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Gedanken zum 2. Buch Mose

C. H. Mackintosh

 Vorwort

Im zweiten Buch Mose ist die Versöhnung das zentrale Thema. Mose tritt als der Befreier Israels auf, und das Verhältnis des Volkes Israel zu Gott wird durch das Blut des Passahlammes göttlich geordnet. In ver­schiedenen Bildern wird uns vor Augen geführt, welche Bedeutung das Kreuz Christi für Gott und für den Menschen hat. Wir sehen Israel hinter den mit Blut besprengten Türpfosten in voller Sicherheit vor dem Schwert des Gerichts, und wir sehen es am anderen Ufer des Roten Meeres der Gewalt seines Unterdrückers glücklich entronnen. Im Bild erkennen wir hier die Stellung jedes wahren Gläubigen. Durch den Tod Christi vom ewigen Gericht und aus der Gewalt Satans befreit, ist er für den Weg durch die Wüste ausgerüstet. Wir 'hören den Lobgesang der Befreiten angesichts Fluten, die über ihre Feinde hinweggehen; wir begleiten das Volk bis zu den Palmbäumen und Wasserbächen Elims; wir durchschreiten mit ihm die Sandebenen der öden, pfadlosen Wüste; wir hören sein Murren und blicken mit Bewunderung auf die fürsorgende Hand dessen, der aus dem Felsen Wasser hervorbrechen läßt, der Brot und Fleisch in Fälle sendet, und der in unwandelbarer Treue Seinem murrenden Volk das Geleit gibt; wir hören die Donner des Berges Sinai und das leichtfertige Gelübde des Volkes das sich selbst nicht kennt. Mitten in Rauch und Flammen horcht Mose auf die Worte dessen, der ein verzehrendes Feuer ist, und am Fuß des Berges tanzt das Volk mit jauchzendem Geschrei um ein gegossenes Kalb. Wir sehen dann in der Errichtung der Stiftshütte und der Berufung des Priester­tums die unverbrüchliche Treue und Fürsorge Gottes, mit der Er Seine Beziehungen zu Seinem irdischen Volk aufrecht erhält und es durch die Wüste leitet.

 

Alles das zieht bei der Betrachtung des zweiten Buches Mose wie Licht und Schatten an unseren Blicken vorüber. Und während das Neue Testament uns die Tragweite des vollbrachten Werkes und die Schön­heit der Person Jesu Christi darstellt, zeigt uns das Alte Testament in seinem nun vor uns liegenden Teil die einzelnen Züge dieses Werkes und dieser Person in klar ausgeprägten Bildern. jeder einzelne Zug darin ist geeignet, den Leser mit Bewunderung und Anbetung zu er­füllen. Die Wege und Führungen des Herrn mit Seinem Volk, die blut­besprengten Türpfosten, die Fluten des Roten Meeres, das Wasser des Felsens, das Brot vom Himmel, die Einrichtung der Stiftshütte und ihre Geräte, der Altar, der Sühnmittel, die Priester und seine Gewänder, die vorgeschriebenen Waschungen und das wohlriechende Räucherwerk ‑ alles zeigt uns Christus. Er ist das Alpha und das Omega, der Anfang und das Ende, der Erste und der Letzte.

 

Kapitel 1

 

"JOSEPH STARB UND ALLE SEINE BRÜDER“

 

Wir kommen jetzt zur Betrachtung des zweiten Buches Mose, in dem das Hauptthema die Erlösung ist. Die ersten fünf Verse rufen die Schlußszenen des vorhergehenden Buches in unsere Erinnerung zurück. Die von der auserwählenden Liebe Gottes Begnadigten werden vor uns hingestellt, und wir werden durch den inspirierten Schreiber un­mittelbar in den Kreis der in diesem Buch mitgeteilten Ereignisse ver­setzt.

 

Bei unserer Betrachtung des ersten Buches Mose fanden wir, daß das Verhalten der Söhne Jakobs, gegenüber ihrem Bruder Joseph der Anlaß für ihr Hinabziehen nach Ägypten wurde. Diese Tatsache kann von zwei Gesichtspunkten aus betrachtet werden. Einerseits wird uns in dem Verhalten Israels gegenüber Gott eine ernste, und andererseits in den Wegen Gottes mit Israel eine sehr ermutigende Unterweisung gegeben.

 

Was könnte im Blick auf das Verhalten Israels gegenüber Gott ernster sein, als die Folgen ihrer Handlungsweise gegenüber einem Mann zu betrachten, in dem das geistliche Auge ein deutliches Bild des Herrn Jesus Christus erkennt? Ohne Rücksicht zu nehmen auf die Angst, die Joseph erfüllte, überlieferten sie ihn den Händen der Unbeschnittenen. Und was war die Folge dieser Handlung für sie? Sie wurden hinabge­führt nach Ägypten, um dort die schmerzlichen Erfahrungen durchzu­machen, die in den letzten Kapiteln des ersten Buches Mose so ein­dringlich geschildert werden. Aber das war nicht alles. Eine lange und finstere Prüfungszeit wartete ihrer Nachkommenschaft in demselben Lande, in dem Joseph einen Kerker gefunden hatte.

 

Aber außer dem Menschen war auch Gottes Hand in allen diesen Din­gen. Er behält es sich vor, aus dem Bösen Gutes hervorkommen zu lassen. Mochten auch die Söhne Jakobs ihren Bruder den Händen der Ismaeliter ausliefern, mochten auch die Ismaeliter ihn an Potiphar ver­kaufen und dieser ihn ins Gefängnis werfen ‑ dennoch stand der HERR über allem, und Er benutzte alle diese Umstände, um Seine großen Ziele zu erreichen. "Denn der Grimm des Menschen wird dich preisen" (Ps. 76 , 10). Noch war die Zeit nicht angebrochen, daß die Erben für das Erbteil und das Erbteil für die Erben bereit standen. Noch sollten die Ziegelhütten Ägyptens eine strenge Schule für die Nachkommen Abra­hams werden, während inmitten der "Berge und Täler" des verheißenen Landes "die Ungerechtigkeit der Amoriter" ihrer völligen Reife entgegen­ging (vergl. 1. Mose 15, 16 und 5. Mose 11, 11).

 

Dies alles ist sehr interessant und lehrreich. In der Regierung Gottes gibt es "Räder inmitten von Rädern" (vergl. Hes. 1, '16). Gott bedient sich zur Erfüllung Seiner Ratschlüsse vielfältiger Mittel. Potiphars Frau, der Obermundschenk, die Träume des Pharao, der Pharao selbst, der Kerker, der Thron, die Kette, der königliche Siegelring, die Teuerung ‑alles steht zu Seiner souveränen Verfügung und muß zur Ausführung Seiner unergründlichen Pläne mitwirken. Das geistlich gesinnte Herz befaßt sich gern mit diesen Dingen; es untersucht mit Freuden das aus­gedehnte Gebiet der Schöpfung und der Vorsehung und erblickt in allem ein kunstvolles Triebwerk, das ein allweiser und allmächtiger Gott benutzt, um die Ratschlüsse Seiner erlösenden Liebe zu entfalten. Mögen wir dabei auch vielen Spuren der Schlange, vielen tiefen und scharf aus­geprägten Fußspuren des Feindes Gottes begegnen, sowie viele uns un­erklärliche und unbegreifliche Dinge entdecken; mag auch das Leiden der Unschuld und das Triumphieren der Bosheit den ungläubigen Über­legungen des Zweiflers eine scheinbare Grundlage verschaffen, so darf dennoch der wahre Gläubige kindlich in der Gewißheit ruhen, daß "der Richter der ganzen Erde Recht üben wird" (1. Mose 18, 25). Der blinde Unglaube wird stets irren; und vergeblich ist sein Bemühen, die Wege dessen zu ergrübeln, der allein imstande ist, sie den Menschenkindern zu offenbaren und auszulegen.

 

Gepriesen sei Gott für die trostreiche Ermutigung, die aus Betrachtun­gen dieser Art hervorströmt! Wir sind stündlich auf sie angewiesen, während wir in einer bösen Welt leben, in die der Feind so schreckliches Unheil gebracht hat, in der die Lüste und Leidenschaften der Menschen so bittere Früchte tragen und wo der Weg des treuen Jüngers so viele Unebenheiten zeigt, daß die auf sich gestellte Natur sie niemals er­tragen könnte. Nur der Glaube weiß mit völliger Zuversicht, daß sich hinter der Szene jemand befindet, den die Welt nicht sieht noch beachtet; und in diesem Bewußtsein kann er mit Ruhe sagen: "Alles ist gut", und: "Alles wird gut sein".

 

Die einleitenden Zeilen unseres Buches lassen die oben angedeuteten Gedanken klar hervortreten. Mein Ratschluß soll zustande kommen, und A mein Wohlgefallen werde ich tun" (Jes. 46, 10). Der Feind mag sich widersetzen, aber Gott wird sich immer als der Stärkere erweisen; und alles, was wir brauchen ist ein kindlich einfältiger Geist des Ver­trauens auf Gott und des Ruhens in Seinen Ratschlüssen. Der Unglaube schaut lieber auf die entgegenwirkenden Anstrengungen des Feindes, als auf die Macht Gottes, die alles vollenden kann. Der Glaube dagegen richtet sein Auge auf diese Macht, erringt auf diese Weise den Sieg und genießt einen dauernden Frieden. Er hat es mit Gott und Seiner unver­brüchlichen Treue zu tun; er stützt sich nicht auf den Triebsand mensch­licher Händel und irdischer Einflüsse, sondern ruht auf dem unbeweg­lichen Fels des ewigen Wortes Gottes. Das Wort ist der heilige und zu­verlässige Ruheplatz des Glaubens; mag kommen, was da will, er be­findet sich in diesem Heiligtum der Kraft. Joseph starb und alle seine Brüder und dasselbige ganze Geschlecht" (V. 6). Aber was schadete es? Konnte etwa der Tod die Ratschlüsse des lebendigen Gottes kraftlos machen? Ganz bestimmt nicht. Gott wartete nur auf den bestimmten Augenblick, auf die geeignete Zeit, um selbst feindliche Einflüsse zur Entwicklung Seiner Absichten mitwirken zu lassen.

