für den Christen. Sie erinnern uns in bildlicher Sprache an zwei Dinge, die uns in ganz besonderer Weise not tun, nämlich an die geistliche Energie, die wir brauchen, um uns in dem Element, das uns umgibt, vorwärts zu be­wegen, und an die Kraft, mit der wir gegen den Einfluß dieser bösen Welt gewappnet sein sollten. Das ganze Betragen eines Christen muß den Beweis liefern, daß er hier nur ein Gast und ein Fremdling ist. "Vorwärts!" muß seine Losung lauten: immer und nur "vorwärts!" Mögen sein Platz und seine Umstände sein, wie sie wollen, er hat sein Auge auf ein Vaterland jenseits dieser vergänglichen Welt zu richten. Er ist durch die Gnade mit der geistlichen Fähigkeit ausgerüstet, sich vorwärts zu bewegen, energisch durch alles hindurchzudringen und durch eine himmlische Gesinnung Gott zu verherrlichen. Und während er so mit festem Tritt seinen Weg fortsetzt zum Himmel, hat er sein Inneres ringsum in einem guten Verteidigungszustand zu erhalten und gegen alle äußeren Einflüsse abzusichern.

 

Die Verse 13‑25 enthalten das Gesetz betreffs der Vögel und des ge­flügelten Gewürms. Alle fleischfressenden Vogelarten und die gefrä­ßigen Vögel, die alles verschlingen, was sie finden, sowie die Tiere, die sich wohl in die Luft emporzuschwingen vermögen, sich aber trotzdem auf der Erde bewegen, waren unrein. Wenn es auch bei letzteren einige Ausnahmen gab (V. 21. 22), so war doch die allgemeine Regel, der feststehende Grundsatz deutlich. "Alles geflügelte Gewürm, das auf Vieren geht, soll euch ein Greuel sein" (V. 20). Die Belehrung, die für uns in diesem allem liegt, ist einfach. Wir können in den Gewohnheiten dieser drei Tierarten die Ursache ihrer Unreinheit erkennen, aber auch eine Darstellung dessen, wovor der wahre Christ sich hüten muß. Er ist berufen, alles abzuweisen, was aus der fleischlichen Natur kommt. Überdies darf er nicht alles ohne Unterschied genießen, was sich ihm auf dem Weg darbietet. Er muß jede Sache nach ihrem Charakter prü­fen. Er muß achthaben auf das, was er hört. Man erwartet von ihm ein geistliches Urteil und einen himmlischen Sinn. Endlich muß er die Flügel des Glaubens gebrauchen und seinen Platz da einnehmen, wo seine Heimat ist. Mit einem Wort, bei einem Christen sollte sich nichts Krie­chendes, nichts Vermengtes, nichts Unreines vorfinden.

 

In bezug auf das "Gewimmel" lautete die Bestimmung: "Alles Gewim­mel, das auf der Erde wimmelt, ist ein Greuel; es soll nicht gegessen werden" (V. 41). Wie bewundernswert ist die Gnade des HERRN. Er läßt sich herab, um bezüglich eines kriechenden Tieres Seine Vorschrif­ten zu geben. Er wollte Sein Volk selbst in der unbedeutendsten Sache nicht in Ungewißheit lassen. Er wünschte es rein zu erhalten von jeder Befleckung, die durch die Berührung mit unreinen Dingen entstehen mußte. Die Kinder Israel gehörten sich selbst nicht mehr an, und darum konnten sie nicht tun, was ihnen beliebte. Sie waren das Eigentum des HERRN. Sein Name wurde über ihnen angerufen. Sie waren mit Ihm einsgemacht. Sein Wort war ihr Führer, die Richtschnur, nach der alles geregelt werden mußte. Aus ihm lernten sie Gottes Gedanken über die Verwendbarkeit der vierfüßigen Tiere, der Fische, der Vögel und des Gewürms kennen. Sie durften sich in diesen Dingen weder durch ihre eigenen Gedanken, noch durch ihre Vernunft, noch durch die Eingebun­gen ihrer Phantasie leiten lassen. Das Wort Gottes mußte ihre einzige Richtschnur sein, Andere Völker mochten essen, was ihnen gefiel. Aber Israel hatte das Vorrecht, nur das zu essen, was dem HERRN gefiel.

 

Doch nicht nur bezüglich des Essens wurde das Volk Gottes so sorg­fältig vor Unreinem bewahrt. Schon bloßes Anrühren war verboten (Siehe V. 8. 24. 26‑28. 31‑40). Es war für ein Glied Israels unmöglich, etwas Unreines zu berühren, ohne sich zu beflecken. Dieser Grundsatz wird sowohl im Gesetz als auch in den Propheten ausführlich entwickelt. (Vergl. Hagg. 2, 11‑13). Der HERR wollte, daß Sein Volk in allem heilig ist. Sie durften Unreines weder essen noch anrühren. "Machet euch selbst nicht zum Greuel durch irgend ein kriechendes Gewürm, und verunreinigt euch nicht durch sie, so daß ihr dadurch unrein werdet" (V. 43). Und dann folgt die ernste, überwältigende Begründung für diese sorgfältige Absonderung: "Denn ich bin der HERR, euer Gott; so heiliget euch und seid heilig, denn ich bin heilig. Und ihr sollt euch selbst nicht verunreinigen durch irgendein Gewürm, das sich auf der Erde regt. Denn ich bin der HERR, der euch aus dem Lande Ägypten heraufgeführt hat, um euer Gott zu sein: so seid heilig, denn ich bin heilig" (V. 44. 45).

 

Man sieht deutlich, daß die persönliche Heiligkeit des Volkes Gottes sowie seine totale Absonderung von allem Unreinen aus seinem Ver­hältnis zu dem HERRN und nicht aus dem Grundsatz entspringt­ "Bleibe für dich und nahe mir nicht, denn ich bin dir heilig" (Jes. 65, 5)! Nein, es heißt einfach: "Gott ist heilig", und darum müssen alle, die mit Ihm in Verbindung gebracht sind, ebenfalls heilig sein. Es ist in jeder Beziehung Gottes würdig, daß Sein Volk heilig ist. "Deine Zeug­nisse sind sehr zuverlässig. Deinem Hause geziemt Heiligkeit, HERR, auf immerdar" (Ps. 93, 5). Was könnte dem Hause des HERRN anderes geziemen als Heiligkeit? Wenn jemand einen Israeliten jener Tage gefragt hätte: "Warum hast du eine solche Abneigung gegen ein krie­chendes Tier?" so hätte er erwidert: "Der HERR ist heilig, und ich bin Sein Eigentum. Er hat gesagt: Rühre es nicht an!" So sollte auch jetzt, wenn ein Christ gefragt wird, weshalb er sich von den mancherlei Din­gen fernhält, an denen die Menschen dieser Welt teilnehmen, einfach seine Antwort sein: "Mein Vater ist heilig." Das ist die wahre Grund­lage persönlicher Heiligkeit. Je mehr wir den göttlichen Charakter be­trachten, und je mehr wir in Christus durch die Wirkung des Heiligen Geistes in die Kraft unserer Beziehungen zu Gott eintreten, um so hei­liger werden wir sein. Es kann in der Stellung der Heiligkeit, in die der Gläubige gebracht ist, keinen Fortschritt geben. Aber in der Verwirk­lichung und praktischen Darstellung dieser Heiligkeit muß sich ein Fortschritt bemerkbar machen. Diese beiden Dinge dürfen nicht mitein­ander verwechselt werden. Alle Gläubigen befinden sich in derselben Stellung der Heiligkeit oder der Heiligung, aber das Maß der Verwirk­lichung kann sehr verschieden sein. Das ist leicht zu verstehen. Die Stel­lung ist eine Folge der Tatsache, daß wir Gott nahegebracht sind durch das Kreuz, während das praktische Maß unserer Heiligkeit davon abhängt, wie nahe wir durch die Kraft des Heiligen Geistes bei Ihm bleiben. Nicht daß jemand sich einbilden sollte, einen höheren Grad persönlicher Heiligkeit zu besitzen, oder besser zu sein als seine Mit­menschen. Aber wenn Gott in Seiner Gnade sich bis zu unserem niedrigen Zustand herabläßt und uns, in Verbindung mit Christus, bis zu der heiligen Höhe Seiner Gegenwart erhebt, hat Er dann nicht das Recht, zu bestimmen, wie Er uns da haben will , eben weil wir in eine Nähe gebracht sind? Und weiter, sind wir nicht verpflichtet, diese durch Ihn bestimmten Charakterzüge aufrechtzuerhalten? Machen wir uns, wenn wir dies tun, einer Anmaßung schuldig? War es eine Anmaßung, wenn ein Israelit sich weigerte, ein "kriechendes Tier" anzurühren? Nein, es wäre im Gegenteil eine Anmaßung gewesen, wenn er es ange­rührt hätte. Wohl mochte er nicht imstande sein, einem unbeschnittenen Fremdling die Ursache seines Tuns begreiflich und anerkennenswert zu machen, aber das war auch seine Aufgabe nicht. Der HERR hatte gesagt: "Rühret nicht an!" ‑ nicht weil ein Israelit in sich selbst heiliger als ein Fremdling war, sondern weil der HERR heilig und Israel Sein Eigentum war. Auge und Herz eines beschnittenen Jüngers waren nötig, um das Reine von dem Unreinen unterscheiden zu können. Ein Fremder kannte keinen Unterschied. So wird es stets sein. Die Weisheit kann nur von ihren Kindern gerechtfertigt und in ihren himmlischen Wegen gebilligt werden.

 

Bevor wir die Betrachtung unseres Kapitels schließen, möchten wir noch zum Vergleich Apgsch. ‑10, 11‑16 anführen. Wie seltsam muß es einem Mann, der von frühester Jugend an in den mosaischen Gebräuchen unterwiesen worden war, vorgekommen sein, ein Gefäß aus dem Him­mel herabkommen zu sehen, in "welchem allerlei vierfüßige und krie­chende Tiere der Erde waren und das Gevögel des Himmels", und wie wunderbar muß ihn die Stimme berührt haben, die ihm zurief: "Stehe auf, Petrus, schlachte und iß!" Von gespaltenen Hufen und anderen Merkmalen war keine Rede. Das war jetzt nicht mehr nötig. Das Gefäß war mit seinem Inhalt aus dem Himmel gekommen. Das war genug.

 

Der Jude mochte sich in die engen Grenzen des jüdischen Zeremonial­-Gesetzes einschließen und ausrufen: Keineswegs, Herr! denn niemals habe ich irgend etwas Gemeines oder Unreines gegessen", aber der Strom der göttlichen Gnade ergoß sich jetzt Über alle diese Schranken hinweg, um in seinen gewaltigen Bereich "allerlei" Gegenstände ein­zuschließen und sie in der Kraft der kostbaren Worte "Was Gott ge­reinigt hat, mache du nicht gemein!" gen Himmel emporzutragen. Wenn Gott gereinigt hatte, so war es ohne Bedeutung, was in dem Gefäß war. Derselbe Gott, der das 3. Buch Mose gegeben hatte, war bemüh,(, die Gedanken Seines Dieners über die durch dieses Buch er­richteten Schranken hinaus bis zu der Herrlichkeit der himmlischen Gnade zu erheben. Er wollte ihn belehren, daß die wahre, durch den Himmel geforderte Reinheit nichts mehr mit Wiederkäuen und gespal­tenen Hufen oder mit anderen zeremoniellen Merkmalen zu schaffen hat“ Sie besteht in dem Gewaschensein durch das Blut des Lammes, das von aller Sünde reinigt und jeden Gläubigen rein genug macht, um den Boden der himmlischen Höfe betreten zu können.

 

Das war eine herrliche, aber für einen Juden schwierige Lektion, eine göttliche Unterweisung, vor deren Strahlen die Schatten der alten Haus­haltung weichen mußten. Die Hand der unumschränkten Gnade Gottes hatte die Tür des Reiches aufgeschlossen, jedoch nicht um etwas Un­reines einzulassen. Das war unmöglich. Nichts Unreines kann in den Himmel eingehen. Aber nun konnte ein gespaltener Huf nicht länger der Prüfstein sein, sondern es handelte sich um das, "was Gott gerei­nigt hat". Wenn Gott jemand reinigt, so kann er nicht anders als rein sein. Petrus stand auf dem Punkt, zu den Heiden gesandt zu werden, um ihnen das Reich aufzuschließen, wie er es bereits den Juden aufge­schlossen hatte, und sein jüdisches Herz mußte weiter werden. Er mußte über die dunklen Schatten eines verflossenen Zeitalters in das Mittagslicht erhoben werden, das kraft des vollbrachten Opfers aus dem geöffneten Himmel herniederstrahlte. Er mußte aus dem engen Bett jüdischer Vorurteile herausgenommen und in den mächtigen Gnaden­strom versetzt werden, der sich jetzt in seiner ganzen Fülle über die verlorene Welt ergießen sollte. Auch hatte er zu lernen, daß der Maß­stab, an dem wahre Reinheit gemessen werden muß, nicht länger fleischlich und irdisch, sondern geistlich und himmlisch war. ja, wir können mit Recht sagen, daß es herrliche Lehren waren, die der Apo­stel der Beschneidung auf dem Hausdache Simons, des Gerbers, zu lernen hatte. Sie waren geeignet, ein Herz, das inmitten der einschrän­kenden Einflüsse des jüdischen Systems erzogen worden war, weit zu machen und zu erheben. Wir preisen den Herrn für diese kostbaren Unterweisungen. Wir preisen Ihn für den weiten und reichen Platz, auf den Er uns durch das Blut Christi gestellt hat. Wir preisen Ihn, daß wir nicht länger eingeengt sind durch ein: "Berühre nicht, koste nicht, be­taste nicht", sondern daß, wie Sein Wort uns versichert, "jedes Geschöpf Gottes gut und nichts verwerflich ist, wenn es mit Danksagung ge­nommen wird; denn es wird geheiligt durch Gottes Wort und durch Gebet" (i. Tim. 4, 4. 5).

 

Kapitel 12

 

DAS "GESETZ DER GEBÄRENDEN"

 

Dieser kurze Abschnitt belehrt uns in seiner eigenartigen Weise über eine zweifache Wahrheit, nämlich über den Fall des Menschen und über das Heilmittel Gottes. Die Belehrung ist klar und eindrucksvoll. Sie ist demütigend und ermutigend zugleich. Wenn die Heilige Schrift der Seele durch die Kraft des Heiligen Geistes ausgelegt wird, so führt sie uns aus uns selbst heraus zu Christus. Wo wir auch unsere gefallene Natur sehen, und auf welcher Stufe ihrer Geschichte wir sie betrachten mögen, sei es bei ihrer Empfängnis, bei ihrer Geburt, oder bei irgendeinem Punkt unseres Lebenslaufs von der Wiege bis zum Grabe, stets trägt sie das zweifache Kennzeichen der Hinfälligkeit und der Befleckung an sich. Diese Tatsache wird oft inmitten des Glanzes des menschlichen Lebens vergessen. Der Geist des Menschen ist reich an Erfindungen, um seinen demütigenden Zustand zu verdecken. Er sucht ihn auf allerlei Weise zu verzieren und zu vergolden und sich den Schein von Kraft und Herrlich­keit zu geben. Aber alle seine Anstrengungen sind vergeblich. Wir brau­chen nur daran zu denken, wie der Mensch als ein armseliges, hilfloses Wesen in diese Welt eintritt, oder wie er sie verläßt und wieder zu Staub wird, um einen unwiderlegbaren Beweis von der Nichtigkeit seines Stolzes, seiner Eitelkeit und seiner ganzen Herrlichkeit zu haben. Mag sein Weg durch diese Welt auch noch so glänzend und heiter ge­wesen sein ‑ nackt und hilflos ist er gekommen, und inmitten von Krankheit und Tod geht er dahin.

 

Doch das ist nicht alles. Nicht nur kennzeichnet Hilflosigkeit den Men­schen bei dem Eintritt in dieses Leben. Er ist auch unrein und befleckt. "Siehe", sagt der Psalmist, "in Ungerechtigkeit bin ich geboren, und in Sünde hat mich empfangen meine Mutter" (Ps. 51, 5). "Und wie könnte ein Mensch gerecht sein vor Gott, und wie könnte rein sein ein vom Weibe Geborener" (Hiob 25, 4)? Das vor uns liegende Kapitel belehrt uns, daß mit der Empfängnis und Geburt eines "männlichen Kindes" für die Mutter eine siebentägige Unreinheit und überdies noch eine dreiunddreißistägige Absonderung vom Heiligtum verbunden waren. Diese beiden Zeiten verdoppelten sich bei der Geburt eines "weiblichen Kindes". Redet diese Verordnung nicht laut zu unseren Herzen? Liegt hierin nicht eine demütigende Lehre für uns? Verkündet diese Verord­nung nicht unzweideutig, daß der Mensch ein unreines Wesen ist, und daß er des Sühnungsblutes bedarf, um gereinigt zu werden? Ohne Zweifel. Der Mensch mag sich einbilden, eine eigene Gerechtigkeit auf­richten zu können. Er mag auf die Würde der menschlichen Natur pochen, mag mit stolzer Miene seinen Weg verfolgen. Aber wenn er ein wenig über unser kurzes Kapitel nachsinnen würde, so würden sein Stolz, seine Anmaßung und seine Gerechtigkeit bald spurlos verschwin­den, und er würde statt dessen die Grundlage aller wahren Würde und den festen Grund göttlicher Gerechtigkeit in dem Kreuz unseres Herrn Jesus Christus entdecken.

 

Wir finden den Schatten dieses Kreuzes in unserem Kapitel in zweifacher Weise: zunächst in der Beschneidung des Knäbleins, wodurch es als ein Glied des Israel Gottes in die Gemeinde aufgenommen wurde, und dann in dem Brandopfer und Sündopfer, durch die die Mutter von aller Be­fleckung gereinigt und fähig gemacht wurde, aufs neue dem Heiligtum zu nahen und mit den heiligen Dingen in Berührung zu treten. "Und wenn die Tage ihrer Reinigung erfüllt sind für einen Sohn oder für eine Toch­ter, so soll sie ein einjähriges Lamm bringen zum Brandopfer, und eine junge Taube oder eine Turteltaube zum Sündopfer an den Eingang des Zeltes der Zusammenkunft zu dem Priester. Und er soll es vor dem HERRN darbringen und Sühnung für sie tun, und sie wird rein sein von dem Flusse ihres Blutes. Das ist das Gesetz der Gebärenden, bei einem männlichen oder bei einem weiblichen Kinde" (V. 6. 7). Der Tod Christi wird uns hier in seinen zwei großen Charakterzügen vor Augen gestellt, und zwar als das einzige Mittel, das der mit der natürlichen Geburt des Menschen verbundenen Befleckung begegnen und sie völlig beseitigen konnte. Bekanntlich stellt das Brandopfer den Tod Christi aus der Sicht Gottes dar, während das Sündopfer mehr das zeigt, was dem Bedürfnis des Sünders entspricht.

 

"Und wenn ihre Hand das zu einem Schafe Hinreichende nicht auf­bringen kann, so soll sie zwei Turteltauben oder zwei junge Tauben nehmen, eine zum Brandopfer und eine zum Sündopfer; und der Prie­ster soll Sühnung für sie tun, und sie wird rein sein" (V. 8). Nichts als Blutvergießung konnte Reinheit verschaffen. Das Kreuz ist das einzige Heilmittel für die Schwachheit und Unreinheit des Menschen. Wo dieses herrliche Werk im Glauben erfaßt wird, da wird auch eine vollkommene Reinheit empfunden. Das Erfassen mag schwach, der Glaube schwan­kend und die Erfahrung gering sein, aber stets dürfen wir uns zu unserem Trost daran erinnern, daß es nicht die Tiefe unserer Erfahrung' noch die Festigkeit unseres Glaubens, noch endlich die Kraft unseres Er­fassens ist, worauf es ankommt, sondern vielmehr der göttliche Wert und die unveränderliche Wirksamkeit des Blutes Jesu. Das gibt dem Herzen wahre Ruhe und einen vollkommenen Frieden. Das Opfer des Kreuzes ist für jedes Glied des Israel Gottes stets das gleiche, mag auch der Zustand der einzelnen sehr verschieden sein. Die zärtliche Fürsorge unseres Gottes zeigt sich in der Tatsache, daß das Blut einer Turteltaube für den Armen ebenso wirksam war, wie das Blut eines Stieres für den Reichen. In beiden wurde gleicherweise der volle Wert des Versöh­nungswerkes dargestellt. Wäre dies nicht so gewesen, so hätte bei einer Verunreinigung ein bedürftiger Israelit im Blick auf die großen Herden seines wohlhabenden Nachbarn ausrufen können: "Ach! was soll ich anfangen? Wie soll ich rein werden? Wodurch soll ich meinen Platz, meine Vorrechte in der Gemeinde wieder gewinnen? Ich habe keine Herde und bin arm!" Doch Gott sei Dank! für einen solchen Fall waren geeignete Maßregeln getroffen. Eine Taube und eine Turteltaube genüg­ten völlig. Dieselbe vollkommene und kostbare Gnade finden wir in Kapitel 14 im Blick auf den Aussätzigen. (V. 21. 30‑32)

 

So begegnet die Gnade einem jeden, wo er ist und wie er ist. Das Ver­söhnungsblut ist für den Geringsten, den Ärmsten und Schwächsten erreichbar. Jeder, der es nötig hat, kann es empfangen. Der Ausdruck "was seine Hand aufbringen kann" zeigt, daß selbst für den Bedürf­tigsten Vorsorge getroffen ist. Welch eine Gnade! "Armen wird das Evangelium verkündigt" (Luk. 4). Niemand kann sagen: "Das Blut Jesu war für mich nicht zu erreichen." jedem wird es nahegebracht und an­geboten. "Ich habe meine Gerechtigkeit nahegebracht" (Jes. 46, 13). Wie nahe? So nahe, daß sie für den, "der nicht wirkt, sondern an den glaubt, der den Gottlosen rechtfertigt" (Röm. 4, 5) greifbar ist. Und wiederum: "Das Wort ist dir nahe." Wie nahe? So nahe, "daß, wenn du mit deinem Munde Jesum als Herrn bekennen und in deinem Herzen glauben wirst, daß Gott ihn aus den Toten auferweckt hat, du errettet werden wirst" (Röm. 10, 9). Höre die rührende und herrliche Einladung: ..He! ihr Durstigen alle, kommet zu den Wassern; und die ihr kein Geld habt, kommet, kaufet und esset" (Jes. 55, 1)1

 

Welch eine unvergleichliche Gnade strahlt uns in den Ausdrücken "der nicht wirkt", und "die ihr kein Geld habt", entgegen! Sie entsprechen dem Wesen Gottes ebensosehr, wie sie dem Wesen des Menschen fremd sind. Die Errettung ist ebenso frei wie die Luft, die wir einatmen. Wir erlangen sie ohne eigene Mühe und Anstrengung. Wir zehren von dem Reichtum eines anderen. Wir ruhen in dem vollbrachten Werk eines anderen, und indem wir dies tun, sind wir fähig gemacht, Ihm zu dienen.

 

Unser Kapitel gibt uns noch eine andere unschätzbare Belehrung. Wir begegnen hier nicht nur der Gnade Gottes für den Armen, sondern wir finden auch, wenn wir den letzten Vers mit Luk. 2, 24 vergleichen, die Tiefe, bis zu der Gott herabgestiegen ist, um jede Gnade zu offenbaren. Der Herr Jesus Christus, Gott geoffenbart im Fleisch, das reine und fleckenlose Lamm, der Heilige, der Sünde nicht kannte, wurde "geboren von einem Weibe", und dieses Weib mußte ‑ o wunderbares Geheim­nis! ‑ nachdem sie das Heilige in ihrem Schoß getragen und jenen rei­nen, vollkommenen, heiligen und fleckenlosen menschlichen Leib gebo­ren hatte, sich dem gewöhnlichen Zeremoniell unterwerfen und nach dem Gesetz Moses die Tage ihrer Reinigung erfüllen. Und nicht nur in der Tatsache dieser Reinigung selbst, sondern auch in der Art und Weise, in der sie stattfand, entdecken wir die göttliche Gnade. "Und ein Schlachtopfer zu geben nach dem, was im Gesetz des Herrn gesagt ist: ein Paar Turteltauben oder zwei junge Tauben" (Luk. 2,24). Aus die ­dem Umstand ersehen wir, daß die Pflegeeltern unseres Heilandes so arm waren, daß sie von der gnädigen Vorsorge Gebrauch machen muß­ten, die Gott für jene getroffen hatte, deren Mittel es nicht erlaubten, "ein Lamm zum Brandopfer" darbringen zu können. Welch ein Ge­danke! Der Herr der Herrlichkeit, der höchste Gott, der Besitzer des Himmels und der Erde, der sagen kann: "Mein ist alles Getier des Waldes, das Vieh auf tausend Bergen" (Ps. 50, 10), ja, dem alle Reich­tümer des Weltalls gehören ‑ erscheint in dieser Welt, die Seine Hand geschaffen hat, in den ärmlichsten Umständen. Die levitische Haus­haltung hatte für die Armen Vorsorge getroffen, und die Mutter Jesu nahm diese für sich in Anspruch. In der Tat, hierin liegt eine tiefe Lehre für das menschliche Herz. Der Herr Jesus erschien in dieser Welt nicht in Verbindung mit den Großen oder den Edlen. Er wurde für uns arm und nahm Seinen Platz unter den Armen. "Denn ihr kennet die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, daß er, da er reich war, um euretwillen arm wurde, auf daß ihr durch seine Armut reich würdet" (2. Kor. 8, 9). Er entäußerte sich alles dessen, was die Liebe schenken konnte, damit wir bekleidet und reich werden möchten. Er starb, um uns das Leben zu schenken. In Seiner unendlichen Gnade stieg Er von der Höhe göttlichen Reichtums in die Tiefe menschlicher Armut herab, damit wir aus dem Kot des menschlichen Verderbens erhoben und für ewig unter die Fürsten Seines Volkes versetzt werden könnten (l. Sam. 2, 8). Möchte das Bewußtsein dieser Gnade, das durch die Kraft des Heiligen Geistes in unseren Herzen gewirkt ist, uns anspornen zu einer größeren Hingabe an Ihn, der die Quelle unseres gegenwärtigen und ewigen Glücks, unseres Reichtums, unseres Lebens, ja, der unser alles ist!

 

Kapitel 13 und 14

 

DAS "AUSSATZ‑ÜBEL“­ UND DAS "GESETZ DES AUSSÄTZIGEN“

 

Von allen Dienstverrichtungen, die der Priester zu beobachten hatte, forderte keine soviel Sorgfalt und Aufmerksamkeit wie das Erkennen und Behandeln des Aussatzes.

 

Es ging dabei besonders um die Reinheit der Versammlung oder Ge­meinde und um die Gnade, die nur dann den Ausschluß eines Gliedes gestatten konnte, wenn die Gründe dazu deutlich feststanden. Die Heiligkeit Gottes konnte niemand erlauben, in der Versammlung zu bleiben, wenn er draußen sein mußte, und andererseits wollte die Gnade niemand draußen haben, der drinnen seinen Platz hätte haben sollen. Daher bedurfte der Priester in hohem Maß Wachsamkeit und Weisheit, Geduld und Sorgfalt und gereifte Erfahrung.

 

Mit welcher Vorsicht mußte der Priester bei der Prüfung des Aussatzes zu Werke gehen! Er mußte das übel besehen und den damit Behafteten sieben Tage einschließen. Er mußte nach Ablauf dieser sieben Tage eine neue Besichtigung vornehmen und nach Befund der Dinge den Kranken zum zweiten Mal sieben Tage einschließen, und erst nach einer noch­maligen Prüfung am siebten Tag durfte er das Urteil fällen, ob es Aus­satz war oder nicht. Kein Fall durfte voreilig beurteilt oder unbesonnen entschieden werden. Persönliche Beobachtung, priesterliche Unterschei­dung, ruhige Erwägung, strenge Beachtung des geschriebenen Wortes, dieses heiligen, unfehlbaren Wegweisers ‑ alles das war unbedingt erforderlich, wenn der Priester sich ein gesundes Urteil bilden wollte. In nichts durfte er sich durch eigene Gedanken, durch eigene Gefühle oder durch eigene Weisheit leiten lassen. Das Wort bezeichnete genau den einzuschlagenden Weg. jedes Kennzeichen, jede Veränderung, jedes besondere Symptom und Merkmal ‑ alles war mit göttlicher Vollkom­menheit und Vorsorge bezeichnet, so daß der Priester nur mit dem Wort bekannt und ihm unterworfen zu sein brauchte, um vor Fehlentschei­dungen bewahrt zu bleiben.

 

Soviel über den Priester und seine Verantwortlichkeit. Betrachten wir jetzt die Krankheit selbst. Der Aussatz konnte an einer Person, einem Kleidungsstück oder an einem Hause ausbrechen.

 

Von rein natürlichem Gesichtspunkt aus betrachtet, gibt es wohl keine Krankheit, die ekelhafter sein könnte als der Aussatz, und da er unheil­bar ist, so liefert er ein lebendiges und erschreckendes Bild von der Sünde: von der Sünde in der Natur des Menschen, in seinen Umständen und in der Versammlung. Welch eine ernste Belehrung liegt für die Seele in der Tatsache, daß diese abscheuliche und erniedrigende Krank­heit als ein Bild des sittlich Bösen zu betrachten ist, sei es des Bösen in einem Glied der Gemeinde Gottes' in den Umständen eines solchen Gliedes oder in der Gemeinde selbst!

 

1. Betrachten wir denn zunächst den Aussatz an einer Person, oder, mit anderen Worten, die Wirkung des sittlich Bösen (oder dessen, was den Schein des Bösen hatte) in einem Glied der Versammlung.

 

Die Grundsätze des Aussatzes und seiner Reinigung sind im weiteren Sinn auf jeden Sünder anwendbar; im vorliegenden Abschnitt jedoch wird die Sache nur in Beziehung zu denen dargestellt, die das aner­kannte Volk Gottes ausmachten. Die Person, die der Priester hier un­tersuchen muß, ist ein Glied der Versammlung Gottes. Das ist wohl zu beachten. Die Versammlung Gottes muß rein erhalten werden, weil sie die Wohnstätte Gottes ist. Keinem Aussätzigen darf gestattet werden, innerhalb der Grenzen der Wohnung des HERRN zu verweilen.

 

Es ist erstaunlich zu sehen, mit welcher Sorgfalt und Geduld der Priester handeln mußte, damit nicht etwas, das kein Aussatz war, als solcher behandelt, oder etwas, das wirklich Aussatz war, von ihm übersehen wurde. Vieles mochte in ",der Haut" (der Stelle, wo sich die Krankheit zeigte) erscheinen und dem Aussätzigen täuschend ähnlich sehen und sich doch nach der sorgfältigen Prüfung des Priesters als unbedenklich und äußerlich erweisen. Hier mußte die größte Sorgfalt geübt werden. Da zeigte sich vielleicht ein Flecken auf der Oberfläche der Haut, der nicht verunreinigend war. Und andererseits konnte ein scheinbar nur an der Oberfläche liegender Flecken sich bei näherer Untersuchung als tieferliegend erweisen, als etwas, was bereits den gesamten Organismus angegriffen hatte. Alles das forderte die sorgfältigste Prüfung des Prie­sters. (Siehe V. 2‑11.) Irgendeine geringfügige Nachlässigkeit, ein un­bedeutendes Versehen konnte die traurigsten Folgen nach sich ziehen. Es konnte zur Verunreinigung der ganzen Gemeinde führen, wenn ein wirklich Aussätziger in ihrer Mitte blieb, oder andererseits zu dem Ausschluß eines reinen Gliedes Israels wegen etlicher äußerer Flek­ken, die ohne Bedeutung waren.

