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Hallo HPW,

die Antriebsfeder war allerdings, den Feind besser kennenzulernen.

Zitat:

" The attitude of Protestants under Luther (1483-1546) and Calvin

(1509-1564) was no different from the Catholic and Orthodox Christians.

Already the Ottoman Turks had established themselves as Muslim Caliphs ruling vast territories in Asia, Africa and Europe. On May 29, 1453, Constantinople had already fallen to the forces of Sultan Mehmed II.

Twice, in 1529 and 1683, the Ottomans reached the gates of Vienna. So began a new period when the Church and the state cooperated, and "Muhammad, the prophet of the Arabs, came to be seen as the embodiment of Turkish monstrosity." Martin Luther's attitude towards Islam is reflected in the following words: "...[he] who fights against the Turks [Muslims]...should consider that he is fighting an enemy of God and a blasphemer of Christ, indeed, the devil himself...."

Übersetzung:

Die Haltung der Protestanten zur Zeit Luthers (1483-1546) und Calvin

(1509-1564) war von der katholischen und orthodoxen Christenheit nicht verschieden. Das türkische Imperium hatte sich bereits etabliert, indem islamische Kaliphen weite Teile Asiens, Afrikas und Europas beherrschten. Am 29.Mai 1453 war die Stadt Konstantinopel bereits den Streitkräften Sultans Mehmed II unterworfen worden. Zweimal, in 1529 und

1683 lagen die Osmanen vor den Toren Wiens. Dadurch begann eine neue Epoche, in der sowohl Kirche als auch Staat ein Bündnis eingingen, weil "Mohammed, der Profet der Araber, als Verkörperung des türkischen Riesen gesehen wurde." Martin Luthers Haltung gegenüber dem Islam spiegelt sich in folgendem Zitat wider: "... [derjenige], welcher gegen die Türken [Muslime] kämpft... sollte bedenken, dass sein Kampf wider einen Feind Gottes und Lästerer Christi ausgetragen wird, ja sogar gegen den Teufel persönlich..."

[Quelle: http://www.quran.ca/modules.php?name=News&file=article&sid=177

/ Übersetzung von mir]

Eckhard     PDF ==>   
Beweis, Luther habe den Koran verlegt  /  Relkultur
 

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Lieber Eckehard   8.10.05
also hatte ich leider mit
2347  posthum  so ziemlich recht. Bei Luther ist es so, man kann sich irgend etwas erdenklich böses ausdenken kann, Luther  hat es meistens dann tatsächlich getan. Viele Theologen haben nur Theologie studiert, da es die faulste Art sein kann, das Leben abzusitzen. Es gibt keine frommen Berufe! Ein Schlächter an der Schlachtbank ist mir 1000x lieber als ein Schlächter am Schreibtisch!
Liebe Grüsse!
Hans Peter Wepf

 

Edmund Weber: Die Bedeutung der Theologie Martin Luthers für die Begründung einer multireligiösen Gesellschaft.

Journal für Religionskultur / Journal of Religious Culture Nr. 01 (1997)

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Journal of Religious Culture

Journal für Religionskultur

Ed. by / Hrsg. Von Edmund Weber

Institute for Irenics / Institut für Wissenschaftliche Irenik

Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main

ISSN 1434-5935 © E.Weber

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Nr. 01 (1997)

Die Bedeutung der Theologie Martin Luthers

für die Begründung einer multireligiösen Gesellschaft

Von

Edmund Weber

Wenn wir nach der Bedeutung der Theologie Martin Luthers für die Begründung einer multikulturellen

und einer multireligiösen Gesellschaft fragen, dann müssen wir zunächst auf die realen religionspolitischen

Positionen des Reformators eingehen und in einem zweiten Schritt seine theologischen

Ideen zur Begründung einer polymorphen Gesellschaft behandeln. Dieser Zweierschritt ist

nötig, weil ansonsten ein einseitiges Bild über Luthers multireligiöse Vorstellungen entsteht, das

seiner ganzen Wirklichkeit nicht entspricht. Einseitig ist seine Idealisierung: sie unterschlägt seine

Bereitschaft zur Unterdrückung von Andersgläubigen und einseitig ist seine pauschale Diffamierung:

sie ignoriert seine Bedeutung für die religiöse Befreiung. Beide Seiten Luthers werden zur

Sprache gebracht. Zugleich wird versucht, ihre jeweilige historische Bedeutsamkeit zu ermitteln.

Aus dieser Differentialanalyse soll dann die gestellte Frage eine mögliche Antwort finden. Zunächst

jedoch werden die realen religionspolitischen Optionen Luthers behandelt. Dazu werden seine Stellungnahmen

zu Muslimen und Juden unter Berücksichtigung der Katholiken ausgewählt und auf

ihre höchst unterschiedliche Bewertung der drei Religionen hin befragt.

I. Martin Luthers religionspolitische Optionen

Martin Luther und die Muslime

Für Luther waren Tartaren und Türken flagella et virga Dei.1 Die Türken, und damit meint er stets

nur die Muslime dieses Volkes, sind also eine heilsgeschichtliche Größe: sie sind Werkzeuge des

Zornes Gottes wider die unchristlichen Christen. Das türkische Reich wird, so ist Luther überzeugt,

das christlich-römische Kaisertum, das fast dahin ist, alsbald ablösen und damit dann die Zukunft

Christi einläuten. Die Türken sind somit Bestandteil der Heilsökonomie Gottes: er schickt über die

Christenheit die türkische Zuchtrute und Plage, um durch sie seine Christen zu retten.2 Eine Christenverfolgung

durch die Türken hätte folglich eine positive Wirkung: Christus gebrauchte dann der

1 D. Martin Luthers Werke, Weimar 1883 ff. Band [=WA] I, 535; vgl. Günther Vogler: Luthers Geschichtsauffassung

im Spiegel seines Türkenbildes. In: 450 Jahre Reformation, 1967, 120

2 Heerpredigt wider den Türken, 1519, WA 30 II, 180

Die Bedeutung der Theologie Martin Luthers für die Begründung einer multikulturellen Gesellschaft

2

Türken "wuetens dazu, das sie yhm (wie wol unwissend) den hymel voll Merterer und heiligen machen,

da mit sein reich deste ehe vol werde."3. Zum Verbesserungsmotiv heißt es: "Er (sc. der Türke;

der Verf.) sey zornig und wuetig als er ymer will, mit allen teufeln dazu, so mus er knecht und

diener sein der Christen. Und eben damit zu yhrem besten helffen, damit er sie meynet zu verderben."

4 Ein christlicher Kreuzzug kommt gegen die Türken von daher auf keinen Fall in Betracht: In

seiner Schrift Vom Kriege wider die Türken (1529) hatte Luther bereits "geraten, Das man nicht

solle widder den Türcken kriegen, als unter der Christen namen noch mit streit angreiffen, als einen

feind der Christen."5 Christen als Christen müssen mit Christus Gewalt hinnehmen, denn "Christus

will schwach sein und leiden auff erden mit den seinen."6 Zulässig ist nur ein weltlicher Verteidigungskrieg

der weltlichen Oberkeit, um alle ihre Untertanen, seien sie nun Angehörige der christlichen,

islamischen, jüdischen oder einer anderen Religion, zu beschützen. Dieser weltlichen Oberkeit

hat auch der Christ im Kriegsfalle "mit leib und gut gehorsam zu sein."7 Ein solches Heer wider

die weltlichen Feinde kann und darf aber nie und nimmer ein christliches, sondern nur ein rein weltliches

sein. Luther verweist dazu auf die Armee des christlichen Legionärs St. Mauritius, welche

"hies nicht ein Christenheer odder volck, noch ein Christenstreit, Sondern des keisers volck odder

heer."8

Kommt also ein christlicher Kreuzzug wider die Türken nicht in Frage, so bleiben die Muslime

dennoch Knechte des Teufels wider Christus, d.h. Gegner des eigentlichen Evangeliums von der

freien Gnade Gottes: "Sihe unter diesem heiligen schein der Türcken ligen verborgen, ia unverborgen,

so viel ungehewrer schrecklicher grewel, nemlich, das sie Christus, nicht allein leugnen, sondern

auch lestern und schenden, mit seym blut, sterben, aufferstehen und mit allem gut, das er der

wellt gethan hat."9 Im Gegensatz zum Papst ist Mohammed jedoch nicht der Antichrist, stellt er

doch durch seine klare religiöse Abgrenzung vom Evangelium keine Gefahr dar: "Und ich halte den

Mahmet nicht für den Endechrist, Er machts zu grob und hat einen kendlichen schwartzen Teuffel,

der weder Glauben noch vernunfft bekriegen kann."10. Ganz anders der Papst; der sitzt im Tempel

Gottes und betrügt die auserwählten Christen durch subtile Täuschung: "Aber der Babst bey uns ist

der rechte Endechrist, der hat den hohen, subtilen, schönen, gleissenden Teuffel, Der sitzt inwendig

in der Christenheit ... Dieser teuffel betreugt ... die auserweleten Gottes",11 sein Amt ist vom Teufel

selbst gestiftet.12 Das Amt des Sultans dagegen ist weltliche Oberkeit, von Gott eingesetzt. Diese

differenzierte Islam-Betrachtung Luthers setzt sich fort, wenn er ausdrücklich erklärt, daß er - im