 

,Da stand ein neuer König über Ägypten auf, der Joseph nicht kannte. Und er sprach zu seinem Volke: Siehe, das Volk der Kinder Israel ist zahlreicher und stärker als wir. Wohlan, laßt uns klug gegen dasselbe handeln, daß es sich nicht mehre, und es nicht geschehe, wenn Krieg eintritt, daß es sich auch zu unseren Feinden schlage und wider uns streite und aus dem Lande hinaufziehe" (V. 8‑‑10). Hier haben wir die Überlegung eines Herzens, das nie gelernt hat, mit Gott zu rechnen. Der nicht erneuerte Mensch kann das auch gar nicht; seine Überlegun­gen werden hinfällig, sobald er Gott in sie einbezieht. Losgelöst oder unabhängig von Gott mögen solche Pläne und Berechnungen als weise erscheinen; aber sobald Gott einbezogen wird, zeigt sich ihre völlige Torheit.

 

Warum aber sollten wir uns durch Vernunftschlüsse beeinflussen lassen, deren scheinbare Richtigkeit auf den völligen Ausschluß Gottes gestützt ist? Das wäre grundsätzlich nichts anderes als Gottesleugnung. Der Pharao stellte die verschiedenen Zufälligkeiten, wie die Vermehrung des Volkes den Ausbruch eines Krieges, die Verbindung der Kinder Israels mit dem Feind, ihre Flucht aus dem Land usw., genau in Rechnung und legte alle diese Umstände mit ungewöhnlichem Scharfsinn in die Waagschale. Aber niemals kam ihm der Gedanke, daß Gott irgend etwas mit dieser Sache zu tun haben könnte; denn wenn er hieran gedacht hätte, so wären auf einmal alle seine Vernunftschlüsse über den Haufen geworfen worden und die Torheit seiner Entwürfe wäre ans Licht ge­treten.

 

Es liegt demnach klar zutage, daß die Überlegungen des zweifelsüchtigen Menschen Gott immer ausschließen, ja daß sogar ihre scheinbare Rich­tigkeit und Stärke gerade in diesem Ausschluß begründet sind. Das Ein­beziehen Gottes ist der Todesstoß für alle Art von Skepsis und Un­glauben. Die menschliche Vernunft kann einen glänzenden und genialen Eindruck machen ‑ sobald aber das Auge nur einen Blick auf Gott wirft, verliert sie ihren Schein und wird in ihrer Nacktheit und Häßlich­keit bloßgestellt.

 

Von dem König Ägyptens kann man mit Recht sagen, daß er "sehr irrte", da er weder Gott noch Seine unabänderlichen Ratschlüsse kannte (vergl. Mk. 12, 24‑27). Er wußte nicht, daß Jahrhunderte vorher' lange bevor sein sterbliches Leben begonnen hatte, das Wort und der Eid­schwur Gottes, diese "zwei unveränderlichen Dinge", die völlige und herrliche Befreiung des Volkes zugesichert hatten, das er in eigener Weisheit vernichten wollte. Alles das war ihm unbekannt; alle seine Ge­danken und Pläne waren auf die Unkenntnis der Wahrheit aller Wahr­heiten gegründet, nämlich daß Gott ist. Er bildete sich ein, durch seine Anordnungen der Vermehrung des Volkes verhindern zu können, von dem Gott gesagt hatte: "Ich werde dich reichlich segnen und deinen Samen sehr mehren, wie die Sterne des Himmels und wie der Sand, der am Ufer des Meeres ist" (1. Mose 22, 17). Seine klugen Überlegungen waren deshalb nichts als Unsinn und Torheit.

 

Überhaupt ist es der größte Fehler, in den ein Mensch fallen kann, zu handeln, ohne Gott dabei in Rechnung zu ziehen. Früher oder Später wird sich der Gedanke an Gott ihm aufzwingen; und dann brechen seine Pläne und Berechnungen zusammen. Bestenfalls kann eine ohne Gott unternommene Sache nur für die gegenwärtige Zeit von Dauer sein. Alles rein Menschliche wird eine Beute des Todes werden, so haltbar, glänzend und beeindruckend es auch immer sein mag. Die "Schollen des Tales" werden die höchste Würde und glänzendste Pracht des Men­schen bedecken (Hi. 21, 33). Er trägt das Siegel der Sterblichkeit an sich und seine Pläne schwinden wie Rauch. Alles dagegen, was mit Gott in Verbindung steht und auf Ihn gegründet ist, ist von ewiger Dauer. "Sein Name wird ewig sein, und sein Gedächtnis von Geschlecht zu Ge­schlecht".

 

Welche Torheit begeht daher ein schwacher Sterblicher, wenn er sich gegen den ewigen Gott auflehnt und "wider den Allmächtigen trotzt!" (Hi. 15, 25). Der König von Ägypten hätte ebensogut versuchen können, die Gezeiten des Meeres zu hemmen, wie die Vermehrung eines Volkes zu verhindern, das der Gegenstand der ewigen Ratschlüsse Gottes war. Zwar "setzte man Fronvögte über das Volk, um es mit ihren Lastar­beiten zu drücken"; aber "so wie sie es drückten, also mehrte es sich und also breitete es sich aus" (V. 11. 12). So wird es immer sein. "Der im Himmel thront, lacht, der Herr spottet ihrer" (Ps. 2, 4). Jedem Wider­stand von Menschen und Teufeln wird ewige Beschämung folgen. Das gibt dem Herzen Ruhe mitten in einer Welt, in der alles Gott und dem Glauben total entgegengesetzt ist. Besäßen wir nicht die bestimmte Ver­sicherung, daß der Grimm des Menschen den Herrn preisen wird (Ps. 76, 10), so würden wir im Blick auf die uns umgebenden Umstände und Einflüsse oft niedergeschlagen sein. Aber Gott sei Dank! Wir schauen nicht das an, "was man sieht, sondern das, was man nicht sieht; denn das, was man sieht, ist zeitlich, das aber, was man nicht sieht, ewig" (2. Kor. 4, 18). In der Kraft dieser Blickrichtung dürfen wir wohl sagen: "Vertraue still dem HERRN und harre auf ihn! Erzürne dich nicht über den, dessen Weg gelingt, über den Mann, der böse Anschläge ausführt" (Ps. 37, 7). Wie klar tritt die Wahrheit dieser Worte in dem vor uns liegenden Kapitel an den Tag, sowohl hinsichtlich der Unter­drückten als auch des Unterdrückers! Hätte das Volk auf die sichtbaren Dinge geschaut, was hätten sie dann gesehen? Den zürnenden Pharao, die grausamen Fronvögte, die drückenden Lastarbeiten, den strengen Dienst, die harte Sklaverei, den Lehm und die Ziegelsteine. Aber was waren die Dinge, "welche man nicht sieht"? Der ewige Vorsatz Gottes, Seine unfehlbare Verheißung, das Aufdämmern eines Tages des Heils und die Befreiung durch den HERRN. ‑ Wunderbare Gegensätze! Nur der Glaube konnte den armen, unterdrückten Israeliten befähigen, sich von den rauchenden Öfen Ägyptens abzuwenden und sich nach den Gefilden Kanaans zu sehnen. ja, der Glaube allein war imstande, in den niedergebeugten und unter der rauhen Arbeit des Ziegelbrennens seufzenden Sklaven die Erben des Heils und die Gegenstände der be­sonderen Gunst und Fürsorge des Himmels zu erkennen.

 

Und wie es damals war, so ist es auch jetzt. "Wir wandeln durch Glau­ben, nicht durch Schauen' (2. Kor. 5, 7). "Es ist noch nicht offenbar ge­worden, was wir sein werden" (1. Joh. 3, 2). Wir sind noch auf der Erde, einheimisch in dem Leibe und ausheimisch von dem Herrn (2. Kor. 5, 6). Tatsächlich befinden wir uns noch in Ägypten, aber im Geist sind wir im himmlischen Kanaan. Durch den Glauben werden wir unter den mächtigen Einfluß der himmlischen und unsichtbaren Dinge gebracht und dadurch befähigt, uns über alles zu erheben in dieser Welt, wo Tod und Finsternis herrschen. Möchten wir alle diesen kindlich einfältigen Glauben besitzen, so daß wir an der ewigen Quelle der Wahrheit immer wieder belebt werden und die Kraft empfangen, die wir auf unserem Weg so nötig brauchen!

 

Die letzten Verse unseres Kapitels geben uns in dem Verhalten der beiden gottesfürchtigen Frauen Schiphra und Pua eine nützliche Beleh­rung. Sie trotzen dem Zorn des Königs und weigern sich, seinen grau­samen Befehl auszuführen; und "Gott macht ihnen Häuser" (V. 21). "Die mich ehren, werde ich ehren, und die mich verachten, werden ge­ring geachtet werden" (‑1. Sam. 2, 30). Möchten wir uns immer an diese Wahrheit erinnern und unter allen Umständen für Gott handeln!

 

Kapitel 2, 1‑10

 

MOSES GEBURT

 

Dieser Abschnitt ist reich an wichtigen Grundsätzen göttlicher Wahr­heit, die sich in drei Hauptteile zusammenfassen lassen: die Macht Satans, die Macht Gottes und die Macht des Glaubens.

 

In dem letzten Vers des vorhergehenden Kapitels lesen wir: "Da gebot der Pharao all seinem Volk und sprach: jeden Sohn, der geboren wird, sollt ihr in den Strom werfen". Hier tritt uns die Macht Satans entge­gen. Der Fluß war die Stätte des Todes; und durch den Tod trachtete der Feind den Vorsatz Gottes zu vereiteln. Zu allen Zeiten hat die Schlange mit boshaftem Auge den Dienern aufgelauert, die Gott zur Erfüllung Seiner Gnadenabsichten gebrauchen wollte. War es nicht die Schlange, die ihre Blicke auf den von Gott auserwählten Abel richtete und ihn durch den Tod aus dem Weg zu räumen suchte (l. Mose 4, 7)? Erkennen wir in der Geschichte Josephs (1. Mose 37) nicht den Feind, der den Mann der Vorsätze Gottes dem Tod überliefern wollte? überzeugt uns nicht ein Blick auf die Ausrottung des "königlichen Samens" (2. Chron. 22), auf den Kindermord zu Bethlehem (Matth. 2) und endlich auf den Tod Christi selbst daß es immer der Feind war, der sich an­strengte, durch den Tod das Handeln Gottes zu unterbrechen?