 

Wir haben hier eine Fülle von Unterweisung für das Volk Gottes. Es ist ein Unterschied zu machen zwischen persönlicher Schwachheit und der Wirksamkeit von ganz entschieden Bösem, zwischen Mängeln und Gebrechen im äußeren Charakter und in der Tätigkeit der Sünde in den Gliedern. Ohne Zweifel ist es nötig, über unsere Schwachheiten zu wachen, denn wenn sie nicht bewacht, nicht gerichtet und bekämpft wer­den, können sie zur Quelle von offenbarem Bösem werden. (Siehe V. 14‑28.) Alles was aus der Natur ist, muß verurteilt und unter den Füßen gehalten werden. Obwohl wir persönliche Schwachheit in ande­ren milde beurteilen müssen, sollten wir sie in uns selbst niemals be­günstigen. Denken wir z. B. an ein leicht erregbares Temperament. In mir selbst sollte ich es entschieden verurteilen, bei einem anderen es mit Geduld tragen. Es kann sich, gleich dem "weißrötlichen Flecken" bei einem Israeliten (V. 19. 20), als die Quelle tatsächlicher Verunreinigung erweisen, ja, zur Ursache meines Ausschlusses aus der Versammlung werden. jede Form von Schwachheit muß überwacht werden, damit sie keinen Anlaß zur Sünde gibt. "Ein kahles Haupt" war kein Aussatz, aber der Aussatz konnte sich dort zeigen, und daher mußte es über­wacht werden. So gibt es Hunderte von Dingen, die an und für sich nicht sündig sind, die aber, wenn sie nicht sorgfältig überwacht werden, Anlaß zur Sünde geben können. Auch handelt es sich dabei nicht nur um Dinge, die nach unserer Meinung als Flecken, Gebrechen und per­sönliche Schwachheiten bezeichnet werden müssen, sondern auch um Dinge, deren wir uns vielleicht gerne rühmen. Witz, Neigung zum Scherzen, ein lebhafter Geist und ein fröhliches Gemüt ‑ alles das kann die Ursache und Quelle einer Verunreinigung werden. Jeder von uns hat etwas, worüber er besonders zu wachen hat und wobei er stets auf der Hut sein muß. Wie gesegnet ist es, daß wir ein Vaterherz kennen, zu dem wir im Blick auf alle diese Dinge kommen, und auf das wir stets rechnen dürfen! Wir haben das große Vorrecht, zu jeder Zeit in der Gegenwart einer Liebe erscheinen zu dürfen, die nichts vorwirft und nie ermüdet; dort können wir unser Herz ausschütten und Hilfe finden, um über alles den Sieg davonzutragen.

 

Doch was war zu tun, wenn der Aussatz unzweideutig festgestellt war? Der Gott Israels konnte mit Schwachheiten, Mängeln und Gebrechen Nachsicht haben, aber von dem Augenblick an, wo ein Zustand tatsäch­licher Unreinheit eintrat, sei es auf dem Kopf, im Bart, an der Stirn, oder an irgendeinem anderen Teil des Körpers, konnte das Übel in der Versammlung nicht mehr geduldet werden. "Und der Aussätzige, an dem das Übel ist, ‑ seine Kleider sollen zerrissen und sein Haupt soll entblößt sein, und er soll seinen Bart verhüllen und ausrufen: Unrein, unrein! Alle die Tage, da das Übel an ihm ist, soll er unrein sein; er ist unrein: allein soll er wohnen, außerhalb des Lagers soll seine Wohnung sein" (V. 45. 46). Das war der Zustand, die Beschäftigung und der Platz des Aussätzigen. Mit zerrissenen Kleidern, entblößtem Haupt, verhüll­tem Bart und mit dem Schrei auf seinen Lippen: "Unrein, unrein!" wohnte er draußen in der Einöde, in einer trostlosen, menschenleeren Wüste. Was hätte demütigender und herabwürdigender sein können als das? "Allein soll er wohnen." Er war untauglich für jeden Verkehr und jede Gemeinschaft. Er war von dem einzigen Platz in der ganzen Welt ausgeschlossen, wo die Gegenwart des HERRN gekannt und genossen wurde.

 

Mein Leser! Sieh hier in dem armen, verlassenen Aussätzigen ein leben­diges Bild von jemand, in dem die Sünde wirkt. Das ist es in der Tat, was uns vor Augen gestellt werden soll. Es handelt sich hier nicht, wie wir bald sehen werden, um einen hilflosen, schuldigen und überführten Sünder, dessen Schuld und Elend ans Licht getreten ist und der als solcher einen passenden Gegenstand für die Liebe Gottes und für das Blut Christi bildet. Nein, wir erblicken vielmehr in dem ausgeschlosse­nen Aussätzigen einen Menschen, in dem die Sünde noch in ihrer gan­zen Kraft wirksam ist. Das ist es, was verunreinigt und von dem Genuß der Gegenwart Gottes und der Gemeinschaft der Heiligen ausschließt. Solange die Sünde wirkt, kann keine Gemeinschaft mit Gott oder mit Seinem Volk stattfinden. "Allein soll er wohnen, außerhalb des Lagers soll seine Wohnung sein." Wie lange? "Alle die Tage, da das Übel an ihm ist." Das ist eine wichtige praktische Wahrheit. Die Wirksam­keit des Bösen ist der Todesstoß für alle Gemeinschaft. Es mag viel äußerer Schein, Form und Bekenntnis vorhanden sein, aber Gemein­schaft kann nicht stattfinden, solange die Kraft des Bösen da ist. Es kommt nicht auf den Charakter oder das Maß des Bösen an. Wenn es auch nur in einem törichten Gedanken besteht, so muß es doch, solange es weiter wirkt, die Gemeinschaft verhindern. Erst dann, wenn das Übel seinen Höhepunkt erreicht hat, wenn es offensichtlich zum Vorschein gekommen und ganz und gar ausgebrochen ist, kann es durch die Gnade Gottes und durch das Blut des Lammes geheilt und hinweggetan werden.

 

Dieser Gedanke leitet uns zu einem höchst wichtigen Punkt, der allen, die die Handlungsweise Gottes mit dem Sünder nicht verstehen, gerade­zu widersinnig erscheinen muß. Wir lesen in V. 12 u. 13 bezüglich des Aussätzigen: "Wenn aber der Aussatz in der Haut ausbricht, und der Aussatz die ganze Haut dessen, der das Übel hat, bedeckt, von seinem Kopfe bis zu seinen Füßen, wohin auch die Augen des Priesters blicken; und der Priester besieht ihn, und siehe, der Aussatz hat sein ganzes Fleisch bedeckt, so soll er den, der das Übel hat, für rein erklä­ren; hat es sich ganz in weiß verwandelt, so ist er rein" (V. 12. 13). In dem Augenblick, wo ein Sünder seinen wahren Platz vor Gott ein­nimmt, ist die Frage geordnet. Sobald sein wirklicher Charakter voll und ganz ans Licht gestellt ist, gibt es keine Schwierigkeit mehr. Er mag, ehe er diesen Punkt erreicht, und weil er sich weigert, seinen wahren Platz einzunehmen, viele schmerzliche Übungen durchzumachen haben, damit die "ganze Wahrheit" hinsichtlich dessen, was er ist, ans Licht kommt. Aber sobald er dahin gebracht ist, von Herzen zu sagen: "Hier stehe ich, so wie ich bin", kommt ihm die ganze, freie Gnade Gottes zugute. "Als ich schwieg, verzehrten sich meine Gebeine durch mein Gestöhn den ganzen Tag. Denn Tag und Nacht lastete auf mir deine Hand; verwandelt ward mein Saft in Sommerdürre (Ps. 32, 3. 4). Wie lange dauerte diese schmerzliche Erfahrung? Bis die ganze Wahrheit ans Licht kam, bis alles, was im Innern wirkte, völlig an die Oberfläche trat. "Ich tat dir kund meine Sünde und habe meine Ungerechtigkeit nicht zugedeckt. Ich sagte: Ich will dem HERRN meine Übertretungen bekennen; und du, du hast vergeben die Ungerechtigkeit meiner Sünde" (Ps. 32, 5).

 

Es ist aufschlußreich, das Tun des Herrn mit dem Aussätzigen zu beob­achten, von dem Augenblick an, wo sich die ersten Merkmale des Übels auf der Haut zeigten, bis zu dem Zeitpunkt, wo die Krankheit den ganzen Menschen "von seinem Kopfe bis zu seinen Füßen" bedeckte. Hier gibt es weder Übereilung noch Gleichgültigkeit. Gott kann mit Langmut untersuchen. Er kann "sieben Tage" und, sollte sich die ge­ringste Veränderung in den Symptomen zeigen, nochmals "sieben Tage" warten. Aber sobald das bestimmte Wirken des Aussatzes festgestellt ist, gibt es kein Zögern mehr. "Außerhalb des Lagers soll seine Woh­nung sein." Wie lange? Bis die Krankheit völlig an die Oberfläche getreten ist. "Wenn der Aussatz sein ganzes Fleisch bedeckt hat, so soll er ihn für rein erklären." Das ist ein wichtiger Punkt. Wenn der Mensch vom Kopf bis zu den Füßen mit Aussatz bedeckt war, so wurde er für rein erklärt, d. h. er war dann ein geeigneter Gegenstand für die Gnade Gottes und das Blut der Versöhnung.

 

Ebenso verhält es sich mit dem Sünder. Gott ist "zu rein von Augen, um Böses zu sehen, und Mühsal vermag er nicht anzuschauen" (Hab. 1, 13), und dennoch, sobald der Mensch seinen Platz einnimmt als ein verlorener und schuldiger Sünder, als jemand, in dem nichts ist, worauf das Auge einer grenzenlosen Heiligkeit mit Wohlgefallen ruht, ja, der so schlecht ist, daß er unmöglich schlechter sein könnte ‑ so ist die vollkommene göttliche Gnade da, um alles zu ordnen. Die Gnade Gottes beschäftigt sich mit Sündern, und wenn ich mich als Sünder er­kenne, so erkenne ich mich da als einer, zu dessen Errettung Christus gekommen ist. je klarer mich jemand überführen kann, daß ich ein Sünder bin, um so kräftiger begründet er mein Anrecht auf die Liebe Gottes und auf das Werk Christi. "Denn es hat ja Christus einmal für Sünden gelitten, der Gerechte für die Ungerechten, auf daß er uns zu Gott führe" (i. Petr. 3, 18). Nun, ich bin ein "Ungerechter". Ich bin einer von denen, für die Christus starb, und habe deshalb ein Anrecht auf die Früchte Seines Todes. Wenn ich etwas anderes als ungerecht wäre, so würde der Tod Christi nicht für mich sein, aber da ich un­gerecht bin, so ist er gerade für mich passend, von Gott für mich be­stimmt, und wird von Gott auf mich angewandt. Wenn ich mit etwas in oder von mir beschäftigt bin, so ist es klar, daß ich die geistliche An­wendung von 3. Mose 13, 12. 13 noch nicht ganz begriffen habe. Ich bin dann nicht zu dem Lamme Gottes gekommen, "gerade so wie ich bin". Gott erwartet von uns nicht, daß wir etwas Besonderes fühlen oder erfahren, sondern daß wir Seinem Wort glauben. Erst wenn der Aussätzige vom Kopf bis zu den Füßen mit Aussatz bedeckt war, hatte er den wahren Platz erreicht, auf dem die Gnade ihm begegnen konnte. ja, "wo die Sünde überströmend geworden, ist die Gnade noch überschwenglicher geworden." Solange ich meine, daß noch irgendein Pünktchen an mir von jenem ekelhaften Übel frei ist, bin ich noch nicht mit mir zu Ende gekommen. Erst wenn mein wahrer Zustand vor mei­nen Augen völlig aufgedeckt ist, werde ich verstehen, was Errettung aus Gnaden bedeutet.

 

Beschäftigen wir uns jetzt kurz mit dem Aussatz an einem Kleidungs­stück, wie er uns in Kap. 13, 47‑59 dargestellt wird.

 

2. Das Kleid oder das Fell legt den Gedanken an die Umstände oder die Gewohnheiten eines Menschen nahe. Wir müssen ebenso sorgfältig über die Wirkung des Bösen in unserem Verhalten, wie über seine Wir­kung in uns selbst wachen. Ein Kleid mußte ebenso geduldig geprüft werden wie eine Person. Auch hier begegnen wir weder einer Über­eilung, noch einer Gleichgültigkeit. "Und der Priester besehe das Übel, und schließe das, woran das Übel ist, sieben Tage ein" (V. 50). Das Böse kann sich auf unzähligen Wegen in unsere Gewohnheiten und Umstände einschleichen. Sobald wir etwas Verdächtiges bei uns wahr­nehmen, muß dies sofort einer ruhigen priesterlichen Prüfung unter­worfen werden. Es muß "sieben Tage eingeschlossen" werden, damit es hinreichend Zeit hat, sich völlig zu entwickeln.

 

"Und sieht er das Übel am siebenten Tage, daß das Übel um sich ge­griffen hat am Kleide, oder an der Kette oder am Einschlag, oder am Felle, nach allem, wozu das Fell verarbeitet wird, so ist das Übel ein fressender Aussatz: es ist unrein ... es soll mit Feuer verbrannt werden" (V. 51. 52). Sobald man eine schlechte Gewohnheit bei sich entdeckt, muß sie aufgegeben werden. Befinde ich mich in einer verkehrten Stel­lung, so muß ich sie verlassen. Das Verbrennen des Kleides ist ein Ausdruck der Gerichtshandlung über das Böse, mag es sich in den Ge­wohnheiten oder in den Umständen eines Menschen zeigen. Das Böse darf nie als etwas Unbedeutendes betrachtet werden. In einzelnen Fällen mußte das Kleid "gewaschen" werden, worin sich die Wirkung des Wortes Gottes auf das Verhalten eines Menschen ausdrückt. "Der Priester soll gebieten, daß man das wasche, woran das Übel ist; und er soll es zum zweiten Male sieben Tage einschließen" (V. 54). Ein gedul­diges Warten ist nötig, um die Wirkung des Wortes Gottes feststellen zu können. "Und besieht der Priester das übel nach dem Waschen, und siehe, das Übel hat sein Aussehen nicht geändert. . . , so ist es un­rein; du sollst es mit Feuer verbrennen" (V. 55). Gibt es etwas in un­serer Stellung oder in unseren Gewohnheiten, was sich als unheilbar und von Grund auf böse erweist, so muß die ganze Sache aufgegeben werden. "Und wenn der Priester es besieht, und siehe, das übel ist blaß geworden nach dem Waschen, so soll er es abreißen vom Kleide­(V. 56). Das Wort Gottes kann bewirken, daß die schlechten Züge in dem Charakter eines Menschen oder das Verkehrte in seiner Stellung verschwindet und somit das Übel beseitigt wird. Aber wenn das übel nach allem fortdauert, so muß die ganze Sache verurteilt und auf­gegeben werden.

 

In allen Dingen liegt eine reiche Fülle praktischer Unterweisung. Wir müssen wohl achthaben auf die Stellung, die wir einnehmen, auf die Umstände, in denen wir uns befinden, auf die Gewohnheiten, die wir annehmen, und auf den Charakter, den wir zur Schau tragen. ja, eine ganz besondere Wachsamkeit ist notwendig. Jedes verdächtige Symptom muß mit heiligem Eifer überwacht werden, damit es sich nicht am Ende als ein "fressender" oder ein "um sich greifender Aussatz" erweist, wodurch wir und viele andere verunreinigt werden können. Wir be­finden uns vielleicht in einer Stellung, mit der gewisse böse Dinge ver­knüpft sind, die jedoch aufgegeben werden können, ohne daß wir die Stellung verlassen müssen, während wir uns andererseits in Verhält­nissen befinden können, die es uns unmöglich machen, "mit Gott zu leben". Wenn das Auge einfältig ist, wird der Pfad deutlich sein. Wenn unser Herz wirklich danach verlangt, die Gegenwart Gottes zu genießen, so werden wir leicht die Dinge entdecken, die darauf hinauslaufen, uns dieser unaussprechlichen Segnung zu berauben. Möchten unsere Herzen zart und empfindsam sein!

 

Wir kommen jetzt zu den mit der Reinigung des Aussätzigen ver­bundenen schönen und bezeichnenden Verordnungen. Sie zeigen uns einige der herrlichsten Wahrheiten des Evangeliums.

 

"Und der HERR redete zu Mose und sprach: Dies soll das Gesetz des Aussätzigen sein am Tage seiner Reinigung: Er soll zu dem Priester gebracht werden; und der Priester soll außerhalb des Lagers gehen" (Kap. 14, 1‑3). Wir haben bereits gesehen, wo der Aussätzige wohnte. Er war außerhalb des Lagers, von Gott, von Seinem Heiligtum und Seiner Versammlung getrennt. Um ihn her eine trostlose Einöde, und er selbst äußerlich unrein. Er befand sich außerhalb des Bereiches mensch­licher Hilfe, und was ihn selbst betraf, so konnte er durch Berührung einer Person oder einer Sache nichts als Verunreinigung übertragen. Es war ihm daher ganz und gar unmöglich, etwas zu tun, was ihn hätte reinigen können. Wenn er durch Anrühren nur verunreinigen konnte, wo gab es dann eine Möglichkeit für ihn, sich selbst zu reinigen oder irgend ‑etwas zu seiner Reinigung beizutragen oder mitzuwirken? Das war völlig unmöglich. Als ein unreiner Aussätziger konnte er nicht das Geringste für sich tun. Alles mußte für ihn getan werden. Er konnte sich keinen Weg zu Gott bahnen, aber Gott konnte zu ihm kommen. Er war völlig auf Gott geworfen. In ihm selbst oder in seinen Mit­menschen gab es keine Aussicht auf Hilfe. Es ist klar, daß der eine Aussätzige nicht den anderen reinigen konnte, und es ist ebenso klar, daß ein Aussätziger eine reine Person verunreinigte, wenn er sie an­rührte. Seine einzige Hilfsquelle war deshalb in Gott. Er mußte im Blick auf alles ein Schuldner der Gnade sein. Daher lesen wir: "Der Priester soll außerhalb des Lagers gehen." Es wird nicht gesagt: "Der Aussätzige soll gehen." Davon war keine Rede. Es hatte keinen Zweck, mit dem Aussätzigen von Gehen und Tun zu reden. Er war einer trost­losen Einöde überliefert. Wohin konnte er gehen? Er war hilflos dieser schrecklichen, verunreinigenden Krankheit verfallen. Was konnte er tun? Er mochte gern etwas Umgang haben und rein werden wollen, aber er war ja nur ein einsamer, hilfloser Aussätziger. Er mochte alle nur erdenklichen Anstrengungen zu seiner Reinigung machen, aber seine Anstrengungen konnten nur seine Unreinheit erweisen und die Beflek­kung weiter ausbreiten. Ehe er für "rein" erklärt werden konnte, mußte ein Werk für ihn geschehen, das er selbst nicht tun und bei dem er nicht mithelfen konnte ‑ ein Werk, das ganz und gar durch einen anderen getan werden mußte. Der Aussätzige hatte nur "still zu stehen" und den Priester ein Werk tun zu sehen, durch das der Aussatz vollständig gerei­nigt werden konnte. Der Priester verrichtete alles. Der Aussätzige tat nichts.

 

"Der Priester soll gebieten, daß man für den, der zu reinigen ist, zwei lebendige, reine Vögel nehme und Zedernholz und Karmesin und Ysop. Und der Priester soll gebieten, daß man den einen Vogel schlachte in ein irdenes Gefäß über lebendigem Wasser" (V. 4. 5). In dem Priester, der aus dem Lager und der Wohnstätte Gottes hinausgeht, erblicken wir den Herrn Jesus, wie Er herniederkommt aus dem Schoß des Vaters, Seinem ewigen Wohnplatz, in diese sündenbedeckte Welt, wo Er uns mit dem Aussatz der Sünde behaftet sah. Gleich dem barmherzigen Samariter kam Er dahin, wo wir waren. Und das war nötig. Wenn Er im Schoß des Vaters geblieben wäre, so hätte Er unmöglich unserem Aussatz ,en gebieten können, von uns zu weichen, ohne die heiligen Forderung Gottes zu verletzen. Er konnte durch das Wort Seines Mundes Welten ins Dasein rufen. Sollte aber der aussätzige Sünder gereinigt werden, so mußte mehr geschehen. Also hat Gott die Welt geliebt, daß er sei­nen eingeborenen Sohn gab." Wenn Himmel und Erde geschaffen wer­den sollten, brauchte Gott nur zu reden. Wenn es sich aber um die Errettung verlorener Sünder handelte, so bedurfte es der Hingabe Seines Sohnes. (Vergl. 1. Joh. 4, 9. 10)

 

Die Sendung und Fleischwerdung des Sohnes war jedoch nicht alles, was erfüllt werden mußte. Es hätte dem Aussätzigen wenig genützt, wenn der Priester nur das Lager verlassen hätte, um seinen elenden Zustand zu besichtigen. Blutvergießung war nötig, wenn der Aussatz weichen sollte. Es bedurfte des Todes eines fleckenlosen Opfers. "Ohne Blutvergießung ist keine Vergebung" (Hebr. 9, 22). Die Blutvergießung bildete die wahre Grundlage der Reinigung des Aussätzigen. Sie war nicht nur ein bloßer Umstand, der in Verbindung mit anderen Um­ständen zur Reinigung des Aussätzigen beitrug. Keineswegs. Die Dahin­gabe des Lebens war das Erhabenste und Wichtigste; das allein öffnete den Weg und beseitigte jede Schranke, so daß Gott in Gnade mit dem Aussätzigen handeln konnte.

 

"Und der Priester soll gebieten, daß man den einen Vogel schlachte in ein irdenes Gefäß über lebendigem Wasser." Christus ist "in Schwach­heit gekreuzigt worden" (2. Kor. 13). Das größte und herrlichste Werk, das je im Weltall geschehen ist, wurde "in Schwachheit" vollbracht. 0 mein Leser, wie schrecklich muß die Sünde in den Augen Gottes sein, wenn Sein vielgeliebter Sohn vom Himmel herniedersteigen und als ein Schauspiel für Menschen, Engel und Teufel an dem Fluchholz hän­gen mußte, um für dich und mich die Vergebung zu erwirken! Und welch ein Bild von der Sünde finden wir in dem Aussatz! Wer hätte denken können, daß der kleine, "weiß‑rötliche Flecken" an dem Körper eines Gliedes der Gemeinde Israels von solch ernsten Folgen begleitet gewesen wäre? Und dennoch war dieser unscheinbare Flecken, da wo er sich zeigte, nichts anderes als die wirksame Kraft des Bösen. Er verriet die entsetzliche Wirkung der Sünde, und bevor jemand für einen Platz in der Versammlung oder für den Genuß der Gemeinschaft mit dem heiligen Gott passend gemacht werden konnte, mußte der Sohn Gottes aus dem Himmel kommen und in die untersten Örter der Erde hinabsteigen, um für alles das, was sich in Form eines kleinen, "weiß‑rötlichen Fleckens" offenbarte, eine vollkommene Versöhnung zustande zu bringen. Möchten wir uns hieran stets erinnern! Die Sünde ist entsetz­lich in den Augen Gottes. Er kann nicht einen einzigen sündhaften Gedanken dulden. Die unbedeutendste Sünde (wenn irgendwie die Sünde unbedeutend genannt werden kann) forderte nichts Geringeres als den Tod des Sohnes Gottes. Aber was die Sünde forderte, das hat die erlösende Liebe freiwillig gegeben, und jetzt wird Gott in der Ver­gebung der Sünde unendlich mehr verherrlicht, als es der Fall gewesen wäre, wenn Adam seine ursprüngliche Unschuld bewahrt hätte. Gott wird mehr verherrlicht durch die Errettung, Rechtfertigung, Bewahrung und schließliche Verherrlichung des schuldigen Menschen, als Er je hätte verherrlicht werden können durch die Bewahrung des unschuldigen Menschen in dem Genuß der Segnungen dieser Schöpfung. Das ist das große Geheimnis der Erlösung.

 

Sobald das Blut vergossen ist, kann der Priester sogleich sein Werk be­ginnen. (V. 6. 7) Bis dahin lasen wir: "Der Priester soll gebieten, aber jetzt handelt er unmittelbar selbst. Der Tod Christi ist die Grundlage Seiner priesterlichen Tätigkeit. Nachdem Er mit Seinem eigenen Blut in das Heiligtum gegangen ist, handelt Er als unser großer Hoherpriester, indem Er alle die wunderbaren Ergebnisse Seines Versöhnungswerkes auf unsere Seelen anwendet und uns in der vollkommenen und gött­lichen Unversehrtheit der Stellung aufrecht erhält, in die Sein Opfer uns gebracht hat. (Hebr. 8, 3. 4)

 

Wir könnten kaum ein treffenderes Vorbild auf die Auferstehung Christi finden, als das, was uns in "dem ins freie Feld fliegenden, le­bendigen Vogel" vor Augen gestellt wird. Dessen Freilassung geschah erst nach dem Tode seines Gefährten, denn die beiden Vögel versinn­bildlichen einen Christus in zwei Abschnitten Seines Werkes: in Seinem Tode und in Seiner Auferstehung. Hätte man auch noch so viele andere Vögel freigelassen, so würde das dem Aussätzigen nichts genützt haben. Nein, jener lebendige Vogel mußte es sein, der zum Himmel emporstieg und auf seinen Flügeln das Zeichen einer vollbrachten Versöhnung trug und der so die große Tatsache verkündigte, daß das Werk vollbracht, der Boden gereinigt und die Grundlage gelegt war. Ebenso ist es im Blick auf unseren Herrn und Heiland Jesus Christus. Seine Auferste­hung verkündigt den Triumph der Erlösung. "Er ist unserer Rechtferti­gung wegen auferweckt worden." Das nimmt die Last von dem müh­seligen und beladenen Herzen und beruhigt das bekümmerte Gewissen. Die Schriften versichern mir, daß Jesus unter der Last meiner Sünden am Kreuz hing, und dieselben Schriften versichern mir, daß Er das Grab verlassen hat, ohne noch irgendeine von diesen Sünden auf sich zu haben. Und das ist noch nicht alles. Dieselben Schriften versichern mir auch, daß alle, die ihr Vertrauen auf den Herrn Jesus setzen, ebenso frei von aller Schuld sind wie Er selbst, daß es für sie ebensowenig eine Verdammnis gibt, wie für Ihn; daß sie in Ihm, eins mit Ihm, begnadigt und angenommen in Ihm, mit Ihm lebendig gemacht, mit Ihm aufer­weckt und in Ihm in die himmlischen örter mitversetzt sind. Das ist das Zeugnis der Schriften, das uns Frieden gibt, das Zeugnis Gottes, der nicht lügen kann. (Siehe Röm. 6, 6‑11; 8, 1‑4; 2. Kor. 5, 21; Eph. 2, 5. 6; Kol. 2, 10‑15; 1. Joh. 4, 17)

 

Der 6. Vers unseres Kapitels enthält noch eine andere wichtige Wahr­heit. Wir sehen hier nicht nur in dem freigelassenen Vogel unsere voll­kommene Befreiung von Schuld und Verdammnis, sondern wir finden hier auch in treffender Weise in dem "Karmesin" und in dem "Zedern­holz und Ysop" unsere völlige Befreiung von allen Reizen der Erde und allen Einflüssen der Natur dargestellt. Das Kreuz ist das Ende aller Herrlichkeit dieser Welt. Gott stellt es als solches dar, und der Gläubige erkennt es als solches an. "Von mir aber sei es ferne, mich zu rühmen, als nur des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus, durch welchen (oder: welches) mir die Welt gekreuzigt ist, und ich der Welt" (Gal. 6, 14).

 

Was nun das »Zedernholz und den Ysop“ anbelangt, so stellen sie gleichsam die beiden Extreme in dem weiten Gebiet der Natur dar. Salomo "redete über die Bäume, von der Zeder, die auf dem Libanon ist, bis zum Ysop, der an der Mauer herauswächst" (l. Kön. 4, 33). Von der hohen Zeder, die die Hänge des Libanon krönt, bis zu dem niedrigen Ysop, der an der Mauer herauswächst, ist die Natur in allen ihren ver­schiedenen Bereichen unter die Macht des Kreuzes gebracht, so daß der Gläubige in dem Tod Christi das Ende seiner ganzen Schuld, das Ende aller irdischen Herrlichkeit und das Ende der ganzen alten Schöpfung erblickt. Und womit soll er sich beschäftigen? Mit Ihm, dem Gegenbild jenes lebendigen Vogels, der mit blutbenetzten Flügeln zum Himmel emporstieg. Wie herrlich, darüber nachzudenken! Wie wird die Seele da befriedigt! Ein auferstandener, aufgefahrener und verherrlichter Chri­stus ist durch die Himmel gegangen und Seine heilige Person trägt die Merkmale der vollbrachten Erlösung. Er ist es, mit dem wir es zu tun haben. Auf Ihn sind wir geworfen. Er ist der ausschließliche Gegenstand der Wonne Gottes. Er ist der Mittelpunkt der Freude des Himmels, der Gegenstand des Lobgesangs der Engel. Wir haben jetzt kein Verlangen mehr nach irdischer Herrlichkeit, nach den Reizen der Natur. Wir kön­nen sie, samt unserer Sünde und Schuld, als durch den Tod Christi für ewig beseitigt betrachten. Und wahrlich, wir können Erde und Natur wohl entbehren, da wir statt ihrer "den unausforschlichen Reichtum des Christus" erlangt haben.

 

"Und er soll auf den, der vom Aussatz zu reinigen ist, siebenmal spren­gen und ihn für rein erklären: und den lebendigen Vogel soll er ins freie Feld fliegen lassen" (V. 7). Es kam nur Gott zu, ein Werk zu er­denken und zu vollbringen, durch das der Aussätzige gereinigt werden konnte. Ebenso kam es nur Gott zu, den Aussätzigen "rein" zu er­klären. Darum steht geschrieben: "Der Priester soll auf ihn sprengen" und "soll ihn für rein erklären". Es wird nicht gesagt, daß der Aus­sätzige sich besprengen und für rein erklären oder für rein halten sollte. Sein eigenes Tun oder Denken war ohne Belang. Gott war es, der alles beurteilte, der heilte und reinigte. Er allein wußte, was Aussatz war, wie er beseitigt, und wann der Aussätzige für rein erklärt werden konnte. Nur im Wort Gottes, in dem göttlichen Zeugnis, wurde dem Aussätzigen die volle Wahrheit bezüglich des Aussatzes kundgetan und nichts Geringeres als dieselbe Autorität mußte ihn für rein erklären, und zwar nur auf dem Boden des Todes und der Auferstehung. Es besteht also eine wichtige Verbindung zwischen den drei Dingen in Vers 7: das Blut wird gesprengt, der Aussätzige für rein erklärt und der lebendige Vogel freigelassen. Keinerlei Andeutung wird von dem ge­macht, was der Aussätzige zu tun, zu sagen, zu denken oder zu fühlen hatte. Er war ein Aussätziger, von Kopf bis Fuß mit Aussatz bedeckt. Es war für ihn genug, dies zu wissen. Alles andere war Gottes Sache. Gott gebe, daß jeder, der mit Ernst nach Frieden sucht, die in diesem Abschnitt entwickelte Wahrheit erfaßt! Wie viele beunruhigen und quälen sich mit der Frage des Fühlens, des Verwirklichens (der persön­lichen Erfahrung) und des Aneignens, anstatt zu bedenken, daß das Sprengen des Blutes ebenso unabhängig von dem Aussätzigen und ebenso göttlich war, wie das Blutvergießen.

 

Das Evangelium, durch das wir errettet werden, lautet: "Christus ist für unsere Sünden gestorben, nach den Schriften; und er wurde begraben, und er ist auferweckt worden am dritten Tage, nach den Schriften" (l. Kor. 15, 3. 4). Für jemand, der dem Ertrinken nahe war, ist es ein erhebendes Gefühl, sich im Rettungsboot geborgen zu wissen, aber immerhin ist es nicht dieses Gefühl, das ihn rettet, sondern das Ret­tungsboot. Genauso ist es mit dem Sünder, der an den Herrn Jesus Christus glaubt. Er ist durch den Tod und die Auferstehung Christi errettet. Er ist nicht errettet, weil er es fühlt, sondern weil Gott es ihm sagt. Es ist "nach den Schriften." Christus ist gestorben und wieder auferstanden, und auf diesem Grund erklärt Gott ihn für rein.

 

Nichts verrät wohl deutlicher die tiefgewurzelte Gesetzlichkeit unserer Herzen, als die so oft erhobene Frage der Verwirklichung des sich Aneignens, der innerlichen Erfahrung dieser Wahrheiten. Wir wollen irgendwie unser eigenes Ich mitwirken lassen und schwächen dadurch unseren Frieden und unsere Freiheit in Christus. Hauptsächlich aus diesem Grunde verweile ich so lange bei der Reinigung des Aussätzigen und besonders bei der in Kap. 14, 7 entwickelten Wahrheit. Es war der Priester, der das Blut sprengte, und es war der Priester, der den Aus­sätzigen für rein erklärte. Und ebenso verhält es sich mit dem Sünder.

 

Wenn der Aussätzige in dem Augenblick, da der Priester ihn für rein erklärte, auf sich selbst geblickt hätte, würde er dann irgendeinen Grund dafür gefunden haben? Ganz sicher nicht. Das gesprengte Blut, und nicht irgend etwas in oder in Verbindung mit dem Aussätzigen, war die Grundlage des göttlichen Zeugnisses. Er wurde nicht danach gefragt, was er fühle, oder was er denke, auch nicht, wie tief er das Schreck­liche seiner Krankheit erkenne. Er war anerkanntermaßen aussätzig, und das war genug. Für einen solchen wurde das Blut vergossen, und das Blut machte ihn rein. Wie konnte er das wissen? Weil er es fühlte7 Nein, sondern weil der Priester es ihm an Gottes Statt und durch Seine Bevollmächtigung verkündigte. Der Aussätzige wurde für rein erklärt auf derselben Grundlage, auf der der lebendige Vogel freige­lassen wurde. Dasselbe Blut, in das der lebendige Vogel eingetaucht worden war, wurde auf den Aussätzigen gesprengt. Damit war die Sache vollkommen und in einer Weise geordnet, die von dem Aussät­zigen, von seinen Gefühlen, seinen Gedanken und seiner Verwirk­lichung oder Erfahrung gänzlich unabhängig war. Und wenn wir jetzt unsere Blicke von diesem Bild abwenden und das Gegenbild ins Auge fassen, so sehen wir, daß unser Herr Jesus Christus in den Himmel ging und am Thron Gottes das ewige Zeugnis Seines vollbrachten

 

Werkes niederlegte, kraft dessen auch der Gläubige dort eintreten kann. Das ist eine kostbare Wahrheit, die Gott dazu ausersehen hat, aus dem Herzen einer ernstlich suchenden Seele jeden Zweifel, jede Furcht, jeden beunruhigenden Gedanken und jede quälende Frage wegzunehmen. Der auferstandene Christus ist der ausschließliche Gegenstand Gottes, und Er erblickt jeden Gläubigen in Ihm.