Gegensatz zur herkömmlichen anti-islamischen Polemik - nicht Mohammeds Person, sondern nur

seine Religionslehre kritisieren will: "Personalia, quae dicunt de Mahomet, me non movent, aber

die lehre der Turcken mussen wir angreiffen. Dogma mus man ansehen. Wenn es schon mitt seiner

person so were, wie man schreibet oder wie er saget se spiritu quodam afflari divino, doch frag ich

nach den personalibus nichts; es ist vmb die ler zuthun."13

Den zentralen Widerspruch zur islamischen Lehre sieht Luther in deren Leugnung der Gottessohnschaft

Jesu Christi sowie von dessen Tod und Auferstehung als Heilsnotwendigkeiten. Wegen dieser

Lehrdifferenzen nennt er denn auch den Islam "ein verstörer ... unseres Herrn Christi und seines

Reichs."14 Vergessen wir nicht: das Reich Christi ist für Luther nicht das weltliche christlich-

3 WA 30 II, 173

4 WA 30 II, 176 f.

5 WA 30 II, 173

6 WA 30 II, 173

7 WA 30 II, 173 f.

8 WA 30 II, 174

9 WA 30 II, 191

10 Verlegung des Alcoran Bruder Richardi, 1542, WA 53, 394

11 WA 53, 395

12 Wider das Papsttum zu Rom, vom Teufel gestiftet, 1545, WA 54, 195 ff.

13 WA Tischreden 5,5536

14 WA 30 II 122; vgl. Rudolf Mau: Luthers Stellung zu den Türken. In: Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis

1546. Festgabe zum 500. Geburtstag. Hrsg. von Helmar Junghans Bd. I, Göttingen 1983, 652

Die Bedeutung der Theologie Martin Luthers für die Begründung einer multikulturellen Gesellschaft

3

römische Reich; dieses wird vom Türken nicht verstört, sondern im Auftrag Gottes zerstört werden.

Das Reich Christi ist unsichtbar im Herzen, eine Sache des inwendigen Menschen und damit dem

Zugriff jeglicher irdischen Gewalt entzogen.

Auf der anderen Seite sieht Luther koranisches Christentum, wenn die Muslime "multa concedunt

in euangelio seu testamento: Christum natum esse ex Maria sine peccato, et virginem mansisse

mundatam etc." 15Diese Übereinstimmungen lassen Luther klar erkennen, daß trotz der unumgänglichen

dogmatischen Auseinandersetzung mit den Muslimen, "es leichter mitt inen wirt zu streiten

sein denn mitt den Juden."16 Diese Erkenntnis Luthers, daß Islam und Christentum neutestamentlich

miteinander verwandt sind und deshalb der christlich-islamische Dialog, so muß das Streiten wohl

verstanden werden, leichter zu bewerkstelligen ist, scheint sehr schnell vergessen worden zu sein:

erst langsam bricht sie sich heute wieder Bahn.

Luthers Favorisierung des Islams erreicht ihren Höhepunkt, wenn er heftig die mangelnde Kenntnis

über die Türken kritisiert, ein Versäumnis - so sagt er - der "grossen herrn" und "hoch gelerten"17,

der Politiker und Wissenschaftler seiner Zeit. Durch die Sabotage der Türken- und Islamforschung

können erfolgreich "lügen von den Türcken ertichtet" werden, die nur den Zweck haben "uns Deüdschen

widder sie zu reitzen."18 Luther verdammt hier klar die irrationale antitürkische Hetze in

Deutschland und entlarvt sie als verlogene Kriegspropaganda.

Luthers scharfsichtige sozialpsychologische Analyse der Meinungsmanipulation zum Zwecke der

Mobilisierung von kollektiver Aggression gegen andersreligiöse oder anderskulturelle Strömungen

hat bis heute nichts von ihrem Erkenntniswert eingebüßt: z.B. bei der Hetze gegen die islamische

und die Hindu Kultur oder die honorigen neuen religiösen Bewegungen. Es verdient festgehalten zu

werden, daß Luther gerade die Muslime durch seine Kritik in Schutz nahm und sich den Zorn der

antiislamischen Hetzer zuzuziehen bereit war; soviel waren die Muslime ihm wert. Bedenken wir,

daß Luther gegenüber der jüdischen Religionsgemeinschaft nicht nur auf solche Kritik verzichtete,

sondern im Gegenteil selbst exzessiv das tat, was er an der anti-muslimischen Propaganda verdammte.

Diese relativ proislamische Einstellung Luthers kam u.a. aber auch daher, daß seiner Ansicht

nach Muslime wegen ihrer neutestamentlichen Verwandtschaft vielleicht doch noch - ganz im

Gegensatz zu den verstockten Juden - bekehrt werden könnten. Er glaubte, daß dies grundsätzlich

möglich sei, "Wenn ein wasche (Bassa, Pascha) das euangelium ergrieff," denn dann "wurde man

wol sehen, wie es dem Turcken solt ein loch reissen vnter sein volck."19

Luthers Hochachtung vor dem Islam drückt sich auch dann noch aus, wenn er ihm kämpferisch gegenüber

tritt. Zwar könne man das türkische Reich mit Gewalt nicht unterdrücken; wohl aber werde

einmal ein "bonus vir" aufstehen, "ipse oppugnabit dogma Mahometi", der wird der Lehre Mohammeds

zu Leibe rücken,20 d.h. den Islam mit theologischen Waffen attackieren. Ein deutliches

Zeichen dafür, wie hoch Martin Luther die geistige Überlegenheit des Islams einschätzte und wie

unfähig er dagegen die christliche Theologie seiner Zeit hielt, mit dieser Religion in theologischen

Wettstreit zu treten. Die mangelnde Kenntnis des Islams, die Luther eingesteht und als Funktion der

Kriegspropaganda, als gezielte Desinformation, entlarvt, scheint nun aber auch der Grund dafür

gewesen zu sein, daß er die islamische Ethik anprangert, daß sie Rauben und Morden "als ein gut

Göttlich werck" gebiete und den Ehestand mißachte: Frauen "werden gekaufft und verkaufft wie

das viehe."21 Mit solchen Vorschriften und Praktiken zerstöre der Koran letztlich jedoch "veram

Religionem, veram Politiam, veram oeconomiam." 22Hier liefert Luther selbst nicht nur ein schönes

Beispiel für die Folgen des von ihm angeprangerten informatorischen Defizits und der gezielten

15 WA Tischreden 5, 5536

16 WA Tischreden 5, 5536

17 WA 30 II, 121

18 WA 30 II, 121

19 WA Tischreden 5, 5536

20 WA Tischreden 4, 5079

21 WA 30 II, 123

22 WA 30 II, 127

Die Bedeutung der Theologie Martin Luthers für die Begründung einer multikulturellen Gesellschaft

4

anti-islamischen Desinformation, sondern auch für die ihm typische konträre Betrachtungsweise ein

und derselben Religion. Luthers intellektuelles Denken war also nicht monolithisch war, sondern

bewegte sich im steten Fluß neuer Erfahrungen und verzweifelter Rückschlage.

Halten wir fest: Luther war kein blinder Anti-Muslim, sondern ein selbstkritischer Christ, der, wenn

er neue Kenntnisse erhielt, seine Meinung entsprechend korrigieren konnte. Er war stets bereit, positive

Seiten des Islams gelten zu lassen: so, wenn er sagt, daß bei den Türken viel "feiner tugent"23

sei; ja, daß das moralische und religiöse Verhalten der muslimischen Geistlichkeit keinen anderen

Schluß zulasse, als "das man sie möcht für Engel und nicht für Menschen ansehen."24 Und überhaupt,

so predigt Luther seinem Christen, "wirstu sehen bey den Türcken nach dem eusserlichen

wandel ein tapffer strenge und ehrbarlich wesen: Sie trincken nicht wein, sauffen und fressen nicht

nicht so, wie wir thun, kleiden sich nicht so leichtfertiglich und fölich, bawen nicht so prechtig,

brangen auch nicht so, schweren und fluchen nicht so, haben grossen trefflichen gehorsam, zucht

und ehre gegen yhren Keiser und herrn, Und haben yhr regiment eusserlich gefasset und ym

schwanck, wie wirs gern haben wollten ynn Deudschen landen."25 Die Vorbildlichkeit der tatsächlichen

muslimischen Lebensweise, sowohl im Blick auf ihr tapferes, maßvolles und strenges Leben

als auch für die Zucht und Stille bei ihren Gebetsversammlungen, stand für Luther außer Zweifel.

Wenn er dann den Handlungen der Türken "einen grossen schein der heiligkeit"26 unterstellt und die

Muslime bezichtigt, daß sie infolgedessen "des teuffels heiligen sind"27, fällt er damit kein negatives

moralisches Urteil über die Muslime. Deren vorbildliche Weltethik und Gottesverehrung sind in

seinen Augen nur deshalb unheilig und teuflisch, weil damit werkgerechte Absichten, d.h. der Un-

Glaube an Christus, verknüpft ist. Luthers theologisches Urteil über die Muslime fällt also gerade

deshalb so hart aus, weil er deren den Christen überlegene Moralität erkennt und anerkennt. Gäben

aber die Muslime, so die Logik seiner Argumentation, ihre Werkgerechtigkeit auf und glaubten an

die Gottesgerechtigkeit, wären sie zweifellos die besten Christen.