 

Aber, Gott sei gepriesen! Es gibt etwas jenseits des Todes. Der ganze Bereich des Wirkens Gottes liegt, soweit es mit der Erlösung in Ver­bindung steht, außerhalb der Grenzen des Reiches des Todes. Wenn Satan seine Macht erschöpft hat, beginnt Gott sich zu zeigen. Die An­strengungen Satans reichen nur bis zum Grabe; aber gerade hier beginnt das Wirken Gottes. Das ist eine herrliche Tatsache! Satan hat die Macht des Todes; aber Gott ist der Gott der Lebendigen, und Er gibt ein Leben, das außerhalb der Reichweite und der Macht des Todes liegt und das Satan nicht antasten kann. Eine solche Wahrheit gibt dem Gläubi­gen Trost an einem Ort, wo der Tod herrscht. Der Gläubige kann Satan entgegenschauen, wenn dieser die Fülle seiner Macht entfaltet; er kann sich mit Zuversicht auf die göttliche Macht der Auferstehung stützen. Er kann am Grab eines Geliebten stehen und von Ihm, der "die Auf­erstehung und das Leben" ist, die Versicherung der Unsterblichkeit in sich aufnehmen; ja, er kann in dem Bewußtsein, daß Gott stärker ist als Satan, mit Ruhe die völlige Offenbarung dieser höchsten Macht er­warten und so Sieg und dauernden Frieden finden. Die Eingangsverse unseres Kapitels enthalten ein treffendes Beispiel von dieser Kraft des Glaubens.

 

"Und ein Mann vom Hause Levi ging hin und nahm eine Tochter Levis. Und das Weib ward schwanger und gebar einen Sohn. Und sie sah, daß er schön war, und verbarg ihn drei Monate. Und als sie ihn nicht länger verbergen konnte, nahm sie für ihn ein Kästlein von Schilfrohr und verpichte es mit Erdharz und mit Pech und legte das Knäblein darein, und legte es in das Schilf am Ufer des Stromes. Und seine Schwester stellte sich von ferne, um zu erfahren, was ihm geschehen würde" (V. 1‑4). Hier entwickelt sich vor unseren Augen ein interes­santes Schauspiel, von welcher Seite wir es auch betrachten. Der Glaube triumphiert hier über die Einflüsse der Natur und des Todes und bietet dem Gott der Auferstehung eine Gelegenheit, in dem Ihm angemessenen Bereich und nach Seinem Charakter zu handeln. Zwar war es eigentlich die Stellung des Todes, in die das Kind gebracht werden mußte, und insofern trat hier die Macht des Feindes ans Licht. Überdies drang ein Schwert durch das Herz der Mutter, als sie ihr geliebtes Kind gleichsam dem Tod überliefert sehen mußte. Aber obwohl Satan seine Macht offenbart und die Natur Tränen vergoß, stand Er, der Tote lebendig macht, dennoch hinter der dunklen Wolke; und dorthin sah der Glaube. "Durch Glauben wurde Mose, als er geboren wurde, drei Monate von seinen Eltern verborgen, weil sie sahen, daß das Kindlein schön war; und sie fürchteten das Gebot des Königs nicht" (Hebr. 11, 23).

 

So gibt uns diese edle Tochter Levis eine tiefe Belehrung. Ihr mit "Erd­harz und Pech verpichtes Kästlein" gibt Zeugnis von ihrem Vertrauen zu der geheimnisvollen Kraft, die wie einst Noah, den Prediger der Ge­rechtigkeit, so auch dieses "schöne Kindlein" gegen die Wasser des Todes schützen konnte. War dieses "Kästlein" nur eine Erfindung der Natur, eine Schöpfung menschlicher Vorsorge und Klugheit? War es nur der Einfall einer Mutter, die hoffte, auf diesem Weg ihren Schatz vor den grausamen Händen des Todes bewahren zu können? Müßten wir diese Frage bejahen, so würden wir die schöne Belehrung dieser ganzen Szene verlieren. Wie könnten wir dem Gedanken Raum geben, daß das "Kästlein" nichts weiter gewesen sei als die Erfindung einer Frau, die kein anderes Schicksal für ihr Kind sah, als das Ertrinken? Un­möglich! Es war die Hand des Glaubens, die das "Kästlein" als ein Ge­fäß des Erbarmens baute, um ein "schönes Kindlein" wohlbehalten über die Wasser des Todes bis zu der Stätte zu führen, die ihm nach dem unerforschlichen. Ratschluß Gottes bestimmt war. Wenn wir diese Tochter Levis beobachten, wie sie sich über das im Glauben gebaute "Kästlein von Schilfrohr" beugt und ihren Säugling hineinlegt, so sehen wir sie in den Fußstapfen des Glaubens ihres Vaters Abraham wandeln, der einst von seiner Toten sich erhob, um von den Kindern Heth die Höhle Machpela zu kaufen (l. Mose 23). Wir sehen in ihr nicht die Ener­gie der bloßen Natur, die den Gegenstand ihrer Zuneigung in schreck­liche Gefahren fallen sieht, sondern wir entdecken in ihr die Kraft eines Glaubens, der sie fähig machte, angesichts der Todesflut den auserwähl­ten Diener des HERRN in dem Kind zu erblicken.

 

 

Der Glaube darf immer einen so kühnen und erhabenen Flug in die Re­gionen wagen, die fern von dieser Stätte des Todes und der Verwüstung liegen. Sein Blick kann das finstere Gewölk durchdringen, das über dem Grabe hängt, und mitten in einem Bereich, den kein Todespfeil errei­chen kann, den Gott der Auferstehung schauen, wie Er Seine ewigen Ratschlüsse entfaltet; und auf dem "Felsen der Zeitalter" stehend, des­sen Fuß die Wogen des Todes umspülen, hört er Worte ewiger Wahrheit und Liebe.

 

Was galt der Befehl des Königs für jemanden, der sich dieses göttlichen Grundsatzes bewußt war? Welchen Einfluß konnte er auf jemanden aus­üben, der ruhig neben dem "Kästlein von Schilfrohr" stehen und dem Tod ins Angesicht schauen konnte? Der Heilige Geist gibt die Antwort: .Sie fürchteten das Gebot des Königs nicht" (Hebr. 11, 23). Wer die Gemeinschaft mit dem kennt, der Tote lebendig macht, fürchtet sich vor nichts. Er kann mit dem Apostel in die triumphierenden Worte ein­stimmen: "Wo ist, o Tod, dein Stachel? wo ist, o Tod, dein Sieg? Der Stachel des Todes aber ist die Sünde, die Kraft der Sünde aber das Gesetz. Gott aber sei Dank, der uns den Sieg gibt durch unseren Herrn Jesus Christus‑ (l. Kor. 15, 55‑57)! ja, er kann diese Siegesbotschaft verkündigen, sowohl im Blick auf den Märtyrer Abel, auf Joseph in der Grube, auf Mose in dem Kästlein von Rohr, als auch im Blick auf den durch die Hand Athaljas ausgerotteten königlichen Samen und die durch Herodes ermordeten Kinder zu Bethlehem; er kann sie vor allem aus­rufen angesichts des Grabes des Anführers unserer Errettung.

 

Manche mögen sich außerstande fühlen, in der Einrichtung des Käst­leins von Rohr eine Tat des Glaubens zu sehen; und viele mögen nicht weiter gehen können als die Schwester Moses, die "sich von ferne stellte, um zu erfahren, was ihm geschehen würde" (V. 4). Was das Maß des Glaubens betrifft stand offenbar die Schwester nicht mit der Mutter auf gleicher Höhe. Ohne Zweifel hatte sie ein tiefes Interesse und wahre Zuneigung, wie die am Grab Jesu sitzenden Frauen Maria Magdalene und die andere Maria (Matth. 27, 61); aber in dem Herzen der Mutter, die das Kästlein gebaut hatte, gab es etwas, das dieses Interesse und diese Zuneigung weit übertraf. Sie stand nicht wie die Tochter von ferne, um das Schicksal ihres Kindes zu erfahren; und ihr großes Vertrauen moch­te, wie es ja oft der Fall ist, wie Gleichgültigkeit erscheinen. Aber es war nicht Gleichgültigkeit, sondern wahre Glaubensgröße. Wenn die natürliche Zuneigung sie nicht drängte, am Ort des Todes zu bleiben, so lag der Grund nur darin, daß sie durch die Macht des Glaubens, in der Gegenwart des Gottes der Auferstehung, zur Erfüllung eines vor­trefflichen Werkes ausgerüstet worden war. Ihr Glaube hatte für Ihn die Szene geräumt, und Er offenbarte sich dort in herrlicher Weise.

 

"Und die Tochter des Pharao ging hinab, um an dem Strome zu baden, und ihre Mägde gingen an der Seite des Stromes. Und sie sah das Käst­lein mitten im Schilf, und sandte ihre Magd hin und ließ es holen. Und sie öffnete es und sah das Kind, und siehe, der Knabe weinte. Und es erbarmte sie seiner, und sie sprach: Von den Kindern der Hebräer ist dieses" (V. 5. 6). Hier beginnt die göttliche Antwort sich anzubahnen. Gott war in diesen Umständen. Der Rationalist, der Zweifler, der Gottesleugner ‑ sie alle mögen diese Vorstellung belächeln. Aber auch der Glaube lacht; und sein Lachen ist ganz anders. Die einen gefallen sich in einem kalten, verächtlichen Lächeln bei dem Gedanken, daß Gott sich um eine so geringfügige Sache wie den Spaziergang einer Königs­tochter am Ufer eines Flusses kümmern sollte. Aber der Gläubige lacht mit wahrer Herzensfreude bei dem Bewußtsein, daß Gott in allem ist. Und in der Tat, wenn Gott jemals Seine Hand in irgendeiner Sache hatte, so war es in diesem Spaziergang der Tochter des Pharao, obwohl sie selbst nichts davon ahnte.