 

"Und der zu reinigen ist, soll seine Kleider waschen und all sein Haar scheren und sich im Wasser baden; und er ist rein. Und danach darf er ins Lager kommen, aber er soll sieben Tage außerhalb seines Zeltes bleiben" (V. 8). Der für rein erklärte Aussätzige konnte jetzt beginnen, etwas zu tun, das er vorher nicht einmal versuchen durfte: er konnte sich reinigen, seine Kleider waschen, sein Haar scheren und, nachdem dies geschehen war, seinen Platz im Lager einnehmen, den Platz der an­erkannten, öffentlichen Gemeinschaft mit dem Gott Israels, dessen Gegenwart im Lager die Entfernung des Aussätzigen nötig gemacht hatte. Nachdem das Blut in seiner versöhnenden Kraft angewandt wor­den ist, tritt die Waschung mit Wasser in den Vordergrund, als ein Symbol der Wirkung des Wortes auf den Charakter, die Gewohn­heiten und Handlungen eines Menschen, so daß dieser dadurch nicht allein in den Augen Gottes, sondern auch in den Augen der Gemeinde befähigt wird, in der öffentlichen Versammlung seinen Platz einzu­nehmen.

 

Aber obwohl der Aussätzige jetzt mit Blut besprengt, mit Wasser ge­waschen und somit zu einer Stellung in der öffentlichen Versammlung berechtigt war, wurde es ihm doch noch nicht gestattet, in sein eigenes Zelt, d. h. in den vollen Genuß jener verborgenen, persönlichen Vor­rechte einzutreten, die seinem besonderen Platz im Lager zukamen. Mit anderen Worten: obwohl er die Versöhnung durch das vergossene und gesprengte Blut kannte und das Wort als die Richtschnur aner­kannte, nach der seine Person und alle seine Gewohnheiten gereinigt und ausgerichtet werden sollten, mußte er doch noch, in der Kraft des Heiligen Geistes, in den vollen, bewußten Genu2, seines besonderen Platzes und seiner besonderen Vorrechte in Christus gebracht werden.

 

Wie oft wird diese Wahrheit übersehen! Es gibt viele, die das Blut Christi als die alleinige Grundlage der Vergebung und das Wort als das einzige Mittel anerkennen, durch das ihre Gewohnheiten, Handlungen und Verbindungen gereinigt und geregelt werden müssen, die aber dennoch weit davon entfernt sind, durch die Kraft des Heiligen Geistes die Kostbarkeit und Vortrefflichkeit des Herrn zu genießen. Sie stehen auf dem Platz einer tatsächlichen Verbindung mit Christus, aber nicht in der Kraft persönlicher Gemeinschaft. Es ist vollkommen wahr, daß alle Gläubigen in Christus sind, und als solche berechtigt zum prak­tischen Genuß der erhabensten Wahrheiten. Auch besitzen sie den Hei­ligen Geist als die Kraft der Gemeinschaft. Aber so wahr dies alles ist, schließt es doch nicht die Beiseitesetzung alles dessen, was der Natur angehört, in sich ein, die zu einer wahren Gemeinschaft mit Christus in den verschiedenen Seiten Seines Charakters und Seines Werkes not­wendig ist. Freilich wird dies erst am "achten Tage" voll und ganz ver­standen werden, an dem Tage der Auferstehungs‑Herrlichkeit, wo wir erkennen werden, wie wir erkannt sind. Dann wird in der Tat jeder für sich, dann werden alle miteinander in die volle Gemeinschaft mit Christus eintreten und alle die wunderbaren Seiten Seiner Person und die herrlichen Züge Seines Charakters erkennen, wie sie in den Versen 10‑20 unseres Kapitels beschrieben sind. Das ist die Hoffnung, die vor uns liegt. Aber schon jetzt können wir in dem Maß, wie wir durch den Glauben und die Kraft des Heiligen Geistes den Tod Christi auf uns selbst, auf die Natur und alles, was zu ihr gehört, anwenden, in der persönlichen Gemeinschaft mit Christus, in Ihm unsere Speise und unsere Wonne finden.

 

"Und es soll geschehen, am siebenten Tage soll er all sein Haar scheren, sein Haupt und seinen Bart und seine Augenbrauen; ja, all sein Haar soll er scheren und seine Kleider waschen und sein Fleisch im Wasser baden; er ist rein" (V. 9). Es ist klar, daß der Aussätzige am ersten Tag, nachdem das Blut in seiner siebenfältigen oder vollkommenen Kraft auf ihn gesprengt war, nach dem Urteil Gottes ebenso rein war wie am siebten Tag. Worin bestand nun der Unterschied? Nicht in seiner Stellung oder in seinem Zustand, sondern in seiner persönlichen Einsicht und Gemeinschaft. Am siebten Tag wurde er berufen, sich von allem zu trennen, was der Natur angehörte. Er sollte verstehen lernen, daß nicht nur der Aussatz der Natur, sondern auch jede Zierde der Natur, ja, alles was natürlich war, alles was dem alten Zustand an­gehörte, beseitigt werden mußte.

 

Die Lehre zu kennen, daß Gott meine Natur als tot betrachtet, ist etwas ganz anderes, als mich selbst für tot zu "halten" (Röm. 6, 11), den alten Menschen mit seinen Handlungen praktisch auszuziehen und meine Glieder, die auf der Erde sind, zu töten (Kol. 3, 5). Dies ist es wahrscheinlich, woran viele Christen denken, wenn sie von einer fort­schreitenden Heiligung sprechen. Ihre Meinung ist nicht gerade ver­kehrt, aber sie fassen die Sache nicht genau so auf, wie die Schrift es tut. Der Aussätzige wurde für rein erklärt, sobald das Blut auf ihn ge­sprengt war, und dennoch mußte er sich selbst reinigen. Wie ist das zu verstehen? In dem ersten Fall war er vor Gott rein. In dem zweiten mußte er praktisch, nach seinem persönlichen Verständnis und in sei­nem ganzen Äußeren, rein sein. So ist es auch mit dem Gläubigen. Er ist, als eins mit Christus, "gewaschen, geheiligt und gerechtfertigt", "begnadigt" oder "angenehm gemacht" und "vollendet" (i. Kor. 6, 11; Eph. 1, 6; Kol. 2, 10). Das ist seine unveränderliche Stellung, sein Zu­stand vor Gott. Er ist ebenso vollkommen geheiligt wie vollkommen gerechtfertigt, denn nach dem Urteil und der Entscheidung Gottes in dieser Sache ist Christus der Maßstab für beides. Das Ergreifen dieser Wahrheiten, sowie deren Darstellung in den Gewohnheiten und Wegen eines Gläubigen ist jedoch eine ganz andere Sache. Daher lesen wir: "Da wir nun diese Verheißungen haben, Geliebte, so laßt uns uns selbst reinigen von jeder Befleckung des Fleisches und des Geistes, indem wir die Heiligkeit vollenden in der Furcht Gottes" (2. Kor. 7, 1). Weil Christus uns durch Sein kostbares Blut gereinigt hat, sind wir berufen, uns selbst zu reinigen, indem wir das Wort durch den Geist auf uns anwenden. "Dieser ist es, der gekommen ist durch Wasser und Blut, Jesus, der Christus; nicht durch das Wasser allein, sondern durch das Wasser und das Blut. Und der Geist ist es, der da zeugt, weil der Geist die Wahrheit ist. Denn drei sind, die da zeugen: der Geist und das Wasser und das Blut, und die drei sind einstimmig" (l. Joh. 5, 6‑8). Hier haben wir die Versöhnung durch das Blut, die Reinigung durch das Wort und die Kraft durch den Geist, alles gegründet auf den Tod Christi, und alles lebendig veranschaulicht in den Anordnungen über die Reinigung des Aussätzigen.

 

In den Versen 10‑12 haben wir die ganze Reihe der Opfer; aber das Schuldopfer ist das erste, das geschlachtet wird, da der Aussätzige als ein wirklich Schuldiger betrachtet wird. Dies ist in jedem Fall wahr. Als solche, die gegen Gott gesündigt haben, benötigen wir Christus als den, der auf dem Kreuz für diese Vergehungen gebüßt hat. Er Selbst hat unsere Sünden an seinem Leibe auf dem Holze getragen". Der erste Gesichtspunkt, unter dem der Sünder Christus kennenlernt, ist der, daß er Ihn erblickt als das Gegenbild des Schuldopfers. (V. 14)

 

Das "Ohr", dieses schuldige Glied, das sich so oft als Mitteilungskanal für Eitelkeit, Torheit und selbst Unreinigkeit erwiesen hat, das Ohr muß durch das Blut des Schuldopfers gereinigt werden. So ist jedes Ver­gehen, das ich durch dieses Glied begangen habe, nach dem Maße vergeben, in dem Gott das Blut Christi schätzt. Die "rechte Hand", die sich so oft zur Ausführung eitler, törichter und selbst unreiner Werke ausgestreckt hat, muß durch das Blut des Schuldopfers gereinigt wer­den. So ist jedes durch dieses Glied begangene Vergehen nach dem Maße vergeben, in dem Gott das Blut Christi schätzt. Der "Fuß", der so oft den Pfad der Eitelkeit, der Torheit und selbst der Unreinigkeit gewandelt ist, muß jetzt gereinigt werden durch das Blut des Schuld­opfers, so daß jedes durch dieses Glied begangene Vergehen nach dem Maße vergeben ist, in dem Gott das Blut schätzt. Ja, alles, alles ist ver­geben, alles ist ausgelöscht, alles vergessen, alles wie Blei in den ge­waltigen Wassern ewiger Vergessenheit versunken. Wer könnte es wieder nach oben bringen? Werden Engel, Menschen oder Teufel im­stande sein, in diese unergründlichen Wasser hinabzusteigen, um jene Vergehungen des "Fußes", der "Hand" oder des "Ohres", die Gottes Liebe hineingeworfen hat, wieder an die Oberfläche zu bringen? Nein, Gott sei Dank! ‑ sie sind verschwunden, für ewig verschwunden. Ich bin weit besser daran, als wenn Adam nie gesündigt hätte. Weit besser ist es, im Blut Christi gewaschen, als in Unschuld gekleidet zu sein!

 

Das Versöhnungsblut Christi hat die Vergehungen ausgelöscht. Aber damit war Gott noch nicht zufrieden. Er hat noch Größeres im Sinn.

 

Unsere Glieder werden nicht nur durch das Blut Christi gereinigt, son­dern auch in der Kraft des Geistes Gottes geweiht. (V. 15‑1s) Das Werk Gottes verdrängt nicht nur die negativen Dinge, sondern bringt auch positive hervor. Nicht nur soll das Ohr nicht länger dem Zweck dienen, verunreinigende Dinge aufzunehmen, sondern es soll die Stimme des guten Hirten "schnell hören". Nicht nur soll die Hand nicht länger als Werkzeug der Ungerechtigkeit gebraucht werden, sondern sie soll sich brauchen lassen zu Handlungen der Gerechtigkeit, der Gnade und der wahren Heiligkeit. Nicht nur soll der Fuß nicht länger die Wege der Torheit gehen, sondern er soll in den Wegen der heiligen Gebote Gottes laufen. Mit einem Wort, der ganze Mensch soll in der Kraft des Hei­ligen Geistes Gott geweiht sein.

 

Es ist bemerkenswert, daß "das Öl auf das Blut des Schuldopfers" getan wurde. Das Blut Christi ist die göttliche Grundlage für das Wirken des Heiligen Geistes. Das Blut und das Öl gehören zusammen. Nur aufgrund des Blutes können wir als Sünder von dem Öl etwas wissen. Das Öl konnte nicht auf den Aussätzigen gebracht werden, bevor das Blut des Schuldopfers angewandt worden war. "In welchem ihr auch, nachdem ihr geglaubt habt, versiegelt worden seid mit dem Heiligen Geiste der Verheißung." Die göttliche Genauigkeit des Bildes muß die Bewunderung jedes erneuerten Herzens wachrufen. Je tiefer wir in das Bild eindringen, und je mehr wir das Licht der Schrift darauf scheinen lassen, desto mehr werden wir seine Schönheit und Genauig­keit wahrnehmen und genießen. Alles steht, wie es ja zu erwarten ist, mit dem ganzen Zusammenhang des Wortes Gottes in voller und schö­ner Übereinstimmung. Um das zu erkennen, bedarf es keiner großen Anstrengung unseres Geistes. Wenn man Christus als Schlüssel hat, um den reichen Schatz der Bilder des Alten Testamentes zu erschließen, wenn man den wunderbaren Inhalt im Licht der göttlichen Inspiration prüft und den Heiligen Geist als göttlichen Lehrer benutzt, so wird man ganz sicher erbaut, erleuchtet und gesegnet.

 

"Und der Priester soll das Sündopfer opfern und Sühnung tun für den, der von seiner Unreinheit zu reinigen ist." Hier haben wir nicht nur ein Bild von Christus als dem, der unsere Sünden getragen hat, son­dern wir sehen Ihn hier auch als den, der mit Wurzel und Zweig der Sünde ein Ende gemacht und das ganze System der Sünde zerstört hat, wir sehen Ihn als Aas Lamm Gottes, welches die Sünde der Welt wegnimmt".

 

Als Schuldopfer nahm Christus alle meine Sünden, meine ganze Schuld, hinweg. Als Sündopfer traf Er die Wurzel, aus der alle jene Sünden hervorkamen. Er hat alles in Ordnung gebracht; aber ich lerne Ihn zu­erst als das Schuldopfer kennen, weil ich Ihn als solches zuerst nötig habe. Das erste, was mich beunruhigt, ist "das Bewußtsein“ oder das Gewissen von Sünden". Diesem ist durch mein Schuldopfer göttlich begegnet worden. Später aber finde ich, daß alle diese Sünden eine Wurzel haben, einen Stamm, aus dem sie herauswachsen, und daß diese Wurzel und dieser Stamm sich in mir selbst befinden. Diesem ist gleich­falls durch mein Sündopfer in göttlicher Weise begegnet worden. Die Reihenfolge der Handlungen bei der Reinigung des Aussätzigen ist sehr harmonisch. Wir können genau dieselbe Reihenfolge in den praktischen Erfahrungen jeder einzelnen Seele wahrnehmen. Zuerst kommt das Schuldopfer, dann das Sündopfer, "und danach soll er das Brandopfer schlachten“ (V. 19). Dieses Opfer versinnbildlicht bekanntlich die er­habenste Seite des Todes Christi. Es ist Christus als der, der sich selbst ohne Flecken Gott opferte, ohne besondere Beziehung zu Schuld oder Sünde. Es ist Christus, der in vollkommener Hingabe zum Kreuz ging und sich dort Gott zu einem duftenden Wohlgeruch opferte.

 

"Und der Priester soll das Brandopfer und das Speisopfer auf dem Altar opfern. Und so tue der Priester Sühnung für ihn; und er ist rein" (V. 20). Das Speisopfer stellt den "Menschen Christus Jesus" in Seinem vollkommenen menschlichen Leben dar. In dem vorliegenden Fall steht es mit dem Brandopfer in unmittelbarer Verbindung, und ebenso ist es auch in der Erfahrung jedes erretteten Sünders. Wenn wir wissen, daß unsere Sünden vergeben sind und die Wurzel oder der Grundsatz der Sünde gerichtet ist, so können wir nach unserem Maße durch die Kraft des Geistes mit Gott Gemeinschaft haben in Seiner Freude über den Herrn Jesus: Sein Leben als Mensch war vollkommen, und Er hat sich schließlich ohne Flecken auf dem Kreuz Gott geopfert. Wir sehen hier also bei der Reinigung des Aussätzigen die vier Opferklassen in ihrer göttlichen Anordnung vor uns: zuerst das Schuldopfer, dann das Sünd­opfer und endlich das Brandopfer und das Speisopfer.

 

Hiermit endet die Beschreibung des Tuns des Herrn mit dem Aussät­zigen, und wie wunderbar ist diese Darstellung! Welch eine Entfaltung der Häßlichkeit der Sünde, aber auch der Gnade und Heiligkeit Gottes, der Kostbarkeit der Person Christi und der Wirksamkeit Seines Wer­kes! Nichts könnte interessanter und lehrreicher sein, als den Spuren der göttlichen Gnade zu folgen, von den Vorhöfen des Heiligtums an bis zu jener unreinen Stätte, wo der Aussätzige stand mit entblöß­tem Haupt, verhülltem Bart und zerrissenen Kleidern ‑ ein Bild des Jammers. Gott besuchte den Aussätzigen, wo er war, aber Er ließ ihn nicht dort. Er ging zu ihm hinaus mit der Absicht, ein Werk zu voll­bringen, durch das der Aussätzige zu einem höheren Platz und einer höheren Gemeinschaft gebracht werden konnte, als er sie vorher je gekannt hatte. Denn aufgrund dieses Werkes wurde der Aussätzige von der Stätte der Unreinheit und Einsamkeit an den Eingang des Zel­tes der Zusammenkunft geführt, d. h. an den Platz des Priesters, um sich dort priesterlicher Segnungen zu erfreuen. (Vergl. 2. Mose 29, 20. 21. 32) Wie hätte er je zu einer solchen Höhe emporsteigen können? Unmöglich! Wenn es auf ihn angekommen wäre, so würde ihm nichts an­deres übriggeblieben sein, als in seinem Aussatz hinzusiechen und zu sterben. Aber die unumschränkte Gnade des Gottes Israels ließ sich zu ihm herab, "um ihn aus dem Kote zu erhöhen und ihn sitzen zu lassen

 

bei den Edlen" Seines Volkes (l. Sam. 2, 8). Und wie herrlich wirkte diese Gnade! Sie stieg zur tiefsten Tiefe herab, um den Aussätzigen zur erhabensten Höhe zu erheben. Sieh nur, was der Aussätzige verlor, und was er gewann! Er verlor alles das, was der Natur angehörte, und gewann dafür das Blut der Versöhnung und die Gnade des Geistes. Ich meine natürlich bildlich gesehen. Er war nach seiner Reinigung weit, weit besser daran, als wenn er nie aus dem Lager vertrieben worden wäre. Das ist die Gnade Gottes. Das ist die Macht, der Wert und die Wirkung des Blutes Jesu.

 

Wie lebhaft erinnert uns das alles an den verlorenen Sohn in Lukas 15! Auch bei ihm hatte der Aussatz gewirkt und seinen Höhepunkt er­reicht. Er war weit entfernt an jener unreinen Stätte gewesen, wo seine eigenen Sünden und der Eigennutz des fernen Landes eine Einöde um ihn her geschaffen hatten. Doch dank der tiefen und zärtlichen Liebe des Vaters fand der verlorene Sohn einen höheren Platz und schmeckte eine höhere Gemeinschaft, als er sie je zuvor gekannt hatte. Das "ge­mästete Kalb" war früher nie für ihn geschlachtet, das "beste Kleid" ihm nie angezogen worden. Und was war die Ursache? Das Verdienst des verlorenen Sohnes? 0 nein: die Liebe des Vaters.

 

Vom 21. bis zum 32. Vers haben wir "das Gesetz für den, an welchem das Übel des Aussatzes ist, dessen Hand bei seiner Reinigung nicht aufbringen kann, was vorgeschrieben ist". Diese Verordnung bezieht sich auf die Opfer des "achten Tages", nicht aber auf die "zwei leben­digen, reinen Vögel" . Letztere konnten in keinem Fall erlassen werden, da sie den Tod und die Auferstehung Christi als die alleinige Grund­lage darstellten, auf der Gott den Sünder zu sich zurückführen kann. Andererseits mußten die Opfer "des achten Tages", da sie mit der Ge­meinschaft und dem persönlichen Genuß der Seele in Verbindung stan­den, in einem gewissen Grade dem Zustand und dem Verständnis der Seele angepaßt sein. Wie klein das Verständnis auch sein mag, die Gnade Gottes vermag ihm entgegenzukommen mit den rührenden Worten: "was seine Hand aufbringen kann". Und nicht nur das, son­dern die "zwei Turteltauben" verliehen dem "Armen" dieselben Vor­rechte, wie die beiden Lämmer dem "Reichen", weil die einen wie die anderen auf "das kostbare Blut Christi" hindeuteten. Alle, Reiche wie Arme, stehen vor Gott auf dem Boden des Todes und der Auferste­hung. Alle sind gleich nahe gebracht, aber nicht alle genießen dasselbe Maß der Gemeinschaft, nicht alle besitzen dieselbe Fähigkeit, die Kost­barkeit Christi in jeder Einzelheit Seines Werkes zu würdigen. Sie könnten es, wenn sie wollten, aber sie erlauben mancherlei Dingen, sie daran zu hindern. Die Erde und die Natur mit ihren Einflüssen wir­ken nachteilig. Der Geist wird betrübt, und Christus wird nicht so ,genossen, wie Er genossen werden könnte. Wenn wir uns durch die Natur beeinflussen lassen, so ist es töricht, zu erwarten, daß wir uns von Christus nähren können. Nein, Selbstverleugnung und Selbstgericht müssen vorhanden sein, wenn Christus unsere tägliche Speise sein soll. Es handelt sich hier nicht um die Frage der Errettung, nicht um die Ein­führung des Aussätzigen in das Lager, die Stätte der anerkannten Ge­meinschaft. Es handelt sich vielmehr um die Frage, inwieweit die Seele Gemeinschaft mit Christus pflegt und sich an Ihm erquickt. Hier liegen unermeßliche Reichtümer vor uns. Wir können die erhabensten Wahr­heiten genießen. Aber sollte auch das Maß unserer Fähigkeit gering sein, so dürfen wir doch aus dem Herzen unseres Vaters die lieblichen Worte hören: "was seine Hand aufbringen kann". Er macht uns in Sei­ner wunderbaren Gnade keine Vorwürfe. Wir alle haben dasselbe An­recht, wie verschieden unsere Fähigkeit auch sein mag, und wenn wir in Seine Gegenwart kommen, finden alle Wünsche der neuen Natur ihre Befriedigung, und alle Kräfte der neuen Natur werden in Tätigkeit gesetzt.

 

Wir schließen diesen Teil unserer Betrachtung mit einer kurzen Bemer­kung Über den Aussatz an einem Hause.

 

3. Das Übel des Aussatzes an einer Person oder an einem Kleidungs­stück konnte sich in der Wüste vorfinden, aber der Aussatz an einem Haus konnte natürlich nur im Land Kanaan vorkommen. (V. 34‑33.)

 

Wenn wir das Haus als Bild einer Versammlung betrachten, so finden wir hier verschiedene wichtige Grundsätze niedergelegt, wie wir nach den Gedanken Gottes zu handeln haben, wenn sittlich Böses in eine Versammlung eingedrungen ist, oder wenn auch nur ein Verdacht in dieser Hinsicht vorliegt. Dieselbe Ruhe und Geduld, die wir bei (Jer Untersuchung einer Person oder eines Kleidungsstückes bemerkten, tritt uns auch hier hinsichtlich des Hauses entgegen. In keinem Fall zeigt sich Überstürzung oder Gleichgültigkeit. Der Mann, der ein Inter­esse an dem Hause hatte, durfte die verdächtigen Symptome, die sich an den Wänden zeigten, nicht gleichgültig behandeln, noch durfte er selbst über diese Symptome ein Urteil fällen. Untersuchung und Urteil standen nur dem Priester zu. Sobald sich irgend etwas Verdächtiges zeigte, nahm der Priester eine richterliche Stellung dem Hause gegenüber ein. Das Haus stand unter Beurteilung, aber das Urteil war noch nicht gefällt. Der vollkommene Zeitabschnitt von sieben Tagen mußte zu Ende sein, ehe ein Beschluß gefaßt werden konnte. Die Symptome konnten sich als rein oberflächlich erweisen; dann brauchte nichts weiter zu geschehen.

 

"Und der Priester soll am siebenten Tage wiederkommen; und besieht er es, und siehe, das Übel hat um sich gegriffen an den Wänden des Hauses, so soll der Priester gebieten, daß man die Steine, an denen das Übel ist, herausreiße, und sie hinauswerfe außerhalb der Stadt an einen unreinen Ort" (V. 39. 40). Nicht das ganze Haus wurde verur­teilt. Man mußte zunächst versuchen, die mit dem Übel behafteten Steine zu entfernen. "Und wenn das übel wiederkehrt und am Hause ausbricht nach dem Ausreißen der Steine und nach dem Abkratzen des Hauses und nach dem Bewerfen, so soll der Priester kommen; und besieht er es, und siehe, das Übel hat um sich gegriffen am Hause, so ist es ein fressender Aussatz am Hause: es ist unrein. Und man soll das Haus niederreißen, seine Steine und sein Holz und allen Lehm des Hauses, und es hinaus schaffen außerhalb der Stadt an einen unreinen Ort“ (V. 43‑45). Der Fall war hoffnungslos, das Übel unheilbar, und so mußte das ganze Gebäude zerstört werden.

 

,Und wer in. das Haus hineingeht, solange es verschlossen ist, wird unrein sein bis an den Abend; und wer in dem Hause schläft, soll seine Kleider waschen; und wer in dem Hause isset, soll seine Kleider wa­schen" (V. 46. 47). Berührung verunreinigt. Das ist ein ernster Grund­satz. In der levitischen Haushaltung begegnen wir ihm immer wieder, und er ist in unseren Tagen ebenso wahr.

 

,Wenn aber der Priester hineingeht und es besieht, und siehe, das Übel hat nicht um sich gegriffen am Hause nach dem Bewerfen des Hauses, so soll der Priester das Haus für rein erklären; denn das Übel ist heil geworden" (V. 48). Die Entfernung der beschädigten Steine usw. hatte das Fortschreiten des Übels gehemmt und jedes weitere Verfahren un­nötig gemacht. Das Haus war nicht länger als unter richterlicher Beur­teilung stehend zu betrachten. Nachdem es durch die Besprengung mit Blut gereinigt worden war, konnte es wieder bewohnt werden.

 

Und was ist nun die Belehrung, die wir aus all dem ziehen können? Sie ist interessant, ernst und praktisch. Denken wir z. B. an die Ver­sammlung in Korinth. Sie war ein geistliches, aus geistlichen Steinen erbautes Haus, aber ach! das scharfsichtige Auge des Apostels entdeckte an seinen Wänden gewisse Erscheinungen von höchst verdächtigem Aussehen. Blieb er dabei gleichgültig? Absolut nicht. Er war viel zu sehr von dem Geist des Herrn des Hauses durchdrungen, als daß er solche bösen Symptome hätte unbeachtet lassen können. Aber er übereilte sich auch nicht. Er befahl, daß der mit Aussatz behaftete Stein entfernt und das Haus gründlich abgekratzt wurde. Dann wartete er geduldig den Erfolg ab. Und wie war der Erfolg? Wie sein Herz ihn nur wünschen konnte. "Der aber die Niedrigen tröstet, Gott, tröstete uns durch die Ankunft des Titus. Nicht allein aber durch seine Ankunft, sondern auch durch den Trost, womit er eurethalben getröstet wurde, als er uns kund­tat eure Sehnsucht, euer Wehklagen, euren Eifer für mich, so daß ich mich um so mehr freute.... Ihr habt euch in allem erwiesen, daß ihr an der Sache rein seid" (vergl. 1. Kor. 5 mit 2. Kor. 7, 6. 7. 11). Das ist ein schönes Beispiel. Die Sorge des Apostels fand ihre Belohnung. Der Plage wurde Einhalt geboten und die Versammlung von dem beflecken­den Einfluß befreit, der immer vorhanden ist, wenn Böses nicht verur­teilt und gerichtet wird.

 

Ein anderes ernstes Beispiel finden wir in Offb. 2, 12‑16. Hier nimmt der göttliche Priester gegenüber der Versammlung zu Pergamus den Platz des Richters ein. Er konnte bei solch besorgniserregenden Erscheinungen nicht gleichgültig bleiben, aber voll von Geduld und Gnade gibt Er Zeit zur Buße. Wenn aber Zurechtweisung, Warnung und Zucht fruchtlos bleiben, so muß das Gericht seinen Lauf nehmen.

 

Diese Dinge enthalten eine Fülle von praktischen Unterweisungen hin­sichtlich der Lehre von der Versammlung (Kirche). Die sieben Gemein­den von Kleinasien liefern uns verschiedene treffende Beispiele von einem Haus, das unter priesterlicher Beurteilung steht. Wir sollten die S 2ndschreiben ernstlich und unter Gebet erforschen. Sie sind von un­schätzbarem Wert. Sorglosigkeit ist wirklich nicht am Platz, solange sich irgend etwas Verdächtiges in der Versammlung zeigt. Vielleicht möchte mancher sagen: "Es ist nicht meine Sache, darüber zu wachen." Aber er täuscht sich. Es ist Sache eines jeden, der den Herrn des Hauses lieb hat, über die Reinheit dieses Hauses mit ernster Sorge zu wachen, und wenn wir vor der geziemenden Sorgfalt und Handlungsweise zu­rückschrecken, so wird es uns am Tage des Herrn nicht zu gereichen.

 

Kapitel 15

 

VERSCHIEDENE ARTEN VON UNREINHEIT UND IHRE BEHANDLUNG

 

Dieses Kapitel handelt von verschiedenen Arten von Unreinheit, die jedoch weit weniger ernst waren als der Aussatz. Während der Aussatz wohl auf die tief eingewurzelte Kraft des Bösen in der Natur hinweist, werden in dem vorliegenden Kapitel eine Reihe von Dingen aufgezählt, die sich nur als unvermeidliche Schwachheiten kundgaben, die aber, da sie immerhin der Natur entsprangen, unrein waren und deshalb der Vorsorge der göttlichen Gnade bedurften. Die Gegenwart Gottes in der Versammlung erforderte ein höheres Maß von Heiligkeit und sittlicher Reinheit. jede Regung der Natur erforderte gleichsam eine Reaktion Gottes. Selbst solche Dinge, die, soweit es den Menschen betraf, als unvermeidliche Schwachheiten betrachtet werden konnten, übten einen befleckenden Einfluß aus und machten die Reinigung nötig, weil der HERR im Lager war. Nichts Anstößiges, nichts Mißfälliges, nichts ir­gendwie Ungeziemendes durfte in dem reinen und geheiligten Bereich der Gegenwart des Gottes Israels geduldet werden. Die ringsumher wohnenden unbeschnittenen Heiden würden von solch heiligen Anord­nungen nichts verstanden haben, aber es war der Wille des HERRN, daß Israel heilig sei, weil Er der Gott Israels war. Erfreuten sich die Kinder Israel des Vorrechts und der Auszeichnung, einen heiligen Gott in ihrer Mitte zu haben, so mußten sie auch ein heiliges Volk sein.

 

Wie schön und bewundernswert ist die Sorge des HERRN bezüglich aller Gewohnheiten und Handlungen Seines Volkes. Mochten sie da­heim oder draußen sein, mochten sie wachen oder schlafen, bei Tag oder bei Nacht, stets wachte Er über sie. Er kümmerte sich um ihre Speise, ihre Kleidung, ja, um ihre geringfügigsten und geheimsten An­gelegenheiten. Sobald sich der geringste Flecken bei jemand zeigte, mußte er sofort sorgfältig untersucht werden. Es wurde nichts übersehen, was irgendwie das Wohlbefinden oder die Reinheit derer hätte beeinträchtigen können, mit denen der HERR sich verbunden hatte, und in deren Mitte Er wohnte. Er interessierte sich für die geringfügigsten Umstände. Mochte es sich um ihr öffentliches, ihr gesellschaftliches oder ihr häusliches Leben handeln, Er kümmerte sich um alles mit bewun­dernswerter Sorgfalt und Liebe.

 

Dies wäre für einen Unbeschnittenen unerträglich gewesen. Der Ge­danke, einen unendlich heiligen Gott tagsüber auf seinem Weg und nachts an seinem Lager zu wissen, wäre ein Zwang gewesen, den er nicht hätte aushalten können; aber für jeden, der wirklich die Heiligkeit liebt, für jeden Freund Gottes gibt es nichts Herrlicheres als dieses Be­wußtsein. Ein solcher freut sich in der Gewißheit, daß Gott ihm stets nahe ist, und hat Wonne an der Heiligkeit, die durch die Gegenwart Gottes zugleich gefordert und verbürgt wird.