Martin Luther und die Papisten

Über die Papisten hat Martin Luther kein solch schmeichelhaftes Urteil gefällt. Es ist offenkundig,

daß er die Muslime den Katholiken vorzieht. Wenn er aber Papst und Türke vergleicht, so bleibt's

dabei: der Papst ist schlimmer als der Türke. Der Türke zwingt niemanden, Christum zu verleugnen;

deshalb füllt er den Himmel nur mit Heiligen (d.h. mit Glaubenden, nicht mit Märtyrern!). Der

Papst aber füllt die Hölle mit Christen, weil er sie mit Gewalt verführt. Luthers religionsvergleichendes

Resümee lautet denn auch ganz antikatholisch und ein wenig proislamisch: "Komen wir

zum Türcken, so fahren wir zum teuffel, Bleiben wir unter dem Bapst, so fallen wir ynn die helle,

Eitel teuffel auff beiden seiten und allenthalben."28

Luthers positivere Bewertung der weltlichen Verhaltensweisen, und damit auch der Regierungskunst

der Muslime ist außerordentlich bemerkenswert. Trotz der äußersten Bedrohung der deutschen

Christenheit durch den Sultan stufte er öffentlich diesen weltlichen und religiösen Feind sowohl

in Sachen weltlicher Ordnung als auch religiöser Begeisterung höher ein als die katholischen

Verbündeten. Vergessen wir nicht, daß zu diesen unter die Muslime eingestuften Verbündeten auch

der von Luther stets als weltliche Oberkeit anerkannte Kaiser zählte!

Trotz aller Abgrenzung stand der Islam dem Reformator näher als das Papsttum. Im Papsttum, und

da hat Luther keinen Schritt zurück getan, hat sich der "Endechrist"29, d.h. Antichrist heuchlerisch

und heimlich auf den Thron in Gottes Tempel geschlichen und verführt als angeblicher Engel des

23 WA 30 II, 127

24 WA 30 II, 187

25 WA 30 II, 189 f.

26 WA 30 II, 186

27 WA 30 II, 187

28 WA 30 II, 195 f.

29 WA 30 II, 126

Die Bedeutung der Theologie Martin Luthers für die Begründung einer multikulturellen Gesellschaft

5

Lichts die Seelen der Christen. Der Türke dagegen spielt ehrlich mit offenen Karten, offen mit Gewalt

und Schwert als "leibhafftiger Teuffel"30, klar erkennbar, im Dienste Gottes zur Strafe der

Christenheit! Das Papsttum dagegen dient nicht zur Strafe, sondern führt die Seelen in den unumkehrbaren

Untergang. Da nun für Martin Luther das Papsttum vom Teufel gestiftet ist, ist es ärger

als der Islam und auch das Judentum. Er verurteilt die katholische Religion nach den Kriterien der

katholischen Lehre von den Ungläubigen: die schlimmsten Ungläubigen sind die Ketzer, weil sie

unter dem Deckmantel des Christentums teuflische Lügen verbreiten und damit die gutgläubigen

Christen durch Betrug ins ewige Unheil stürzen. Die Papisten liefern die Christen der Hölle aus. Sie

tun dies, indem sie behaupten, Christus zu predigen, lehren aber in Wahrheit den Antichrist: die

Werkgerechtigkeit. Der Türke lehrt offen die Werkgerechtigkeit, so daß er die Seele und das Gewissen

der Christen nicht bedroht.

Martin Luther und die Juden

Daß Luther ein aggressiver Feind der in Deutschland zu seiner Zeit praktizierten jüdischer Religion

war, leidet keinen Zweifel. In seinem 1543 erschienenen Buch31 hat er ein Programm der Reghettoisierung,

ja der Vertreibung der jüdischen Religionsgemeinschaft in Deutschland formuliert. Die

historische Quittung für diese Schreibtischtat hat Luther erhalten; sie konnte schlimmer nicht ausfallen:

der Nazischreibtischtäter Julius Streicher, Herausgeber des Stürmers, berief sich vor dem

Nürnberger Kriegsverbrechertribunal zur eigenen Rechtfertigung auf diese Schrift.32 Larsson

schreibt in seinem Büchlein über die gefälschten Protokolle der Weisen von Sion dazu: "Dieses

boshafte Buch (sc. Martin Luthers letztes Buch Von den Juden und ihren Lügen) beinhaltet praktisch

das ganze antisemitische Programm der Nazis außer dem Völkermord."33 Larsson weist aber

dann darauf hin, daß sich in den Judengesetzen der Nazis nichts befunden habe, das nicht schon in

früheren christlichen Bestimmungen - mit Ausnahme des Mords - sein Vorbild gehabt hätte.34 Larsson

nennt gleichsam nebenbei jedoch den fundamentalen Unterschied zwischen der nazistischen

und der christlichen Judenfeindschaft: den Mord oder Völkermord. Heiko Oberman hat auf diesen

wesentlichen Unterschied hingewiesen und zu Bedenken gegeben, daß es die Nazipropaganda war,

die sich - wie Julius Streicher - für ihren Völkermord an den Juden auf Martin Luther berief.35

Wer aber die Naziverbrechen an den Juden mit Luthers bzw. christlicher Judenfeindschaft erklärt,

verharmlost wie Streicher nicht nur das nazistische Morden, sondern unterschlägt das radikal Menschenfeindliche

des Nazismus, das, was sie zu Feinden des Menschengeschlechts macht: die Nazis

haben die Juden nicht etwa wegen vermeintlicher Untaten bestraft oder wegen körperlicher und

geistiger Krankheit beseitigt, sondern wegen ihrer angeblichen bösen Natur ausgerottet. Nicht Gedanken,

Handlungen oder Gefühle verwirkten in den Augen der Nazis das jüdische Existenzrecht,

sondern die jüdische Natur selbst; oder anders gesagt: der Jude galt als Krebsgeschwür eines lebendigen

Körpers, der Jude war kein Mensch, sondern der Gegen-Mensch. Der nazistische Rassismus

erklärte nicht das Verhalten des Juden als rechtswidrig, sondern sein Wesen als naturwidrig. Deshalb

wurden logischerweise auch jüdische Säuglinge und Kleinkinder vernichtet. Ein solches Denken

ist Luther und - wie ich glaube - der gemeinen christlichen Tradition fremd: sie geht stets von

Verantwortlichkeit des Menschen aus; und das, was wir Erbsünde nennen, gilt in dieser Tradition

als überwunden und war allemal für Luther nur eine Sache zwischen Gott und Mensch. Luther war

kein Antisemit, weil er kein Rassist war.36 Er hat wie kein zweiter christlicher Theologe die Religi-

30 WA 30 II, 126

31 Von den Juden und ihren Lügen, in: WA 53

32 Göran Larsson: Fakten oder Fälschung? Die Protokolle der Weisen von Zion, Jerusalem 1995, 65 f.

33 Larsson 65 f.

34 Larsson 66

35 Luther, Israel und die Juden. Befangen in der mittelalterlichen Tradition. In: Martin Luther heute. Themenheft 3,

Bundeszentrale f. pol. Bildung. 1983, 69

36 vgl. Oberman, 69

Die Bedeutung der Theologie Martin Luthers für die Begründung einer multikulturellen Gesellschaft

6

on der hebräischen Bibel in der Welt verbreitet, seine Ethik ist gespeist aus der hebräischen Hl.

Schrift, und der Gott des Alten Testaments ist ihm der Vater Jesu Christi. Die jüdischen Propheten

haben den Heiland angekündigt. Jesus war ihm ein geborener Jude, und daß die Deutschen Christen

werden konnten, verdanken sie allein den jüdischen Aposteln, die die Lehre und Taten des Juden

Jesus den Heiden zugänglich gemacht haben. Ja, er kann in seiner Schrift Daß Jesus ein geborner

Jude sei, 1523, sagen: "Wenn die Apostel, die auch Juden waren, also hetten mit uns heyden gehandelt,

wie wyr mit den Juden, es were nie keyn Christen unter den heyden worden."37

Luther war ein Gegner der Gesetzesreligion: deshalb kämpfte er gegen alle Religionen, die dieses

Gesetz nach seiner Ansicht als Heilsmittel verehrten und verwendeten: gegen Papisten, Schwärmer,

Muslime und religiöse Juden. Luthers Kritik richtet sich nicht gegen geborene Juden; dann hätte er

Jesus und die Apostel verwerfen müssen. Er wandte sich gegen die Menschen, die sich auf das, wie

er meinte, unevangelisch interpretierte Gesetz und dessen Auslegung im Talmud stützten. Wie wenig

Luther ein deutschtümelnder Rassist war, kann man auch daran sehen, wie er mit seinen Deutschen

umgegangen ist. Er hat seine Deutschen geliebt, aber wohl wie kein zweiter wegen ihrer Unmoral

und Unfähigkeit, ihrer Unchristlichkeit und Zügellosigkeit angeprangert; er nahm von seiner

ätzenden Kritik niemanden aus: weder die Fürsten, noch den Gelehrtenstand oder den Bürger und

den Bauersmann. Manchmal könnte man meinen, daß für Luther die Deutschen nur ein Haufen von

Tyrannen, Raubrittern, Aufrührern, Trunkenbolden, Hurern, Halunken und Lumpen gewesen seien,

denen Herr zu werden, Gott sich in seiner Not des grausamen Türken bedienen mußte.