 

Es ist eine der liebsten Beschäftigungen des Gläubigen, die Spuren des göttlichen Wirkens in Ereignissen zu verfolgen, in denen ein leichtfertiges Gemüt nur blinden Zufall oder unabwendbares Verhängnis entdeckt. Eine belanglose Sache erweist sich manchmal als wichtiges Glied in einer Kette von Ereignissen, die der allmächtige Gott zur Ent­wicklung Seiner großen Absichten mitwirken läßt. Werfen wir z. B. einen Blick auf Esther 6, 1. Wir finden dort einen heidnischen Monar­chen, der eine Nacht schlaflos zubringt. Das war doch wohl nichts Un­gewöhnliches; und doch bildete gerade dieser Umstand ein höchst wich­tiges Glied in der langen Vorsehungs‑Kette, deren Ende die wunder­bare Befreiung des unterdrückten Volkes Israel bildet. Genauso war es mit dem Spaziergang der Tochter des Pharao. Sie dachte sicher nicht im geringsten daran, daß sie zur Förderung der Vorsätze des "Gottes der Hebräer!' mitwirken sollte, und daß das weinende Kind in dem Käst­lein von Rohr das vom HERRN bestimmte Werkzeug wäre, durch das Ägypten bis in sein Innerstes erschüttert werden sollte. Und doch war es so. Wahrlich, der Ewige kann es bewirken, daß "der Grimm des Menschen Ihn preist", und daß Er "mit dem Reste des Grimmes sich gürtet" (Ps. 76, 10). Wie klar tritt uns diese Weisheit in der folgenden Stelle vor Augen:

 

,Und seine Schwester sprach zu der Tochter des Pharao: Soll ich hinge­hen und dir ein säugendes Weib von den Hebräerinnen rufen, daß sie dir das Kind säuge? Und die Tochter des Pharao sprach zu ihr: Gehe hin. Und die Jungfrau ging hin und rief des Kindes Mutter. Und die Tochter des Pharao sprach zu ihr: Nimm dieses Kind mit und säuge es mir, und ich werde dir deinen Lohn geben. Und das Weib nahm das Kind und säugte es. Und als das Kind groß wurde, brachte sie es der Tochter des Pharao, und es wurde ihr zum Sohne; und sie nannte seinen Namen Mose und sprach: Denn aus dem Wasser habe ich ihn gezogen" (V. 7‑10). Der Glaube der Mutter findet hier seine Belohnung. Satan ist geschlagen, und die wunderbare Weisheit Gottes tritt ans Licht. Wer hätte ahnen können, daß derselbe Mann, der einst gesagt hatte: "Wenn es ein Sohn ist, so tötet ihn", und: "jeden Sohn, der geboren wird, sollt ihr in den Strom werfen" ‑ einen dieser Söhne an seinem Hof auf­ nehmen würde? Der Teufel war durch seine eigenen Waffen geschlagen, indem der Pharao, den er zur Vereitelung des göttlichen Vorsatzes be­nutzen wollte, von Gott gebraucht wurde, jenen Mose zu ernähren und zu erziehen, der als ein Werkzeug in der Hand Gottes die Macht Satans brechen sollte. Wirklich, "der HERR der Heerscharen; er ist wunderbar in seinem Rat, groß an Verstand" (Jes. 28,29). Möchten wir doch lernen, mit mehr Einfalt unser Vertrauen auf Ihn zu setzen! Unser Leben würde glücklicher und unser Zeugnis wirksamer sein.

 

Kapitel 2, 11‑25

 

MOSE "SIEHT NACH SEINEN BRÜDERN‑

 

Wenn wir die Geschichte Moses betrachten, müssen wir diesen großen Diener Gottes von zwei Seiten ins Auge fassen, nämlich in seinem per­sönlichen und in seinem vorbildlichen Charakter.

 

Was zunächst seinen persönlichen Charakter betrifft, so gibt es für uns viel, sehr viel daraus zu lernen. Dieselbe Hand, die ihn aus den Fluten gezogen und erhoben hatte, mußte ihn auch während der lan­gen Zeit von 80 Jahren, zunächst im Hause der Tochter des Pharao und dann "hinter der Wüste" (Kap. 3), in vielfacher Weise erziehen. Daß ein solcher Zeitraum der Erziehung eines Dieners Gottes gewidmet wurde, erscheint allerdings unseren beschränkten Gedanken außerge­wöhnlich. Doch Gottes Gedanken sind nicht unsere Gedanken. Er wußte, daß die zweimal vierzig Jahre zur Zubereitung Seines auserwähl­ten Dieners nötig waren. Wenn Gott die Erziehung eines Menschen in die Hand nimmt, so tut Er es in einer Weise, die Seiner selbst und Seines heiligen Dienstes würdig ist. Er will keinen Neuling in Seinem Werk haben. Für den Diener Christi gibt es manche Lektionen zu lernen, manche Übung durchzumachen und manchen Kampf im geheimen zu bestehen, bevor er wahrhaft fähig ist, in der Öffentlichkeit aufzu­treten. Der menschlichen Natur gefällt dies nicht. Sie möchte lieber eine Rolle in der Öffentlichkeit spielen, als sich in der Einsamkeit unter­weisen zu lassen; sie möchte lieber bewundert als durch die Hand Got­tes in Zucht gehalten werden. Aber so geht es nicht. Wir müssen die Wege Gottes einhalten. Die Natur mag sich eifrig an den Ort des Wir­kens drängen; aber Gott braucht sie dort nicht; sie muß gehorchen, sie muß vernichtet und beiseite gesetzt werden. Der Tod ist der ihr ge­bührende Platz. Wenn sie tätig sein will, wird Gott in Seiner Treue und Weisheit die Umstände so lenken, daß die Resultate ihrer Tätigkeit nur vollständige Niederlage und Beschämung beweisen werden. Er weiß, wie die Natur zu behandeln ist, wohin sie getan und wo sie gehalten werden muß. Möchten wir doch in bezug auf unser Ich und alles, was damit zusammenhängt, tiefer in die Gedanken Gottes eindringen! Wir werden dann weniger Mißgriffe machen, unser Weg wird sicher, unser Geist ruhig und unser Dienst wirksam sein.

 

„Und es geschah in selbigen Tagen, als Mose groß geworden war, da ging er aus zu seinen Brüdern und sah ihren Lastarbeiten zu; und er sah einen ägyptischen Mann, der einen hebräischen Mann von seinen Brüdern schlug. Und er wandte sich dahin und dorthin, und als er sah, daß kein Mensch da war, erschlug er den Ägypter und verscharrte ihn im Sande" (V. 11. 12). Welch einen Eifer zeigte hier Mose für seine Brüder; aber er war nicht "nach Erkenntnis" (Röm. 10, 2). Gottes Zeit war noch nicht gekommen, Ägypten zu richten und Israel zu befreien; und der einsichtsvolle Diener wartet stets die Zeit ab. Mose war "groß geworden", und er war "unterwiesen in aller Weisheit der Ägypter"; auch meinte er, "daß seine Brüder verstehen würden, daß Gott durch seine Hand ihnen Rettung gebe" (Apg. 7, 22‑25). Alles das war völlig wahr; aber er begann seinen Lauf zu früh; und in einem solchen Fall wird immer ein völliger Fehlschlag der Ausgang sein.

 

(Eine Anspielung auf die Handlung Moses finden wir in den an das Synedrium zu Jerusalem gerichteten Worten des Stephanus: "Als er aber ein Alter von vierzig Jahren erreicht hatte, kam es in seinem Her­zen auf, seine Brüder, die Söhne Israels, zu besuchen. Und als er einen Unrecht leiden sah, verteidigte er ihn und rächte den Unterdrückten, indem er den Ägypter erschlug" (Apg. 7, 23. 24). Es ist deutlich, daß Stephanus in seiner Ansprache von der Absicht geleitet wurde, aus der Geschichte des Volkes verschiedene Momente hervorzuheben, die ge­eignet waren, auf das Gewissen seiner Umgebung zu wirken; und es wäre ganz im Widerspruch mit dieser Absicht, wie auch überhaupt mit der Weise des Heiligen Geistes im Neuen Testament, hier die Frage erörtern zu wollen, ob Mose vor oder zu der von Gott bestimmten Zeit gehandelt hat. überdies sagt Stephanus nur: "Es kam in seinem Her­zen auf, seine Brüder zu besuchen". Er sagt nicht, daß Gott ihn zu dieser Zeit gesandt hatte. Auch berührte dies nicht im geringsten die Frage über den moralischen Zustand derer, die ihn verwarfen. "Sie aber ver­standen es nicht". Das war im Blick auf sie der einfache Sachverhalt, was auch Mose persönlich in diesen Umständen hatte lernen müssen. jeder geistlich gesinnte Mensch wird dies ohne Mühe verstehen.

 

Wenn wir Mose als Vorbild sehen, können wir in diesen Zügen seines Lebens die Sendung Christi zu den Kindern Israels erkennen sowie dessen Verwerfung durch die Juden: "Wir wollen nicht, daß dieser über uns herrsche!" Betrachten wir ihn andererseits in seinem persönlichen Charakter, so finden wir, daß er wie andere Fehler machte und Schwach­heiten offenbarte, daß er bald zu eilig, bald zu langsam ans Werk ging. Doch alles dient nur dazu, die unendliche Gnade und unerschöpfliche Geduld Gottes ans Licht zu stellen.)

 

Auch beim Fortschreiten eines vor der Zeit begonnenen Werkes werden sich immer Unsicherheit und Mangel an ruhiger Abhängigkeit zeigen. Mose "wandte sich dahin und dorthin". Wenn jemand mit oder für Gott wirkt, in völligem Verständnis Seiner Gedanken über Einzelheiten seines Werkes, so fühlt er kein Bedürfnis, sich dahin oder dorthin" zu wenden. Wenn die Zeit Gottes wirklich da gewesen wäre, wenn Mose die Überzeugung gehabt hätte, zur Ausführung des Gerichts göttlich be­vollmächtigt zu sein, und wenn er sicher gewesen wäre, daß Gott mit ihm war, so würde er sich gewiß nicht "dahin und dorthin" gewandt haben.