 

Steht es so mit dir, mein Leser? Liebst du die Gegenwart Gottes und die mit dieser Gegenwart untrennbar verbundene Heiligkeit? Duldest du nichts bei dir, was mit der Heiligkeit der Nähe Gottes unverträglich ist? Stehen deine Gewohnheiten und Gedanken, dein Fühlen und Tun mit der Reinheit und Erhabenheit des Heiligtums in Übereinstimmung? Bedenke beim Lesen dieses 15. Kapitels des 3. Buches Mose, daß es zu deiner Belehrung geschrieben ist (Röm. 15, 4). Du hast es im Geist zu lesen, denn es ist in geistlichem Sinn auf dich anwendbar.

 

Was können wir aus diesem Kapitel lernen? Zunächst haben wir mit einem heiligen Eifer über alles zu wachen, was aus der Natur hervor­kommt. jede Regung und jeder Ausfluß der Natur ist unrein. Die ge­fallene menschliche Natur ist eine unreine Quelle, und alles, was aus ihr hervorsprudelt, wirkt verunreinigend. Sie vermag nichts hervorzu­bringen, was rein, heilig und gut ist. Dieser Wahrheit sind wir in un­serem Buch schon wiederholt begegnet. Sie wird in diesem Kapitel be­sonders nachdrücklich gelehrt.

 

Doch gepriesen sei die Gnade, die solche Vorkehrungen gegen die Ver­unreinigungen der Natur getroffen hat! Diese Vorsorge wird uns im Wort Gottes, und namentlich in dem vorliegenden Abschnitt, in zwei verschiedenen Formen dargestellt, nämlich in dem "Wasser" und in dem "Blut". Beide gründen sich auf den Tod Christi. Das sühnende Blut und das reinigende Wasser sind beide aus der durchstochenen Seite des ge­kreuzigten Christus geflossen. (Vergl. Joh. 19, 34 mit 1. Joh. 5, 6)

 

"Das Blut Jesu Christi, seines Sohnes, reinigt uns von aller Sünde" (l. Joh. 1, 7); das Wort Gottes reinigt unsere Handlungen und Wege. (Ps. 119, 9. 11; Eph. 5, 26) Auf diese Weise wird unsere Fähigkeit zur Gemeinschaft und Anbetung aufrechterhalten, obwohl wir durch eine Welt gehen, wo alles unrein ist, und eine Natur mit uns umhertragen, die bei jeder Regung einen Flecken zurückläßt.

 

Wir haben bereits bemerkt, daß unser Kapitel von einer Klasse von Verunreinigungen handelt, die weniger ernst waren als der Aussatz. Dies erklärt auch die Tatsache, daß hier das Sühnungswerk nicht durch einen Stier oder ein Lamm, sondern durch die niedrigste Opferart durch "zwei Turteltauben", dargestellt wird. Andererseits findet jedoch die reinigende Kraft des Wortes beständig in der Zeremonie des ,Waschens", des "Badens" und des "Spülens" ihren Ausdruck. "Wo­durch wird ein Jüngling seinen Pfad in Reinheit wandeln? Indem er sich bewahrt nach deinem Worte." ‑ "Ihr Männer, liebet eure Weiber, gleichwie auch der Christus die Versammlung geliebt und sich selbst für sie hingegeben hat, auf daß er sie heiligte, sie reinigend durch die Wa­schung mit Wasser durch das Wort." Das Wasser nahm einen hervor­ragenden Platz im levitischen Reinigungs‑System ein; es deutet auf das Wort Gottes hin. Wie wichtig und lehrreich!

 

Die durchdringende Heiligkeit der Gegenwart Gottes tritt uns hier in einer Weise entgegen, die einen tiefen Eindruck auf Herz und Gewissen macht. Kein Flecken, kein Makel darf in dieser heiligen Nähe geduldet werden. "Ihr sollt die Kinder Israel absondern von ihrer Unreinigkeit, daß sie nicht in ihrer Unreinigkeit sterben, indem sie meine Wohnung verunreinigen, die in ihrer Mitte ist" (V. 31).

 

Wir lernen auch, daß die menschliche Natur eine unaufhörlich spru­delnde Quelle von Unreinigkeit ist. Sie ist nicht nur unrein, sondern auch verunreinigend. Wachend oder schlafend, sitzend, stehend oder liegend ist sie unrein und wirkt verunreinigend. Ihre bloße Berührung zieht Befleckung nach sich. Das ist eine tief demütigende Lehre für die stolze Menschheit. Aber es ist so. Das 3. Buch Mose hält der Natur einen treuen Spiegel vor. Es läßt dem "Fleische" nichts, dessen es sich rühmen könnte. Menschen mögen sich ihrer Bildung, ihres sittlichen Ge­fühls, ihrer Würde rühmen, aber man gebe ihnen das 3. Buch Mose in die Hand, und sie werden finden, welchen Wert das alles in den Augen Gottes hat.

 

Schließlich lernen wir aufs neue den versöhnenden Wert des Blutes Christi, sowie die reinigende und heiligende Kraft des Wortes Gottes kennen. Wenn wir die Reinheit des Heiligtums betrachten und dann auf die Unreinheit der Natur sehen und die Frage stellen: "Wie werden wir je dort eintreten und wohnen können?" so finden wir die Antwort in dem "Blut und Wasser", die beide aus der Seite des gekreuzigten Christus flossen, des Christus, der Sein Leben für uns in den Tod gab, damit wir durch Ihn leben möchten. "Denn drei sind, die da zeugen: der Geist und das Wasser und das Blut, und" ‑ Gott sei Dank dafür! ‑Aie drei sind einstimmig." Der Geist bringt uns keine andere Botschaft als die, die wir im Wort finden, und beide, das Wort und der Geist, verkündigen uns die Kostbarkeit und die Wirksamkeit des Blutes.

 

Kapitel 16

 

DER "GROSSE VERSÖHNUNGSTAG“

 

Das 16. Kapitel enthält einige der allerwichtigsten Wahrheiten. Es stellt uns mit ungewöhnlicher Kraft die Lehre von der Versöhnung vor Augen und gehört gewiß zu den kostbarsten und wichtigsten Teilen des Wortes Gottes, wenn wir überhaupt da, wo alles göttlich ist, Unter­schiede machen dürfen.

 

In geschichtlicher Beziehung liefert uns dieses Kapitel eine Mitteilung über die Vorgänge am großen Versöhnungstag in Israel, durch die die Beziehungen des HERRN zu der Versammlung festgestellt und aufrecht­erhalten wurden, und wodurch für alle Sünden, Mängel und Gebrechen Sühnung geschah, so daß der HERR, Gott in ihrer Mitte wohnen konnte. Das Blut, das an diesem feierlichen Tag vergossen wurde, bil­dete die Grundlage des Thrones des HERRN inmitten der Gemeinde. Kraft dieses Blutes konnte der heilige Gott in der Mitte Seines Volkes weilen, und zwar ungeachtet aller Unreinheit des Volkes. Der "zehnte Tag im siebenten Monat" war ein ganz besonderer Tag in Israel. Kein anderer Tag im Jahr war diesem gleich. Die Opfer dieses einen Tages bildeten die Grundlage für Gottes Handeln in Gnade, Barmherzigkeit, Geduld und Langmut.

 

Ferner lernen wir aus diesem Abschnitt, „daß der Weg zum Heiligtum noch nicht geoffenbart war". Gott war hinter einem Vorhang verborgen, und der Mensch stand von ferne. "Und der HERR redete zu Mose nach dem Tode der beiden Söhne Aarons, als sie dem HERRN nahten und starben; und der HERR sprach zu Mose: Rede zu deinem Bruder Aaron, daß er nicht zu aller Zeit in das Heiligtum hineingehe innerhalb des Vorhangs, vor den Deckel, der auf der Lade ist, damit er nicht sterbe; denn ich erscheine in der Wolke über dem Deckel" (V. 1. 2). Der Weg war für den Menschen noch nicht geöffnet, um zu jeder Zeit in der Gegenwart Gottes erscheinen zu dürfen. Auch war im ganzen mosai­schen Gesetz der Fall nicht vorgesehen, daß der Mensch beständig in der Gegenwart Gottes weilen konnte. Gott war gleichsam eingeschlossen, und der Mensch von Gott ausgeschlossen, und "das Blut von Stieren und Böcken" vermochte keine Stätte zu schaffen, wo Gott und Mensch sich hätten beständig begegnen können. Dazu bedurfte es eines Opfers von edlerer Art und kostbarerem Blute (Hebr. 10, 1‑4). Weder das levitische Priestertum noch die levitischen Opfer konnten vollkommen machen. Die Opfer waren ungenügend, das Priestertum mangelhaft. Beide trugen den Stempel der Unvollkommenheit. Ein unvollkommener Mensch konnte kein vollkommener Priester sein, noch vermochte ein unvollkommenes Opfer ein vollkommenes Gewissen zu geben. Aaron war weder fähig noch berechtigt, innerhalb des Vorhangs Platz zu neh­men, noch waren die von ihm dargebrachten Opfer imstande, den Vor­hang zu zerreißen.

 

Soviel in bezug auf das Geschichtliche unseres Kapitels. Betrachten wir jetzt das, worauf es hindeutet.

 

,Auf diese Weise soll Aaron in das Heiligtum hineingehen: mit einem jungen Farren zum Sündopfer und einem Widder zum Brandopfer" (V. 3). Hier haben wir die beiden großen Seiten des Versöhnungswerkes Christi vor uns: es hält die göttliche Herrlichkeit vollkommen aufrecht, und es begegnet auch dem tiefsten Elend des Menschen vollkommen. Bei allen an diesem feierlichen Tag verrichteten Handlungen ist von einem Speisopfer und einem Friedensopfer keine Rede. Es handelt sich hier nicht um das menschliche Leben unseres Herrn, noch geht es um die Gemeinschaft der Seele mit Gott, als Folge Seines vollbrachten Wer­kes. Das eine große Thema ist die "Versöhnung", und zwar in zweifa­cher Hinsicht: sie genügt allen Forderungen Gottes, den Forderungen Seiner Natur, Seines Charakters und Seines Thrones, und sie genügt der Schuld des Menschen und allen seinen Bedürfnissen. Diese beiden Punkte müssen wir im Auge behalten, wenn wir über die Lehre des großen Versöhnungstages ein klares Verständnis erlangen wollen. "Auf diese Weise soll Aaron in das Heiligtum hineingehen", mit dem Sühn­opfer, um die Herrlichkeit Gottes ‑ sowohl in bezug auf die Ratschlüsse Seiner erlösenden Liebe der Kirche, Israel und der ganzen Schöpfung gegenüber, als auch im Blick auf alle Ansprüche Seiner moralischen Ver­waltung ‑ in jeder Beziehung aufrechtzuerhalten, und um der Schuld und dem elenden Zustand des Menschen völlig zu begegnen. Diese bei­den Gesichtspunkte des Versöhnungswerkes werden uns bei der Be­trachtung unseres Kapitels immer wieder begegnen. Ihre Bedeutung kann nicht hoch genug geschätzt werden.

 

"Er soll einen heiligen Leibrock von Linnen anziehen, und Beinkleider von Linnen sollen auf seinem Fleische sein, und mit einem Gürtel von Linnen soll er sich umgürten, und einen Kopfbund von Linnen sich um­binden: das sind heilige Kleider; und er soll sein Fleisch im Wasser baden und sie anziehen" (V. 4). Aaron, mit reinem Wasser gewaschen und mit weißen, leinenen Gewändern bekleidet, gibt uns ein eindrucks­volles Bild von Christus zu Beginn Seines Versöhnungswerkes. Er wird in Seiner Person und in Seiner Eigenschaft als Hoherpriester als rein und fleckenlos dargestellt. "Ich heilige mich selbst für sie, auf daß auch sie Geheiligte seien durch Wahrheit" (Joh. 17, 19). Es ist ein wunder­barer Gedanke, gleichsam berufen zu sein, die Person unseres göttlichen Hohenpriesters in all ihrer Heiligkeit anzuschauen. Der Heilige Geist hat Seine Wonne darin, uns Christus zu enthüllen und wo wir Ihn auch schauen, immer sehen wir Ihn als denselben fleckenlosen, vollkomme­nen, herrlichen Jesus, den Ausgezeichneten vor Zehntausenden, an dem alles lieblich ist (Hohel. 5, 10. 16). Er hatte nichts zu tun oder anzu­ziehen, um rein und fleckenlos zu sein. Er bedurfte keines reinen Was­sers und keines feinen Leinens. Er war der "Heilige Gottes". Was Aaron tat und was er anzog, das Waschen und das Bekleiden, sind nur schwache Schatten von dem, was Christus ist. Das Gesetz hatte nur "einen Schatten der zukünftigen Güter" und "nicht der Dinge Ebenbild selbst". Wir aber besitzen nicht nur den Schatten, sondern die ewige und göttliche Wirklichkeit: Christus selbst.

 

"Und von der Gemeinde der Kinder Israel soll er zwei Ziegenböcke nehmen zum Sündopfer und einen Widder zum Brandopfer. Und Aaron soll den Farren des Sündopfers, der für ihn ist, herzubringen und Süh­nung tun für sich und für sein Haus" (V. 5. 6). Aaron und sein Haus stellen die Kirche dar, jedoch nicht als den "einen Leib", sondern als ein priesterliches Haus. Es ist nicht die Kirche, wie wir sie im Epheser ­und Kolosserbrief geoffenbart sehen, sondern wie wir sie im ersten Brief des Petrus finden, in jener bekannten Stelle: "Auch ihr selbst werdet als lebendige Steine aufgebaut, ein geistliches Haus, ein heiliges Priestertum, um darzubringen geistliche Schlachtopfer, Gott wohlan­nehmlich durch Jesum Christum" (i. Petr. 2, 5). So lesen wir auch im

 

Hebräerbrief: "Christus aber als Sohn über sein Haus, dessen Haus wir sind, wenn wir anders die Freimütigkeit und den Ruhm der Hoff­nung bis zum Ende standhaft festhalten" (Hebr. 3, 6). Wir müssen uns stets daran erinnern, daß im Alten Testament keine Offenbarung des Geheimnisses der Kirche zu finden ist. Wohl gibt es hier Bilder und Schatten, aber keine Offenbarung. Das wunderbare Geheimnis, daß Jude und Heide einen Leib", "einen neuen Menschen" bilden und mit dem verherrlichten Christus im Himmel vereinigt werden sollten, konnte natürlich nicht eher geoffenbart werden, als bis Christus droben Seinen Platz eingenommen hatte. Paulus wurde ganz besonders zu einem Ver­walter und Diener dieses Geheimnisses gemacht, wie er uns in Eph. 3, 1‑12 mitteilt ‑ einer Schriftstelle, die ich dem Leser dringend empfehlen möchte.

 

In den beiden Böcken (V. 7‑10) sehen wir die zwei bereits erwähnten Seiten der Versöhnung. Das "Los für den HERRN" fiel auf den einen und das "Los für das Volk" auf den anderen Bock. Im ersten Fall han­delte es sich nicht um Personen, die Vergebung empfangen, oder um Sünden, die vergeben werden sollten, auch nicht um die Gnadenrat­schlüsse Gottes mit Seinen Auserwählten. Daß diese Dinge von größtem Wert sind, braucht kaum gesagt zu werden, aber sie stehen in keiner Beziehung zu dem "Bock, auf welchen das Los für den HERRN fiel". In diesem Bock sehen wir den Tod Christi als das, worin Gott, hinsichtlich der Sünde im allgemeinen, vollkommen verherrlicht worden ist. Der Ausdruck "das Los für den HERRN" stellt uns diese wichtige Wahrheit vor Augen. Gott hat ein ganz besonderes Teil in dem Tod Christi, ein Teil, das selbst dann ewig in seinem Wert bestehen bleiben würde, wenn nie ein Sünder errettet worden wäre. Um dies in seiner vollen Be­deutung zu verstehen, müssen wir uns daran erinnern, wie sehr Gott in dieser Welt verunehrt worden ist. Seine Wahrheit ist geschmäht, Seine Autorität verachtet, Seine Majestät geschändet und Sein Gesetz gebrochen worden. Seine gerechten Forderungen hat man verächtlich behandelt, Seinen Namen gelästert, Seine Würde in den Staub getreten.

 

Nun, der Tod Christi hat hier Abhilfe geschaffen. Gott ist durch ihn gerade an der Stätte, wo jene Dinge geschehen sind, vollkommen ver­herrlicht worden. Der Tod Christi hat der Majestät, der Wahrheit, der Heiligkeit und Würde Gottes zu ihrem Recht verholfen, hat allen Forde­rungen Seines Thrones in göttlicher Weise entsprochen, hat die Sünde gesühnt und ein göttliches Heilmittel für all das Elend geschaffen, das durch die Sünde in die Welt gekommen ist. Der Tod Christi hat eine Grundlage gelegt, auf der Gott allen Menschen gegenüber in Gnade, Barmherzigkeit und Langmut handeln kann. Er verbürgt die ewige Ver­bannung und Verdammnis des Fürsten dieser Welt und bildet die un­vergängliche Grundlage der moralischen Regierung Gottes. Kraft dieses Kreuzes kann Gott nach Seiner eigenen Unumschränktheit handeln. Er kann die Herrlichkeit seines Wesens und die Eigenschaften Seiner Natur entfalten. Er hätte in Ausübung Seiner Gerechtigkeit das ganze Men­schengeschlecht, samt dem Teufel und seinen Engeln, dem Feuersee überliefern können; aber was wäre dann aus Seiner Liebe und Gnade, Seiner Langmut und Barmherzigkeit, Seiner Geduld und Seiner voll­kommenen Güte geworden?

 

Und andererseits, was wäre aus der Gerechtigkeit, Wahrheit, Majestät und Heiligkeit, aus den Regierungsrechten, ja, aus der ganzen Herrlichkeit Gottes geworden, wenn die eben genannten Eigenschaften nicht in Verbindung mit der Versöhnung in Tätigkeit getreten wären? Wie hätten sich "Güte und Wahrheit begegnen" oder "Gerechtigkeit und Friede sich küssen" können? Wie könnte "Wahrheit sprossen aus der Erde" oder "Gerechtigkeit herniederschauen vom Himmel" (Ps. 85, 10. li)? Unmöglich. Nichts als das Versöhnungswerk unseres Herrn Jesus Christus vermochte Gott völlig zu verherrlichen. Dieses Werk hat die Herrlichkeit Gottes so völlig hervorstrahlen lassen, wie sie niemals in dem höchsten Glanz einer nicht gefallenen Schöpfung ans Licht hätte treten können. Aufgrund dieses Versöhnungswerkes, sei es im Voraus­blick oder im Rückblick, hat Gott nun schon beinahe sechstausend Jahre diese Welt in Langmut getragen. Kraft dieser Versöhnung "leben und weben und sind" (Apostelgesch. 17, 28) die gottlosesten, trotzigsten und lasterhaftesten Menschen. Selbst den Bissen, den der öffentlich lästernde Ungläubige in den Mund steckt, verdankt er der Versöhnung, die er nicht kennt, und die er verspottet. Die Sonnenstrahlen und die Regen­schauer, welche die Felder des Gottesleugners fruchtbar machen, sind ihm kraft des Versöhnungswerkes Christi dienstbar. ja, selbst den Atem, den die Ungläubigen und Gottesleugner schöpfen, um die Offen­barung Gottes zu lästern oder Sein Dasein zu leugnen, verdanken sie dem Versöhnungswerk Christi.

 

Um nicht mißverstanden zu werden: Ich rede hier nicht von Sünden­vergebung oder von persönlicher Errettung. Das ist eine ganz andere Sache. Die steht in Verbindung mit dem Bekenntnis des Namens Jesu und dem aufrichtigen Glauben, daß Gott Ihn aus den Toten auferweckt hat (Röm. 10). Mit der Seite des Versöhnungswerkes, die wir hier be­trachten, und die in dem "Bock, auf welchen das Los für den HERRN fiel", so deutlich dargestellt wird, hat sie nichts zu tun. Beide Dinge gründen sich auf das Kreuz, aber sie betreffen zwei ganz verschiedene Seiten und Anwendungen des Kreuzes.

 

Diese Verschiedenheit ist keineswegs unwichtig. Im Gegenteil, wenn sie Übersehen wird, muß bezüglich der Lehre von dem Versöhnungswerk Verwirrung entstehen. Und nicht allein das, auch bezüglich der Regie­rungswege Gottes, sowohl in der Vergangenheit, als auch in der Gegen­wart und Zukunft, hilft dieser wichtige Punkt zu einem klaren Ver­ständnis, und schließlich gibt er uns den Schlüssel zu zahlreichen Schrift­stellen, deren Verständnis vielen Christen erhebliche Schwierigkeiten bereitet. Ich will zwei oder drei solche Stellen als Beispiele anführen.

 

"Siehe, das Lamm Gottes' welches die Sünde der Welt wegnimmt" (Joh. 1, 29)! Verbinden wir mit dieser Schriftstelle eine ähnliche aus dem 2. Kapitel des ersten Johannesbriefes, in der der Herr Jesus Christus als die "Sühnung für die ganze Welt" *) bezeichnet wird, so finden wir, daß der Herr Jesus in beiden Stellen als der dargestellt wird, der Gott bezüglich der "Sünde" und der "Welt" vollkommen verherrlicht hat. Er wird hier als das große Gegenbild des "Bockes, auf welchen das Los für den HERRN fiel", gesehen. Dies zeigt uns das Versöhnungswerk Christi von einer herrlichen Seite, die leider nur zu oft übersehen oder doch nicht deutlich erkannt wird. Wenn die Frage der Sündenvergebung oder der Errettung einzelner Personen mit diesen und ähnlichen Schrift­stellen in Verbindung gebracht wird, kommen wir bestimmt in unüber­windliche Schwierigkeiten.

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*) Die in manchen Übersetzungen sich findenden Worte "Sünden der“ („für die Sünden der ganzen Welt") sind nicht inspiriert. Durch diese Einschiebung geht die göttliche Genauigkeit dieser Stelle gänzlich verloren. Die hier dar. gestellte Lehre ist einfach diese. Im ersten Teil des Verses wird Christus als die Sühnung für die Sünden Seines Volkes betrachtet; im letzten Teil ist aber weder von Sünden noch von Personen die Rede, sondern von der Sünde und der Welt im allgemeinen. Tatsächlich wird Christus in dem ganzen Vers als das Gegenbild der beiden Böcke dargestellt, zunächst als der, der die Sünden Seines Volkes trug, und dann als der, der Gott hinsichtlich der Sünde im allgemeinen vollkommen verherrlicht und der für ein gnädiges Handeln mit der ganzen Welt, sowie für die schließliche Befreiung und Segnung der ganzen Schöpfung die Grundlage gelegt hat.

 

Dasselbe gilt bezüglich der Stellen, in denen die Gnade Gottes der ganzen Welt gegenüber dargestellt wird. Sie alle gründen sich auf jene besondere Seite des Versöhnungswerkes, mit der wir uns gerade be­schäftigen. (Vergl. Mark. 16, 15; Joh. 3, 16. 17; 1. Tim. 2, 1‑6; Tit. 2, 11; Hebr. 2, 9; 2. Petr. 3, 9)

 

Diese Stellen geben ein klares und unzweideutiges Zeugnis von der göttlichen Gnade gegen alle, ohne irgendwelche Rücksicht auf die Ver­antwortlichkeit des Menschen oder die ewigen Ratschlüsse Gottes. Das Wort Gottes zeigt klar, daß der Mensch verantwortlich ist und Gott unumschränkt handeln kann. Aber es ist auch wichtig, daß wir sehen, wie weit die Gnade Gottes und das Kreuz Christi reicht. Gott ist darin verherrlicht und dem Menschen jede Entschuldigung genommen worden. Menschen streiten wohl über die Ratschlüsse Gottes, sowie über die Unfähigkeit des Menschen, ohne göttlichen Einfluß glauben zu können. Aber ihre Gründe beweisen, daß sie Gott nicht nötig haben; wenn sie erkennen würden, wie sehr sie Ihn nötig haben ‑ Er würde sich gerne von ihnen finden lassen. Die Gnade Gottes und das Versöhnungswerk Christi sind so umfassend, wie wir es nur wünschen können. "Ein jeder", "alle", "wer da will", das sind Gottes eigene Worte, und ich möchte gern wissen, wer da ausgeschlossen ist. Wenn Gott dem Men­schen eine Heilsbotschaft sendet, so hat Er sie auch für ihn bestimmt, und wie böse ist es, die Gnade Gottes zu verwerfen, Ihn "zum Lügner zu machen" (i. Joh. 5, 10) und hinterher Seine geheimen Ratschlüsse als Entschuldigung für solches Tun vorzuschützen? Es wäre ehrlicher, zu sagen: "Ich glaube dem Wort Gottes nicht, und ich brauche Seine Gnade und Sein Heil nicht." Wenn aber Menschen ihren Haß gegen Gott und Seine Wahrheit mit dem Schleier einer falschen, völlig einseitigen Theo­logie zudecken, so ist das böse. Es läßt uns in Wahrheit fühlen, daß der Teufel nie teuflischer ist, als wenn er mit der Bibel in der Hand zu uns kommt.

 

Wenn es wahr wäre, daß ein Mensch durch Gottes geheime Ratschlüsse daran gehindert würde, das Evangelium anzunehmen, das Gott ihm verkündigen läßt, wie könnte Gott dann gerecht sein und einen solchen Menschen mit "ewigem Verderben" bestrafen, weil er diesem Evangelium nicht gehorcht hat (2. Thess. 1, 6‑1o)? Wird es in dem finsteren Bereich der Verlorenen eine einzige Seele geben, die Gott dafür verant­wortlich machen wird, daß sie sich dort befindet? Gewiß nicht. Gott hat in dem Versöhnungswerk Christi eine so reiche Vorsorge getroffen, sowohl zur Errettung derer, die glauben, als auch zur Erweisung Seiner Gnade denen gegenüber, die das Evangelium verwerfen, daß es für niemand eine Entschuldigung gibt. Nicht weil der Mensch nicht glauben kann, sondern weil er nicht glauben will, wird er mit "ewigem Ver­derben" bestraft werden. Die Gnade Gottes ist für alle da, und wenn wir fragen: Wie ist das möglich? so lautet die Antwort: "Das Los für den HERRN" fiel auf das wahre Opfer, damit Gott in weitestem Maß betreffs der Sünde verherrlicht wurde und nun volle Freiheit hat, gegen alle in Gnaden zu handeln und das Evangelium der ganzen Schöpfung predigen zu lassen. Diese Gnade und diese Predigt müssen eine unan­tastbare Grundlage haben, und diese Grundlage findet sich in dem Ver­söhnungswerk. Und obschon der Mensch sie verwirft, wird doch Gott in der Ausübung der Gnade wie in dem Anbieten des Heils, kraft der Grundlage, auf der beide ruhen, vollkommen verherrlicht. Er ist verherr­licht worden und wird die endlosen Zeitalter der Ewigkeit hindurch ver­herrlicht werden. (Vergl. Joh. 12, 27‑32)

 

Bis hierher haben wir uns nur mit einer Sache beschäftigt, mit dem "Bock, auf welchen das Los für den HERRN fiel", und man könnte denken, daß jetzt der zweite Bock, der uns die andere Seite des Todes Christi oder dessen Anwendung auf die Sünden des Volkes vor Augen stellt, an die Reihe kommen müsse. Aber nein, bevor wir dazu kom­men, finden wir die vollständige Bestätigung der soeben behandelten Wahrheit in der Tatsache, daß das Blut des geschlachteten Bockes mit dem Blut des jungen Farren auf und vor den Thron des HERRN ge­sprengt wurde, um so zu beweisen, daß allen Ansprüchen dieses Thro­nes voll Genüge geschehen und für alle Forderungen der moralischen Verwaltung Gottes jede Vorsorge getroffen war.

 

"Und Aaron bringe den Farren des Sündopfers, der für ihn ist, herzu und tue Sühnung für sich und für sein Haus, und schlachte den Farren des Sündopfers, der für ihn ist. Und er nehme eine Pfanne voll Feuer­kohlen von dem Altar, vor dem HERRN, und seine beiden Hände voll wohlriechenden, kleingestoßenen Räucherwerks, und bringe es innerhalb des Vorhangs. Und er lege das Räucherwerk auf das Feuer vor dem HERRN, damit die Wolke des Räucherwerks den Deckel bedecke, der auf dem Zeugnis ist, und er nicht sterbe" (V. 11‑13). Das ist eine höchst eindrucksvolle Szene. Das Versöhnungsblut wird innerhalb des Vorhangs, in das Allerheiligste, getragen und dort auf den Thron des Gottes Israels gesprengt. Dort befand sich die Wolke, das sichtbare Zei­chen der Gegenwart Gottes, und damit Aaron ohne zu sterben in der Gegenwart der Herrlichkeit erscheinen konnte, stieg "die Wolke des Räucherwerks" empor und "bedeckte den Deckel", auf den das Blut der Versöhnung "siebenmal“ gesprengt werden mußte. Das "wohlrie­chende, kleingestoßene Räucherwerk" bringt die Vortrefflichkeit der Person Christi zum Ausdruck, den duftenden Wohlgeruch Seines Schlachtopfers.

 

"Sieben" ist die Zahl der Vollkommenheit, und wir sehen in dem sie­benmaligen Sprengen des Versöhnungsblutes auf den Deckel (V. 14.15), daß das Versöhnungswerk Christi, in welcher Weise es auch angewandt werden mag, sei es auf Dinge, Plätze oder Personen, in der Gegenwart Gottes stets vollkommen geschätzt wird. Das Blut, das sowohl die Er­lösung der Kirche, des "Hauses" des wahren Aaron, als auch die Er­lösung der "Gemeinde Israel", sowie die schließliche Wiederherstellung und Segnung der ganzen Schöpfung sicherstellt ‑ dieses Blut ist vor Gott gebracht, gesprengt und angenommen worden nach der ganzen Vollkommenheit, Lieblichkeit und Vortrefflichkeit Christi. Kraft dieses Blutes kann Gott alle Seine ewigen Gnadenratschlüsse erfüllen. Er kann die Kirche berufen und sie, trotz aller Macht und Bosheit Satans, zu der höchsten Stufe der Herrlichkeit und Würde erheben. Er kann die zer­streuten Stämme Israels sammeln und wieder vereinigen und die dem Abraham, dem Isaak und dem Jakob gemachten Verheißungen erfüllen. Er kann zahllose Millionen von Heiden erretten und segnen und selbst die ganze Schöpfung wiederherstellen und mit Segnungen überschütten Er kann den Strahlen Seiner Herrlichkeit gestatten, das ganze Weltall für immer zu erleuchten. Er kann, angesichts der Engel, der Menschen und der Teufel, Seine ewige Herrlichkeit, die Herrlichkeit Seines Cha­rakters, Seiner Natur, Seiner Werke und Seiner Regierungswege ent­falten. Alles das kann und wird Er tun, aber die einzige Grundlage, auf der das wunderbare Gebäude der Herrlichkeit für ewig ruhen wird, ist das Blut des Kreuzes, jenes kostbare Blut, das unserem Herzen und Gewissen Frieden, göttlichen, ewigen Frieden gebracht hat. Das Blut, das auf das Gewissen des Gläubigen gesprengt worden ist, ist "sieben­mal" vor den Thron Gottes gesprengt worden. Je näher wir Gott kom­men, um so mehr Bedeutung und Wert sehen wir in dem Blut Jesu. Blicken wir auf den ehernen Altar, das eherne Waschbecken, den golde­nen Altar, den Vorhang des Zeltes ‑ überall begegnen wir dem Blut, aber nirgends findet es eine so ausgedehnte Anwendung wie innerhalb des Vorhangs vor dem Thron des HERRN, in der unmittelbaren Gegen­wart der Herrlichkeit Gottes.

 

"Und er tue Sühnung für das Heiligtum wegen der Unreinigkeiten der Kinder Israel und wegen ihrer Übertretungen, nach allen ihren Sünden; und ebenso soll er für das Zelt der Zusammenkunft tun, das bei ihnen weilt, inmitten ihrer Unreinigkeiten" (V. 16). Dieser Wahrheit begeg­nen wir immer wieder. Die Forderungen des Heiligtums mußten befrie­digt werden. Sowohl die Vorhöfe des HERRN, als auch Sein Thron mußten Zeugnis ablegen von dem Wert des Blutes. Das Zelt der Zusam­menkunft mußte bei all der Unreinigkeit Israels durch die göttlichen Vorkehrungen des Versöhnungswerkes nach allen Seiten hin geschützt werden. Im Blick auf alles trug der HERR Sorge für Seine Herrlichkeit. Die Priester und ihr priesterlicher Dienst, die Stätte der Anbetung und alles, was darin war, mußten unter der Kraft des Blutes stehen. Der Heilige hätte nicht einen Augenblick in der Mitte der Gemeinde ver­weilen können, wenn nicht die Kraft des Blutes es Ihm möglich ge­macht hätte. Nur aufgrund dieses Blutes konnte Er inmitten eines ir­renden Volkes wohnen, handeln und regieren.