Aber der Vorwurf der Werkgerechtigkeit war nur eine Wurzel seiner Feindschaft gegen die damalige

jüdische Religionsgemeinschaft. Die andere Wurzel war gleichsam missionarischer Natur: Der

Anlaß der Schrift Luthers Von den Juden und ihren Lügen macht dies überdeutlich: Luther will

seine Leute vor den religiösen Juden seiner Zeit warnen, weil sie die Christen anlockten. Eigentlich

hatte er gar nicht mehr über die Juden schreiben wollen, sagt Luther am Anfang seiner Schrift. Aber

dann hätten ihn schockierende Nachrichten erreicht, die ihn dazu antrieben, eine anti-jüdische Hetzschrift

zu verfassen: "Aber weil ich erfaren, das die Elenden, heillosen leute nicht auffhören, auch

uns, die Christen, an sich zu locken, Hab ich dis Büchlein lassen ausgehen, Damit ich unter denen

erfunden werde, die solchem gifftigen furnemen der Jüden widerstand gethan und die Christen gewarnet

haben, sich fur den Jüden zu hüten."38 Während also in seinen Augen die Papisten die Christen

verführten und zu seiner Zeit nur durch äußere Gewalt ihre Religion sichern konnten, mußte er

nun feststellen, daß die religiösen Juden größte Attraktivität bei seinen christlichen Zeitgenossen

besaßen; offenbar in einem Maße, daß er mit aller Federschärfe meinte gegen sie schreiben zu müssen,

wollte er nicht riskieren, daß seine evangelischen Christen scharenweise sich zur jüdischen

Religionskultur hinwandten und damit erneut - wie er meinte - der Werkgerechtigkeitsreligion

verfielen.

Diese Attraktivität der jüdischen Religion in Luthers Zeit und Umgebung ist der wahre Grund dieser

Schrift. Vergessen wir nicht, daß Josel von Rosheim (1487-1554), der führende jüdische Theologe

z.Z. der Reformation, über einen ssolchen politischen Einfluß verfügte, daß den Rat der Stadt

Straßburg dazu bewegen konnte, über Luthers anti-jüdische Schriften ein Druckverbot zu verhängen.

39 Luther redete nicht von unbekannten und unbedeuteten Leuten. Und die jüdischen Schulen

und Gelehrten fand man überall in Deutschland - nicht sektiererisch abgeschottet, sondern mit Wort

und Schrift erfolgreich in der interreligiösen Auseinandersetzung tätig. Die Reformation hat ganz

offenkundig mitgeholfen, das Judentum neu und positiv zu entdecken; und als Christen anfingen,

diese Religion auch für ihr eigenes Leben zu entdecken, da sah sich Luther in seinen Erwartungen

gegenüber dem Judentum nicht nur getäuscht, sondern mehr noch, er sah seine Erwartungen ins

Gegenteil verkehrt: es bestand die Gefahr, daß seine Christen das Judentum ganz oder teilweise

übernahmen, also konvertierten oder Judenchristen wurden.

37 WA 11, 315

38 WA 53, 417

39 Leonore Siegele-Wenschkewitz: Josel von Rosheim: Juden und Christen im Zeitalter der Reformation. Kirche und

Israel. Neukirchener Theologische Zeitschrift 6. Jg. 1991, 7

Die Bedeutung der Theologie Martin Luthers für die Begründung einer multikulturellen Gesellschaft

7

Luthers extremer Haß auf die jüdische Religionsgemeinschaft seiner Zeit gründet m.E. weniger in

deren Ablehnung seiner Christuspredigt und schon gar nicht in politischer Bedrohung durch dieselbe,

sondern in der ihn schockierenden Erfahrung, daß in der jüdischen Religion der evangelischen

Konfession eine ernste Konkurrenz entstanden war. Christen hatten bereits jüdische Riten angenommen

und wurden deshalb Sabbather genannt; Luther war das nur zu gut bekannt; er hatte

schließlich 1538 zur Abwehr der jüdischen Propaganda in Mähren eine Schrift Wider die Sabbather

an einen guten Freund40 verfaßt und bereits 1542 eine jüdische Gegenschrift erhalten.41 Luther hatte

es also mit einer höchst lebendigen und offenbar deshalb vielen Christen zur Gestaltung ihrer

Frömmigkeit beeindruckenden und nützlichen Religion zu tun. In seiner Schrift Vom Schem Hamphoras

und vom Geschlecht Christi, die Luther 1543 veröffentlichte, bestätigt er dies, wenn er im

Vorwort schreibt: "Das wil ich hiemit also gethan haben, unserm glauben zu ehren und den Teuffels

lügen der Jüden zu wider, Das auch die (sc. Christen; der Verf.), so Jüden werden wollen, sehen

mügen, was sie fur schöne Artickel bei den verdampten Jüden gleuben und halten müssen."42

Das dritte Argument Luthers gegen die Juden war rein demagogischer Natur. Die religiösen Juden

raubten die Deutschen durch Wucher ökonomisch aus. Luthers Wucherkritik im allgemeinen ist

bekannt; sie richtet sich nicht speziell gegen die religiösen Juden. Aber Luther hätte wissen müssen,

daß das Wuchergeschäft den religiösen Juden von der vom Wucherverbot belasteten mittelalterlichen

Gesellschaft aufgezwungen worden war und sie damit in eine soziale Falle geraten waren. Die

Fürsten und Bischöfe, die die religiösen Juden als Schutzsklaven hielten, erpreßten bekanntlich horrende

Schutzgelder aus diesen ihren Schützlingen; dadurch waren diese genötigt, u.a. vom städtischen

Kleinhandwerk hohe Zinsen zu verlangen. Es entstand also der bekannte Teufelskreis.

Das Verbrechen an den religiösen Juden im Christentum des Westens bestand darin, daß die christliche

Herrenschicht diese Menschen aus selbstsüchtigen Gründen in ein ökonomisches Himmelfahrtskommando

preßten, das notwendigerweise den Haß der sog. Armen hervorrufen mußte und

ihnen keinen Ausweg ließ. Diesen teuflischen Mechanismus hätte Luther erkennen müssen; statt

dessen hat er sich wie andere Zeitgenossen seiner propagandistisch bedient, um den religiösen Gegner

und Konkurrenten mundtot machen zu können.

Es muß jedoch gesagt werden, daß Luther den Wucher nicht allein den Juden angelastet und aufgerechnet

hat. In seiner Schrift An die Pfarrherrn wider den Wucher zu predigen, Vermahnung aus

dem Jahre 1540, also kurz vor der Judenschrift geschrieben, läßt er keinen Zweifel daran, daß

"solch leyhen ist itzt gemeine, durch alle stende."43 Der Wucher war eine allgemeine soziale Erscheinung;

und daß seine jüdischen Zeitgenossen dabei keine Rolle spielten, erkennt man daraus,

daß Luther sie in dieser Schrift nicht erwähnt. Vielmehr attackiert Luther seine Christen: "Wolan las

sie faren, und sihe du, pfarrher, ..., das du dich yhrer sunde nicht teilhafftig machest, Lasset sie sterben

wie die hunde, vnd den teuffel fressen mit leib vnd seele, Lasset sie nicht zum Sacrament, zur

tauffe, noch zu einiger Christlichen gemeinschafft."44 Diese christlichen Wucherer gelten ihm nicht

mehr als Menschen, sondern als Wehrwölfe, schlimmer als "alle tyrannen, morder vnd reuber schier

so bose als der teufel selbs."45 Weil ein Wucherer ein solch entmenschtes Monstrum ist, soll man

ihn auch entsprechend bestrafen: "Vnd so man, die strassen reuber morder oder bevheder, redert

vnd kopfft, Wie viel solt man alle wucherer Redern vnd edern (= foltern). Vnd alle geitzigen helse

veriagen, verfluchen kopffen, sonderlich, die so mut willige theurung stifften, wie itzt Adel vnd

baur thün auffs aller mut willigst."46

Die Tatsache, daß Luther sehr genau über den christlichen Wucher und seine verheerenden Folgen

Bescheid wußte, zeigt seine Demagogie: denn er erwähnt den christlichen Wucher gerade in seiner

40 WA 50

41 WA 53, 412

42 WA 53, 579

43 WA 51, 334

44 WA 51, 421 f.

45 WA 51, 421

46 WA 51, 421

Die Bedeutung der Theologie Martin Luthers für die Begründung einer multikulturellen Gesellschaft

8

Judenschrift mit keinem Wort und tut so, als ob die armen Deutschen nur unter dem jüdischen Wucher

zu leiden gehabt hätten. Nach Luthers Beschreibung der Wuchers, der allen christlichen Ständen

gemein war, konnte insgesamt gesehen der jüdische Wucher auch für den kleinen Mann nur

von geringer Bedeutung gewesen sein.

Die andere Tatsache, daß Luther härteste Strafen für die Untaten der Wucherer forderte, die fast an

Ausrottung grenzten, kann nicht darüber hinweg täuschen, daß solche Vorschläge mehr homiletisches

Spielmaterial darstellten. Wer sollte denn schon, wenn der christliche Wucher in allen Ständen

verbreitet war, ernsthaft gegen ihn einschreiten? Er war eine gesellschaftliche Notwendigkeit.