 

Die Tat Moses enthält für jeden Diener Gottes eine Belehrung von großem praktischen Wert. Zwei Dinge sind es, durch die sie beeinflußt wurde, nämlich: die Furcht vor dem Zorn des Menschen, und die Hoff­nung auf die Gunst des Menschen. Der Diener des lebendigen Gottes aber sollte sich weder durch das eine noch durch das andere beeinflussen lassen. Was gilt der Zorn, was gilt die Gunst eines armen Sterblichen für den, der mit einem göttlichen Auftrag betraut ist und sich der Ge­genwart Gottes erfreut? Beides ist für ihn von geringerer Bedeutung als der Staub auf der Waagschale. "Habe ich dir nicht geboten: Sei stark und mutig? Erschrick nicht und fürchte dich nicht! denn der HERR, dein Gott, ist mit dir überall, wohin du gehst" (Jos. 1, 9). ‑ "Du aber umgürte deine Lenden, und mache dich auf, und rede zu ihnen alles, was ich dir gebieten werde; sei nicht verzagt vor ihnen, damit ich dich nicht vor ihnen verzagt mache. Und ich, siehe, ich mache dich heute zu einer festen Stadt und zu einer eisernen Säule und zu einer ehernen Mauer wider das ganze Land, sowohl wider die Könige von Juda, als auch dessen Fürsten, dessen Priester und das Volk des Landes. Und sie werden gegen dich streiten, aber dich nicht überwältigen; denn ich bin mit dir, spricht der HERR, um dich zu erretten" (Jer. 1, 17‑19).

 

Wenn der Diener Christi auf diesem Boden steht, wendet er sich nicht ,dahin und dorthin", sondern er handelt nach der Weisheit des göttli­chen Rates: "Laß deine Augen geradeaus blicken, und deine Wimpern stracks vor dich hinschauen" (Spr. 4, 25). Gottes Weisheit leitet uns immer an, aufwärts und vorwärts zu schauen. Wenn wir bemüht sind, dem zürnenden Blick eines Sterblichen auszuweichen, oder sein beifälli­ges Lächeln hervorzurufen, können wir sicher sein, daß etwas nicht in Ordnung ist. Wir stehen dann nicht auf dem wahren Boden des Dienstes für Gott, es fehlt uns die Gewißheit, von Gott zu unserem Dienst be­rufen zu sein und in der Gegenwart Gottes zu handeln. Beides ist für jeden Diener Gottes unerläßlich notwendig.

 

Allerdings gibt es viele, die aus Unwissenheit oder in übergroßem Selbstvertrauen in einen Wirkungskreis eintreten, für den Gott sie nie bestimmt und somit auch nicht befähigt hat. Dabei legen sie häufig eine Kaltblütigkeit und Selbstsicherheit an den Tag, daß jeder, der ihre Gaben und ihre Verdienste unparteiisch beurteilen kann, in Erstaunen versetzt wird. Aber der Schein wird bald der Wirklichkeit Platz machen; er kann auch nicht den Grundsatz ändern, daß nichts einen Menschen von der Neigung, sich "dahin und dorthin zu wenden, befreien kann, als nur das Bewußtsein, von Gott beauftragt und in Seiner Gemein­schaft zu sein. Nur wer diese beiden Dinge besitzt, ist befreit von menschlichen Einflüssen und somit unabhängig von den Menschen. Niemand ist fähig, anderen wahrhaft zu dienen, wenn er nicht völlig unabhängig von ihnen ist; und nur wer den ihm zukommenden Platz kennt und einnimmt, vermag sich zu bücken und die Füße seiner Brüder zu waschen.

 

Wenn wir nun unsere Blicke von dem Menschen abwenden und sie auf den einzigen treuen und vollkommenen Diener richten, so sehen wir bei Ihm kein Hin‑ und Herwenden. Und warum? Weil Jesus nie auf Men­schen, sondern immer auf Gott blickte. Er fürchtete weder den Zorn der Menschen, noch warb Er um ihre Gunst; Er redete niemals um des Beifalls der Menschen willen, und ebenso wenig schwieg Er, um ihrem Tadel zu entgehen. Aus diesem Grund trugen alle Seine Worte und Handlungen das Gepräge von Erhabenheit und Festigkeit. Er war der Einzige, von dem in Wahrheit gesagt werden konnte. "Sein Blatt ver­welkt nicht; und alles, was er tut, gelingt" (Ps. 1, 3). Was immer Er tat brachte Nutzen und Frucht, weil alles für Gott getan war. Alle Seine Handlungen, Worte, Bewegungen, Blicke und Gedanken erfreuten das Herz Gottes. Er war nie besorgt wegen der Folgen Seines Tuns, weil Er immer mit und für Gott und nach der vollen Einsicht Seines Willens handelte. Sein eigener Wille, obwohl göttlich vollkommen, verband sich nie mit irgendeiner Tätigkeit, die Er als Mensch ausübte. Er konnte sagen: "Ich bin vom Himmel herniedergekommen, nicht auf daß ich meinen Willen tue, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat" (Joh. 6, 38). Darum brachte Er auch stets Frucht "zu seiner Zeit". Er tat allezeit, was dem Vater wohlgefällig war (Joh. 8, 29); und deshalb hatte Er nichts zu fürchten oder zu bereuen, und keine Ursache, sich „dahin und dorthin zu wenden".

 

Welch einen entschiedenen Gegensatz bildet in dieser wie in   jeder anderen Beziehung der hochgelobte Meister zu Seinen geehrtesten und hervorragendsten Dienern! Sogar Mose zeigte Furcht (V. 14); und Pau­lus fühlte Reue (2. Kor. 7, 8); aber bei dem Herrn Jesus finden wir weder das eine noch das andere. Er brauchte nie einen Schritt zurück ­zutun' nie ein Wort zu widerrufen oder einen Gedanken zu berichtigen. In Ihm war alles durchaus vollkommen, alles "Frucht zu seiner Zeit". Der Strom Seines heiligen und himmlischen Lebens flog ruhig und ohne Windung dahin. Sein Wille war in göttlicher Weise unterwürfig. Die besten und gottesfürchtigsten Menschen machen Fehler; aber je mehr wir fähig sind, durch die Gnade unseren eigenen Willen zu brechen, um so weniger Fehler werden wir machen. Wahrhaft glückselig ist es, wenn unser Leben wirklich ein Leben des Glaubens und der einfältigen und aufrichtigen Hingabe an Christus ist.

 

In dieser Weise ging Mose seinen Weg. Er war ein Mann des Glaubens, ein Mann, der die Gesinnung seines Meisters weitgehend annahm und mit bewundernswerter Festigkeit Seinen Spuren folgte. Wohl legte er, wie bereits bemerkt, vierzig Jahre vor der Zeit, die Gott für das Gericht Ägyptens und für die Befreiung Israels bestimmt hatte, seine Hand ans Werk; aber die inspirierten Mitteilungen in Hebr. 11 berühren die­sen Umstand in keiner Weise, sondern bezeichnen nur den göttlichen Grundsatz seines Wandels, dem er im allgemeinen folgte. "Durch Glau­ben weigerte sich Moses, als er groß geworden war, ein Sohn der Tochter Pharaos zu heißen, lieber wählend, mit dem Volke Gottes Ungemach zu leiden, als die zeitliche Ergötzung der Sünde zu haben, indem er die Schmach des Christus für größeren Reichtum hielt als die Schätze Ägyptens; denn er schaute auf die Belohnung. Durch Glauben verließ er Ägypten und fürchtete die Wut des Königs nicht; denn er hielt standhaft aus, als sähe er den Unsichtbaren" (Hebr. 11, 24‑27).

 

Diese Stelle zeigt uns die Handlungen Moses im Licht der Gnade, und in dieser Weise behandelt der Heilige Geist stets die Geschichte der Heili­gen des Alten Testaments. Wenn Er die Geschichte eines Menschen schreibt, so stellt Er uns diesen so vor, wie er ist, mit seinen Fehlern und Unvollkommenheiten; aber wenn Er im Neuen Testament dieselbe Geschichte durch Anmerkungen erläutert, so beschränkt Er sich darauf, nur das wahre Wesen und das Hauptresultat des Lebens dieses Men­schen herauszustellen. Obwohl wir daher im 2. Buch Mose lesen, daß Mose sich "dahin und dorthin" wandte, daß er sich fürchtete und sprach: Fürwahr, die Sache ist kund geworden, und daß er sogar vor dem Pharao floh, so wird uns dennoch im Brief an die Hebräer berichtet, daß er durch Glauben" handelte, und daß er nicht die Wut des Königs fürchtete, sondern standhaft aushielt, als sähe er den Unsichtbaren.

 

Ebenso wird es einmal sein, wenn "der Herr kommt, welcher auch das Verborgene der Finsternis ans Licht bringen und die Ratschläge der Herzen offenbaren wird; und dann wird einem jeden sein Lob werden von Gott" (1. Kor. 4, 5). Wie trostreich ist diese Wahrheit für jedes aufrichtige und treue Herz! Das Herz mag manche "Ratschläge" ersin­nen, zu deren Ausführung es gar nicht kommt; aber wenn der Herr kommt, werden alle diese Ratschläge offenbar werden. Gepriesen sei die Gnade, die uns hierüber Gewißheit geschenkt hat! Die Ratschläge eines Herzens das Ihn liebt, sind viel wertvoller für Christus als die am besten gelungenen Werke der Hand. Dies können durch ihren Glanz die Menschen blenden, aber jene sind für das Herz des Herrn Jesus be­stimmt; diese können Stoff zur Unterhaltung und zum Ruhm des Men­schen bieten, aber jene werden vor Gott und Seinen heiligen Engeln offenbar werden. Möchten doch die Herzen aller Diener Christi aus­schließlich mit Seiner Person beschäftigt und möchten ihre Augen auf Seine Ankunft gerichtet sein!