 

"Und kein Mensch soll in dem Zelte der Zusammenkunft sein, wenn er hineingeht, um Sühnung zu tun im Heiligtum, bis er hinausgeht. Und so tue er Sühnung für sich und für sein Haus und für die ganze Versammlung Israels" (V. 17). Aaron mußte sowohl für seine eigenen, als auch für die Sünden des Volkes Opfer darbringen. Nur in der Kraft des Blutes konnte er das Heiligtum betreten. Wir haben hier ein Vorbild auf das Versöhnungswerk Christi in seiner Anwendung sowohl auf die Kirche, als auch auf die Gemeinde Israel. Die Kirche darf jetzt durch das Blut Jesu in das Allerheiligste eintreten (Hebr. 10). Was die Kin­der Israel betrifft, so liegt noch die Decke auf ihren Herzen. (2. Kor. 3) Sie stehen noch von ferne; wenn sie zum Herrn umkehren ‑ im Kreuz ist für ihre Wiederherstellung und die Vergebung ihrer Sünden Vor­sorge getroffen worden. Eigentlich bildet die ganze gegenwärtige Zeit den Versöhnungstag. Der wahre Aaron ist mit Seinem eigenen Blut in den Himmel eingegangen, um jetzt für uns vor dem Angesicht Gottes zu erscheinen. Bald wird Er wiederkommen, um die Gemeinde Israels in die vollen Ergebnisse Seines vollbrachten Werkes einzuführen. Inzwischen sind alle wahren Gläubigen mit Ihm vereinigt und haben Freimütigkeit zum Eintritt in das Heiligtum.

 

Sowohl der Thron Gottes innerhalb des Vorhangs als auch der goldene Altar, der im Zelt der Zusammenkunft stand, wurden mit dem Versöh­nungsblut besprengt. (V. 18. 19; vergl. auch Hebr. 9, 23‑28)

 

Es gibt nur einen Weg in das Allerheiligste, und dieser Weg ist mit Blut besprengt. Jede Anstrengung, auf einem anderen Weg hineinzukom­men, ist nutzlos. Menschen mögen versuchen, sich in den Himmel hinein zu beten oder zu kaufen. Sie mögen sich bemühen, durch Stiftungen und Zeremonien, oder halb durch Zeremonien und halb durch Chri­stus, hineinzukommen ‑ das alles aber ist vergeblich. Gott spricht nur von einem Wege, und dieser Weg führt durch den zerrissenen Vorhang des Fleisches des Erlösers. Millionen von Erlösten haben im Lauf der Jahrhunderte diesen Weg betreten. Erzväter, Propheten, Apostel, Mär­tyrer, die Heiligen aller Jahrhunderte von Abel bis in unsere Tage, sind auf diesem Weg gegangen und haben einen sicheren und unangefochte­nen Zugang gefunden. Das eine Opfer des Kreuzes ist für alle genü­gend. Gott fordert nicht mehr, aber Er kann auch nicht weniger anneh­men. Etwas hinzufügen zu wollen, ist eine Verunehrung dessen, womit Gott sich zufrieden erklärt hat, ja, wodurch Er unendlich verherrlicht worden ist. Etwas davon wegnehmen zu wollen, ist eine Leugnung der Schuld des Menschen und eine Beleidigung der Gerechtigkeit und Maje­stät Gottes.

 

"Und hat er die Sühnung des Heiligtums und des Zeltes der Zusam­menkunft und des Altars vollendet, so soll er den lebendigen Bock her­zubringen. Und Aaron lege seine beiden Hände auf den Kopf des leben­digen Bockes und bekenne auf ihn alle Ungerechtigkeiten der Kinder Israel und alle ihre Übertretungen nach allen ihren Sünden; und er lege sie auf den Kopf des Bockes und schicke ihn durch einen bereitstehenden Mann fort in die Wüste, damit der Bock alle ihre Ungerechtigkeiten auf sich trage in ein ödes Land; und er schicke den Bock fort in die Wüste" (V. 20‑22).

 

Hier haben wir die andere Seite des Todes Christi, die völlige und endgültige Vergebung der Sünden des Volkes. Wie der Tod Christi die Grundlage der Verherrlichung Gottes bildet, so bildet er auch die Grundlage einer vollkommenen Sündenvergebung für alle, die ihr Ver­trauen auf Ihn setzen. Dies ist eine untergeordnete, eine etwas weniger bedeutsame Anwendung der Versöhnung, wie gern auch unsere tö­richten Herzen die erhabenste Seite des Kreuzes darin erblicken möch­ten, daß es alle unsere Sünden hinwegnimmt. Das ist jedoch ein Irrtum. Die Verherrlichung Gottes steht an erster Stelle, unsere Erlösung an zweiter Stelle. Dieses Ziel, die Verherrlichung Gottes, verfolgte Christus von Anfang bis zu Ende mit unerschütterlicher Standhaftigkeit und un­wandelbarer Treue. (Vergl. Joh. 10, 17; 13, 31. 32; Jes. 49, 1‑3)

 

Die Verherrlichung Gottes war der höchste Zweck des Herrn Jesus Chri­stus im Leben und im Sterben. Er lebte und Er starb, um den Namen Seines Vaters zu verherrlichen. Büßt die Kirche dadurch etwas ein? Nein. Ist es ein Verlust für Israel oder für die Heiden? Keineswegs. In keiner Weise konnte für ihre Errettung und Glückseligkeit so vollkom­men gesorgt werden, als dadurch, daß sie zur Verherrlichung Gottes beitragen durften. Hören wir die göttliche Antwort, die Christus, dem wahren Israel, in der aus Jesaja angeführten, herrlichen Schriftstelle gegeben wird. "Es ist zu gering, daß du mein Knecht seiest, um die Stämme Jakobs aufzurichten und die Bewahrten von Israel zurückzu­bringen; ich habe dich auch zum Licht der Nationen gesetzt, um mein Heil zu sein bis an das Ende der Erde" (Jes. 49, 6).

 

Ist es nicht eine herrliche Sache, zu wissen, daß Gott durch die Tilgung unserer Sünden verherrlicht worden ist? Wenn wir fragen: Wo sind unsere Sünden? so lautet die Antwort: Sie sind hinweggetan. Wodurch? Durch das Sühnungswerk Christi auf dem Kreuz, durch das Gott auf ewig verherrlicht worden ist. Die beiden Böcke am großen Versöhnungs­tag lassen uns dieses eine Werk von einem doppelten Gesichtspunkt aus erblicken. Einerseits sehen wir die Aufrechterhaltung der Herrlich­keit Gottes und andererseits das Hinwegtun unserer Sünden. Die eine Seite ist so vollkommen wie die andere. Wir haben durch den Tod Christi ebenso vollkommen Vergebung gefunden, wie Gott vollkommen durch ihn verherrlicht worden ist. Gibt es einen einzigen Punkt, in dem Gott nicht durch das Kreuz verherrlicht worden wäre? Ganz sicher nicht. Ebensowenig gibt es einen einzigen Punkt, in dem wir nicht vollkom­mene Vergebung gefunden hätten. Ich sage "wir", denn obwohl in der schönen, eindrucksvollen Verordnung über den zweiten Bock das Volk Israel den ersten Platz einnimmt, so ist es doch für jede Seele, die an den Herrn Jesus Christus glaubt, wahr, daß sie durch die am Kreuz vollbrachte Versöhnung eine ebenso vollkommene Vergebung empfan­gen hat, wie Gott vollkommen dadurch verherrlicht worden ist. Wie viele Ungerechtigkeiten von Israel trug der Bock hinweg? Alle. Wunder­bares Wort! Nicht eine von ihnen blieb zurück. Und wohin trug er sie? ,In ein ödes Land", ein Land, wo sie nie wieder gefunden werden konn­ten, weil niemand da war, um nach ihnen zu suchen. Könnte wohl ein Bild vollkommener sein? Könnte es ein deutlicheres Gemälde geben von dem vollbrachten Opfer Christi in seiner doppelten Anwendung? Gewiß nicht. Wir können nur voll Bewunderung ein solches Bild betrachten und staunend die Hand des Meisters darin erkennen.

 

Bevor ich diesen Abschnitt schließe, möchte ich nur noch auf einen Punkt hinweisen. Wir lesen in den Versen 29‑31: "Und dies soll euch zur ewigen Satzung sein: Im siebenten Monat, am zehnten des Monats, sollt ihr eure Seelen kasteien und keinerlei Arbeit tun, der Eingeborene und der Fremdling, der in eurer Mitte weilt; denn an diesem Tage wird man Sühnung für euch tun, um euch zu reinigen: von allen euren Sün­den werdet ihr rein sein vor dem HERRN. Ein Sabbath der Ruhe soll er euch sein, und ihr sollt eure Seelen kasteien, eine ewige Satzung." Dies wird einst in dem erlösten Überrest Israels seine Erfüllung finden, wie der Prophet Sacharja es im voraus ankündigt. "Und ich werde über das Haus Davids und über die Bewohner von Jerusalem den Geist der Gnade und des Flehens ausgießen; und sie werden auf mich blicken, den sie durchbohrt haben, und werden über ihn wehklagen ... An jenem Tage wird ein Quell geöffnet sein dem Hause Davids und den Bewohnern von Jerusalem für Sünde und für Unreinigkeit ... Und es wird ein Tag sein, einzig in seiner Art (er ist dem HERRN bekannt), nicht Tag und nicht Nacht; und es wird geschehen zur Zeit des Abends, da wird es licht sein. Und es wird geschehen an jenem Tage, da werden lebendige Wasser aus Jerusalem fließen ... Und der HERR wird König sein über die ganze Erde; an jenem Tage wird der HERR einer sein und sein Name einer ... Und an jenem Tage wird auf den Schellen der Rosse stehen: Heilig dem HERRN..." (Sach. 12‑14).

 

Welch ein Tag wird das sein! Ein herrlicher und glückseliger "Sabbath der Ruhe" wird es sein, wenn der wehklagende Überrest sich im Geist wahrer Buße um die geöffnete Quelle versammeln und die vollen und endgültigen Ergebnisse des großen Versöhnungstages genießen wird. Ohne Zweifel werden sie dann ihre "Seelen kasteien", denn wie könnte es anders sein, wenn ihr Blick voll Reue auf "Ihn" gerichtet ist, "den sie durchbohrt haben"? Aber welch einen Sabbath werden sie genießen! Nach langer, schrecklicher Trauernacht wird Jerusalem den Kelch des Heils, bis zum Rand gefüllt, trinken dürfen. Die einstigen Verwüstun­gen der Stadt werden vergessen sein, und ihre Kinder werden nach ihrer Heimkehr in ihre so lange verlorenen Wohnungen ihre Harfen von den Weiden nehmen und aufs neue die lieblichen Psalmen Zions unter dem friedlichen Schatten des Weinstocks und des Feigenbaums erklingen lassen. (Vergl. Psalm 137; Micha 4, 4)

 

Gott sei Dank! Die Zeit ist nahe. jeder Sonnenuntergang führt uns diesem reich gesegneten Tag näher. Der Ruf ist ertönt: ja, ich komme bald!" und alles um uns her scheint uns laut anzukündigen, daß "die Nacht weit vorgerückt und der Tag nahe ist". Laßt uns daher wachsam und nüchtern sein zum Gebet! Erhalten wir uns unbefleckt von der Welt! Laßt uns in unserem Innern, in den Neigungen unserer Herzen und in der Erfahrung unserer Seelen bereit sein, dem himmlischen Bräu­tigam zu begegnen! Unser gegenwärtiger Platz ist außerhalb des Lagers. Gott sei Dank, daß es so ist! Innerhalb zu sein, wäre ein unberechen­barer Verlust für uns. Dasselbe Kreuz, das uns einen Platz innerhalb des Vorhangs geschenkt hat, hat uns aus dem Lager herausgeführt. Dorthin ist Christus verstoßen worden, und wir mit Ihm. Aber Er ist auch aufgenommen in den Himmel, und wir sind mit Ihm dort. Ist es nicht eine Gnade, außerhalb alles dessen zu stehen, was unseren Herrn und Meister verworfen hat? je mehr wir Christus und andererseits den gegenwärtigen bösen Zeitlauf kennenlernen, um so dankbarer wer­den wir sein, daß wir mit Ihm unseren Platz außerhalb des Lagers haben.

 

Kapitel 17

 

DER WERT DES BLUTES

 

In diesem Kapitel begegnen wir zwei besonderen Wahrheiten: zunächst, daß das Leben Gott gehört und dann, daß die Kraft der Versöhnung im Blut liegt. Diesen beiden Dingen wird von seiten des Herrn ein ganz besonderes Gewicht beigelegt, und Er ist bemüht, sie jedem Glied der Gemeinde tief einzuprägen.

 

"Und der HERR redete zu Mose und sprach: Rede zu Aaron und zu seinen Söhnen und zu allen Kindern Israel und sprich zu ihnen: Dies ist es, was der HERR geboten und gesagt hat: Jedermann aus dem Hause Israel, der ein Rind oder ein Schaf oder eine Ziege im Lager schlachtet, oder der außerhalb des Lagers schlachtet, und es nicht an den Eingang des Zeltes der Zusammenkunft gebracht hat, um es dem HERRN als Opfergabe darzubringen vor der Wohnung des HERRN, selbigem Manne soll Blut zugerechnet werden: Blut hat er vergossen, und sel­biger Mann soll ausgerottet werden aus der Mitte seines Volkes" (V. 1‑4). Das war eine sehr ernste Vorschrift, und wir fragen uns un­willkürlich: War es denn so entscheidend, wenn ein Tier anders als in der hier vorgeschriebenen Weise geschlachtet wurde? Ja, denn dadurch wurde der HERR Seiner Rechte beraubt; es brachte die Seele in Gefahr, Satan zu opfern, was sie Gott schuldete. Das Leben gehört Gott, und Seine Ansprüche darauf müssen an dem von Ihm bestimmten Platz, "vor der Wohnung des HERRN", anerkannt werden. Das war der ein­zige Platz, wo der Mensch Gott begegnen konnte. Ignoriert man diese Tatsache, so zieht man sich das Gericht zu. Man tritt die gerechten Ansprüche Gottes mit Füßen und maßt sich ein Recht auf das Leben an, das alle verwirkt haben.

 

"Und der Priester soll das Blut an den Altar des HERRN sprengen vor dem Eingang des Zeltes der Zusammenkunft und das Fett räuchern zum lieblichen Geruch dem HERRN" (V. 6). Das Blut und das Fett gehörten Gott. Unser Herr erkannte dies völlig an. Er übergab Gott Sein Leben; auch alle Seine verborgenen Kräfte waren Gott geweiht. Er ging frei­willig zum Altar und opferte dort Sein kostbares Leben, und der Wohl­geruch Seiner inneren Vortrefflichkeit stieg zum Thron Gottes empor. Wunderbarer Herr Jesus! Wie schön ist es, bei jedem Schritt auf un­serem Weg an Dich erinnert zu werden!

 

Die zweite, oben angedeutete Wahrheit findet sich in den Worten: "Die Seele des Fleisches ist im Blute, und ich habe es euch auf den Altar ge­geben, um Sühnung zu tun für eure Seelen; denn das Blut ist es, wel­ches Sühnung tut durch die Seele" (V. 11). Der Zusammenhang zwi­schen den beiden genannten Punkten ist interessant. Wenn ein Mensch den ihm gebührenden Platz einnimmt als jemand, der durchaus kein Recht auf das Leben hat, wenn er die Ansprüche Gottes auf sich aner­kennt, dann lautet das göttliche Zeugnis: "Ich habe dir das Leben gegeben, um Sühnung zu tun für deine Seele." ja, die Sühnung ist die Gabe Gottes an den Menschen, und diese Sühnung ist in dem Blut, nur in dem Blut. "Das Blut ist es, welches Sühnung tut durch die Seele." Es ist nicht das Blut und noch etwas anderes. Das Wort redet klar und deutlich. Es schreibt die Versöhnung ausschließlich dem Blut zu. "Denn ohne Blutvergießung ist keine Vergebung" (Hebr. 9, 22). Es war der Tod Christi, der den Vorhang zerriß. Durch das Blut Jesu "haben wir Freimütigkeit zum Eintritt in das Heiligtum". "Wir haben die Erlösung durch sein Blut, die Vergebung der Vergehungen" (Eph. 1, 7; Kol. 1, 14; vergl. auch Eph. 2, 13; 1. Joh. 1, 7; Offb. 7, 14; 12, 11).

 

Ich möchte so gern, daß der Leser seine ganze Aufmerksamkeit auf diese kostbare, wichtige Lehre von dem Blut richtet und daß er ihre Bedeu­tung erkennt. Das Blut Christi ist die Grundlage von allem. Es bildet den Boden, auf dem die Gerechtigkeit Gottes jeden gottlosen Sünder rechtfertigt, der an den Namen des Sohnes Gottes glaubt; das Blut gibt dem Sünder Vertrauen, einem heiligen Gott zu nahen, "dessen Augen zu rein sind, um Böses zu sehen". Gott würde nur gerecht sein, wenn Er den Sünder verdammen würde, aber infolge des Todes Christi kann Er ein "gerechter und rettender Gott" sein. Er kann gerecht sein und zugleich „den rechtfertigen, der des Glaubens an Jesum ist." (Römer 3, 26) Die Gerechtigkeit Gottes besteht in Seiner Übereinstimmung

 

mit sich selbst, besteht darin, daß Er in vollkommener Übereinstim­mung mit Seinem geoffenbarten Charakter handelt. Er würde deshalb, wenn das Kreuz nicht wäre, unbedingt den Tod und das Gericht des Sünders fordern müssen; aber auf dem Kreuz ist dieser Tod und dieses Gericht von dem Bürgen des Sünders getragen worden, so daß Gott Seinem Wesen nicht zuwiderhandelt, wenn Er als heiliger Gott einen gottlosen Sünder durch den Glauben rechtfertigt. Und das alles durch das Blut Jesu. "Das Blut ist es, welches Sühnung tut durch die Seele." Das ist der einfache Plan und Weg Gottes zur Rechtfertigung. Der Mensch schreibt die Rechtfertigung einer Sache zu, die von dem, was wir im Wort finden, ganz verschieden ist. Wenn ich die Schrift vom 3. Ka­pitel des 1. Buches Mose an bis zum Schluß der Offenbarung durchlese, so finde ich überall das Blut Christi als alleinige Grundlage der Recht­fertigung. Wir erlangen Vergebung, Frieden, Leben, Gerechtigkeit, alles durch das Blut. Das ganze 3. Buch Mose und besonders das Ka­pitel, mit dem wir uns gerade beschäftigt haben, ist eine Erläuterung der Lehre von dem Blut. Unsere Herzen sind leicht geneigt, von dem klaren Zeugnis des Wortes abzugleiten und allerlei Meinungen anzu­nehmen, ohne sie ruhig im Licht der göttlichen Zeugnisse zu prüfen. Auf diesem Weg aber geraten wir in Verwirrung, Dunkelheit und Irrtum.

 

Möchten wir doch alle lernen, dem Blut Christi den ihm gebührenden Platz zu geben! Es ist in den Augen Gottes so kostbar, daß Er nicht dulden kann, wenn etwas ihm beigefügt oder mit ihm vermengt wird. "Denn die Seele des Fleisches ist im Blute, und ich habe es euch auf den Altar gegeben, um Sühnung zu tun für eure Seelen; denn das Blut ist es, welches Sühnung tut durch die Seele."

 

Kapitel 18‑20

 

"SEID HEILIG, DENN ICH BIN HEILIG“

 

Die Kapitel 18‑20 zeigen uns in beachtenswerter Weise die persönliche Heiligkeit und moralische Wohlanständigkeit, die Gott bei denen suchte, die Er in Seiner Gnade in Beziehung zu sich gebracht hatte, und sie lie­fern uns gleichzeitig ein demütigendes Gemälde von den Greueln, deren die menschliche Natur fähig ist.

 

"Und der HERR redete zu Mose und sprach: Rede zu den Kindern Israel und sprich zu ihnen: Ich bin der HERR, euer Gott" (Kap. 18, 1. 2). Hier haben wir die Grundlage für das ganze moralische Verhalten, das uns in diesen Kapiteln vor Augen gestellt wird. Die Handlungen Israels mußten der Tatsache entsprechen, daß der HERR ihr Gott war. Sie waren berufen, sich dieser hohen und heiligen Stellung würdig zu betragen. Gott hatte sich herabgelassen, Seinen Namen mit diesem Volke zu verbinden, und nun war es Sein Recht, ihnen Richtlinien für ihr Verhalten und ihr Tun zu geben. Daher die häufige Wiederholung der Worte: "Ich bin der HERR" ‑ "Ich bin der HERR, euer Gott" ‑"Ich bin der HERR, der euch heiligt". Der HERR war ihr Gott, und Er war heilig, und darum waren auch sie zur Heiligkeit berufen. Bei ihrem Verhalten und bei allen ihren Handlungen stand Sein Name auf dem Spiel.

 

Das ist der wahre Grundsatz der Heiligkeit für das Volk Gottes zu allen Zeiten. Die Gläubigen müssen beherrscht und charakterisiert werden durch die Offenbarung, die Gott von sich selbst gegeben hat. Ihr Ver­halten muß auf das, was Er ist, und nicht auf das, was sie in sich selbst sind, gegründet sein. Das ist etwas völlig anderes als der Grundsatz, der sich in den Worten ausdrückt: "Bleibe für dich und nahe mir nicht, denn ich bin dir heilig" ‑ ein Grundsatz, den jeder, der mit Gottes Gedanken einigermaßen vertraut ist, mit Recht zurückweist. Es handelt sich in unserem Abschnitt nicht um den Vergleich eines Menschen rrät einem anderen, sondern um eine einfache Darstellung des Verhaltens, das Gott von denen erwartet, die Ihm angehören.

 

Sowohl die Ägypter als auch die Kanaaniter befanden sich auf einem verkehrten Weg (V. 3). Das war Gottes Urteil über diese Völker. Es handelte sich nicht um das Urteil eines Israeliten im Gegensatz zu dem Urteil eines Ägypters oder eines Kanaaniters, sondern einfach um das über alles erhabene Urteil Gottes. Ägypten mochte seine Gewohnheiten und Meinungen haben und ebenso Kanaan, aber für Israel galt, was Gott in Seinem Wort niedergelegt hatte. "Meine Rechte sollt ihr tun, und meine Satzungen sollt ihr beobachten, darin zu wandeln. Ich bin der HERR, euer Gott. Und meine Satzungen und meine Rechte sollt ihr beobachten, durch welche der Mensch, wenn er sie tut, leben wird. Ich bin der HERR" (V. 4. 5).

 

Das Wort Gottes muß jede Frage entscheiden und jedes Gewissen leiten. Gegen seine ernste und gewichtige Entscheidung darf keine Berufung eingelegt werden. Wenn Gott spricht, so muß jedes Herz sich beugen. Die Menschen mögen ihre Meinungen bilden und aufrechterhalten, sie mögen sich allerlei Gewohnheiten aneignen und sie verteidigen, aber einer der schönsten Züge in dem Charakter des "Israel Gottes" ist die von tiefer Ehrfurcht begleitete, unbedingte Unterwerfung unter Jedes Wort, das aus dem Munde Gottes hervorgeht". Es hat mit Hochmut nichts zu tun, wenn wir uns vor den Zeugnissen des inspirierten Wortes ehrfürchtig beugen. Nichts liegt dem Eigendünkel ferner, als sich un­eingeschränkt der göttlichen Autorität der Heiligen Schrift zu unter­werfen.

 

Allerdings sollten wir immer darauf achten, daß wir im rechten Ton von der Autorität für unsere Überzeugungen und unser Verhalten reden. Es muß soweit wie möglich deutlich werden, daß wir uns einzig und allein durch das Wort Gottes und nicht durch unsere eigenen Mei­nungen leiten lassen. Wir sind immer in Gefahr, auf irgendeine Mei­nung besonderen Wert zu legen, bloß weil wir sie angenommen haben. Gegen diese Gefahr müssen wir auf der Hut sein. Das eigene Idi kann sich ebensogut bei der Verteidigung unserer Meinungen einschleichen und seine Häßlichkeit entfalten, wie bei irgendeiner anderen Sache, aber wir müssen ihm entgegentreten, in welcher Form es sich auch zeigen mag, und uns in allen Dingen leiten lassen durch ein "so spricht der HERR!"

 

Dann aber dürfen wir auch nicht erwarten, daß jeder sofort bereit ist, die volle Kraft der Anordnungen Gottes anzuerkennen. Je nachdem jemand in der Lauterkeit und Kraft der göttlichen Natur lebt, wird er auch das Wort Gottes anerkennen, schätzen und ehren. Die Ägypter und Kanaaniter waren unfähig, die Bedeutung und den Wert jener An­ordnungen, die dem Verhalten des Volkes Gottes zur Richtschnur die­nen sollten, zu verstehen oder zu würdigen, aber dies berührte nicht die Frage des Gehorsams der Kinder Israel. Sie waren in ein bestimmtes Verhältnis zu dem HERRN gebracht, und dieses Verhältnis hatte seine besonderen Vorrechte und Verantwortlichkeiten. Ich bin der HERR, euer Gott." Das mußte die Grundlage ihres Verhaltens bilden. Sie hatten in einer Weise zu handeln, die dessen würdig war, der ihr Gott geworden war, und der sie zu Seinem Volk erkoren hatte. Nicht daß sie ein Tüttelchen besser gewesen wären als andere Völker. Keineswegs. Die Ägypter und Kanaaniter mögen gedacht haben, daß die Israeliten sich einbildeten, höher zu stehen als sie, weil sie sich weigerten, ihre Gebräuche anzunehmen. Aber der tatsächliche Grund zu ihrem besonde­ren Verhalten lag in den Worten: "Ich bin der HERR, euer Gott."

 

In dieser großen Realität, die auch in praktischer Hinsicht so wichtig ist, gab der HERR den Seinigen eine unveränderliche Grundlage für ihr Be­tragen und einen Maßstab für ihre Ethik, der ebenso erhaben und dauerhaft war, wie der ewige Thron selbst. Von dem Augenblick an, wo Er sich mit einem Volk verband, mußten dessen Sitten einen Cha­rakter annehmen, der Seiner würdig war. Es handelte sich nicht länger darum, was die Israeliten in sich selbst oder im Vergleich mit anderen waren, sondern darum, was Gott im Vergleich mit allen war. Das eigene Ich zum Grund meines Handelns oder zum Maßstab meiner Ethik zu machen, ist nicht nur Torheit, sondern bringt mich auch auf eine ab­schüssige Bahn. Wenn es mir nur um das eigene Ich geht, muß ich mit jedem Tag tiefer sinken. Stelle ich aber den Herrn beständig vor meine Augen (Psalm 16, 8), so werde ich mich höher und höher erheben; durch die Kraft des Heiligen Geistes wachse ich zur Gleichförmigkeit mit jenem vollkommenen Vorbild heran, das dem Auge des Glaubens in der Heiligen Schrift enthüllt ist. Ohne Zweifel werde ich mich in den Staub beugen müssen, wenn ich sehe, wie weit ich hinter dem gesteckten Ziel zurückbleibe, aber dennoch werde ich mir keinen niedrigeren Maßstab wünschen, und ebensowenig werde ich befriedigt sein, solange ich nicht in allen Dingen Ihm gleich bin, der mein Stellvertreter am Kreuz war und nun mein Vorbild in der Herrlichkeit ist.

 

Nach diesen Andeutungen über den Hauptgedanken dieses Abschnitts wird es kaum nötig sein, zu einer näheren Erläuterung der einzelnen Anordnungen überzugehen, da diese klar für sich selbst reden. Ich möchte nur noch bemerken, daß diese Anordnungen sich in zwei Haupt­klassen einteilen lassen, in solche nämlich, die die schädlichen Greuel behandeln, die aus dem menschlichen Herzen kommen, und in solche, die uns die bewundernswerte Zärtlichkeit und Sorge des Gottes Israels vor Augen stellen.

 

Es liegt auf der Hand, daß der Heilige Geist nie Gesetze hätte aufstellen können in der Absicht, Übeln vorzubeugen, die nicht bestanden. Er baut keinen Damm auf, wo es keiner Flut Widerstand zu bieten gilt. Er beschäftigt sich nicht mit wesenlosen Vorstellungen, sondern mit Wirklichkeiten. Der Mensch ist zur Ausübung eines jeden der in diesem Kapitel aufgezählten scheußlichen Verbrechen fähig. Sonst wäre es nicht nötig gewesen, ihm diese Dinge zu verbieten. Für Engel wäre ein solches Gesetzbuch überflüssig, da sie unfähig sind, die angedeuteten Sünden zu begehen, aber für den Menschen ist es durchaus am Platze, weil er den Keim zu diesen Sünden in seiner Natur trägt. Das ist sehr demü­tigend. Es ist ein neues Zeugnis dafür, daß der Mensch eigentlich ein Wrack ist. Im Licht der Gegenwart Gottes betrachtet, ist vom Scheitel bis zur Fußsohle nichts Gesundes an ihm. Das Wesen, für das der HERR es nötig erachtet hat, solche Worte niederschreiben zu lassen, muß tief gefallen sein, und dieses Wesen ist der Mensch. Wie wahr ist es, daß die, "welche im Fleische sind, Gott nicht zu gefallen vermögen" (Röm. 8, 8). Gott sei Dank! der Gläubige "ist nicht im Fleische, sondern im Geiste". Er ist seiner Stellung nach völlig aus der alten Schöpfung herausgenommen und in die neue Schöpfung gebracht worden, in der die in unserem Schriftabschnitt angedeuteten sittlichen Übel nicht be­stehen können. Wohl trägt er die alte Natur noch in sich, aber es ist sein Vorrecht, sich als gestorben zu betrachten und in der beständigen Kraft der neuen Schöpfung zu leben, in der "alle Dinge aus Gott sind ". Das ist christliche Freiheit, die Freiheit, sich frei bewegen zu können in jener herrlichen Schöpfung, in der niemals eine Spur von Sünde gefunden werden wird, es ist die Freiheit, in Reinheit und Heiligkeit vor Gott und Menschen jenen erhabenen Weg persönlicher Heiligkeit zu gehen, auf den das Vaterauge Gottes stets mit Freude blickt. Das ist die christliche Freiheit. Der Gläubige muß nicht mehr in die Sünde einwilligen, son­dern er darf die himmlische Schönheit eines Lebens wahrer Heiligkeit und sittlicher Erhabenheit genießen.

 

Und nun noch ein Wort über die Anordnungen, in denen die Zärtlich­keit und Fürsorge Gottes so rührend ans Licht tritt. Lesen wir z. B. fol­gende Worte: "Und wenn ihr die Ernte eures Landes erntet, so sollst du den Rand deines Feldes nicht gänzlich abernten und sollst keine Nachlese deiner Ernte halten. Und in deinem Weinberge sollst du nicht nachlesen, und die abgefallenen Beeren deines Weinberges sollst du nicht auflesen: für den Armen und für den Fremdling sollst du sie las­sen. Ich bin der HERR, euer Gott" (Kap. 19, 9. 10) Dieser Verordnung werden wir im 23. Kapitel noch einmal begegnen, und zwar dort in ihrer prophetischen Bedeutung. Hier betrachten wir sie von einem mora­lischen Gesichtspunkt aus, als eine Entfaltung der großen Gnade des Gottes Israels. Er gedachte des "Armen" und des "Fremdlings", und Er wollte, daß Sein Volk diese Gedanken mit Ihm teilt. Wenn die goldenen Garben eingeerntet und die reifen Trauben gesammelt wurden, mußte Israel auch des Armen und des Fremdlings gedenken, weil der HERR der Gott Israels war. Der Schnitter und der Winzer sollten nicht von einem Geist gieriger Habsucht beseelt sein, die die Ränder des Feldes kahl macht und den Weinstock bis auf die letzte Beere aberntet, sondern vielmehr von dem Geist jenes weitherzigen Wohlwollens, das für den Armen und den Fremdling eine Garbe oder eine Traube übrigläßt, damit auch sie sich der unumschränkten Güte des Gebers erfreuen können, "dessen Spuren von Fett triefen", und auf dessen geöffnete Hand jedes bedürftige Menschenkind mit Zuversicht vertrauen darf.

 

Das Buch Ruth liefert uns ein schönes Beispiel von einem Mann, der ganz in dem Geist dieser wohlwollenden Anordnung handelte (Ruth 2, 14‑16). Es ist heilsam für unsere armen, selbstsüchtigen Herzen, mit solch einer Güte in Berührung zu kommen. Welch ein Zartgefühl spricht aus den Worten: Auch sollt ihr selbst aus den Bündeln Ähren für sie herausziehen!" Es war offensichtlich der Wunsch dieses edelmütigen Israeliten, daß die "Fremde" Überfluß haben sollte, und dies mehr als ein Ergebnis ihres Sammelns, als seiner Wohltätigkeit. Es hieß, die arme Moabitin in unmittelbare Verbindung mit dem Gott Israels bringen, der so reichlich für den "Nachleser" gesorgt hatte. Dieselbe Gnade, die Boas das Feld gegeben hatte, schenkte Ruth die Nachlese. Beide waren Schuldner der Gnade. Sie war die glückliche Nutznießerin der Güte des HERRN, und er der bevorzugte Ausführende Seines gnadenreichen Gebots. Alles zeigte sich in wunderbarer Ordnung. Das Geschöpf war gesegnet, und Gott wurde verherrlicht. Wer wollte leugnen, daß es heilsam für uns ist, eine solche reine Luft einzuatmen?