Die Machthaber mußten ihn daher tolerieren, ja ihn, um ihre eigenen finanziellen Bedürfnisse zu

befriedigen, fördern. Die Juden aber, als ausgrenzbare Minderheit verfügbar gehalten, hatten für die

sozialen Folgen aufzukommen. Luthers bediente sich dieses eingespielten, automatisch wirksamen

sozialen Mechanismus', der eine vorübergehende sozialpsychologische Lösung von ökonomischen

Spannungen der christlichen Gesellschaft bringen sollte, als er die Wut der Wucheropfer auf die

machtlosen Juden lenkte. Seine Attacke auf die jüdische Minderheit aktivierte also genau diese von

der damaligen Gesellschaft den religionsgemeinschaftlichen Juden zugesprochene soziale Stabilisierungsfunktion,

nicht aber um die religiösen Juden vom Wuchergeschäft abzuhalten, sondern um

sie als religiöse Rivalen gleichsam mit unlauteren Mitteln auszuschalten.

Um die lästige Judenkonkurrenz loszuwerden, hat der kritische Exeget und Historiker Luther obendrein

die alten anti-jüdischen Lügen, die in der katholischen Kirche verbreitet und zum Anlaß für

Pogrome benutzt wurden, wie z.B. Kindermord, kolportiert und darauf verzichtet, eigenständige

Recherchen anzustellen; die wüste Pamphletliteratur katholischer Autoren und konvertierter Juden,

die er ansonsten verdammte und kritisierte, waren ihm zu diesem Zweck gerade recht. Auch hier hat

Luther wider besseres Wissen gehandelt.

Halten wir fest: Luthers spezifische judenfeindliche Propaganda resultiert vermutlich in erster Linie

aus der Angst, daß bei weiterer freier religiöser Betätigung der jüdischen Religionsgemeinschaft

seine evangelische Christenschar dahin schmelzen könne: "Denn das ein iglicher fur sein person

nicht gleubt omissive (= aus Nachlässigkeit) et privatim, das müssen wir jederman lassen auff sein

gewissen, Aber öffentlichlich frei daher, in Kirchen und fur unseren nasen, augen und ohren solchen

unglauben fur recht zu rhümen, zu singen, zu leren, zu verteidigen und den rechten Glauben zu

lestern und zu fluchen, damit andere an sich ziehen und die unsern zu hindern, Das ist weit, weit ein

anders."47 Luther spürte die Kraft der jüdischen Religion, die trotz ihrer Einschränkung, offenbar

höchste Anziehungskraft besaß. In seiner Hilflosigkeit griff er auf traditionelle Mustervorschläge

der anti-jüdischen Einschüchterungspropaganda zurück: 1. die Synagogen verbrennen, 2. den Juden

all ihre heiligen Bücher (Betbücher, Talmud, Bibel) wegnehmen, 3. ihnen öffentliche Religionsausübung

untersagen und 4. verbieten, den Namen Gottes vor den Ohren der Christen auszusprechen.48

Ja, sie sollen aus dem Land gejagt werden und ihr Heimatland, Palästina, auswandern.49 Jedoch:

auch die lutherisch denkende weltliche Oberkeit hat die gutzahlenden religiösen Juden nicht aus

dem Lande gejagt. Der Kredit und das Schutzgeld waren wie Luther selbst vermutete doch wichtiger

als die Abwürgung von minoritärer Evangeliumsignoranz. Wie infam der um seine Kirchenmitglieder

bangende Luther gegen die jüdische Alternative werden konnte, demonstriert die wahrhaft

zynische Forderung, die Juden zu zwingen, Handwerk oder Ackerbau zu betreiben. Die Angst um

den Erhalt der eigenen, erst noch auf schwachen Füßen stehenden Religionsgemeinschaft hat Luther

zum Geschichtsfälscher und Büttel der Antisemiten werden lassen. Daß Luther sich an der allgemeinen

Judenhetze seiner Zeit beteiligte, hat er noch vor dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal

büßen müssen: durch die Demütigung, die der Journalist Julius Streicher ihm zufügte.

II. Die Theologie Martin Luthers und ihr

Beitrag zur Konzeption der Möglichkeit einer polymorphen Gesellschaft

47 WA 53, 531 f.

48 WA 53, 537

49 WA 53, 537 f.

Die Bedeutung der Theologie Martin Luthers für die Begründung einer multikulturellen Gesellschaft

9

Wenden wir uns nun der Frage zu, ob Martin Luthers Theologie nichts als eine Bestätigung der genannten

religionspolitischen Optionen ist oder aber geistiges Potential enthält, das für die Konstitution

einer polymorphen Kultur Wesentliches beträgt.

Luther vollzog mit der unerhörten Unterscheidung von öffentlicher Religionsunfreiheit und privater

Unglaubensfreiheit einen radikalen Bruch mit der christlichen Tradition. Nunmehr sollte jedermann

auf dieser Erde ungeahndet das Recht haben, aus Nachlässigkeit oder privatim ungläubig zu sein,

im Innersten frei vom Zugriff weltlicher (einschl. sog. geistlicher) Macht. Dieses Recht hatten die

Papisten den Juden, Heiden und Muslimen zwar zugestanden, aber daß es auch für die getauften

Christen gelten sollte, war neu. In dem grausamen Zusammenhang seiner anti-jüdischen Hetze formulierte

Luther die private Religionsausübung faktisch als ein allgemeines Menschenrecht und zerstörte

damit die sich auf die Tauftreue berufende Inquisition der Christenmenschen. Und diese Entmachtung

jeder Oberkeit, diese Aushöhlung der Herrschaft von Kirche und Staat über die Innere

Welt der Christen hat Luther in seiner berühmten Schrift Von weltlicher Oberkeit, wieweit man ihr

Gehorsam schuldig sei (1522; gedruckt 1523) zum ideologischen Programm erhoben. In dieser

Schrift geht es nicht um die Unterwürfigkeit der Menschen unter den Staat, sondern gerade um radikale

Beschneidung der Macht des Staats gegenüber der Glaubens- und Unglaubensfreiheit des

einzelnen Menschen. Der Staat hat danach genauso wenig wie die Kirche das Recht, des Menschen

Glauben oder Unglauben, d.h. seine Seele zu beherrschen: "Denn uber die seele kan und will Gott

niemant lassen regirn denn sich selbs alleyne. Darumb wo welltlich gewallt (und dazu gehört auch

das Kirchenregiment; der Verf.) sich vermisset, der seelen gesetz zu geben, do greyfft sie Gott ynn

seyn regiment und verfuret und verderbet nur die seelen."50

Der Unterschied zur traditionellen katholischen Theologie, die von Getauften auf Grund des unauflösbaren

Taufversprechens die Unterwerfung ihrer Seele unter die Macht der Kirche legitimierte,

besteht darin, daß solches Recht nicht nur irgendwelchen ungetauften, d.h. nichtchristlichen Minderheiten

zugestanden wird, sondern allen Menschen und damit auch allen Christen. Ob man Gottes

unbedingte Liebe glaubt oder nicht, das geht weder Papst noch Kaiser etwas an.

Halten wir fest: Wenn Menschen nicht glauben, daß Gott seinen Sohn für sie dahin gegeben hat,

sondern statt dessen viele andere Dinge glauben, d.h. auch der Unglaube an Christus geht die weltliche

Oberkeit nichts an. Glaubensfreiheit ist für Luther stets auch Unglaubensfreiheit. Versucht die

Oberkeit dem Gewissen Glauben aufzuzwingen, dann stürzt sie die Menschen ins Unheil. Die

Nichtchristen im strikten Sinne - und dazu zählt Martin Luther auch die Masse seiner getauften

Deutschen - schützt er somit in ihrem Innersten vor dem Zugriff der Oberkeit, vor organisierter Religion,

vor elterlicher Autorität, vor geheimen Verführern, vor allen, die über Macht verfügen. Ob

nun die Muslime, Juden, Tartaren, Atheisten der Christuspredigt glauben oder nicht: das geht den

Staat nichts an. Obwohl die Christuspredigt Luther das Allerheiligste ist, es nichts Höheres im

Himmel und auf Erden gibt, und er daher alle Religionen, die die Christuspredigt verwerfen, heftigst

attackiert, schützt er wie kein zweiter die absolute Freiheit jeder einzelnen Seele, der Christuspredigt

zu glauben oder nicht.

Damit die Laienherren und Kirchenführer diese Freiheit des Glaubens- und Unglaubens auch begreifen,

schreibt er ihnen in die folgenden Worte ins Stammbuch: "Das wollen wyr so klar machen,

das mans greyffen solle, auff das unser iuncker, die fursten und bischoffe sehen, was sie fur narren

sind, wenn sie die leutt mit yhren gesetzen und gepotten zwingen wollen, sonst oder so zu glewben."

51 Die Oberkeit darf keine Gewalt über die Seele ausüben, weil sie die Seele nicht beurteilen

kann. "Nu sage myr, wie kann die hertzen sehen, erkennen, richten, urteylen und endern eyn

mensch? Denn solchs ist alleyn Gott fur behallten."52 Wenn aber die katholische Kirche schon gelehrt

hat: de occultis non iudicat ecclesia - über das Verborgene richtet die Kirche nicht,53 "Wes

50 WA 11, 262

51 WA 11, 262

52 WA 11, 263

53 CIC Decr. Grat. IX, lib. 5, tit. 3, cap. 34

Die Bedeutung der Theologie Martin Luthers für die Begründung einer multikulturellen Gesellschaft

10

untersteht sich denn die unsynnige welltliche gewallt, solch heymlich, geystlich, verporgen ding, als

der glawb ist, zu richten und zu meystern?"54 Aber Luther nennt noch ein anderes Argument: "Auch

ßo ligt eym ieglichen seyne eygen fahr ( = Gefahr) dran, wie er glewbt, und muß fur sich selb sehen,

das er recht glewbe. Denn so wenig als eyn ander fur mich ynn die helle odder hymel faren

kann, so wenig kann er auch fur mich glewben oder nicht glewben, und so wenig er myr kann hymel

oder hell auff odder zu schliessen, so wenig kann er mich zum glawben oder unglawben treyben."