 

Bei näherer Betrachtung des Lebens Moses finden wir, daß der Glaube ihn eine dem gewöhnlichen Lauf der Natur ganz entgegengesetzte Richtung verfolgen ließ und ihn veranlaßte, nicht nur die Vergnügungen, Annehmlichkeiten und Ehren am Hof des Pharao auszuschlagen, son­dern auch einen anscheinend günstigen und weit ausgedehnten Wir­kungskreis zu verlassen. Die menschliche Vernunft hätte ihn in ganz andere Bahnen gelenkt und ihn gedrängt, seinen ganzen Einfluß zum Besten des Volkes aufzubieten, und anstatt mit ihm zu leiden, tatkräftig für es einzutreten. Nach menschlichem Ermessen schien die Vorsehung dem Diener Gottes ein weites Arbeitsfeld geöffnet zu haben; denn wenn je die Hand Gottes einen Menschen in eine besondere Stellung versetzt hat, so war dies sicher bei Mose der Fall. Durch eine wunder­bare Kette von Umständen, deren einzelne Glieder ausnahmslos die Lenkung des Allmächtigen verrieten, wurde die Tochter des Pharao zum Werkzeug gemacht, um den Knaben Mose den Fluten zu ent reißen, ihn zu ernähren und zu erziehen, bis er ein Alter von vierzig Jahren erreicht hatte (Apg. 7, 23). Wenn nun Mose angesichts all dieser Umstände eine so hohe und einflußreiche Stellung aufgab, so konnte dies nach menschlichem Ermessen nur das Resultat eines falschen, irre­geführten Eifers sein.

 

Unsere blinde Natur kann nicht anders urteilen. Aber der Glaube denkt anders; denn Natur und Glaube stehen immer miteinander im Wider­spruch. Sie können in keinem einzigen Punkt übereinstimmen. Aber vielleicht in keiner Sache weicht ihr Urteil so sehr voneinander ab, wie in bezug auf das, was man die "Fingerzeige der Vorsehung" nennen könnte. Die Natur wird sich durch solche Fingerzeige immer gern be­rechtigt fühlen, ihren eigenen Neigungen zu folgen, während der Glaube in ihnen ebenso viele Gelegenheiten findet, sich selbst zu verleugnen. Jona hätte das nach Tarsis segelnde Schiff als einen beachtenswerten Fingerzeig der Vorsehung ansehen können, während es in Wahrheit nur eine Tür war, durch die er hindurchschlüpfte und so den geraden Weg des Gehorsams verließ.

 

Ohne Zweifel ist es das Vorrecht des Christen, in allem die Hand seines Vaters zu sehen und Seine Stimme zu vernehmen; aber niemals darf er sich durch die Umstände leiten lassen. Ein so geleiteter Christ gleicht einem Schiff auf hoher See, das ohne Steuerruder und Kompaß der Willkür der Wogen und Winde preisgegeben ist. Gott ruft Seinem Kind zu. "Mein Auge auf dich richtend, will ich dir raten" (Ps. 32, 8); und Seine Warnung heißt: "Seid nicht wie ein Roß, wie ein Maultier, das keinen Verstand hat; mit Zaum und Zügel, ihrem Schmucke, mußt du sie bändigen, sonst nahen sie dir nicht" (Ps. 32, 9). Es ist ungleich besser, uns durch das Auge unseres Vater leiten zu lassen, als durch den Zaum und den Zügel der Umstände. Ach! wir wissen nur zu gut, daß der Ausdruck "Vorsehung", wie man ihn gewöhnlich versteht, nur ein anderes Wort ist, um den Antrieb der Umstände zu bezeichnen.

 

Die Kraft des Glaubens zeigt sich gerade darin, daß sie die scheinbaren Fingerzeige der äußeren Umstände nicht beachtet. So war es bei Mose.

 

,Durch Glauben weigerte sich Moses, ein Sohn der Tochter Pharaos .. heißen‑; und "durch Glauben verließ er Ägypten". Hätte er nach dein geurteilt, was vor Augen war, so hätte er sicher die ihm angebotene Würde als deutlichen Hinweis einer freundlichen Vorsehung angenommen und den Hof des Pharao nicht verlassen, wo ihm Gott dem An­schein nach ein so ausgedehntes Arbeitsfeld bereitet hatte. Aber er lebte in der Kraft des Glaubens und nicht des Schauens und ‑ verzichtete auf alles. Möchten wir jederzeit, geleitet durch die Gnade, seinem Beispiel folgen!

 

Und was hielt Mose für größeren Reichtum als die Schätze Ägyptens? Es war nicht nur die Schmach um Christi willen, sondern es war die Schmach Christi selbst. "Die Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen" (Ps. 69, 9). Der Herr Jesus machte sich in voll­kommener Gnade eins mit Seinem Volk. Alle Seine Herrlichkeit preis­gebend kam Er vom Himmel, nahm den Platz Seines Volkes ein, be­kannte die Sünden der Seinigen und ertrug ihr Gericht am Fluchholz. So weit ging Seine freiwillige Hingabe. Er handelte nicht nur für uns, sondern machte sich auch eins mit uns und befreite uns auf diese Weise von allem, was irgend gegen uns sein konnte.

 

Wir erkennen daraus, wie sehr Mose sich mit den Gedanken und den Gefühlen Christi hinsichtlich Seines Volkes in Übereinstimmung be­fand. Er sah das Wohlleben, die Pracht und den Aufwand des könig­lichen Hauses, in dem sich die "Ergötzung der Sünde" und die "Schätze Ägyptens" um ihn häuften. Er konnte, wenn er wollte, alle diese Dinge genießen. Er konnte in Reichtum leben und sterben und von Anfang bis zum Ende in königlicher Gunst stehen. Aber wäre das "Glaube", wäre das Christus gleichförmig gewesen? Nein. Von seinem hohen Platz aus sah er seine Brüder gebeugt unter dem Gewicht drückender Lasten; und durch den Glauben erkannte er, daß bei ihnen, in ihrer Drangsal, ihrer Sklaverei, sein wahrer Platz war. Wäre nur ein natür­liches Wohlwollen, Menschenliebe oder Zuneigung zu seinem Volk sein Motiv gewesen, hätte er vielleicht seinen persönlichen Einfluß zugunsten seiner Brüder aufbieten und den Pharao bewegen können, ihre drücken­den Lasten zu erleichtern. Aber so etwas könnte nie ein Herz befriedi­gen, das irgendwie Gemeinschaft mit dem Herzen Christi hat. Ein solches Herz hatte Mose durch die Gnade Gottes; und darum ging er in der ganzen Kraft und mit der vollen Zuneigung dieses Herzens zu seinen unterdrückten Brüdern, um "mit dem Volke Gottes Ungemach zu leiden. Und er tat es "durch Glauben".

 

Man muß diesen Unterschied recht verstehen. Wir dürfen uns nicht damit zufrieden geben, dem Volke Gottes Gutes zu wünschen, ihm zu dienen oder freundlich von ihm zu reden; nein, wir sollten uns, so verachtet und unterdrückt es auch sein mag, völlig eins mit ihm machen. Es mag für einen großmütigen Geist eine Freude sein, als Beschirmer des Christentums aufzutreten; aber mit den Christen auf demselben Boden zu stehen oder mit Christus zu leiden, ist etwas ganz anderes. Ein Gönner oder Beschützer und ein Märtyrer sind zwei sehr verschie­dene Dinge; und die ganze Heilige Schrift hebt diese Verschiedenheit unmißverständlich hervor. Obadja trug Sorge für die Zeugen Gottes (l. Kön. 18, 3. 4); aber Elias war ein Zeuge für Gott. Darius war so bekümmert um das Schicksal Daniels, daß er seinetwegen eine Nacht schlaflos zubrachte; aber Daniel befand sich in derselben Nacht als Zeuge für die Wahrheit Gottes in der Löwengrube (Dan. 6, 18). Niko­demus hatte den Mut, ein Wort für Christus zu reden; aber eine größe­re Treue in der Nachfolge des Herrn hätte ihn veranlaßt, sich ganz mit Ihm eins zu machen.

 

Erwägungen dieser Art haben außerordentlich praktische Bedeutung. Der Herr Jesus braucht keine Gönnerschaft! Er will Gemeinschaft. Die Wahrheit über Seine Person ist nicht geoffenbart worden, damit wir die Verteidigung Seiner Sache auf der Erde übernehmen, sondern damit wir Gemeinschaft mit Ihm haben sollen in den Himmeln. Er hat sich um den Preis alles dessen, was die Liebe zu geben vermochte, mit uns einsgemacht. Er hätte dem entgehen und ungehindert da bleiben können, wo Sein ewiger Platz war, in dem Schoß des Vaters. Wie aber wäre es dann möglich gewesen, daß Seine Liebe bis zu uns, den schuldigen und verdammungswürdigen Sündern, hätte dringen können? Zwischen Ihm und uns konnte ein Einssein nur unter Bedingungen bewirkt wer­den, die von Ihm einen totalen Verzicht auf alles forderten. Aber ge­priesen sei Sein herrlicher Name! Diese Verzichtleistung ist geschehen. ,“ der sich selbst für uns gegeben hat, auf daß er uns loskaufte von aller Gesetzlosigkeit und reinigte sich selbst ein Eigentumsvolk, eifrig in guten Werken" (Tit. 2, 14). Er wollte Seine Herrlichkeit nicht für sich allein genießen; Er suchte Befriedigung darin, "viele Söhne" in dieser Herrlichkeit mit sich zu vereinigen. "Vater", sagte Er, "ich will, daß die, welche du mir gegeben hast, auch bei mir seien, wo ich bin, auf daß sie meine Herrlichkeit schauen, die du mir gegeben hast, denn du hast mich geliebt vor Grundlegung der Welt" (Joh. 17, 24). Das waren die Gedanken Christi über Sein Volk; und wir können deshalb leicht beurteilen, wie weit Mose mit diesen Gedanken in Übereinstimmung seines Meisters, war. Zweifellos teilte er in hohem Grad die Gesinnung und er offenbarte sie in der freiwilligen Aufopferung jeder persönlichen Rücksicht und in seiner bedingungslosen Vereinigung mit dem Volke Gottes.