 

Wenden wir uns zu einer anderen Verordnung unseres Abschnitts: "Du sollst deinen Nächsten nicht bedrücken und sollst ihn nicht berauben; der Lohn des Tagelöhners soll nicht bei dir über Nacht bleiben bis an den Morgen" (Kap. 19, 13). Hier haben wir die gleiche zärtliche Für­sorge. Der "Hohe und Erhabene, der in Ewigkeit wohnt" (Jesaja 57, 15), nimmt Kenntnis von den Gedanken und Gefühlen, die in dem Herzen eines armen Tagelöhners aufsteigen. Der Arbeiter rechnet auf seinen Lohn. Der Lebensunterhalt seiner Familie hängt davon ab. Und Gott sagt gleichsam:. "Enthalte ihm seinen Lohn nicht vor! Sende den Arbeiter nicht mit einem beschwerten Herzen heim, damit nicht das Herz seiner Frau und seiner Kinder ebenfalls beschwert wird. Gib ihm in jedem Fall den Lohn, auf den er ein Recht hat, und nach dem er verlangt. Täusche ihn nicht in seinen Erwartungen. Gib ihm, was ihm zukommt." So nimmt Gott Notiz von den Gedanken des Arbeiters und trägt Sorge für die von ihm gehegten Erwartungen. Welch eine Gnade! Welch eine zärtliche, herablassende Liebe! Könnte jemand solche Stellen lesen, ohne davon berührt zu werden? Könnte jemand sie lesen und einen Arbeiter gedankenlos abweisen, ohne zu wissen, ob dieser mit seiner Familie ausreichend versorgt ist?

 

Der "Herr Zebaoth“ hört den Schrei des bekümmerten und in seinen Er­wartungen getäuschten Arbeiters (Vergl. Jak. 5, 4). Seine Liebe leuchtet aus den Verordnungen Seiner Regierung hervor, und sollte unser Herz nicht durch die Gnade, die sich in diesen Verordnungen zeigt, erweicht werden, so sollten wir doch wenigstens empfinden, wie gerecht sie sind und uns dementsprechend verhalten. Gott wird nicht zulassen, daß der Arme um seine rechtmäßigen Forderungen betrogen wird durch solche, deren Herzen durch den Reichtum gefühllos geworden sind, und die nicht bedenken, wie es einem Mann zumute ist, der seine Tage unter schwerer Arbeit oder gar in tatsächlicher Not zubringen muß. Die Armen sind besondere Gegenstände der Fürsorge Gottes. Immer und immer wieder denkt Er an sie in den Anordnungen Seiner Regierung, und von Ihm, der bald in der geoffenbarten Herrlichkeit die Zügel des Regiments in die Hand nehmen wird, wird mit Bestimmtheit angekün­digt: "Denn erretten wird er den Armen, der um Hilfe ruft, und den Elenden, der keinen Helfer hat; er wird sich erbarmen des Geringsten und des Armen, und die Seelen der Armen wird er retten. Von Bedrük­kung und Gewalttat wird er ihre Seele erlösen, und ihr Blut wird teuer sein in seinen Augen" (Ps. 72, 12‑14).

 

Möchten wir doch Nutzen ziehen aus der Betrachtung dieser so prak­tischen Wahrheiten! Möchte unser Leben unter ihrem Einfluß stehen! Wir leben in einer herzlosen Welt, und in unseren eigenen Herzen gibt es viel Selbstsucht. Der Gedanke an die Not anderer bewegt unser Herz oft wenig. Wenn aber schon die Juden durch die Gesetze und Verord­nungen der mosaischen Haushaltung belehrt wurden, freundliche Gefühle gegen die Armen zu haben und gütig und liebreich zu sein gegen alle, die schwere Arbeiten zu verrichten hatten, wieviel mehr sollte die erhabenere und geistlichere Sittenlehre des Evangeliums in jedem Christen ein weitherziges Wohlwollen gegen alles menschliche Elend hervorrufen! jeder Arbeitgeber sollte auch, soviel an ihm ist, Sorge tragen, daß das verdiente Brot ausreicht. Der Mensch sorgt für seine Pferde und hält sie gut instand. Wieviel mehr sollte er für seinen Mitmenschen besorgt sein, der vom Montag bis zum Samstag für ihn arbeitet.

 

"Aber", wird vielleicht jemand einwenden, "jedes Ding hat seine zwei Seiten." Das stimmt zweifellos, und sicher findet sich unter den Armen manches, was den Wert der Wohltätigkeit und des wahren Mitgefühls fragwürdig erscheinen läßt ‑ manches, was das Herz verhärten und die Hand verschließen will. Aber eins steht fest: es ist besser, in neunund­neunzig von hundert Fällen getäuscht zu werden, als einem einzigen wirklich Bedürftigen gegenüber das Herz zu verschließen. Unser himm­lischer Vater läßt seine Sonne aufgehen über Gute und Böse und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte. Dieselben Sonnenstrahlen, die das Herz eines treuen Dieners Christi erfreuen, fallen auch auf den Pfad eines gottlosen Sünders, und derselbe Regenschauer, der auf das Feld eines wahren Gläubigen fällt, tränkt auch die Furchen des Gottesläste­rers. Das sollte uns stets als Vorbild dienen. "Ihr nun sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist" (Matth. 5, 48). Nur dann, wenn wir den Herrn stets vor uns stellen und in der Kraft Seiner Gnade leben, werden wir fähig sein, allem menschlichen Elend mit einem wohlwollenden Herzen und einer offenen Hand zu begegnen. Nur insofern wir aus der nie versiegenden Quelle der Liebe und Güte Gottes trinken, werden wir imstande sein, die menschliche Not zu lin­dern, ohne uns durch die immer wiederkehrende Erfahrung menschlicher Verdorbenheit ermüden zu lassen. Unser winziges Bächlein wird bald austrocknen, wenn es nicht in ununterbrochener Verbindung mit der ewig sprudelnden Quelle bleibt.

 

Auch die nächste Verordnung liefert uns wieder ein Beispiel von der zärtlichen Fürsorge des Gottes Israels. Du sollst einem Tauben nicht fluchen und vor einen Blinden keinen Anstoß legen, und du sollst dich fürchten vor deinem Gott. Ich bin der HERR" (V. 14). Hier wird der Reizbarkeit, mit der die menschliche Natur dem Gebrechen der Taubheit so leicht begegnet, eine Schranke gesetzt. Wir finden es lästig, unsere Worte öfter wiederholen zu müssen, um uns so einem Schwerhörigen verständlich zu machen. Der HERR dachte daran und traf Seine Vor­kehrungen. Und in welcher Weise? "Du sollst dich fürchten vor deinem Gott." Wenn du durch das Zusammentreffen mit einem Tauben auf die Probe gestellt wirst, so erinnere dich des Herrn und bitte Ihn um Gnade. Er schenkt dir Ruhe, und du bleibst vor der Reizbarkeit bewahrt.

 

Der zweite Teil dieser Verordnung offenbart einen tief demütigenden Grad von Bosheit in der menschlichen Natur. Gibt es wohl eine größere Bosheit, als wenn jemand einem Blinden einen Anstoß in den Weg legt? Und doch ist der Mensch dazu fähig, sonst würde es nicht nötig sein, ihn davor zu warnen. Ohne Zweifel läßt diese Verordnung, wie so viele andere, eine geistliche Anwendung zu, aber dies schließt keineswegs die darin ausgedrückte ursprüngliche, wörtliche Bedeutung aus. Der Mensch ist fähig, in den Weg eines durch Blindheit ohnehin schwer genug geprüften Mitmenschen einen Anstoß zu legen. Wahrlich, der Herr wußte, was in dem Menschen war, als Er die Rechte und Satzun­gen des 3. Buches Mose niederschreiben ließ (Joh. 2, 25).

 

Ich überlasse es dem Leser, über den Rest unseres Abschnittes allein nachzudenken. Er wird finden, daß jede Verordnung eine zweifache Unterweisung in sich schließt, eine bezüglich der bösen Neigungen der menschlichen Natur, und eine zweite hinsichtlich der väterlichen Für­sorge des HERRN.

 

Die Verse 16 und 17 erfordern noch einen Hinweis. "Du sollst nicht als ein Verleumder unter deinen Völkern umhergehen." Das ist eine äußerst wichtige Ermahnung für das Volk Gottes zu allen Zeiten. Ein Verleumder richtet unberechenbares Unheil an. Mit Recht ist gesagt worden, daß der Verleumder drei Personen benachteiligt: sich selbst, den Zuhörer und den Verleumdeten. Alles das tut er unmittelbar, und wer könnte die indirekten Folgen seines Tuns berechnen? Möchte doch nie ein verleumdendes Wort über unsere Lippen kommen, und bleiben wir nie stehen, um einem Verleumder zuzuhören! Weisen wir stets eine verleumdende Zunge mit gerechtem Unwillen ab! Der 17. Vers zeigt uns, was statt Verleumdung und Ohrenbläserei getan werden sollte: "Du sollst deinen Nächsten ernstlich zurechtweisen, damit du nicht seinetwegen Schuld tragest." Anstatt über meinen Nächsten mit ande­ren zu sprechen, bin ich berufen, mich direkt an ihn selbst zu wenden und ihn, wenn es nötig ist, zurechtzuweisen. Das ist die göttliche Weise, während Satan es liebt, als Verleumder zu handeln.

 

Kapitel 21 und 22

 

GEBRECHEN UND BEFLECKUNGEN

 

Diese Kapitel zeigen sehr ausführlich Gottes Anforderungen an alle, die das Vorrecht hatten, als Priester nahen zu dürfen, um Aas Brot ihres Gottes darzubringen". In diesem wie in dem vorhergehenden Abschnitt wird uns das persönliche Verhalten als die Folge, nicht aber als die Ursache des Verhältnisses, in dem jemand steht, dargestellt. Das ist be­achtenswert. Die Söhne Aarons waren durch ihre Geburt Priester Gottes. Sie befanden sich alle ohne Unterschied in dieser bevorzugten Stellung. Es handelte sich nicht um etwas, das durch eigene Fortschritte erlangt werden konnte, also um etwas, was der eine haben und der an­dere nicht haben konnte. Alle Söhne Aarons waren Priester. Die Fähigkeit, diese Stellung und die damit verbundenen Vorrechte zu ver­stehen und zu genießen, war eine ganz andere Sache. Der eine mochte ein Kind sein und der andere die Reife und Kraft des Mannesalters er­reicht haben. Ein kleines Kind, für das "Milch" und nicht "feste Speise" in frage kommt, war natürlich nicht imstande, von der priesterlichen Speise zu essen, aber es war ebenso ein Glied der priesterlichen Familie wie der Mann, der die Vorhöfe des Hauses des Herrn betreten und die "Brust des Webopfers" und den "Schenkel des Hebopfers" essen konnte.

 

Dieser Unterschied ist leicht zu verstehen und erläutert in einfacher Weise unser Verhältnis als Glieder des wahren priesterlichen Hauses, dem unser großer Hoherpriester vorsteht, und dem alle wahren Gläu­bigen angehören (Hebr. 3, 6). Jedes Kind Gottes ist ein Priester. Es ist als ein Glied des priesterlichen Hauses Christi eingeschrieben. Es mag sehr unwissend sein, aber seine Stellung als Priester gründet sich nicht auf Erkenntnis, sondern auf das Leben, das es besitzt. Seine Erfahrung mag noch sehr gering sein, aber sein Platz als Priester ist nicht von seiner Erfahrung, sondern von dem Leben aus Gott abhängig. Auch seine Fähigkeit mag sehr beschränkt sein, aber sein Stand als Priester beruht nicht auf einer großen Fähigkeit, sondern auf dem Leben. Das Kind Gottes ist in die Stellung und Verwandtschaft eines Priesters hineingeboren. Es hat sich nicht selbst hineingearbeitet. Nicht durch irgendwelche eigenen Anstrengungen ist es Priester geworden, sondern durch seine Geburt. Das geistliche Priestertum mit allen damit verbun­denen geistlichen Verrichtungen ist eine notwendige Folge der geist­lichen Geburt. Die Fähigkeit, die Vorrechte einer Stellung zu genießen und die damit verknüpften Verrichtungen zu erfüllen, darf nicht mit der Stellung selbst verwechselt werden.

 

Nichts konnte das Band der Verwandtschaft zwischen Aaron und seinen Söhnen zerreißen. Es gab viele Dinge, die den vollen Genuß der an dieses Verhältnis geknüpften Vorrechte beeinträchtigen konnten. Ein Sohn Aarons konnte sich "wegen einer Leiche verunreinigen", er konnte sich beflecken durch den Eintritt in eine unheilige Verbindung, er konnte ein körperliches "Gebrechen" haben, konnte "blind", ein "Höckeriger" oder ein "Zwerg" sein. Schon eins dieser Dinge würde den Genuß seiner Vorrechte, sowie die Erfüllung der priesterlichen Ver­richtungen gestört und unterbrochen haben, wie wir in Kap. 21, 21‑23 lesen. Aber keins dieser Dinge konnte irgendwie seine Verwandtschaft in Frage stellen. Obwohl ein Sohn Aarons ein Zwerg sein konnte, so war dieser Zwerg nichtsdestoweniger ein Sohn Aarons. Freilich war er als "Zwerg" vieler Vorrechte und Würden, die mit dem Priestertum ver­bunden waren, beraubt, aber er blieb trotzdem ein Sohn Aarons. Er konnte weder dieselbe Art der Gemeinschaft genießen, noch dieselben Verrichtungen des priesterlichen Dienstes erfüllen, wie jemand, der die Größe eines erwachsenen Mannes erreicht hatte, aber er war ein Glied des priesterlichen Hauses, und deshalb war es ihm erlaubt, "das Brot seines Gottes zu essen".

 

Die geistliche Anwendung dieser Dinge ist einfach. Ein Kind Gottes zu sein und sich im Genuß priesterlicher Gemeinschaft und priesterlicher Anbetung zu befinden, sind zwei verschiedene Dinge. Die Anbetung wird leider oft durch viele Dinge gestört. Wir erlauben nur zu oft, daß Umstände und Verbindungen ihren befleckenden Einfluß auf uns ausüben. Wir dürfen nicht voraussetzen, daß alle Christen sich der gleichen geistlichen Höhe, derselben innigen Gemeinschaft und der gleichen beglückenden Nähe Christi erfreuen. Ach nein! Viele von uns haben über geistliche Gebrechen, über Lahmheit im Gehen unseres Weges, über mangelhafte Einsicht, über einen Stillstand im Wachstum zu trauern, oder wir verunreinigen uns, indem wir mit Bösem in Berüh­rung kommen, oder wir lassen uns durch unheilige Verbindungen schwach machen und aufhalten. Mit einem Satz, so wie die Söhne Aarons, obwohl sie durch Geburt Priester waren, durch eine zere­monielle Verunreinigung oder durch ein körperliches Gebrechen vieler Vorrechte beraubt wurden, so berauben wir uns, obwohl wir durch geistliche Geburt Priester Gottes sind, durch innere Befleckungen und geistliche Gebrechen vieler hoher und heiliger Vorrechte unserer Stel­lung. Durch eine mangelhafte geistliche Entwicklung gehen uns viele unserer Würden verloren. Es fehlt uns so oft das einfältige Auge, die geistliche Kraft, die völlige Widmung des Herzens. Wir sind erlöst durch die freie Gnade Gottes aufgrund des vollkommenen Opfers Christi. "Wir alle sind Kinder Gottes durch den Glauben an Christum Jesum." Aber vergessen wir nicht, daß Erlösung etwas anderes ist als Gemein­schaft, und Sohnschaft etwas anderes als Gehorsam.

 

Diese beiden Dinge müssen sorgfältig unterschieden werden. Das zeigt unser Abschnitt sehr klar. Wenn einer der Söhne Aarons "einen Bruch am Fuße oder einen Bruch an der Hand' hatte, war er deshalb seiner Sohnschaft beraubt? Durchaus nicht. Verlor er dadurch seine priester­liche Stellung? Keineswegs. Es wurde deutlich gesagt: "Das Brot seines Gottes von dem Hochheiligen und von dem Heiligen mag er essen." Aber dennoch büßte er durch sein körperliches Gebrechen vieles ein. Es war ihm verboten, einen der höheren Pfade priesterlichen Dienstes und priesterlicher Anbetung zu betreten: "Allein zum Vorhang soll er nicht kommen, und zum Altar soll er nicht nahen." Das waren ernste Verluste, und obwohl man hätte einwenden können, daß der Mensch an vielen dieser körperlichen Gebrechen keine Schuld trage, so änderte das doch an der Sache nichts. Der HERR konnte nur einem makellosen Priester und einem makellosen Opfer Zutritt zu Seinem Altar gestatten. Priester und Opfer mußten beide vollkommen sein. Jedermann vom Samen Aarons, des Priesters, der ein Gebrechen hat, soll nicht herzu­treten, die Feueropfer des HERRN darzubringen" (Kap. 21, 21). Alles, woran ein Gebrechen ist, sollt ihr nicht darbringen, denn es wird nicht zum Wohlgefallen für euch sein" (Kap. 22, 20).

 

Nun, wir haben sowohl den vollkommenen Priester, als auch das voll­kommene Opfer in der Person unseres Herrn Jesus Christus. Nachdem Er "sich selbst ohne Flecken Gott geopfert hat", ist Er als unser großer Hoherpriester in den Himmel eingegangen, wo Jr immerdar lebt, um sich für uns zu verwenden". Der Brief an die Hebräer behandelt diese beiden Punkte sehr eingehend. Der Gegensatz zwischen dem Opfer und Priestertum des mosaischen Systems und dem Opfer und Priester­tum Christi wird hier klar ans Licht gestellt. In Christus, ob nun als Opfer oder als Priester betrachtet, sehen wir göttliche Vollkommen­heit. In Ihm finden wir alles, was Gott fordern, und alles, was der Mensch nötig haben konnte. Sein kostbares Blut hat alle unsere Sünden hinweggenommen, und Seine Fürbitte erhält uns in der Vollkommenheit jenes Platzes, an den uns Sein Blut gebracht hat. "Wir sind vollendet in Ihm" (Kol. 2, 10). Und doch sind wir in uns selbst so schwach und wankelmütig, so voller Mängel und Gebrechen, so leicht fähig, auf un­serem Weg zu irren und zu straucheln, daß wir nicht einen Augenblick aufrecht bleiben könnten, wenn "Er nicht immerdar lebte, um sich für uns zu verwenden (Hebr. 7, 25). Doch wir haben uns mit diesen Dingen bereits im ersten Teil unserer Betrachtung eingehend beschäf­tigt, so daß es nicht nötig ist, länger dabei zu verweilen. Wer in etwa einen richtigen Begriff von den Grundwahrheiten des Christentums, sowie etwas Erfahrung im christlichen Leben besitzt, wird wohl begrei­fen, wie es kommt, daß wir, obwohl "vollendet in ihm, welcher das Haupt jedes Fürstentums und jeder Gewalt ist‑, dennoch hier, inmitten der Schwachheiten, der Kämpfe und Schwierigkeiten der Erde, die mäch­tige Fürsprache unseres anbetungswürdigen und göttlichen Hohenprie­sters nötig haben. Der Gläubige ist "abgewaschen, geheiligt und gerecht­fertigt" (l. Kor. 6). Er ist "begnadigt in dem Geliebten" (Eph. 1, 6). Er kann, was seine Person betrifft, nie ins Gericht kommen. Tod und Gericht liegen hinter ihm, weil er mit Christus vereinigt ist, der um seinetwillen und an seiner Statt durch beides hindurchgegangen ist. Alles das gilt voll und ganz für das schwächste, unwissendste und un­erfahrenste Glied der Familie Gottes. Weil aber der Gläubige eine Natur mit sich umherträgt, die so unverbesserlich schlecht und so unheilbar verderbt ist, daß keine Zucht sie verbessern, kein Mittel sie heilen kann, weil er in einem Leib der Sünde und des Todes wohnt, weil ihn von allen Seiten feindliche Einflüsse umringen und er fortdauernd mit vereinten Mächten der Welt, des Fleisches und des Teufels zu kämpfen hat, würde er niemals seinen Platz behaupten und noch weniger Fort­schritte machen können, wenn er nicht aufrecht erhalten würde durch die Fürbitte seines großen Hohenpriesters, der die Namen der Seinigen auf Seiner Brust trägt.

 

Ich weiß wohl, daß manche eine große Schwierigkeit darin gefunden haben, den Gedanken der vollkommenen Stellung des Gläubigen in Christus mit dem Bedürfnis des Priestertums in Einklang zu bringen.

 

Man fragt: Wenn der Gläubige vollkommen ist, wozu bedarf er dann noch eines Priesters? Beide Wahrheiten werden im Wort Gottes deutlich gelehrt und sind leicht miteinander vereinbar. Der Gläubige ist vollkom­men in Christus, aber in sich selbst ist er ein armes, schwaches Geschöpf, und stets in Gefahr, zu versagen. Welch ein unaussprechlicher Segen ist es daher für ihn, zur Rechten der Majestät in den Himmeln jemand zu haben, der alle seine Angelegenheiten ordnet, jemand, der ihn beständig stützt mit der rechten Hand Seiner Gerechtigkeit und ihn nie losläßt, jemand, der "gestern und heute und in Ewigkeit derselbe ist", der ihn durch alle Schwierigkeiten und Gefahren, die ihn umringen, siegreich hindurchführen und ihn schließlich "tadellos vor Seiner Herrlichkeit mit Frohlocken darstellen" will! (Judas 24) Ewig gepriesen sei die Gnade, die in dem Blut des fleckenlosen Schlachtopfers und in der Fürbitte des göttlichen Hohenpriesters für alle unsere Bedürfnisse eine so umfassende Vorsorge getroffen hat!

 

Lieber Leser! Möchte unser Streben sein, so zu leben, uns so "unbe­fleckt von der Welt zu erhalten", daß wir als Glieder des priesterlichen Hauses, von dem Christus das Haupt ist, die höchsten Vorrechte genie­ßen und die erhabensten Pflichten unserer Stellung erfüllen können!

 

Wir haben "Freimütigkeit zum Eintritt in das Heiligtum durch das Blut Jesu". Wir haben "einen großen Priester über das Haus Gottes" (Hebr. 10). Nichts kann uns je diese Vorrechte rauben. Aber unsere Gemeinschaft kann gestört, unsere Anbetung kann gehindert werden, und unsere heiligen Pflichten können unerfüllt bleiben. jene zeremo­niellen Dinge, vor denen die Söhne Aarons in dem vor uns liegenden Abschnitt gewarnt werden, finden ihr Gegenbild in der christlichen Haushaltung. Sie mußten vor der Berührung alles Unreinen, vor jeder unheiligen Verbindung gewarnt werden ‑ ebenso müssen wir es. Sie mußten gewarnt werden vor jeder Art zeremonieller Befleckung ‑ eben­so bedürfen wir der Warnung vor Jeder Befleckung des Fleisches und des Geistes" (2. Kor. 7). Sie gingen durch ein körperliches Gebrechen oder durch ein unvollkommenes natürliches Wachstum ihrer erhabensten priesterlichen Vorrechte verlustig ‑ ebenso verlieren auch wir sie durch ein sittliches Gebrechen und durch ein unvollkommenes geistliches Wachstum.

 

Je höher wir die Segnungen schätzen, die mit der priesterlichen Familie in Verbindung stehen, in die wir durch unsere geistliche Geburt ein­geführt worden sind, desto sorgfältiger werden wir über alles wachen, was uns irgendwie den Genuß dieser Vorrechte rauben könnte. Und gerade das macht unseren Abschnitt für die Praxis so wertvoll. Möchten wir durch die Wirkung des Heiligen Geistes die volle Kraft dieser Wahrheiten in unseren Herzen verspüren! Dann werden wir unsere priesterliche Stellung wirklich genießen und unseren priesterlichen Dienst treu erfüllen. Dann werden wir fähig sein, "unsere Leiber dar­zustellen als ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Schlachtopfer" (Röm. 12, 1). ja, wir werden fähig sein, Gott "stets ein Opfer des Lobes darzubringen, das ist die Frucht der Lippen, die Seinen Namen beken­nen" (Hebr. 13, 15). Wir werden fähig sein, als Glieder des "geistlichen Hauses" und des "heiligen Priestertums", "geistliche Schlachtopfer dar zubringen, Gott wohlannehmlich durch Jesum Christum" (i. Petri 2, 5). ja, wir werden, wenn auch in schwachem Maße, jene gesegnete Zeit im voraus genießen, wo von der erlösten Schöpfung einsichtsvoll und ungeteilt Lob und Preis zum Thron Gottes und des Lammes empor­steigen werden.

 

Kapitel 23

 

DIE FESTE DES HERRN

 

Dies ist eines der inhaltsreichsten und bedeutungsvollsten Kapitel der Heiligen Schrift, und es ist gut, wenn wir unter Gebet darüber nach­denken. Es enthält das Verzeichnis der sieben großen regelmäßig wie­derkehrenden Feste, durch die das Jahr Israels in verschiedene Ab­schnitte eingeteilt war. Es gibt uns einen vollständigen Überblick über die Wege Gottes mit den Kindern Israel während des ganzen Verlaufes ihrer ereignisreichen Geschichte. Wir finden:

 

Den Sabbath der Ruhe

Das Passah

Das Fest der ungesäuerten Brote

Das Fest der Erstlinge

Das Pfingstfest

Das Fest des Posaunenhalls

Den großen Versöhnungstag

Das Fest der Laubhütten.

 

DER SABBATH

 

Der Sabbath nimmt offenbar einen ganz besonderen und unabhängigen Platz ein. Er wird zuerst genannt, und nachdem seine Kennzeichen und die mit ihm verbundenen Umstände ans Licht gestellt sind, lesen wir: "Dies sind die Feste des HERRN, heilige Versammlungen, die ihr aus­rufen sollt zu ihrer bestimmten Zeit" (V. 4). So war denn, genau ge­nommen, das Passah das erste, und das Fest der Laubhütten das siebte große Fest Israels. Das heißt: wenn wir diese beiden Feste in ihrem bildlichen Charakter betrachten, so haben wir zuerst die Erlösung und als letztes von allen die tausendjährige Herrlichkeit. Das Passahlamm weist uns auf den Tod Christi hin (l. Kor. 5, 7), und das Fest der Laub­hütten auf die "Wiederherstellung aller Dinge, von welchen Gott durch den Mund seiner heiligen Propheten von jeher geredet hat" (Apostel­geschichte 3, 21).

 

Das waren also die beiden Feste, mit denen das jüdische Jahr eröffnet und beschlossen wurde. Die Versöhnung ist die Grundlage, die Herrlich­keit der Schlußstein des ganzen Gebäudes, dazwischen liegt die Auf­erstehung Christi (V. 10‑14), dann das Sammeln der Kirche (V. 15‑21), dann das Erwachen der Kinder Israel zu dem Bewußtsein ihrer längst verlorenen Herrlichkeit (V. 24. 25) und endlich ihre Buße und die herz­liche Aufnahme ihres Messias (V. 27‑32). Und damit nicht ein Zug in dieser wunderbaren bildlichen Darstellung fehlt, ist auch für die Be­dürfnisse der Heiden Vorsorge getroffen, indem ihnen am Schluß der Ernte gestattet wird, auf den Feldern Israels Nachlese zu halten (V. 22). Das alles verleiht dem Gemälde eine göttliche Vollkommen­heit und ruft in dem Herzen eines jeden, der die Heilige Schrift liebt, die höchste Bewunderung wach. Was könnte vollständiger sein? Das Blut des Lammes und die darauf gegründete praktische Heiligkeit, die Auferstehung Christi aus den Toten und Seine Himmelfahrt, das Herab­kommen des Heiligen Geistes in der Pfingstkraft, um die Kirche zu bilden, das Aufwachen des Überrestes, seine Buße und seine Wieder­herstellung, die Segnung "des Armen und des Fremdlings", die Offen­barung der Herrlichkeit, die Ruhe und Glückseligkeit des Reiches Gottes ‑ das alles ist der Inhalt dieses bewundernswerten Kapitels.

 

Der Platz, den der Sabbath (V. 1‑3) einnimmt, ist sehr bedeutsam. Der Herr steht im Begriff, ein Vorbild auf alle Seine Gnadenhandlungen hinsichtlich Seines Volkes zu geben. Aber ehe Er das tut, stellt Er den Sabbath vor unsere Blicke als den bezeichnenden Ausdruck jener "Ruhe", die "dem Volke Gottes übrigbleibt". Der Sabbath war ein feierlicher Tag, der durch Israel beobachtet werden sollte, aber er war zugleich ein Vorbild auf das, was noch geschehen wird, wenn das ganze, in diesem Kapitel angedeutete große und herrliche Werk seine vollstän­dige Erfüllung gefunden hat. Er versinnbildlicht die Ruhe Gottes, in welche alle, die glauben, jetzt schon im Geiste eintreten können, die aber, was ihre völlige und tatsächliche Erfüllung betrifft, "noch übrig­bleibt" (Hebr. 4). Jetzt wirken wir. Bald werden wir ruhen. In einem Sinn geht der Gläubige jetzt in die Ruhe ein. In einem anderen Sinn wirkt er, um in die Ruhe einzugehen. Er hat seine Ruhe in Christus gefunden. Er wirkt, um in seine Ruhe in der Herrlichkeit ein­zugehen. Er hat in dem, was Christus für ihn vollbracht hat, völlige Ruhe für seine Seele gefunden, und sein Auge ruht auf jenem ewigen Sabbath, in den er eingehen wird, wenn alle Mühen und Kämpfe der Wüste vorüber sind. Er kann nicht ruhen inmitten einer Szene der Sünde und des Elends. Er ruht in Christus, dem Sohn Gottes, der Knechtsgestalt angenommen hat. Und während er so ruht, ist er zu­gleich berufen, als ein Mitarbeiter Gottes zu wirken, und zwar in der vollen Gewißheit, daß er nach der Arbeit in den Wohnungen des unver­gänglichen Lichtes und der ungetrübten Glückseligkeit, wohin Mühsal und Kummer nicht dringen können, eine ununterbrochene, ewige Ruhe genießen wird.

 

Wir haben bereits bemerkt, daß der Sabbath einen besonderen Platz in diesem Kapitel einnimmt. Das geht deutlich aus dem Wortlaut des vierten Verses hervor, wo der Herr von neuem beginnt: "Dies sind die Feste des HERRN." Es ist, als ob Er den Sabbath von den sieben folgenden Festen deutlich abheben wollte, obwohl er auch ein Bild jener Ruhe ist, zu der diese Feste hinführen.

 

DAS PASSAH

 

"Dies sind die Feste des HERRN, heilige Versammlungen, die ihr aus­rufen sollt zu ihrer bestimmten Zeit: Im ersten Monat, am vierzehnten des Monats, zwischen den zwei Abenden, ist Passah dem HERRN" (V. 4. 5). Hier haben wir also den ersten der sieben regelmäßig wieder­kehrenden hohen Festtage, das Opfern des Passahlammes, dessen Blut Israel in jener schrecklichen Nacht, als die Erstgeburt Ägyptens ihren Tod fand, vor dem Schwert des Würgengels schirmte. Es ist das aner­kannte Vorbild auf den Tod Christi, und darum ist sein Platz in diesem Kapitel so besonders passend. Der Tod Christi bildet die Grundlage von allem. Es gibt für uns keine Ruhe, keine Heiligkeit, keine Gemein­schaft, außer aufgrund dieses Todes. Es ist besonders eindrucksvoll und bezeichnend, daß unmittelbar auf die Darstellung der Ruhe Gottes das Blut des Passahlammes folgt. Es soll dadurch gleichsam gesagt werden:

"Dort ist Ruhe, und hier ist dein Anrecht darauf." Die Arbeit befähigt uns, aber das Blut allein berechtigt uns, die Ruhe zu genießen.