55 Das aber heißt, daß Glaube und Unglaube das religiös absolut selbstverantwortliche Individuum,

das sein Existenzrisiko mit niemandem teilt, voraussetzt.

Luther läßt keinen Zweifel daran, daß dieser zum Existenzrisiko geborene Mensch jedweder Religion,

Kultur, Rasse oder sonstiger Eigenart gegenüber aller weltlichen Macht durch und im Blick auf

die Glaubens- und Unglaubensmöglichkeit radikal frei ist! Niemand kann noch darf den Einzelnen

in religiösen Dingen vertreten noch treiben. Organisierte Religionen haben kein Recht, dem Einzelnen

in seine religiösen Angelegenheiten hineinzureden. Luther verteidigt diese innere Religionsfreiheit

des Individuums als geradezu alltägliche Selbstverständlichkeit, wenn er sagt: "Denn war ist

das sprichwort: Gedencken sind zoll frey."56 Die religiöse Macht der Anderen über den Einen ist

glaubensfeindlich; denn zum Glauben benötigt der Eine prinzipiell und gezwungenermaßen das

innere Selbstbestimmungsrecht.

Wenn es also der Oberkeit nicht obliegt, die innere Religion zu bestimmen, so ist es doch ihre Sache,

abgesehen von allen anderen weltlichen Belangen, die öffentliche Religion zu organisieren.

Diese Aufgabe weltlicher Oberkeit, also der Institutionen, die die Bedürfnisse der Menschen miteinander

vergleichen, besteht aber sehr wohl darin, dafür zu sorgen, daß diese Menschen, und da ist

kein Unterschied nach Religion, Rasse oder Sprache bei Luther zu erkennen, zum rechten Handeln

motiviert (Religion) und angeleitet (Politik) werden. Öffentliche Religion dient also zum Erhalt

einer sich vergleichenden Gesellschaft.

Diese äußere Religion kann und darf die Oberkeit aber nur mit dem Mittel gestalten, das sie zu Erfüllung

ihrer Aufgaben von Gott erhalten hat: mittels der Vernunft. Deshalb muß auch ein Fürst so

sehr das Recht in seiner Hand haben wie das Schwert und mit eigener Vernunft abwägen, wo und

wann das Recht streng angewendet werden muß oder gemildert, so daß auf diese Weise die Vernunft

über alles Recht regieren, dem Recht übergeordnet bleiben und das Recht bestimmen kann:

"Darumb muß eyn furst das recht ja so fast ynn seyner hand haben als das schwerd unnd mitt eygener

vernunfft messen, wenn unnd wo das recht der strenge nach zu brauchen odder zu lindern sey,

Also das alltzeyt uber alles recht regiere unnd das uberst recht unnd meyster alles rechten bleybe die

vernunfft."57

Damit sind auch alle Entscheidungen in äußeren Religionssachen von der Oberkeit nach den Kriterien

der Vernunft, d.h. dem Prinzip des sozialen Verträglichkeit, zu treffen. Luther meint hier einzig

und allein die menschliche Klugheit. Ein Fürst erhält zur Gestaltung seiner Politik keine direkten

Befehle Gottes, erlebt auch keine göttlichen Offenbarungen und kann sich nicht auf von theologischen

Autoritäten vorgebene Richtlinien, wie sie der dictatus papae Gregors VII. den Fürsten zu

geben sollen meinte, stützen.

Wenn nun aber eine Oberkeit nicht über die gebührende politische Klugheit verfügt und sie sich

nicht auf juristische Berater oder Rechtsbücher verlassen, wird plötzlich die ungeheure Unsicherheit

und Bedrohtheit des Fürstenstands zu Tage: "Darumb hab ich gesagt, das fursten stand eyn ferlich

standt ist."58 Der Fürst ist in politischen Dingen allein auf sich gestellt - so wie der Mensch in Glaubensdingen.

Die Kirche als Kirche kann der Oberkeit keine letztgültigen politischen Entscheidungen

abnehmen - genauso wenig wie sie authoritativ dem Einzelnen den Glauben vorschreiben darf.

Ein inkompetenter Fürst ist daher auch eine große Gefahr für die Untertanen. Was aber soll ein un-

54 WA 11, 264

55 WA 11, 264

56 WA 11, 264

57 WA 11, 272

58 WA 11, 272

Die Bedeutung der Theologie Martin Luthers für die Begründung einer multikulturellen Gesellschaft

11

sicherer Fürst tun? Er kann und soll sich, wenn er nicht weiß, wie er sich entscheiden soll, wenn er

sich weder auf Bücher noch Räte verlassen kann, wohl an Gott wenden und ihn anrufen. Aber worum

soll er bitten? Um einen religionspolitischen Vorschlag, um einen Befehl, wie mit Juden und

Muslimen umzugehen sei? Nicht dieses soll er tun, "sondernn sich bloß an Gott hallten, yhm ynn

den oren ligen unnd bitten umb rechten verstandt uber alle bücher und meyster, seyn unterthan

weyßlich zu regirn."59

Im fundamentalen Gegensatz zur herkömmlichen Kirchendoktrin kann der Cheftheologe eines protestantischen

Fürsten diesem seinem Herrn "keyn recht eym fursten fur zuschreyben"; er "will nur

seyn (des Fürsten; der Verf.) hertz unterrichten, wie das soll gesynnet und geschickt seyn ynn allen

rechten, rethen (Ratschlägen; der Verf.), urteylen und hendeln."60 Aber Luther lehnt nicht nur den

klerikalen Machtanspruch des dictatus papae Gregors VII. ab. Seinem Adressaten, Herzog Johann

von Sachsen (1468-1532), Bruder des Kurfürsten Friedrichs des Weisen, sagt er unmißverständlich,

daß, wenn er, der Herzog, in fürstlicher Not seinen Gott um Hilfe anrufe, dieser ihm nicht ein göttliches

Gesetz und Gebot verkünde, sondern dann "wirtt yhm Gott gewißlich geben, das er alle recht,

rethe und hendel wol und gottlich außrichten kann."61

Die Unterwerfung der Oberkeit unter die weltliche Klugheit und die gemeine Vernunft, d.h. auf die

politische und allgemeine Erfahrung, befreit sie von der Durchsetzung einer realitätsfernen, als unveränderlich

gedachten Gesellschafts-, Kultur- und Religionsform: Der Fürst "nehme sich an der

notturfft seyner unterthanen und handele darynnen, als were es seyn eygen notturfft."62 Die realen

Bedürfnisse der jeweiligen Menschen sind also der Horizont der weltlichen Vernunft, damit das

Kriterium weltlicher Oberkeit und so zugleich das Kriterium der Religionspolitik. Wenn es demnach

der Oberkeit vernünftig erscheint, weil es den Bedürfnissen ihrer Untertanen entspricht,

öffentliche Religionsausübung zu demonopolisieren, was ja zu Luthers Zeiten und zu seinem Ärger

ganz offenbar für Juden bereits der Fall war, kann er solchem Handeln im Grundsatz nicht widersprechen.

Die Beseitigung des inquisitorischen Zugriffs auf die Glaubens- bzw. Unglaubensfreiheit der Mehrheitsbevölkerung

und die Befreiung des Staats von der Kirche, hat der Oberkeit, um in einer gegebenen

Situation angemessen ihren Zweck, das weltlich Gute zu befördern und dem weltlich Bösen

zu wehren, grundsätzlich die legitime Möglichkeit erschlossen, öffentliche Religionsausübung auch

multikulturell zu organisieren. Die Oberkeit in der Zeit der Reformation hat solches lutherisches

Recht nicht nur als Ausnahmeregelung, als Privileg, den Juden gegenüber praktiziert, sondern als

normales Recht. Der katholische Kaiser hat, was oft übersehen wird, auf Grund des Willens des

Augsburger Reichstags 1555 die multireligiöse Verfassung Deutschlands prinzipiell beschlossen

und praktisch topographisch festgeschrieben. Indem die weltliche Oberkeit, d.h. Kaiser und Reichsstände,

kraft eigenen Rechts, d.h. in Wahrheit neuen, von Luther ihr freigekämpften Rechts, nach

eigener Einsicht und Vernunft, orientiert an den neuen Bedürfnissen in der Teutschen Nation, die

multireligiöse Verfassung Deutschlands unter dem Rechtstitel der Religionsparteien zum Gesetz

erhob, war die öffentliche Religionsausübung einem unantastbaren Sakralrecht entzogen und zum

kalkulierbaren Gegenstand konkreter Staatspolitik geworden. Daß Kaiser, Kurfürsten, Fürsten und

Stände die öffentliche Religionsausübung für die Protestanten wider alles kanonisches Kirchenrecht

erlaubten, lag daran, daß der dictatus papae Gregors VII. nicht mehr galt, sondern Luthers Prinzip

der politischen Vernunft. Und diese grundsätzliche politische Umorientierung macht denn den