 

Im folgenden Kapitel werden wir von neuem Gelegenheit haben, auf den Charakter und die Handlungen dieses großen Dieners Gottes zurückzukommen; wir beschränken uns deshalb darauf, ihn hier LLU. als ein Bild des Herrn Jesus zu betrachten. Daß er dies war, geht klar aus der Stelle hervor: "Einen Propheten aus deiner Mitte, aus deinen Brüdern, gleich mir, wird der HERR, dein Gott, dir erwecken; auf ihn sollt ihr hören" (5. Mose 18, 15; vergl. Apg. 7, 37). Wir geben daher nicht menschlicher Einbildung Raum, wenn wir Mose als ein Bild be­trachten, sondern folgen darin der klaren und bestimmten Unterweisung der Heiligen Schrift; und zwar tritt er in den letzten Versen unseres Kapitels in zweifacher Weise als ein Bild vor unsere Augen: zunächst in seiner Verwerfung durch Israel (V. 14), und dann in seiner Vereini­gung mit einer Fremden im Lande Midian (V. 21. 22). Diese beiden Punkte haben wir teilweise schon in der Geschichte Josephs entwickelt, der, als er von seinen Brüdern verworfen war, eine Verbindung mit einer ägyptischen Frau einging; obwohl wir in beiden Fällen die Ver­werfung Christi und Seine Vereinigung mit der Kirche bildlich dar­gestellt finden, geschieht dies doch unter zwei verschiedenen Gesichts­punkten. In der Geschichte Josephs tritt die Offenbarung einer tatsäch­lichen Feindschaft gegen seine Person in den Vordergrund, während es sich in der Geschichte Moses mehr um die Verwerfung seiner Sendung handelt. In bezug auf Joseph lesen wir: "Sie haßten ihn und vermoch­ten nicht, ihn zu grüßen" (l. Mose 37, 4); und zu Mose wird gesagt: "Wer hat dich zum Obersten und Richter über uns gesetzt" (V. 14)? So wurde also der eine persönlich gehaßt, der andere in seinem Amt verworfen.

 

Ebenso verhält es sich mit der Art und Weise, in der das große Geheim­nis von der Kirche in der Geschichte dieser beiden Heiligen des Alten Testaments erläutert wird. Asnath stellt einen ganz anderen Zeitab­schnitt in der Geschichte der Kirche dar als Zippora. Die erste wurde mit Joseph vereinigt zur Zeit seiner Erhöhung; Zippora dagegen war die Gefährtin Moses in der Verborgenheit seines Wüstenlebens (vergl.1. Mose 41, 45 mit 2. Mose 2, 21; 3, 1). Allerdings waren beide, Joseph und Mose, zur Zeit ihrer Verbindung mit einer Fremden von ihren Brüdern verworfen; aber der eine war Herr über ganz Ägypten, während der andere "hinter der Wüste' eine Herde Schafe hütete.

 

In jedem Fall befindet sich also, ob wir Christus als geoffenbart in Herr­lichkeit, oder als verborgen vor den Blicken der Welt betrachten, die Kirche mit Ihm in innigster Verbindung; und ebenso wie die Welt Ihn jetzt nicht sieht, ist sie auch außerstande, von dem Leib Kenntnis zu nehmen, der eins mit Ihm ist. "Deswegen erkennt uns die Welt nicht, weil sie ihn nicht erkannt hat" (l. Joh. 3, 1). Bald aber wird Christus in Seiner Herrlichkeit erscheinen, und dann wird die Kirche mit Ihm offenbar werden. "Wenn der Christus, unser Leben, geoffenbart wird, dann werdet auch ihr mit ihm geoffenbart werden in Herrlichkeit"(Kol. 3, 4). Und wiederum: Die Herrlichkeit die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben, auf daß sie eins seien, gleichwie wir eins sind; ich in ihnen und du in mir, auf daß sie in eins vollendet seien, und auf daß die Welt erkenne, daß du mich gesandt und sie geliebt hast, gleich­ wie wir eins sind; ich in ihnen und du in mir, auf daß sie in eins voll­ endet seien, und auf daß die Welt erkenne, daß du mich gesandt und sie geliebt hast, gleichwie du mich geliebt hast" (Joh. 17, 22. 23).

 

 

(In Joh. 17, 21 und 23 ist von einer zweifachen Einheit die Rede. Im ersten Vers handelt es sich um die Einheit, deren Aufrechterhaltung der Verantwortlichkeit der Kirche anvertraut war, aber von dieser gänz­lich vernachlässigt worden ist. In der letzteren dagegen sehen wir die Einheit, die Gott unfehlbar erfüllen und die Er in der Herrlichkeit offen­baren wird. Man kann sich von der Verschiedenheit dieser beiden Dar­stellungen der Einheit, sowohl im Blick auf den Charakter, als auch auf ihr Ergebnis leicht überzeugen.)

 

Das ist also die hohe und heilige Stellung der Kirche; sie ist eins mit Ihm, der von dieser Welt verworfen ist, aber den Thron der Majestät in den Himmeln eingenommen hat. Der Herr Jesus machte sich am Kreuz mit ihr eins, weil sie mit Ihm Seine gegenwärtige Verwerfung und Seine zukünftige Herrlichkeit teilen sollte. Wollte Gott daß alle, die einen Teil dieses so bevorzugten Leibes bilden, tiefer fühlen möch­ten, was sich im Blick auf ihren Wandel und Charakter auf Erden ge­ziemt! Zweifellos würden die Kinder Gottes dann eine lautere und ver­ständlichere Antwort geben auf die Liebe, womit Er sie geliebt, auf das Heil, das Er ihnen erworben, und auf die Würde, womit Er sie beklei­det hat. Der Weg des Christen sollte immer das naturgemäße Ergebnis

 

eines verstandenen und verwirklichten Vorrechts sein und nicht das erzwungene Resultat gesetzlicher Gelübde und Vorsätze; die Frucht einer durch Glauben erkannten und verwirklichten Stellung, und nicht die scheinbare Frucht eigener Anstrengungen, um durch "Gesetzeswerk" in irgendeine Stellung zu gelangen. Jeder wahre Gläubige bildet einen Teil der Braut Christi, und darum schuldet er Ihm auch die Zuneigung, die diesem Verhältnis entspricht. Nicht als ob man infolge der Zunei­gung in das Verhältnis eingetreten wäre; wohl aber folgt die Zunei­gung aus dem Verhältnis.

 

Laß es so sein, o Herr, bei Deinem ganzen Volk, das Du liebst und mit Deinem eigenen Blut erkauft hast.

 

Kapitel 3

 

DIE BERUFUNG

 

Wir wenden uns jetzt wieder der persönlichen Geschichte Moses zu, um diesen großen Diener Gottes während des interessanten Zeitab­schnitts zu betrachten, den er in der Zurückgezogenheit erlebte ‑ eines Zeitabschnitts, der, wie man sagen möchte, nicht weniger als vierzig seiner besten Jahre, die Blüte seines Lebens, umfaßte. Der Herr entzog in Seiner Güte, Weisheit und Treue Seinen geliebten Diener den Blicken und Gedanken der Menschen, um ihn unter Seiner unmittel­baren Leitung zu erziehen. Dies war notwendig für Mose. Freilich hatte er vierzig Jahre in dem Hause des Pharao verlebt; aber obwohl sein Aufenthalt am königlichen Hof nicht ohne Einfluß und Wert für ihn gewesen sein mag, so war er doch nichts im Vergleich mit seinem Aufenthalt in der Wüste. Das Leben am Hof mochte schätzenswert sein, aber der Aufenthalt in der Wüste war unumgänglich notwendig. Nichts kann den geheimen Verkehr mit Gott, nichts die Erziehung und den Unterricht Seiner Schule ersetzen. "Alle Weisheit der Ägypter" hätte Mose nicht für seine zukünftige Aufgabe befähigt. Er hätte in den Schulen Ägyptens Karriere machen können und stolz und eitel mit einem an Kenntnissen überladenen Geist daraus hervorgehen können; er hätte in der Schule des Menschen den höchsten Grad erlangen kön­nen und dennoch wäre es für ihn nötig gewesen, in der Schule Gottes das ABC zu lernen. Denn menschliche Weisheit und Gelehrsamkeit, so wertvoll sie auch an und für sich sein mögen, können niemals jemand zu einem Diener Gottes machen, noch ihn zu irgendeinem Teil des gött­lichen Dienstes ausrüsten. Sie mögen den nicht wiedergeborenen Men­schen geschickt machen, eine Rolle vor den Augen der Welt zu spielen; aber der Mensch, den Gott gebrauchen will, muß mit ganz anderen Fähigkeiten begabt sein, die nur in der heiligen Einsamkeit der Gegen­wart Gottes erlangt werden können.

 

Alle Diener Gottes haben die Wahrheit dieser Feststellung auf de. Weg der Erfahrungen kennenlernen müssen. Mose am Horeb, Elias am Bache Krith, Hesekiel am Flusse Kebar, Paulus in Arabien und Johannes auf der Insel Patmos sind alle treffende Beispiele von der außerordent­lichen praktischen Wichtigkeit des Alleinseins mit Gott. Und wenn wir auf den göttlichen Diener selbst sehen, finden wir, daß die Zeit, die Er in der Zurückgezogenheit verlebte, beinahe zehnmal so lang war wie die Seines öffentlichen Dienstes. Obwohl Er vollkommen war in Einsicht und Willen, verbrachte Er beinahe dreißig Jahre in der Verbor­genheit des Hauses eines Zimmermanns, ehe Er öffentlich auftrat. Und selbst nachdem Er in die Öffentlichkeit getreten war, entzog Er sich oft den Blicken der Menschen, um in der Einsamkeit die heilige Gegen­wart Gottes zu genießen.

 

Aber, wird man vielleicht fragen, wie kann dann dem dringenden Be­dürfnis nach Arbeitern entsprochen werden, wenn diese, bevor sie ihr Werk beginnen dürfen, einer so lang dauernden geheimen Erziehung unterworfen sein müssen? Das ist die Sache des Meisters, nicht unsere. Er kann Arbeiter erwecken, und Er kann sie zubereiten. Das ist nicht das Werk eines Menschen. Gott allein kann sich einen wahren Diener berufen und erziehen; und es ist Seine Sache, die zu seiner Erziehung nötige Zeitdauer festzustellen. Wenn es Sein Wille wäre, würde Er nur einen Augenblick brauchen, um dieses Werk der Erziehung zu vollbrin­gen. Eins ist sicher, daß Gott alle Seine Diener, sowohl vor als nach dem Eintritt in ihren öffentlichen Dienst, oft allein in Seine unmittel­bare Nähe geführt hat; denn ohne die Zucht, ohne diese geheime 10bung wären sie sicher dürr und oberflächlich geblieben. jeder, der sich auf eine öffentliche Laufbahn wagt, ohne sich vorher in der Gegenwart Gottes geprüft zu haben, gleicht einem Schiff, das ohne den erforder­lichen Ballast mit vollen Segeln in See sticht und deshalb beim ersten Sturm umschlägt. Wenn wir dagegen die Schule Gottes von Klasse zu Klasse durchgemacht haben, wird sich in unserem ganzen Verhalten Tiefe, Gründlichkeit und Beständigkeit zeigen: Eigenschaften, die we­sentliche Elemente in der Bildung des Charakters eines wahren und wirksamen Dieners Gottes sind.