 

DAS FEST DER UNGESÄUERTEN BROTE

 

"Und am fünfzehnten Tages dieses Monats ist das Fest der ungesäuer­ten Brote dem HERRN, sieben Tage sollt ihr Ungesäuertes essen. Am ersten Tage soll euch eine heilige Versammlung sein, keinerlei Dienst­arbeit sollt ihr tun. Und ihr sollt dem HERRN ein Feueropfer darbrin­gen sieben Tage; am siebenten Tage ist eine heilige Versammlung, kei­nerlei Dienstarbeit sollt ihr tun" (V. 6‑8). Das Volk ist hier um den HERRN versammelt, und zwar in der praktischen Heiligkeit, die auf die vollbrachte Erlösung gegründet ist, und der duftende Wohlgeruch des Opfers steigt von dem Altar Israels zu dem Thron des Gottes Israels empor. Welch ein schönes Bild von jener Heiligkeit, die Gott in dem Leben Seiner Erlösten zu sehen wünscht! Sie gründet sich auf das Opfer und steigt zusammen mit dem lieblichen Wohlgeruch der Person Christi zu Ihm empor. "Keinerlei Dienstarbeit sollt ihr tun; und ihr sollt dem HERRN ein Feueropfer darbringen." Welch ein Gegensatz! Die von Menschenhänden verrichtete Dienstarbeit gegenüber dem lieb­lichen Duft des Opfers Christi! Die praktische Heiligkeit des Volkes Gottes ist keine Dienstarbeit. Sie ist die lebendige Entfaltung Christi, die in den Gläubigen durch die Kraft des Heiligen Geistes an den Tag tritt. "Das Leben ist für mich Christus." Das ist der eigentliche Ge­danke: Christus ist unser Leben, und jede Darstellung dieses Lebens trägt nach göttlichem Urteil den Wohlgeruch Christi. Sie mag nach menschlichem Urteil eine sehr geringfügige Sache sein, aber insoweit sie ein Ausfluß von Christus, unserem Leben, ist, ist sie vor Gott unaus­sprechlich kostbar. Sie steigt zu Ihm empor und kann Seinem Gedächt­nis nie entschwinden. "Die Frucht der Gerechtigkeit, die durch Jesum Christum ist", wird in dem Leben des Gläubigen hervorgebracht, und keine Macht der Erde oder der Hölle kann verhindern, daß ihr Wohl­geruch zu Gottes Thron emporsteigt.

 

Es ist gut, sich den Gegensatz zwischen jeder "Dienstarbeit" und dem Ausfluß des Lebens Christi wirklich klar zu machen. Das Bild ist be­zeichnend. Während der ganzen Dauer der Versammlung fand keinerlei Handarbeit statt, aber der liebliche Wohlgeruch des Brandopfers stieg zu Gott empor. Das sollten die beiden großen Kennzeichen des Festes der ungesäuerten Brote sein. Des Menschen Arbeit wurde eingestellt, und der Wohlgeruch des Opfers stieg empor, und beachten wir es wohl, dies war ein Vorbild auf das Leben eines Gläubigen in praktischer Heiligkeit. Die besten Werke von Menschenhänden sind eine "Dienst­arbeit", aber die kleinste Traube mit "Früchten der Gerechtigkeit" ist "zur Herrlichkeit und zum Preise Gottes". Während des ganzen Lebens des Gläubigen sollte sich keine "Dienstarbeit" zeigen, nichts von dem häßlichen, erniedrigenden Element der Gesetzlichkeit. Nur die bestän­dige Darstellung des Lebens Christi, gewirkt und ans Licht gestellt durch die Kraft des Heiligen Geistes, darf gefunden werden. Während der "sieben Tage" der zweiten großen Festfeier Israels durfte kein "Sauerteig" vorhanden sein; stattdessen mußte "dem HERRN ein Feuer­opfer dargebracht werden".

 

DAS FEST DER ERSTLINGE

 

Die schöne Anordnung bezüglich der Darbringung der Erstlingsgarbe (V. 9‑14) ist ein Vorbild auf die Auferstehung Christi (vergl. 1. Kor. 15, 20), der "spät am Sabbath in der Dämmerung des ersten Wochen­tages", nachdem Er das glorreiche Werk der Erlösung vollbracht hatte, im Triumph aus dem Grabe hervorging. Seine Auferstehung war eine "Auferstehung aus den Toten", und in ihr finden wir das Unterpfand und das Vorbild auf die Auferstehung der Seinigen. "Der Erstling, Christus; sodann die, welche des Christus sind bei seiner Ankunft." Am Tage der Ankunft des Herrn werden die Seinigen, d. h. die, die in Jesu entschlafen sind, "aus den Toten" auferweckt werden. "Die übrigen der Toten wurden nicht lebendig, bis die tausend Jahre vollendet waren" (Offb. 20, 5). Als unser Herr unmittelbar nach Seiner Verklärung von Seiner Auferstehung "aus den Toten" sprach, fragten sich die jünger untereinander, was das wohl zu bedeuten habe. (Siehe Mark. 9) jeder orthodoxe Jude glaubte an die Lehre von der "Auferstehung der Toten", aber die Idee einer Auferstehung "aus den Toten" überstieg das Ver­ständnis der jünger, und sicher ist es auch vielen Jüngern nach ihnen schwer geworden, dieses Geheimnis zu erfassen.

 

Vergleichen wir 1. Kor. 15 mit 1. Thess. 4, 13‑18, so erhalten wir eine wertvolle Belehrung über diese wichtige Wahrheit. In Verbindung hiermit stehen auch die Worte: "Wenn aber der Geist dessen, der Jesum aus den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird er, der Christum aus den Toten auferweckt hat, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen wegen seines in euch wohnenden Geistes" (Röm. 8, 11). Aus diesen Schriftstellen geht hervor, daß die Auferstehung der Kirche genau nach demselben Grundsatz geschehen wird wie die Auferstehung Christi. Wie das Haupt, so wird der Leib aus den Toten auferweckt werden. Die Erstlingsgarbe und alle auf sie folgenden Garben stehen innerlich miteinander in Verbindung.

 

Es wird jedem, der diese Frage im Licht der Heiligen Schrift prüft, klar werden, daß zwischen der Auferstehung der Gläubigen und derjenigen der Ungläubigen ein wesentlicher Unterschied besteht. Die einen wie die anderen werden auferstehen, aber Offb. 20, 5 beweist, daß zwischen den beiden Auferstehungen mindestens tausend Jahre liegen, so daß sie sich sowohl grundsätzlich als auch im Blick auf die Zeit voneinander unterscheiden. Manche haben bei Johannes 5, 28 Schwierigkeiten, weil der Herr dort sagt: "Es kommt die Stunde, in welcher alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören werden." Wie, so fragen sie, können tausend Jahre zwischen den beiden Auferstehungen liegen, wenn von beiden gesagt wird, daß sie in einer "Stunde" stattfinden? Die Antwort ist sehr einfach. In Joh. 5, 25 ist die Rede von dem Lebendigmachen toter Seelen, und es wird dort gesagt, daß dies in einer "Stunde" statt­finde. Dieses Werk hat aber nun schon mehr als neunzehn Jahrhunderte gedauert. Wenn nun ein Zeitabschnitt von beinahe zweitausend Jahren als eine "Stunde" bezeichnet wird, warum sollte dann nicht ein Zeit­raum von nur eintausend Jahren in derselben Weise bezeichnet werden können? Darin liegt also durchaus keine Schwierigkeit, zumal ausdrück­lich erklärt wird, daß "die übrigen der Toten nicht lebendig wurden, bis die tausend Jahre vollendet waren.

 

Wenn nun außerdem noch eine "erste Auferstehung" erwähnt wird, ist es dann nicht klar, daß nicht alle zu derselben Zeit auferstehen werden? Warum von einer "ersten" Auferstehung reden, wenn es überhaupt nur eine gibt? Man könnte allerdings behaupten, daß die "erste Auferste­hung" auf die Seele Bezug habe, aber wo ist die Schriftstelle, die eine solche Behauptung rechtfertigt? Tatsächlich geschieht folgendes: Wenn "die Stimme des Erzengels und die Posaune Gottes" ertönen, dann werden die Erlösten, die in Jesu entschlafen sind, auferweckt werden, um dem Herrn in der Luft zu begegnen. Die im Unglauben gestorbenen Toten aber, wer sie auch von den Tagen Kains an gewesen sein mögen, werden während der ganzen Zeit der tausendjährigen Segnungen in ihren Gräbern bleiben und am Schluß dieser herrlichen und glück­seligen Zeit hervorkommen und vor "dem großen weißen Throne“ stehen, um dort "ein jeder nach seinen Werken" gerichtet und in den Feuersee geworfen zu werden.

 

"Und Brot und geröstete Körner und Gartenkorn sollt ihr nicht essen bis zu diesem selbigen Tage, bis ihr die Opfergabe eures Gottes ge­bracht habt." Die Ernte durfte nicht in Angriff genommen werden, bevor die Erstlingsgarbe, und mit dieser Garbe ein Brandopfer und ein Speisopfer, dargebracht worden war.

 

DAS PFINGSTFEST

 

In den Versen 15‑17 haben wir das Pfingstfest, ein Bild vom Volke Gottes, wie es durch den Heiligen Geist gesammelt und vor Gott dar­gestellt worden ist in Verbindung mit der ganzen Kostbarkeit Christi. Im Passah haben wir den Tod Christi, in der Erstlingsgarbe die Auferstehung Christi, und im Pfingstfest das Herniederkommen des Hei­ligen Geistes zur Bildung der Kirche. Alles ist göttlich vollkommen. Der Tod und die Auferstehung Christi mußten erfüllte Tatsachen sein, bevor die Kirche gebildet werden konnte. Die Garbe wurde dargebracht, und dann erst wurden die Brote gebacken.

 

Es heißt: "Gesäuert sollen sie gebacken werden." Warum das? Die beiden Brote weisen auf die Gläubigen hin. Obwohl sie mit dem Heiligen Geist erfüllt und mit Seinen Gaben und Gnaden geschmückt sind, wohnt dennoch Böses in ihnen. Die Versammlung (Kirche) stand am Pfingsttag in dem vollen Wert des Blutes Christi und wurde gekrönt mit den Gaben des Heiligen Geistes, aber auch Sauerteig war vor­handen. Keine Macht des Heiligen Geistes vermochte die Tatsache zu beseitigen, daß in der Mitte des Volkes Gottes Böses wohnte. Es mochte unterdrückt und verborgen gehalten werden, aber es war vorhanden. Diese Tatsache wird durch den Sauerteig in den beiden Broten bildlich angedeutet, und sie ist in der Geschichte der Kirche oder der Versamm­lung Gottes immer wieder sichtbar geworden. Obwohl der Heilige Geist in der Versammlung gegenwärtig war, so war doch auch das Fleisch da, um Ihn zu belügen. Fleisch ist Fleisch, und es kann nichts anderes als Fleisch aus ihm gemacht werden. Der Heilige Geist kam am Pfingsttage nicht hernieder um die Natur zu veredeln oder die Tatsache zu beseitigen, daß sie unheilbar böse ist, sondern um die Gläubigen zu einem Leib zu taufen und sie mit ihrem Haupt im Himmel zu vereinigen.

 

In dem Kapitel, das von dem Friedensopfer handelt, haben wir bereits   gesehen, daß Sauerteig bei diesem Opfer gestattet war. Gott wußte, daß sich in dem Anbeter noch Böses befand. Ebenso ist es in der Ver­ordnung über die "beiden Webe‑Brote". Sie mußten gesäuert gebacken werden wegen des noch vorhandenen Bösen. Doch, Gott sei Dank! Gegen das göttlich erkannte Böse wurden auch göttliche Vorkehrungen getroffen. Das gibt dem Herzen Trost und Ruhe. Es ist ein Trost, sicher sein zu dürfen, daß Gott das Schlimmste von uns kennt, und zudem, daß Er nicht nur nach unserer, sondern nach Seiner Kenntnis des Bösen die nötige Vorsorge getroffen hat. "Und ihr sollt zu dem Brote darbrin­gen sieben einjährige Lämmer ohne Fehl, und einen jungen Farren und zwei Widder (sie sollen ein Brandopfer dem HERRN sein) und ihr Speisopfer und ihre Trankopfer: ein Feueropfer lieblichen Geruchs dem HERRN" (V. 18). Hier haben wir also, in unmittelbarer Verbindung mit den ungesäuerten Broten, die Darbringung eines makellosen Opfers, als ein Bild von der erhabenen und so wichtigen Wahrheit, daß die Vollkommenheit Christi und nicht unsere Sündhaftigkeit stets vor den Augen Gottes ist. Man beachte besonders die Worte: "Ihr sollt zu dem Brote darbringen sieben einjährige Lämmer ohne Fehl." Welch eine kostbare Wahrheit, obwohl sie noch in das Gewand eines Bildes ge­kleidet ist! Nicht ich, sondern Christus!

 

Es könnte vielleicht eingewendet werden, daß Christus wohl ein Lamm ohne Fehl war, daß dies jedoch nicht genüge, um die Schuldenlast von einem sündenbefleckten Gewissen abzuwälzen, daß also ein Opfer lieb­lichen Geruchs an und für sich einem schuldigen Sünder nicht helfen könne. Aber unser Bild räumt einen solchen Einwand aus dem Weg. Es ist wahr, daß ein Brandopfer da nicht genügen konnte, wo "Sauer­teig" vorhanden war. Wir lesen deshalb auch: "Und ihr sollt einen Ziegenbock zum Sündopfer opfern und zwei einjährige Lämmer zum Friedensopfer" (V. 19). Das "Sündopfer" begegnete dem "Sauerteig" in den Broten. Der "Friede" war gestiftet, so daß die Gemeinschaft genos­sen werden konnte und alles unmittelbar zusammen mit dem „lieblichen Geruch" des "Brandopfers" zu dem Herrn emporstieg.

 

So sehen wir also die Kirche am Pfingsttag durch die Kraft des Heiligen Geistes in dem ganzen Wert und in der ganzen Vortrefflichkeit Christi. Wohl hatte sie noch den Sauerteig der alten Natur in sich, aber das Sündopfer war Gottes Antwort auf jede Frage, die aufkommen konnte. Die Kraft des Heiligen Geistes nahm den Sauerteig nicht weg, aber das Blut des Lammes hatte Sühnung dafür getan. Es ist sehr wichtig, diesen Unterschied zu verstehen. Das Werk des Heiligen Geistes in dem Gläu­bigen entfernt nicht das in ihm wohnende Böse. Es befähigt den Gläu­bigen, das Böse zu entdecken, zu verurteilen und am Boden zu halten, aber das höchste Maß geistlicher Kraft hebt nicht die Tatsache auf, daß das Böse vorhanden ist. Das Gewissen darf in vollkommener Ruhe sein, weil das Blut unseres Sündopfers die Frage der Sünde für immer in Ordnung gebracht hat. Statt daß das Böse in uns vor dem Auge Gottes steht, ist es für ewig vor Seinen Blicken hinweggetan, und wir sind angenommen gemäß der ganzen Vortrefflichkeit Christi, der sich selbst als Opfer Gott dargebracht hat, um Ihn zu verherrlichen und Seinem Volk immer zur Speise dienen zu können.

 

Soviel über das Pfingstfest. Nach diesem Fest verging eine lange Zeit, ehe das Volk neu zusammengerufen wurde. Wir finden jedoch, daß "des Armen und des Fremdlings" in jener schönen Verordnung gedacht wurde, auf die wir bereits ihrer moralischen Bedeutung nach hingewiesen haben. Hier können wir sie von einem Gesichtspunkt aus betrachten, der mit den verschiedenen Haushaltungen oder Verwaltungen Gottes in Verbindung steht. Es wird (V. 22) für den Fremdling die Vorsorge ge­troffen, auf den Feldern Israels Nachlese halten zu können. Der Heide soll an der überströmenden Güte Gottes Anteil haben. Wenn der Spei­cher und die Kelter Israels völlig versorgt sind, dann wird es für die Heiden köstliche Garben und Trauben einzusammeln geben.

 

Wir dürfen jedoch nicht meinen, daß uns in dem Bild der Nachlese des Fremdlings auf den Feldern Israels jene geistlichen Segnungen darge­stellt werden, durch welche die Kirche in den himmlischen Örtern mit Christus gesegnet ist. Diese Segnungen sind für den Samen Abrahams ebenso neu wie für die Heiden. Wir sehen in ihnen nicht eine Nachlese auf den Feldern Kanaans, sondern die Herrlichkeit des Himmels selbst, die Herrlichkeit Christi. Die Kirche ist nicht nur gesegnet durch Christus, sondern auch mit und in Christus. Die Braut Christi wird nicht aus­geschickt werden, um wie ein Fremdling die Ähren an den Rändern der Felder Israels aufzulesen oder die an den Weinstöcken Israels übrigge­bliebenen Trauben einzusammeln. Nein, höhere Segnungen, reichere Freuden, erhabenere Würden als irgend etwas, das Israel je gekannt hat, sind ihr Teil. Sie soll nicht wie ein Fremdling auf der Erde Nachlese halten, sondern sie wird sich im Himmel, dem sie angehört, ihres eige­nen Reichtums und ihrer glückseligen Heimat erfreuen. Das ist das "Bessere", das Gott in Seiner mannigfaltigen Weisheit und Gnade für sie "vorgesehen" hat (Hebr. 11, 40). Es wird ohne Zweifel für den "Fremdling" ein großes Vorrecht sein, Nachlese halten zu dürfen, nach­dem die Ernte Israels vorüber ist; aber das Teil der Kirche ist unver­gleichlich höher: sie wird die Braut des Königs Israels, die Teilhaberin Seines Thrones, die Mitgenossin Seiner Freuden, Seiner Würden und Seiner Herrlichkeiten sein, ja, sie wird Ihm gleich und für ewig bei Ihm sein. Die ewigen Wohnungen im Vaterhaus droben sind das Teil der Kirche, nicht die ungelesenen Ränder der Felder Israels hier auf der Erde.

 

DAS FEST DES POSAUNENHALLS

 

"Und der HERR redete zu Mose und sprach: Rede zu den Kindern Israel und sprich: Im siebenten Monat, am ersten des Monats, soll euch Ruhe sein, ein Gedächtnis des Posaunenhalls, eine heilige Versammlung.

 

Keinerlei Dienstarbeit sollt ihr tun, und ihr sollt dem HERRN ein Feuer­opfer darbringen" (V. 23‑25). Ein neues Thema wird hier eingeführt durch die Worte: "Und der HERR redete zu Mose." Diese Worte er­leichtern uns sehr die Einteilung des ganzen Buches: Sie finden sich zu Beginn jedes neuen Abschnitts. Der Sabbath, das Passah und das Fest der ungesäuerten Brote bilden also ebenso einen Abschnitt für die Webe‑Garbe, die Webe‑Brote und die Nachlese. Auf diese folgt dann nach einer langen Zwischenpause das Fest des Posaunenhalls am ersten Tag des siebten Monats. Dieses Fest führt uns in die jetzt schnell herannahende Zeit ein, da Israel zum Gedächtnis "die Posaune blasen wird", um sich seiner so lange entbehrten Herrlichkeit zu erinnern und sich aufzumachen, den Herrn zu suchen.

 

DER GROSSE VERSÖHNUNGSTAG

 

Das Fest des Posaunenhalls steht mit einer anderen großen Feier, dem "Versöhnungstag", in enger Verbindung (V. 27‑32). Nach dem Blasen der Posaune verfließt ein Zwischenraum von acht Tagen. Dann folgt der Versöhnungstag, verbunden mit der Kasteiung der Seele, der Sühnung der Sünde und der Ruhe von jeglicher Arbeit. Alle diese Dinge werden bald ihren gebührenden Platz in der Erfahrung des jüdischen Oberrestes finden. "Vorüber ist die Ernte, die Obstlese ist zu Ende, und wir sind nicht gerettet" (Jer. 8, 20)1 So wird das trostlose Klagelied des Über­restes lauten, wenn der Geist Gottes beginnt, das Herz und Gewissen des Volkes zu berühren. (Vergl. auch Sach. 12, 10‑14.)

 

Welche tiefe Trauer, welche bittere Betrübnis, welche aufrichtige Buße wird dann entstehen, wenn das Gewissen des Überrestes unter der mächtigen Wirkung des Heiligen Geistes sich seiner früheren Sünden, der Vernachlässigung des Sabbaths, der Übertretung des Gesetzes, der Steinigung der Propheten, der Kreuzigung des Sohnes Gottes, des Widerstrebens wider den Heiligen Geist erinnern wird! Alle diese Dinge werden in seinem Gewissen aufstehen und die größte Seelenangst in ihm hervorrufen.

 

Doch das Blut der Versöhnung wird allem begegnen. "An jenem Tage wird ein Quell geöffnet sein dem Hause Davids und den Bewohnern von Jerusalem für Sünde und für Unreinigkeit" (Sach. 13, 1). Sie wer­den fähig gemacht sein, ihre Sünden mit aufrichtigem Schmerz zu fühlen, aber sie werden auch dahin geleitet werden, die reinigende und errettende Wirkung des Blutes zu erkennen und vollkommenen Frieden, den Sabbath der Ruhe für ihre Seelen zu finden.

 

Wenn nun aber in Israel in den letzten Tagen diese Ergebnisse erreicht worden sind, was dürfen wir dann erwarten? Sicher die Herrlichkeit. Wenn die "Blindheit" beseitigt und die "Decke" weggenommen ist, wenn das Herz des Überrestes sich zu dem HERRN zurückgewandt hat, dann werden die glänzenden Strahlen der "Sonne der Gerechtigkeit" in ihrer heilenden, wiederherstellenden und rettenden Kraft auf ein wahr­haft gebeugtes Volk fallen. Die Übungen und Erfahrungen, die Kämpfe und Prüfungen, die Schwierigkeiten und schließlichen Segnungen des jüdischen Überrestes werden uns ausführlich in den Psalmen und Propheten mitgeteilt. Das Bestehen eines solchen Überrestes muß klar ver­standen worden sein, bevor man die Psalmen und Propheten mit Ein­sicht und Befriedigung erforschen kann. Wohl gibt es in allen von Gott eingegebenen Schriften vieles für uns zu lernen, denn "alle Schrift ist nütze zur Lehre", aber wollen wir von irgendeinem Teil des Wortes Gottes den richtigen Gebrauch machen, so müssen wir vor allen Dingen zu verstehen suchen, worauf er zunächst anzuwenden ist. Wenn wir z. B. jene Schriftstellen, die sich ‑ genau genommen ‑ auf den jüdischen Überrest oder den irdischen Leib (Israel) beziehen, auf die Kirche Christi, den himmlischen Leib, anwenden, so kommen wir in große Ver­wirrung. Tatsächlich geschieht es nicht selten, daß das Bestehen des jü­dischen Überrestes ganz und gar übersehen und die wahre Stellung und Hoffnung der Kirche völlig aus dem Auge verloren wird. Das sind Ver­irrungen, die wir sorgfältig vermeiden sollten.

 

DAS LAUBHÜTTENFEST

 

Das Laubhüttenfest (V. 33_43), die letzte Feier des jüdischen Jahres, weist uns hin auf die Zeit der Herrlichkeit Israels in den letzten Tagen und bildet daher einen schönen und passenden Schluß der ganzen Fest­reihe. Die Ernte war eingesammelt, alles war vollbracht, die Scheunen waren reichlich gefüllt, und es war der Wille des HERRN, daß die Kin­der Israel ihrer festlichen Freude Ausdruck gaben. Aber ach! Es scheint wenig Neigung bei ihnen vorhanden gewesen zu sein, auf die Gedanken Gottes bezüglich dieser herrlichen Verordnung einzugehen. Sie verloren schon sehr bald die Tatsache aus dem Auge, daß sie Pilger und Fremd­linge gewesen waren. Von den Tagen Josuas bis hin zu den Tagen Nehemias ist das Laubhüttenfest nicht ein einziges Mal gefeiert worden. Es war dem schwachen Überrest, der aus der babylonischen Gefangen­schaft zurückkehrte, vorbehalten, das zu tun, was nicht einmal in den herrlichen Tagen Salomos geschehen war (Neh. 8, 17). Wie erquickend muß es für sie, die ihre Harfen an die Weiden Babylons gehängt hatten, gewesen sein, sich unter dem Schatten der Weiden Kanaans zu be­finden! Es war ein süßer Vorgeschmack von jener Zeit, auf die das Laubhüttenfest hindeutet, und in der die wiederhergestellten Stämme Israels in jenen Hütten ruhen werden, welche die treue Hand des HERRN für sie in dem Land aufrichten wird, das Er Abraham und seinem Samen für immer zugeschworen hat. 0 welch ein seliger Augen­blick wird es sein, wenn die Bewohner der Erde und die Bewohner des Himmels, wie es durch den "ersten Tag" und den "achten Tag" des Laubhüttenfestes angedeutet wird, einander begegnen werden! "Ich werde den Himmel erhören, und dieser wird die Erde erhören; und die Erde wird erhören das Korn und den Most und das Öl; und sie, sie werden Jisreel erhören" (Hos. 2, 21. 22).

 

Es gibt eine schöne Stelle im letzten Kapitel des Propheten Sacharja, die sehr deutlich beweist, daß die wahre Feier des Laubhüttenfestes der Herrlichkeit der letzten Tage angehört. Sie lautet: "Und es wird gesche­hen, daß alle Übriggebliebenen von allen Nationen, welche wider Jeru­salem gekommen sind, von Jahr zu Jahr hinaufziehen werden, um den König, den HERRN der Heerscharen, anzubeten und das Laubhüttenfest zu feiern" (Sach. 14,16). Welch eine Szene! Wer möchte sie durch das verschwommene Erklärungssystem einer falschen Vergeistlichung ihrer charakteristischen Schönheit berauben? Jerusalem bedeutet nichts ande­res als Jerusalem, Völker sind Völker, und das Laubhüttenfest ist das wirkliche Laubhüttenfest. Das Fest der Laubhütten wird wieder im Lande Kanaan gefeiert werden, und die Menge der geretteten Völker wird hinaufziehen, um an der herrlichen und heiligen Festlichkeit teil­zunehmen. Der Streit Jerusalems wird dann beendet und das Schlacht­geschrei verstummt sein. Schwert und Spieß werden in Geräte des fried­lichen Ackerbaues umgewandelt werden. Israel wird unter dem erquik­kenden Schatten seiner Weinstöcke und Feigenbäume ruhen, und die ganze Erde wird sich der Herrschaft des "Friedefürsten" erfreuen. Das ist die Aussicht, die Gott uns in Seinem Wort gibt. Die Bilder deuten sie an, die Propheten weissagen von ihr, der Glaube ergreift sie, und die Hoffnung genießt sie im voraus.

 

Am Schluß unseres Kapitels lesen wir: "Und Mose sagte den Kindern Israel die Feste des HERRN." Das war ihr wahrer Charakter, ihr ur­sprünglicher Titel, aber im Evangelium Johannes werden sie Feste der Juden genannt. Sie hatten längst aufgehört, Feste des HERRN zu sein. Der HERR war ausgeschlossen. Die Juden bedurften Seiner nicht, und als daher der Herr Jesus in Joh. 7 aufgefordert wurde, auf das "Fest der Juden, die Laubhütten", zu gehen, antwortete Er: "Meine Zeit ist noch nicht da", und als Er dennoch hinging, geschah es "wie im verborge­nen"; Sein Platz war außerhalb der ganzen Sache und Er lud jede dürstende Seele ein, zu Ihm zu kommen. Darin liegt eine ernste Unter­weisung. Göttliche Einrichtungen sind schnell in den Händen der Men­schen verdorben. Aber wie gesegnet ist das Bewußtsein, daß jeder, der die Dürre und Trockenheit eines kraftlosen religiösen Formenwesens fühlt, zu Jesus seine Zuflucht nehmen kann, um aus Seinen unversieg­baren Quellen zu trinken und auf diesem Weg ein Segenskanal für andere zu werden!

 

Kapitel 24

 

DIE LAMPEN UND DIE SCHICHTBROTE  DER „FLUCHER"

 

Dieser kurze Abschnitt enthält viel Interessantes. Wir haben im vorigen Kapitel die Wege und Handlungen Gottes mit Israel verfolgt, von der Darbringung des wahren Passahlammes bis zur Ruhe und Herrlichkeit des Tausendjährigen Reiches. In diesem Kapitel werden uns zwei große Gedanken vor Augen gestellt: zunächst das nie fehlende Zeugnis und Gedächtnis bezüglich der zwölf Stämme, das vor Gott aufrecht erhalten wird durch die Kraft des Heiligen Geistes und die Wirksamkeit des Priestertums Christi und dann der Abfall Israels nach dem Fleische und das Gericht Gottes.

 

"Und der HERR redete zu Mose und sprach: Gebiete den Kindern Israel, daß sie dir reines, zerstoßenes Olivenöl bringen zum Licht, um die Lampen anzuzünden beständig. Außerhalb des Vorhangs des Zeugnisses, im Zelte der Zusammenkunft, soll Aaron sie zurichten, vom Abend bis zum Morgen, vor dem HERRN beständig: eine ewige Sat­zung bei euren Geschlechtern. Auf dem reinen Leuchter soll er die Lam­pen beständig vor dem HERRN zurichten" (V. 1‑4). Das "reine Oliven­öl" stellt die Gnadengabe des Heiligen Geistes dar, gegründet auf das Werk Christi (der Leuchter war von "Gold in getriebener Arbeit"). Die "Oliven" wurden "zerstoßen", um das "Öl" zu gewinnen, und das Gold wurde "getrieben“ oder geschlagen, um den Leuchter daraus zu formen. Mit anderen Worten, die Gnade und das Licht des Heiligen Geistes sind auf den Tod Christi gegründet und werden durch das Priestertum Christi in Klarheit und Kraft erhalten. Die goldene Lampe verbreitete im Heiligtum ihr Licht. In allem finden wir eine lebendige Darstellung der Treue Gottes gegenüber Seinem Volk, was auch immer dessen äußerer Zustand sein mochte. Dunkelheit und Schlaf mochten sich auf dieses Volk legen, aber die Lampe mußte "beständig" brennen. Der Hohepriester war dafür verantwortlich, daß das Licht des Zeug­nisses während der langen Nacht stets brannte. (V. 3) Die Aufrechter­haltung des Lichtes wurde nicht von Israel abhängig gemacht. Gott hatte jemand bestimmt, der dafür zu sorgen und es beständig in Ordnung

halten hatte.

 

Doch wir lesen weiter: "Und du sollst Feinmehl nehmen und daraus zwölf Kuchen backen; von zwei Zehnteln soll ein Kuchen sein. Und du sollst sie in zwei Schichten legen, sechs in eine Schicht, auf den reinen Tisch vor dem HERRN. Und du sollst auf jede Schicht reinen Weihrauch legen, und er soll dem Brote zum Gedächtnis sein, ein Feueropfer dem HERRN. Sabbathtag für Sabbathtag soll er es beständig vor dem HERRN zurichten: ein ewiger Bund von seiten der Kinder Israel. Und es soll Aaron und seinen Söhnen gehören, und sie sollen es essen an heiligem Orte; denn als ein Hochheiliges von den Feueropfern des HERRN soll es ihm gehören: eine ewige Satzung" (V. 5‑9). Bei diesen Broten ist von Sauerteig keine Rede. Sie stellen zweifellos Christus in unmittelbarer Verbindung mit den "zwölf Stämmen Israels" dar. Sie wurden im Heiligtum auf den reinen Tisch vor dem HERRN aufgelegt, und zwar sieben Tage lang; danach dienten sie Aaron und seinen Söh­nen zur Speise. Sie liefern uns in dieser Weise ein anderes treffendes Bild von der Stellung Israels in den Augen des HERRN, welchen An­blick das Volk auch äußerlich bieten mochte. Die zwölf Stämme sind stets vor Ihm. Ihr Gedächtnis kann nie verloren gehen. Sie befinden sich im Heiligtum in göttlicher Ordnung. Sie sind mit dem wohlrie­chenden Weihrauch Christi bedeckt und werfen von dem reinen Tisch, auf dem sie ruhen, die glänzenden Strahlen jenes goldenen Leuchters zurück, der sein Licht während der finsteren Stunden der moralischen Nacht der Nationen in ungetrübtem Glanz leuchten läßt.

 

Es ist gut und notwendig, zu erkennen, daß wir nicht den Eingebungen unserer Phantasie folgen, wenn wir es wagen, die geheimnisvollen Geräte des Heiligtums in dieser Weise zu erklären. In Hebräer werden wir belehrt, daß diese Dinge "Abbilder der Dinge in den Himmeln", und in Hebräer ‑10, daß sie "Schatten der zukünftigen Güter" waren. Wir sind daher berechtigt zu glauben, daß es "Dinge in den Himmeln" gibt, die jenen "Bildern“ entsprechen, daß eine Wirklichkeit besteht, die dem "Schatten" entspricht. Mit einem Satz, wir sind zu dem Glauben berechtigt, daß "in den Himmeln" das vorhanden ist, was den sieben Lampen", dem "reinen Tisch" und den "zwölf Broten" entspricht. Das ist nicht menschliche Einbildung, sondern göttliche Wahrheit, die der Glaube sich zu allen Zeiten zu eigen gemacht hat. Was bedeutete der aus "zwölf Steinen" errichtete Altar Elias auf dem Berg Karmel? Er war nichts anderes als der Ausdruck seines Glaubens an jene Wahrheit, von der die "zwölf Brote" die Abbilder und Schatten waren. Er glaubte an die unverbrüchliche Einheit des Volkes, die vor Gott aufrecht er­halten wurde in der Unwandelbarkeit der dem Abraham, Isaak und Jakob gemachten Verheißung, wie traurig auch der äußere Zustand des Volkes sein mochte. Mochte der Mensch auch nichts von dieser Einheit der zwölf Stämme sehen, der Glaube erblickte sie dennoch im Heiligtum und sah dort die mit reinem Weihrauch bedeckten und in göttlicher Ordnung aufgeschichteten zwölf Brote auf dem reinen Tisch liegen. Und mochte auch äußerlich alles in Finsternis gehüllt sein, der Glaube erkannte dennoch im Licht der sieben goldenen Lampen dieselbe große Wahrheit, die unauflösliche Einheit der zwölf Stämme Israels.