Reichsabschied erklärlich: "Dieweil auf allen, von dreißig und mehr Jahren gehaltenen Reichstagen

... von einem gemeinen ... Frieden zwischen des hl. Reichs Ständen der strittigen Religion halben

aufzurichten, vielfältig gehandelt, geratschlagt und etlich mal Friedstände aufgerichtet worden, welche

aber zur Erhaltung des Friedens niemals genug gewesen, sondern deren unangesehen die Stände

des Reichs für und für in Widerwillen und Mißtrauen gegen einander stehen geblieben, (kommt der

59 WA 11, 272 f.

60 WA 11, 273

61 WA 11, 273

62 WA 11, 273

Die Bedeutung der Theologie Martin Luthers für die Begründung einer multikulturellen Gesellschaft

12

schreibende König Ferdinand zu folgendem Schluß:) Solche nachdenkliche Unsicherheit aufzuheben,

der Stände und Untertanen Gemüter wiederum in Ruhe und Vertrauen gegen einander zu stellen,

die Teutsche Nation, unser geliebt Vaterland vor endlicher Zertrennung und Untergang zu

verhüten, haben wir uns mit Kurfürsten, Fürsten und Ständen und sie hinwieder sich mit uns

vereinigt und verglichen."63 Und wessen haben sich König und Reichsstände verglichen? Sie haben

die gemeine Vernunft walten lassen, indem sie den neuen Bedürfnissen der Protestanten und ihrer

Anhänger durch die revolutionäre Anerkennung ihrer Augsburgischen Konfession Rechnung

trugen. Diese Entscheidung haben die Fürsten treffen können, weil sie Luthers Oberkeitslehre als

allgemeine Norm praktizierten. Und genau diese Norm der gemeinen Vernunft, die auf Interessenausgleich

gleichberechtigter Subjekte orientiert ist, sich zum Frieden vergleicht, schuf die

bireligiöse Gesellschaft Deutschlands, die den Anfang einer multireligiösen Gesellschaft in Europa

dWaresntnel ldt.e nn also der Staat, die Oberkeit, unter anderen Umständen um des lieben gesellschaftlichen

Friedens willen das Recht auf allgemeine öffentliche Religionsausübung beschlösse und dieses

nicht mehr auf Katholiken und Anhänger der Augsburgischen Konfession allein beschränkte, wäre

dies ihr göttlich verbrieftes Recht. Und so geschah es denn auch: die französische Revolutions-

Oberkeit ist so verfahren. Die Propagierung der Freiheit der inneren religiösen Welt und die Säkularisierung

der äußeren religiösen Welt sind die geistigen Haupttriebkräfte für die Grundlegung einer

Staatstheorie, die sowohl die Idee einer multikulturellen und gerade auch die multireligiösen Gesellschaft

möglich machen konnte. Es ist der Nationalismus des 19. und 20. Jahrhunderts, der die

vorher ungewöhnliche Idee einer monokulturellen Gesellschaft und auf Grund deren Widersinnigkeit

in ideologischer Konsequenz einen dezisionistischen Rassismus propagierte. Vorher war multikulturelle

Existenz und auch multireligiöse Existenz prinzipiell kein Problem; zur Absicherung des

gesellschaftlichen Friedens waren sie nur topographisch oder kommunitär organisiert.

Heute sind solche Friedenslösungen obsolet geworden. Religion und Kultur lassen sich in unserer

Gesellschaft nicht mehr topographisch oder kommunitär organisieren; ihr Ort ist der jeweils Einzelne

selbst. Ihm obliegt die cura religionis, die Religionsoberkeit. Der Staat täte gut daran, endlich die

öffentliche Religionsausübung jedem Einzelnen zu gewährleisten, ja aktiv zu unterstützen und allen

Anschlägen auf individuelle Religionsfreiheit das Handwerk zu legen. Diese individuelle Religionsfreiheit

ist kein Luxusgut der Gesellschaft, sondern bitterste Notwendigkeit. Sie sichert ein Minimum

an individueller Stabilität in den unumgänglichen und rasanten und Umbrüchen des sozialen

Lebens.

Luther hat aus Angst vor der Konsequenz seiner eigenen revolutionären Ideen den Juden ideologisch

das Recht auf Ausübung öffentlicher Religion abgesprochen. Seine Oberkeit hat sich davon

aber in ihrer Politik nicht beeindrucken und zum Diener einer verängstigten Kirche machen lassen.

Statt dessen hat sie sich zur Regulierung dieser Fragen der Mittel bedient, die ihr Luther theologisch

zugewiesen hatte, nämlich besonnener staatstragender Vernunft. Als Kirchenmann war Luther reaktionär,

als Weltmann dagegen revolutionär. Der Kirchenmann pochte auf den Erhalt kirchlichen

Besitzstandes und scheute das Eingehen auf die neuen Lebensbedingungen, der Weltmann dagegen

lieferte der religiösen Emanzipation der Moderne die schärfsten Waffen. Diese Tradition des Widerspruchs

von frommen Sonntagsreden und verschreckten Werktagsdenunziationen hat sich bis

heute erhalten.

Aktueller Exkurs

Wenn wir all dies bedenken, was da an interreligiöser Angst aus der Zeit der Reformation zu uns

herüber schallt, und gerade wenn wir uns daran erinnern, was eine vom Christentum geprägte Kultur

in diesem Jahrhundert an Unkultur zu Wege gebracht hat, dann stellt sich die Frage, was heute

geschähe, wenn eine Massenkonversion zur jüdischen Religion einsetzte? Ob wir dann anders als

Luther und seine Zeitgenossen reagieren würden? Ist nicht die manchmal komisch anmutende interreligiöse

Distanzkultur mehr ein Zeichen für argwöhnisches Beäugen? Signalisiert nicht die Pole-

63 Geschichte in Quellen: Renaissance, Glaubenskämpfe, Absolutismus. Hrsg. von Fritz Dickmann, München 1976, 204.

Die Bedeutung der Theologie Martin Luthers für die Begründung einer multikulturellen Gesellschaft

13

mik gegen Synkretismus, interreligiöses Gebet und Öffnung der eigenen Gotteshäuser, Synagogen,

Tempel und Moscheen für andere Religionsgemeinschaften, das Beharren auf einseitigen staatlichen

Privilegien und der Schrei nach staatlicher Religionsinquisition, daß uns die Angst Luthers

und seiner Zeitgenossen vor dem religiös Anderen noch im Nacken sitzt, daß wir es eher zulassen,

daß die Leute zu Atheisten werden als daß sie sich ihre eigne Religionskultur schaffen?

Wenn wir uns diese Ansichten Luthers über andere Religionen vor Augen führen, dann möchte man

fast meinen, er könne mit seiner Theologie zur multireligiösen Frage nur negative Argumente liefern,

d.h. die herrschende Praxis unter den Religionen heute nur bestätigen. Luthers Theologie wäre

dann höchst zeitgemäß. Luthers Theologie hat jedoch Grundgedanken zur Sprache gebracht hat, die

in ihrer geschichtlichen Konsequenz seine zeitbezogene Religionspolitik weit hinter sich gelassen

hat. Ganz im Gegensatz zur Geist-Ideologie der Schwärmer, insb. Thomas Müntzers, deren Grundidee

und Praxis sich durchgehalten hat und in dem nunmehr ausgehenden 20. Jahrhundert in Form

von säkularen Reichs- oder Reich-Gottes-Ideologien neu Gestalt annimmt, die wissen, wie diese

Welt zu gestalten sei, die die Welt in Gerechte und Ungerechte, in Lebenswerte und Lebensunwerte,

in Fundamentalisten und Liberale, in Menschen und Unmenschen usw. aufzuteilen, und die sich

berechtigt fühlen und alles dransetzen, das Reich oder das Reich-Gottes auf dieser Erde zu verwirklichen.

Diese Ideologien geben im scharfen Gegensatz zu Martin Luther der Oberkeit alle Macht,

damit sie ihre irdischen Phantasiegebilde durchsetze: gegen das Herz und den Leib des Einzelnen.

Dogmatische Grundlagen der Religionspolitik Martin Luthers

Um die theologischen Grundideen Martin Luthers, denen er selber in seinen religionspolitischen

Äußerungen oft nicht gerecht wurde, in Blick auf eine multireligiöse Gesellschaft besser zu verstehen,

ist es nötig, auch auf seine Theologie im eigentlichen Sinne zu sprechen zu kommen. Damit

sollen zugleich die hier vorgelegten Thesen noch einmal zusammenfaßt werden.

Martin Luther definiert die Aufgabe der Theologie grundsätzlich neu. Sie hat es unmittelbar nicht

mit Gott, Welt und Mensch zu tun; sondern mit einer völligen anderen Gegenstandsgenus: der Unterscheidung

von Gesetz und Evangelium. Luthers entscheidende theologische Erkenntnis bestand

darin, daß zwischen Moses und Christus kein gradueller, sondern ein fundamentaler Unterschied

besteht. Als katholischer Theologe nahm er an, daß Christus nur ein besseres Gesetz verkündet habe.

Aber dann entdeckte er, daß Christus das Evangelium gebracht hat, daß er einen Willen Gottes

verkündete, der das Liebesverhältnis Gottes zu seinen Geschöpfen nicht an das Gesetz Gottes bindet.