 

So war es damals, und so ist es jetzt. Die Nacht ist traurig und finster. Es gibt in dieser armen Welt keinen einzigen Lichtstrahl, durch den man die Einheit der zwölf Stämme wahrnehmen könnte. Sie sind unter die Nationen zerstreut und dem Blick des Menschen entschwunden. Aber ihr Gedächtnis ist vor dem Herrn. Der Glaube erkennt dies an, weil er weiß, daß "alle Verheißungen Gottes Ja und Amen sind in Christo Jesu". Er sieht im Heiligtum droben, in dem vollkommenen Licht des Heiligen Geistes, wie treu Gott der zwölf Stämme gedenkt. (Vergl. Apgsch. 26, 6. 7). Wenn der König Agrippa Paulus gefragt hätte: "Wo sind die zwölf Stämme?", hätte er sie ihm zeigen können? Nein. Wes­halb nicht? Weil sie nicht zu sehen waren? Nein, weil dem König Agrippa das Auge des Glaubens fehlte, um sie zu sehen. Das Glaubens­auge und das Licht des Geistes Gottes sind erforderlich, um die zwölf Brote wahrzunehmen, die im Heiligtum Gottes wohlgeordnet auf dem reinen Tisch lagen. Dort waren sie und Paulus sah sie dort, obgleich der Augenblick, in dem er seiner Oberzeugung Ausdruck gab, so dunkel wie möglich war. Der Glaube wird nicht durch die Umstände beherrscht. Er wählt den erhabenen Felsen des ewigen Wortes Gottes zu seinem Standpunkt, und in der Ruhe und Sicherheit dieser heiligen Höhe nährt er sich von dem unwandelbaren Worte dessen, der nicht lügen kann. Der Unglaube mag in seiner Torheit rings um sich her schauen und fragen: "Wo sind die zwölf Stämme?" oder: "Wie können sie gefunden und wiederhergestellt werden?" Es ist unmöglich, solche Fragen zu beantworten. Nicht, weil es keine Antwort gibt, sondern weil der Un­glaube unfähig ist, sich zu dem Standpunkt zu erheben, von dem aus die Antwort verstanden werden kann. Es ist ebenso sicher, daß das Ge­dächtnis der zwölf Stämme Israels vor dem Auge Gottes ist, wie die Tatsache, daß die zwölf Brote an jedem Sabbath auf den goldenen Tisch gelegt wurden. Aber wer kann den Zweifler oder den Ungläubigen hiervon überzeugen? Wer ist imstande, von der Glaubwürdigkeit einer solchen Wahrheit diejenigen zu überzeugen, die in allen Dingen durch die Vernunft oder den Verstand beherrscht werden und nicht wissen, was es heißt, wider Hoffnung auf Hoffnung zu glauben? Der Glaube findet dort göttliche Gewißheit und ewige Wirklichkeit, wo Vernunft und Verstand nichts finden. 0 wäre unser Glaube doch tiefer! Möch­ten wir doch mit größerem Ernst jedes Wort auffassen, das aus dem Mund des Herrn hervorgeht, und in der ungekünstelten Einfalt eines Kindes darauf bauen!

 

Wenden wir uns jetzt dem zweiten Teil unseres Kapitels zu, dem Abfall Israels und dem darauf folgenden göttlichen Gericht.

 

"Und der Sohn eines israelitischen Weibes, ‑ er war aber der Sohn eines ägyptischen Mannes, ‑ ging aus unter die Kinder Israel; und der Sohn der Israelitin und ein israelitischer Mann zankten sich im Lager. Und der Sohn des israelitischen Weibes lästerte den Namen des HERRN und fluchte ihm; und sie brachten ihn zu Mose.... Und der HERR redete zu Mose und sprach: Führe den Flucher außerhalb des Lagers; und alle, die es gehört haben, sollen ihre Hände auf seinen Kopf legen, und die ganze Gemeinde soll ihn steinigen.... Und Mose redete zu den Kindern Israel, und sie führten den Flucher vor das Lager hinaus und steinigten ihn; und die Kinder Israel taten, wie der HERR dem Mose geboten hatte" (V. 10‑23).

 

Der besondere Platz, den Gott diesem Ereignis anweist, ist treffend und wichtig. Ohne Zweifel soll uns die Kehrseite des Gemäldes gezeigt werden, das wir im ersten Teil des Kapitels gesehen haben. Israel hat schwer wider den HERRN gesündigt. Der Name des HERRN ist unter den Heiden verlästert worden. Der Zorn ist über das Volk gekommen. Aber der Tag naht, an dem die finstere und schwere Wolke des Gerichts vorüberziehen wird, und dann werden die zwölf Stämme in ihrer unverletzten Einheit vor dem Auge aller Nationen da­stehen als das bewundernswerte Denkmal der Treue und Güte des HERRN. (Vergl. Jes. 12; Röm. 11, 25‑36)

 

Wohl steht Israel wegen seiner Sünde unter dem Gericht Gottes, aber "die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind unbereubar" (Römer 11, 29). Die Propheten rufen es aus, und die Apostel lassen es wie ein Echo nachhallen, daß "ganz Israel errettet werden wird", nicht weil es nicht gesündigt hat, sondern weil die "Gnadengaben und die Berufung Gottes unbereubar sind". Mögen sich die Christen daher wohl hüten, an den "den Vätern gemachten Verheißungen " zu rütteln! Wenn diese Verheißungen weg erklärt oder falsch angewandt werden, muß un­bedingt unser Gefühl von der göttlichen Unverletzlichkeit und Genauig­keit der Heiligen Schrift als eines Ganzen geschwächt werden. Der Herr hat gesprochen, das ist das Fundament unserer Ruhe.

 

Kapitel 25

 

SABBATHJAHR UND JUBELJAHR

 

Zwischen dem 25. und dem vorigen Kapitel besteht ein enger Zusam­menhang. In Kapitel 24 erfahren wir, daß Israel für das Land Kanaan, und in Kapitel 25, daß das Land Kanaan für das Haus Israel bewahrt wird. "Ganz Israel wird errettet werden", und "das Land soll nicht für immer verkauft werden". Der erste dieser Aussprüche drückt einen Grundsatz aus, der inmitten des Meeres sich widersprechender Aus­legungen wie ein Felsen standgehalten hat; der zweite stellt eine Tat­sache fest, die viele Völker übersehen wollten, aber immer vergeblich.

 

Unser Kapitel beginnt in einer ganz besonderen Weise: "Und der HERR redete zu Mose auf dem Berge Sinai". Der größte Teil der Mit­teilungen des 3. Buches Mose wird durch die Tatsache charakterisiert, daß sie von dem "Zelte der Zusammenkunft" ausgingen. Weshalb, ist leicht zu verstehen. Diese Mitteilungen bezogen sich hauptsächlich auf den Dienst, die Gemeinschaft und Anbetung der Priester, oder auf den moralischen Zustand des Volkes, und darum gingen sie von dem "Zelte der Zusammenkunft" aus, von dem großen Mittelpunkt alles dessen, was in irgendeiner Weise zum priesterlichen Dienst gehörte. Hier aber werden die Mitteilungen von einem ganz anderen Punkt aus gemacht. "Der HERR redete zu Mose auf dem Berge Sinai." Da nun jeder Aus­druck der Heiligen Schrift seine besondere Bedeutung hat, dürfen wir erwarten, daß eine vom "Berge Sinai" ausgehende Mitteilung sich von jenen unterscheiden muß, die in dem "Zelte der Zusammenkunft" ge­geben wurden. Unser Kapitel handelt von den Ansprüchen des HERRN, als des Herrn der ganzen Erde. Es ist nicht die Rede von der Anbetung und Gemeinschaft eines priesterlichen Hauses oder von irgendwelchen inneren Einrichtungen des Volkes, sondern von den Forderungen Gottes in Seiner Regierung und von Seinem Recht, einen bestimmten Teil der Erde einem gewissen Volk in Besitz zu geben. Mit einem Satz, es ist nicht der HERR in dem "Zelte", der Stätte der Anbetung, sondern es ist der HERR auf dem "Berge Sinai", dem Platz der Regierung.

 

In den ersten sieben Versen unseres Kapitels haben wir den besonderen Charakter des Landes des Herrn. Nach Seinem Willen sollte es sich eines Sabbathjahres erfreuen, und dieses Jahr sollte von dem reichen Überfluß zeugen, mit dem Er die segnen würde, die es sozusagen als Seine Pächter besitzen sollten. Welch ein glückliches Pachtverhältnis! Welch eine Ehre, das Land unmittelbar unter dem HERRN zu besitzen!

 

Keine Pacht, keine Lasten! Es konnte wirklich mit Recht gesagt werden: "Glückselig das Volk, dessen Gott der HERR ist!" (Psalm 144) Wir wissen, daß Israel das reiche Land, das der HERR ihm schenkte, niemals ganz in Besitz genommen hat. Er hatte es ganz gegeben. Er hatte es für immer gegeben. Sie nahmen nur einen Teil, und auch nur für eine Zeit, in Besitz. Und dennoch ist das Besitztum noch immer vorhanden, wenn auch die Pächter für den Augenblick ausgetrieben sind. "Das Land soll nicht für immer verkauft werden, denn mein ist das Land; denn Fremdlinge und Beisassen seid ihr bei mir" (V. 23). Das heißt doch, daß Kanaan in ganz besonderer Weise dem HERRN gehört, und daß Er es durch die Stämme Israels besitzen will. Zwar ist Aie ganze Erde des Herrn". Aber das ist eine ganz andere Sache. Es ist klar, daß es Ihm nach Seinen unerforschlichen Ratschlüssen gefallen hat, in besonderer Weise Besitz von dem Lande Kanaan zu nehmen, mit diesem Land in einer besonderen Weise zu handeln, es dadurch, daß Er es Sein nannte, vor allen anderen Ländern durch Gerichte, durch Verordnungen und durch regelmäßig wiederkehrende Festlichkeiten auszuzeichnen, deren bloße Betrachtung schon etwas Anziehendes hat. Wo auf der ganzen Erde hören wir von einem Land, das sich eines Jahres ununterbrochener Ruhe, eines Jahres des reichsten Überflusses erfreute? Der Rationalist mag fragen: "Wie ist so etwas überhaupt möglich?" Der Zweifler mag ungläubig den Kopf schütteln, aber der Glaube vernimmt die befriedi­gende Antwort des HERRN: "Und wenn ihr sprechet: Was sollen wir im siebenten Jahre essen? siehe, wir säen nicht, und unseren Ertrag sammeln wir nicht ‑: ich werde euch ja im sechsten Jahre meinen Segen entbieten, daß es den Ertrag für drei Jahre bringe; und wenn ihr im achten Jahre säet, werdet ihr noch vom alten Ertrage essen; bis ins neunte Jahr, bis sein Ertrag einkommt, werdet ihr Altes essen" (V. 20‑22). Die Natur mochte fragen: "Wie ', sollen wir nicht säen?" Aber Gottes Antwort lautete: "Ich werde euch meinen Segen entbieten." Der "Segen" Gottes ist weit besser als das "Säen" des Menschen. Er wollte sie wirklich nicht vor Hunger sterben lassen in dem Sabbathjahr. Sie sollten sich von den Früchten Seines Segens nähren, während sie Sein Ruhejahr feierten ‑ ein Jahr, das auf jenen ewigen Sabbath hinwies, der für das Volk Gottes übrigbleibt.

 

"Und du sollst dir sieben Jahrsabbathe zählen, siebenmal sieben Jahre, so daß die Tage von sieben Jahrsabbathen dir neunundvierzig Jahre ausmachen. Und du sollst im siebenten Monat, am zehnten des Monats, den Posaunenschall ergehen lassen; an dem Versöhnungstage sollt ihr die Posaune ergehen lassen durch euer ganzes Land" (V. 8. 9). Es ist von besonderem Interesse, die verschiedenen Hinweise auf die tausend­jährige Ruhe in der jüdischen Haushaltung zu betrachten. jeder siebte Tag war ein Sabbathtag, jedes siebte Jahr ein Sabbathjahr, und jedes siebenmal siebte Jahr ein Jubeljahr. Alle diese Feste öffneten dem Auge des Glaubens die Aussicht auf eine Zeit, wo Mühe und Kummer auf­hören werden, wo der "Schweiß des Angesichts" nicht mehr nötig sein wird, um den Hunger zu stillen, sondern wo die Erde, getränkt von den reichen Regengüssen der göttlichen Gnade und befruchtet durch die hellen Strahlen der Sonne der Gerechtigkeit, ihren Überfluß in die Scheunen und Keltern des Volkes Gottes ausschütten wird. Glückselige Zeit 1 Glückseliges Volk! Wie gesegnet ist es, überzeugt zu sein, daß diese Dinge nicht etwa Gebilde einer blühenden Phantasie, sondern tatsächliche, göttlich geoffenbarte Wahrheiten sind, die Gott dazu be­stimmt hat, daß der Gläubige sie genießt. "Der Glaube ist eine Verwirk­lichung dessen, was man hofft, eine Überzeugung von Dingen, die man nicht sieht" (Hebr. 11, 1).

 

Unter allen diesen jüdischen Festlichkeiten hat wohl das Jubeljahr am meisten Herz und Seele erfreut. Es stand in unmittelbarer Verbindung mit dem großen Versöhnungstag. Sobald das Blut des Schlachtopfers vergossen war, vernahm man auf den Bergen und in den Tälern des Landes Kanaan den befreienden Klang der Jubelposaune. Dieser ersehnte Ton war dazu bestimmt, die Nation in ihrem tiefsten Innern aufzuwecken und in Bewegung zu bringen und einen Strom göttlicher und unaussprechlicher Freude weit und breit durch das Land hin zu senden. "An dem Versöhnungstage sollt ihr die Posaune ergehen lassen durch euer ganzes Land." In jedem Winkel sollte der froh­lockende Klang vernommen werden.

 

Alle Klassen und Stände des Volkes durften den heiligenden und bele­benden Einfluß dieser Verordnung erfahren. (V. 10‑13) Der Ver­bannte kehrte zurück, der Gefangene wurde befreit, der Schuldner los­gesprochen. Lange vermißte Familienglieder durften zu den Ihrigen zurückkehren. jedes Erbteil gelangte an seinen verbannten Eigentümer zurück. Der Ton der Posaune war das willkommene und herzerquic­kende Signal für den Gefangenen, um frei auszugehen, für den Sklaven, um die Ketten seiner Sklaverei abzuschütteln, für den Totschläger, um in seine Heimat zurückzukehren, für den Heruntergekommenen und Verarmten, um wieder in den Besitz seines verlorenen Erbteils zu gelangen. Kaum war der Jubelklang der Posaune ertönt, so ergoß sich der gewaltige Strom des Segens majestätisch durch das ganze Land.

 

Das Jubeljahr erinnerte ferner sowohl den Käufer als auch den Verkäu­fer daran, daß das Land dem HERRN gehörte und nicht verkauft wer­den sollte (V. 14‑17). Die "Früchte" mochten verkauft werden, aber das war auch alles. Der HERR konnte niemals das Land einem anderen abtreten. Es ist wichtig, diesen Punkt im Auge zu behalten, weil er uns den Schlüssel zu einer bedeutsamen Wahrheit in die Hand gibt. Wenn das Land Kanaan nicht verkauft werden darf, wenn der HERR erklärt, daß es Sein ist, für wen hat Er es dann nötig? Wer soll es unter Ihm besitzen? Diejenigen, denen Er es durch einen ewigen Bund gegeben hat; sie sollen es durch alle Geschlechter hindurch besitzen.

 

Es gibt kein Fleckchen auf der ganzen Erde, das in Gottes Augen dem Lande Kanaan gleichkommt. Dort richtete der HERR Seinen Thron und Sein Heiligtum auf. Dort standen Seine Priester, um beständig vor Ihm zu dienen. Dort wurden die Stimmen Seiner Propheten vernommen, die von einem gegenwärtigen Verfall und einer zukünftigen Wiederherstel­lung und Herrlichkeit Zeugnis ablegten. Dort hat Johannes der Täufer als der Vorläufer des Messias seine Laufbahn begonnen und beendet. Dort wurde der Hochgelobte selbst von einem Weibe geboren. Dort wurde Er getauft. Dort predigte und lehrte Er. Dort wirkte und starb Er. Von dort aus fuhr Er siegreich zum Himmel, um zur Rechten des Vaters Seinen Platz zu nehmen. Dort stieg Gott, der Heilige Geist, in der Pfingstkraft hernieder. Von dort aus ergoß sich der Strom des Zeug­nisses des Evangeliums bis zu den Enden der Erde. Dorthin wird in kurzem der Herr der Herrlichkeit herabkommen und "Seine Füße werden auf dem ölberg stehen". Dort wird Sein Thron wiederaufge­richtet und Seine Anbetung wiederhergestellt werden. Mit einem Satz, Sein Auge und Sein Herz sind beständig dort. Der Staub dieses Landes ist kostbar für Ihn. Das Land selbst ist, im Blick auf diese Erde, der Mittelpunkt Seiner Gedanken und Seines Tuns, und es ist Seine Absicht, es zur Freude vieler Geschlechter mit immerwährender Herrlichkeit zu bekleiden.

 

Es ist daher, wie bereits bemerkt, wichtig, diese Seite der Wahrheit klar zu verstehen. Von dem Lande Kanaan hat der HERR gesagt: "Es ist mein." Wer wird es ihm entreißen? Wo ist der König oder der Kaiser, wo die Macht der Menschen oder der Teufel, die das "Land der Zierde" den allmächtigen Händen des HERRN entwinden könnte? Zwar ist es seit Jahrhunderten der Zankapfel der Nationen. Es war der Schauplatz grausamer, blutiger Kriege und wird dies noch einmal werden. Aber hoch über dem Schlachtgetöse der Völker erklingt mit göttlicher Klar­heit, Fülle und Kraft das Wort: "Mein ist das Land." Der HERR kann weder das Land preisgeben noch jene "zwölf Stämme", in denen Er es ewig besitzen will. Gott hat weder Sein Volk noch jenes Land ver­stoßen, das Er ihm als ewiges Besitztum zugeschworen hat. Die "zwölf Brote" in 3. Mose 24 bezeugen die eine, das "Jubeljahr" in 3. Mose 25 die andere Wahrheit. Das Gedächtnis der "zwölf Stämme Israels" ist beständig vor dem Herrn, und mit schnellen Schritten rückt der Augen­blick heran, wo auf den Bergen Palästinas die Jubelposaune vernommen werden wird. Dann wird der Gefangene die entehrenden Ketten, die ihn Jahrhunderte hindurch gefesselt haben, von sich werfen. Dann wird der Verbannte in seine Heimat, der er so lange entrissen war, zurückkehren. Dann wird jede Schuld erlassen, jede Bürde beseitigt, jede Träne ab­gewischt werden. (Vergl. auch Jes. 66, 12‑23)

 

Verweilen wir noch kurz bei der praktischen Auswirkung des Jubeljahres, seinem Einfluß auf Handel und Verkehr. Und wenn ihr eurem Nächsten etwas verkaufet oder von der Hand eures Nächsten etwas kaufet, so soll keiner seinen Bruder bedrücken. Nach der Zahl der Jahre seit dem Jubeljahre sollst du von deinem Nächsten kaufen, nach der Zahl der Erntejahre soll er dir verkaufen" (V. 14. 15). Die Höhe des Preises mußte nach dem Jubeljahr bestimmt werden. Je nachdem dieses große Ereignis nahe oder fern lag, sank oder stieg der Preis. Alle Ver­träge bezüglich des Landes waren aufgelöst, sobald die Jubelposaune ertönte, denn das Land gehörte dem HERRN, und das Jubeljahr brachte alles wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurück.

 

Hierin liegt für uns eine schöne Unterweisung. Wenn unseren Herzen die Hoffnung auf die Wiederkunft des Herrn wertvoll ist, werden wir alles Irdische geringachten. Es ist unmöglich, den Herrn aus dem Himmel zu erwarten, ohne von dieser Welt und ihrem Treiben getrennt zu sein. Wer in der beständigen Erwartung der Erscheinung Christi lebt, muß getrennt sein von allem, was bei der Ankunft des Herrn gerichtet und vernichtet wird. Und das nicht etwa wegen der Kürze und Unsicher­heit des menschlichen Lebens oder wegen der Vergänglichkeit alles Zeit­lichen. Es gibt etwas Mächtigeres und Einflußreicheres als alle diese Dinge, und das ist: "Der Herr ist nahe!" (Phil. 4, 5)

 

Kapitel 26

 

DIE FOLGEN VON GEHORSAM UND UNGEHORSAM

 

Dieses Kapitel bedarf keiner besonderen Erklärung. Es enthält ein ernstes und rührendes Zeugnis von den Segnungen des Gehorsams und den schrecklichen Folgen des Ungehorsams. Der Gehorsam der Kinder Israel hätte sie unüberwindlich gemacht (V. 6‑13), die Gegenwart Gottes wäre stets ihr Schirm und Schild gewesen. Keine wider sie ge­schmiedete Waffe hätte ihnen schaden können. Aber die Gegenwart Gottes konnte nur von einem gehorsamen Volk genossen werden. Der HERR konnte durch Seine Gegenwart Ungehorsam und Gottlosigkeit nicht gutheißen. Die unbeschnittenen Völker ringsum mochten sich auf ihre Tapferkeit und ihre militärische Stärke verlassen. Israel hatte nur den Arm des HERRN zur Stütze, und dieser Arm konnte nie Unheilig­keit und Ungehorsam in Schutz nehmen. Ihre Kraft beruhte auf dem Wandel mit Gott in einem Geist der Abhängigkeit und des Gehorsams. Solange sie so lebten, war sozusagen eine feurige Mauer rings um sie her, die sie vor jedem Feind und vor allem Bösen beschirmte.

 

Aber ach! Israel kam seiner Berufung in keiner Weise nach. Trotz des ernsten und erschreckenden Gemäldes, das ihnen in den Versen 14‑33 vor Augen gestellt wurde, verließen sie den Herrn, dienten anderen Göttern und brachten dadurch die hier angedrohten schrecklichen Ge­richte über sich, deren bloße Erwähnung das Herz schaudern macht. Unter der Schwere dieser Gerichte leiden sie bis zu dieser Stunde. Zer­streut und ausgeplündert, verwüstet und ausgeworfen, sind sie das Denkmal der unverbrüchlichen. Wahrheit und Gerechtigkeit des HERRN. Sie halten allen Nationen der Welt eine laute, eindrucksvolle Predigt über die Regierungswege Gottes ‑ eine Predigt, deren Studium für diese Nation von Nutzen, und deren eingehende Erwägung auch für uns heilsam wäre.

 

Wir sind geneigt, zwei in der Schrift klar unterschiedene Dinge mitein­ander zu vermengen, nämlich die Regierungswege und die Gnade Gottes. Daraus entstehen mancherlei Übel. Eine solche Vermengung schwächt unser Gefühl von der Würde und dem Ernst der Regierungs­wege sowie von der Reinheit, Fülle und Erhabenheit der Gnade Gottes. Es ist völlig wahr, daß sich Gott in Seiner Regierung das unumschränkte Recht, in Geduld, Langmut und Barmherzigkeit zu handeln, vorbehält, aber die Ausübung dieser Eigenschaften in Verbindung mit dem Thron Seiner Regierung darf nicht mit dem bedingungslosen Handeln der reinen und unvermischten Gnade verwechselt werden.

 

Das vorliegende Kapitel handelt von den Regierungswegen Gottes, und dennoch finden wir hier auch unendlich gnädige Worte. (Lies V. 40‑45.) Wir finden Gott in Seiner Regierung. Trotzdem kommt Er aber den ersten und schwächsten Kundgebungen eines gebrochenen und buß­fertigen Herzens in großer Gnade entgegen. Die Geschichte der Richter und Könige liefert viele Beispiele von der Ausübung dieses schönen Merkmals der göttlichen Regierung. Immer und immer wieder wurde die Seele des HERRN ungeduldig über die Mühsal Israels (Richt. 10, 16), und Er sandte ihnen einen Befreier nach dem anderen, bis endlich keine Hoffnung mehr blieb und die gerechten Ansprüche Seines Thro­nes ihre Verbannung aus dem Lande notwendig machten, für dessen Ver­waltung sie sich als völlig unfähig erwiesen hatten. Dies alles gehört in das Gebiet der Regierungswege. Doch bald wird Israel aufgrund einer unschätzbaren und unveränderlichen Gnade wieder ganz in den Besitz des Landes Kanaan gesetzt werden, einer Gnade, die in göttlicher Gerechtig­keit durch das Blut des Kreuzes ausgeübt werden wird. Es wird dies weder durch Gesetzeswerke, noch durch die Anordnungen einer veralte­ten und verschwindenden Haushaltung (Hebr. 8, 13) geschehen, sondern durch die Gnade, die "herrscht durch Gerechtigkeit, durch Jesus Chri­stus, unseren Herrn" (Röm. 5, 21). Deshalb werden sie auch nie wieder aus ihrem Besitztum vertrieben werden. Kein Feind wird sie je wieder belästigen. Sie werden eine ungestörte Ruhe hinter dem Schild der Gunst des HERRN genießen (Ps. 5, 12). Sie werden das Land besitzen gemäß der Unerschütterlichkeit der göttlichen Gnade und gemäß der Wirksamkeit des Blutes des ewigen Bundes. "Israel wird gerettet durch den HERRN mit ewiger Rettung" (Jes. 45, 17).

 

Kapitel 27

 

VOM "GELÜBDE“ UND VOM "GELOBENDEN“

 

Dieser Abschnitt bildet den Schluß unseres Buches; er befaßt sich mit dem "Gelübde" oder der freiwilligen Handlung, durch die jemand sich selbst oder sein Eigentum dem Herrn heiligte. (V. 1‑3)

 

Wenn jemand sich selbst, sein Vieh, sein Haus oder sein Feld dem Herrn weihte, so kam es dabei natürlich auf die Tauglichkeit oder den Wert des Geweihten an, und daher gab es ein gewisses Schätzungsmaß im Blick auf das Alter. Mose, als der Vertreter der Rechte Gottes, war berufen, in jedem Fall nach dem Maße des Heiligtums zu schätzen. Wenn jemand ein Gelübde tut, so muß er nach dem Maßstab der Ge­rechtigkeit erprobt werden. Überdies haben wir in allen Fällen den Un­terschied zwischen Fähigkeit und Anrecht zu beachten. In 2. Mose 30, 15 lesen wir bezüglich des Sühngeldes“. "Der Reiche soll nicht mehr geben, und der Arme nicht weniger als die Hälfte eines Sekels, wenn ihr das Hebopfer des HERRN gebet, um Sühnung zu tun für eure Seelen." Im Blick auf die Sühnung standen alle auf gleichem Boden. So muß es im­mer sein. Hoch oder niedrig, reich oder arm, gelehrt oder unwissend, alt oder jung ‑ alle haben ein und dasselbe Anrecht. "Da ist kein Unter­schied" (Röm. 3, 23). Alle stehen auf dem gleichen Boden der unend­lichen Kostbarkeit des Blutes Christi. Hinsichtlich der Fähigkeit kann ein großer Unterschied vorhanden sein, hinsichtlich des Anrechts besteht keiner. Wenn es sich um Erkenntnis, Gabe oder Fruchtbarkeit handelt, mag es große Unterschiede geben, bezüglich unseres Anrechtes gibt es jedoch keine. Der Schößling und der Baum, das Kind und der Vater, der gestern Bekehrte und der gereifte Gläubige, alle befinden sich auf demselben Boden. "Der Reiche soll nicht mehr geben, und der Arme nicht weniger." Nichts mehr konnte gegeben, nichts weniger angenommen werden. "Wir haben Freimütigkeit zum Eintritt in das Heiligtum durch das Blut Jesu." (Hebr. 10) Darin allein liegt unser Recht, eintreten zu dürfen. Unsere Fähigkeit, anzubeten, nachdem wir eingetreten sind,

 

hängt dagegen von unserer geistlichen Kraft ab. Christus ist unser An­recht, der Heilige Geist unsere Fähigkeit. Das eigene Ich hat weder mit dem einen noch mit dem anderen etwas zu tun. Welch eine Gnade! Wir gehen ein durch das Blut Jesu. Wir genießen das, was wir dort finden, durch den Heiligen Geist. Das Blut Jesu öffnet die Tür. Der Heilige Geist führt uns durch das Haus. Das Blut Jesu öffnet das Schatzkäst­chen. Der Heilige Geist zeigt uns den kostbaren Inhalt. Das Blut Jesu schenkt uns das Kästchen. Der Heilige Geist befähigt uns, die selte­nen und kostbaren Edelsteine, die es enthält, zu schätzen.

 

Aber hier in 3. Mose 27 handelt es sich ganz und gar um die Kraft ' die Fähigkeit oder den Wert. Mose hatte ein gewisses Maß, von dem er nicht abweichen durfte. Er hatte einen Maßstab, nach dem er jeden, der ein "Gelübde" tat, schätzen und ihm demgemäß seinen Platz an­weisen mußte.

 

Was mußte nun mit einem Israeliten geschehen, der der vollen Höhe der Forderungen nicht entsprechen konnte, die der Vertreter der göttlichen Gerechtigkeit stellte? Wie tröstlich ist die Antwort: "Und wenn der Gelobende zu arm ist für deine Schätzung, so soll man ihn vor den Priester stellen, und der Priester soll ihn schätzen" (V. 8). Mit anderen Worten: Wenn ein Mensch es unternimmt, die Forderungen der Gerech­tigkeit zu erfüllen, so muß er sie voll erfüllen. Wenn sich aber jemand außerstande fühlt, diesen Forderungen zu genügen, dann hat er sich nur der Gnade zu überlassen, die sich mit ihm beschäftigen wird, gerade so wie er ist. Mose ist der Vertreter der Forderungen der göttlichen Gerech­tigkeit, während wir in dem Priester den Vertreter der göttlichen Gnade erblicken. Der Dürftige, der nicht vor Mose bestehen konnte, fand Hilfe bei dem Priester. So ist es immer. Wenn wir nicht arbeiten können, so können wir doch bitten, und sobald wir den Platz eines Bettlers ein­nehmen, ist nicht länger die Rede davon, wieviel wir verdienen, sondern nur davon, wieviel Gott uns schenken will. Welch ein Glück ist es, Schuldner der Gnade zu sein! Wie selig, zu nehmen, wenn Gott im Geben verherrlicht wird! Wenn es sich um Menschen handelt, so ist es weit besser zu arbeiten, als zu betteln. Wenn es sich aber um Gott han­delt, so ist es gerade umgekehrt.

 

Ich möchte noch hinzufügen, daß sich nach meinem Dafürhalten das ganze Kapitel in besonderer Weise auf das Volk Israel bezieht. Es steht mit den beiden vorhergehenden Kapiteln in enger Verbindung. Die Kinder Israel taten ein Gelübde" am Fuß des Berges Horeb, waren aber ganz außerstande, den Forderungen des Gesetzes zu entsprechen. Sie waren viel "zu arm für die Schätzung Moses". Doch sie werden unter die reiche Vorsorge der göttlichen Gnade kommen. Wenn sie einmal ihre Unfähigkeit zu arbeiten erkannt haben, werden sie sich nicht schämen zu betteln, und dann werden sie erfahren, wie unbeschreiblich selig es ist, von der unumschränkten Gnade Gottes abhängig zu sein, die von Ewigkeit zu Ewigkeit währt. Es ist gesegnet, arm zu sein, wenn die Erkenntnis unserer Armut nur dazu dient, die unausforschlichen Reichtümer der göttlichen Gnade vor unseren Blicken zu entfalten. Diese Gnade kann nie jemand leer ausgehen lassen. Sie kann nie zu jemand sagen, daß er zu arm sei. Sie kann dem tiefsten menschlichen Bedürfnis begegnen, ja, noch mehr, sie verherrlicht sich darin, daß sie es tut. Dies ist in jedem Fall wahr. Es ist wahr von jedem einzelnen Sünder, und es ist wahr von Israel, das sich vor dem Gesetzgeber als "zu arm für seine Schätzung" erwiesen hat. Die Gnade ist die große und einzige Hilfs­quelle für alle. Sie ist die Grundlage unserer Errettung, die Grundlage eines gottseligen Lebens und jener unvergänglichen Hoffnung, die uns belebt inmitten der Prüfungen und Kämpfe in dieser Welt, die den Stempel der Sünde trägt.

 

Wir schließen hiermit unsere Betrachtungen über dieses inhaltsreiche und kostbare Buch. Möchte Gott diese Gedanken benutzen, um Interesse für diesen Teil der Schrift zu wecken, der in allen Jahrhunderten von der Kirche so sehr vernachlässigt worden ist.