Sub specie salutatis erkannte Luther, daß also diese bereits geschehene Liebe Gottes dem Menschen

nur in der Wahrnehmungsweise des Glaubens bewußt werden kann und folglich der Versuch,

sie durch Werke zu erwirken oder ihre Wirksamkeit durch Menschenliebe zu beweisen völlig widersinnig

ist.

Diese Unterscheidung durchzuhalten ist Aufgabe der Theologie. Und wer deshalb diese Unterscheidung

beseitigte oder verdeckte, betrieb Theologie des Unglaubens oder Anti-Theologie. Dies aber

mußte für Luther die ärgste Sünde sein, weil sie den Menschen die Möglichkeit raubte, sein Leben

und Sterben als umsonst zu verstehen. Deshalb war Luthers Urteil über Katholiken und Schwärmer

so hart: sie gaben vor Evangelium zu predigen, aber predigten nichts anderes als Werkgerechtigkeit.

Den Juden hielt er vor, es besser wissen zu können. Und den Türken sah er's ein wenig nach.

Wenn also nach Luther das Evangelium bedeutet, daß das Heil umsonst allen Menschen geben ist,

dann erhebt sich die Frage nach der Bedeutung des Gesetzes. Das Gesetz hat die Aufgabe, den

Menschen anzuleiten, diese seine irdische Existenz in freier Liebe zu Gott und den Menschen zu

gestalten. Das aber setzt voraus, daß der Mensch in seinem Grunde bereits vollkommen ist, also die

Vollkommenheit seiner Existenz nicht erst noch erwirtschaften muß. Das Gesetz ist also nicht das

Mittel zum Erwerb der Gottesgunst, sondern das Mittel, Gott und den Menschen seine Gunst zu

beweisen. Und dieses Gunsterweisen unter Anleitung des Gesetzes nennt Luther freie Liebe, ist das

freie Werk. Doch wer entscheidet nach Martin Luther über das jeweils rechte Werk, das die freie

Liebe verwirklicht? Das ist die weltliche Gretchenfrage jeder Religion. Ist das eine Hierarchie, die

sich auf religiöse Texte beruft und apostolische Sukzession? Sind es Synoden oder geistbegabte

Die Bedeutung der Theologie Martin Luthers für die Begründung einer multikulturellen Gesellschaft

14

Versammlungen, sind es Gurus und Sants, Bodhisattvas und Mullas, Rabbinen und andere sich

übernatürlicher Autorität gewisser Institutionen und Personen? Nein, es ist die Oberkeit. Und welches

Mittel hat sie das rechte und damit auch das böse Werk zu erkennen und die Menschen dazu zu

bewegen das gute Werk zu tun und das böse Werk zu lassen? Sie hat nur ihre eigene weltliche

Klugheit und Weisheit (Vernunft) und das irdische Mittel irdisch zu belohnen und irdisch zu bestrafen

(Schwert).

Es ist Sache der allgemeinen, für alle Menschen zuständige Oberkeit die Religionsausübung, die die

Existenzgrundlage sichert, zu pflegen und die dadurch möglich werdende Verwirklichung des

menschlichen Gemeinschaftslebens zu organisieren. Die Fernwirkung von Luthers Unterscheidung

von Gesetz und Evangelium, seiner diakritischen Theologie, besteht darin, daß dem weltlichen Bereich

der Menschenwelt der ungeheure Druck des Gottesgerichts genommen wurde. Es steht Religion,

Politik und Ökonomie, den ritus humani, nicht mehr an, daß in und mit ihnen je und je die

ganze Existenz auf dem Spiel steht, daß je und je Gericht oder das Gegenteil sich ereignet. Religion,

Politik oder Ökonomie vermögen die Wahrheit menschlicher Existenz nicht begründen.

Wenn also dem so ist, daß Werke der Religion, der Politik und Ökonomie nicht mehr zur Rechtfertigung

benötigt werden, wenn also auch keine Hierarchen mehr im Namen Gottes diese oder jene

Handlung verfluchen oder mit dem Schein der Heiligkeit umkleiden können, dann werden alle religiösen,

politischen und ökonomischen Modelle zu bloßen der Vernunft unterworfenen historischen

Erzeugungs-, Erhaltungs- und Sterbemittel. Dann ist immer grundsätzlich und ganz praktisch zu

fragen, zu überprüfen und erst dann zu entscheiden, ob islamische, christliche, buddhistische, esoterische,

atheistische, synkretistische, neureligiöse, naturreligiöse, hinduistische, existenzialistische

Varianten der ritus humani, d.h. unterschiedliche religiöse Auslegungen des Gesetzes, wirksame

Existenzmotivation schaffen und ob diese oder jene Spielart der Politik und Ökonomie allgemein

vertretbare Wege zur Verwirklichung des allen Menschen Existenz ermöglichenden Gesetzes weisen.

Martin Luther hat in der 39. These zur Zirkulardisputation über Matth. 19, 21 vom 9.5.1539 diese

universale Weltlichkeitstheologie präzis formuliert, indem er der Oberkeit grundsätzlich unterstellte,

allen Staatsbürgern Frieden zu gebieten, sie also in gleicher Weise zu politischer Verantwortung

heran zu ziehen: welcher Religionsgemeinschaft sie sich auch immer zurechnen mögen: "Summa,

die Oberkeit sey wie sie wölle, gebeut sie doch jede zeit, und allenthalben das under den underthanen,

ungeachtet welcher Religion sie seind, das fried gehalten werde."64 Deshalb ist auch jegliche

Oberkeit, sei sie nun "ongleubig, oder des Glaubens feind", was die weltlichen Belange der Zweiten

Tafel der Zehn Gebote angeht, "nit wider uns (sc. Christen; der Verf.) sonder mit uns unnd für

uns.65 Weil alle Oberkeiten, sie seien nun islamisch oder christlich, "die von Gott angeordnete Weltliche

Regiment" inne hat, haben auch alle Untertanen, sie seien christlich oder nicht, ihrerseits jedweder

Oberkeit denselben weltlichen Gehorsam zu leisten, gibt es doch - so schiebt Luther ein Erfahrungsargument

nach - zu ihr keine Alternative.66 Diese allgemein verpflichtende weltliche Verantwortlichkeit

ist allen Menschen, nicht nur den Nichtchristen, sondern gerade auch den Christen

auferlegt: diese sind außerhalb der Religion, des Christusbekenntnisses, ohne Einschränkung und

mit allen Konsequenzen "Burger dieser Welt," Weltbürger.67

Nach diesen seinen staatstheologischen Prinzipien wird Luther als Weltbürger einen Juden als Herren

und einen Muslim als Mitbürger anerkennen müssen; er wird darüberhinaus dem Einzelnen die

äußere Freiheit der Religionsausübung und der politischen und ökonomischen Selbstbestimmung

lassen, wenn es denn das an den Bedürfnissen der Menschen zu orientierende Zusammenleben fördert.

III. Schlußbemerkungen

64 WA 39 II 47; vgl. lat. Text WA 39 II, 47

65 38. These, WA 39 II 47

66 40. u. 46. These, WA 39 II 47

67 36. u. 40. These, WA 39 II 46

Die Bedeutung der Theologie Martin Luthers für die Begründung einer multikulturellen Gesellschaft

15

Luther hing an der alten Zeit, aber in Wahrheit gehörte er ihr schon nicht mehr an. Er träumte vom

Ackerbau, doch konnte dieser ihn nicht mehr ernähren. Er erschauerte vor den Türken, und dennoch

bewunderte er ihre Tugend und nannte sie Diener Gottes. Er verdammte die Juden, aber er verdankte

ihrem Volk alles. Er hetzte gegen die Juden, und trotzdem durchschaute und tadelte er die Erbärmlichkeit

der Hetze gegen die Muslime.

Dnnoch: als er die Herrschaft der Hierarchie und der Geistbesessenen über die Seelen und Körper

der Menschen theologisch brach, der Welt ihre eigene weltliche Oberkeit zurück gab, dieser aber

den Zugriff auf die Seele verbot, und ihr nur die gemeine Klugheit als Handlungsrichtschnur und

die Bedürfnisse der Untertanen als Aufgabe überließ, setzte er - zum Teil gegen seinen Willen -

einen Befreiungsprozeß in Gang, unter dessen Fernwirkung wir es als selbstverständlich ansehen

können, daß in einer evangelischen Kirche zusammen mit Ketzern, Rechtgläubigen und Gottlosen

kontrovers über Gott und die Welt, über eine gemeinsame multikulturelle und multireligiöse Gesellschaft

zu streiten, ohne daß deswegen eine Inquisition die Menschen in ihrer Seele ängstigt und im

Verein mit der Oberkeit peinlich am Leibe straft.

Eine multikulturelle oder multireligiöse Gesellschaft ist für Luthers Theologie kein theologisches

Problem; daß sie für ihn persönlich fast undenkbar war, dieses Denken teilte er mit seinen Zeitgenossen.

Luthers theologische Lehre vom Primat der gemeinen Vernunft zur Vergleichung der Bedürfnisse

der Untertanen bleibend den Grund für unsere Chancen zum Ausbau einer polymorphen

Kultur gelegt.

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Redaktionelle Anmerkungen: Dem Artikel liegt ein Vortrag zu Grunde, der 1996 im Rahmen eines interreligiösen Symposions zum

450. Todestag Martin Luthers in der Katharinenkirche zu Frankfurt am Main gehalten wurde. - Der Text wurde im Juni 2000 leicht

verbessert.

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