 

Wenn wir daher sehen, daß Mose in einem Alter von vierzig Jahren aus all dem Glanz und der Pracht eines königlichen Hofes weggenom­men wird, um vierzig Jahre in der Einsamkeit einer Wüste zuzubringen, SO dürfen wir sicher darauf rechnen, ihn später in einer ausgezeichneten Weise im Dienst des Herrn verwendet zu finden. Nur der Mensch, den Gott erzieht, ist wahrhaft erzogen. Es liegt nicht im Bereich mensch­licher Macht, ein Werkzeug für den Dienst Gottes zuzubereiten. Die Hand des Menschen kann niemals ein dem Hausherrn nützliches Gefäß (2. Tim. 2, 21) formen. Nur der, der das Gefäß gebrauchen will, kann es zubereiten; und wir haben hier ein außerordentlich schönes Beispiel vor uns, wie Er dies tut.

 

"Und Mose weidete die Herde Jethros, seines Schwiegervaters, des Priesters von Midian. Und er trieb die Herde hinter die Wüste und kam an den Berg Gottes, an den Horeb" (V. 1). Welch ein Wechsel in dem Leben Moses! In 1. Mose 46, 34 lesen wir: "Alle Schafhirten sind den Ägyptern ein Greuel"; und doch wird der "in aller Weisheit der Ägypter" unterwiesene Mose von dem ägyptischen Hof aus hinter einen Berg versetzt, um dort eine Herde Schafe zu hüten, und um dort für den Dienst Gottes zubereitet zu werden. Das ist sicher nicht die Weise des Menschen, noch ein der Natur entsprechender Lauf der Dinge. Es ist ein für Fleisch und Blut unbegreiflicher Weg. Nach mensch­licher Meinung wäre die Erziehung Moses vollendet gewesen, als er sich zum Meister aller Weisheit der Ägypter gemacht hatte und zu­gleich alle Vorteile genoß, die ihm ein Hofleben gewähren konnte. Aber nun einen so begabten und unterwiesenen Mann von seiner hohen Stellung abberufen zu sehen, um hinter einem Berg die Schafe zu hüten, das überschreitet die Grenze menschlicher Gedanken und Gefühle. Diese Tatsache beugt den Stolz und die Herrlichkeit des Menschen in den Staub. Sie bekundet deutlich, daß alles, was diese Welt geben kann, einen äußerst geringen Wert vor Gott hat, ja, daß es "Dreck" ist in den Augen des Herrn und in den Augen aller, die in Seiner Schule unter­wiesen sind (Phil. 3, 8).

 

Es besteht überhaupt ein wesentlicher Unterschied zwischen mensch­licher und göttlicher Erziehung. Die erstere hat die Bildung und Ver­edlung der Natur zum Ziel, während die leztere damit beginnt, daß sie diese Natur "verwelken" läßt und völlig beiseite setzt. "Der natürliche Mensch aber nimmt nicht an, was des Geistes Gottes ist, denn es ist ihm eine Torheit, und er kann es nicht erkennen, weil es geistlich beurteilt wird" (l. Kor. 2, 14). Man kann den "natürlichen Menschen" so viel erziehen und unterweisen wie man will; nie wird es gelingen, ihn zu einem "geistlichen Menschen" zu machen. "Was aus dem Fleische ge­boren ist, ist Fleisch und was aus dem Geiste geboren ist, ist Geist" (Joh 3, 6). Wenn je ein gebildeter "natürlicher Mensch‑‑‑ auf einen glücklichen Erfolg im Dienst Gottes hätte rechnen dürfen, so wäre gewiß Mose der Mann gewesen. Er war "groß geworden", er war "unterwiesen, er war "mächtig in seinen Worten und Werken" (Apg. 7, 22); und dennoch gab es für ihn "hinter der Wüste" noch etwas zu lernen,

 

worin die Schulen Ägyptens ihn niemals hätten unterweisen können. Paulus lernte in Arabien mehr, als er je zu den Füßen Gamaliels gelernt hatte.*) Niemand kann belehren, wie Gott es vermag; und alle, die von Ihm lernen wollen, müssen mit Ihm allein sein. "In der Wüste wird Gott dich unterweisen". Dort war es, wo Mose die gründlichsten und wirksamsten Unterweisungen empfing, und dorthin müssen alle, die für den Dienst zubereitet werden wollen, ihren Weg einschlagen.

 

Möchtest du, lieber Leser, durch eigene Erfahrung die wahre Bedeutung des Wortes "hinter der Wüste" erproben; möchtest du die geheiligte Stätte kennen, wo die Natur in den Staub gelegt und Gott allein er­hoben wird! Dort werden Menschen und Dinge, die Welt und das Ich, die gegenwärtigen Umstände und ihr Einfluß nach ihrem wahren Wert gemessen; dort, und nur dort wirst du eine göttliche Waage finden, um alles, was in dir ist und was dich umgibt, abzuwägen. Dort gibt es keine falschen Farben, keine Verstellung, keine leeren Einbil­dungen. Der Feind deiner Seele kann den Sand dieser Stätte nicht ver­golden; dort ist alles Wirklichkeit. Das Herz beurteilt in der Gegenwart Gottes alle Dinge in der richtigen Weise; es steht hoch über den auf­regenden Einflüssen der Pläne dieser Welt. Das Getöse und Getriebe, die Unruhe und Verwirrung Ägyptens ‑ nichts berührt das Ohr an dieser entlegenen Stätte; das lärmende Treiben der Geld‑ und Handelswelt wird dort nicht gehört. Dort gibt es kein ehrgeiziges Streben; dort locken nicht die welkenden Lorbeeren dieser Welt; dort wird die

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*)Diese Bemerkungen verfolgen nicht etwa den Zweck, den Wert eines wirk­lich nützlichen Unterrichts oder die Entwicklung der Geisteskräfte herabzu­sehen. Das ist durchaus nicht unsere Absicht. Jeder Vater sollte den Geist seines Kindes sorgfältig mit nützlichen Kenntnissen bereichern und es in allem unterweisen, was später im Dienst des Herrn Verwendung finden könnte. Er sollte aber das Kind weder mit Dingen belasten, die es in seiner späteren christlichen Laufbahn wieder beiseite setzen müßte, noch sollte er " aus Erziehungszwecken durch ein Gebiet führen, aus dem es kaum mit unbefleckter Seele herauskommen kann. Es ist völlig nutzlos, die Kinder durch den Schlamm einer heidnischen Götterlehre hindurchwaten zu lassen, um es die für die Auslegung göttlicher Aussprüche geschickt zu machen oder es gar für       das Weiden der Herde Christi zuzubereiten.

 

Sucht nach Geld nicht gespürt. Dort wird weder das Auge durch Lüstern­heit verdunkelt, noch das Herz von Stolz aufgebläht; dort reizt weder das Lob der Menschen, noch bereitet ihr Tadel Entmutigung. Mit einem Wort, dort ist alles beiseite gesetzt, ausgenommen die Stille und das Licht der Gegenwart Gottes. Die Stimme Gottes allein wird vernom­men, man freut sich in Seinem Licht und versteht Seine Gedanken. Das ist die Stätte, wir wiederholen es, wohin jeder gehen und wo jeder ver­weilen muß, der mit gesegnetem Erfolg im Werk des Herrn arbeiten will. Wollte Gott, daß alle, die in den öffentlichen Dienst treten, mehr verständen, was es heißt, in dieser Atmosphäre zu leben! Es würde dann weit weniger fruchtlose Versuche in der Ausübung des Dienstes geben, und ein wirksamerer Dienst zur Ehre Christi würde an ihren Platz treten.

 

Untersuchen wir jetzt, was Mose "hinter der Wüste" sah und hörte. Er lernte dort Dinge, die das Verständnis der begabtesten Gelehrten Ägyptens weit überstiegen. Ein vierzigjähriger Aufenthalt in der Wüste, um dort eine Schafherde zu hüten, mag allerdings nach menschlichem Ermessen als ein unerklärlicher Zeitverlust erscheinen. Aber Mose war dort mit Gott, und eine mit Gott verlebte Zeit ist niemals verloren. Wir dürfen nie vergessen, daß es für den Diener Christi noch etwas mehr gibt, als ein bloßes Tätigsein. Ein stets tätiger Mensch setzt sich der Gefahr aus, zu viel zu tun; und es ist nötig für ihn sorgfältig auf die Worte des vollkommenen Dieners zu achten, die wir in Jes. 50, 4 lesen: "Er weckt jeden Morgen, er weckt mir das Ohr, damit ich höre gleich solchen, die belehrt werden". Das "Hören" ist ein unerläßlicher Teil der Tätigkeit eines Dieners. Der Diener muß häufig in der Gegen­wart seines Herrn sein, um zu wissen, was er zu tun hat. Das Ohr und die Zunge sind in mehr als einer Beziehung eng miteinander verbunden; und wenn in geistlicher oder moralischer Hinsicht mein Ohr geschlossen ist und meine Zunge freien Lauf hat, so werde ich unweigerlich viel Törichtes sagen. "Daher meine geliebten Brüder, sei jeder Mensch schnell zum Hören, langsam zum Reden" (Jak. 1, 19). Diese Ermahnung stützt sich auf zwei Tatsachen, nämlich darauf, daß jede gute Gabe von oben herabkommt, und daß das Herz zum Überfließen voll ist von Schlechtigkeit. Daher die Notwendigkeit, das Ohr offen und die Zunge im Zaum zu halten ‑ die seltene und treffliche Kunst, in der Mose "hinter der Wüste" so große Fortschritte machte, und die alle erlernen können, wenn sie nur willig sind, sich in derselben Schule unterweisen zu lassen.

 

Da erschien ihm der Engel des HERRN in einer Feuerflamme mitten aus einem Dornbusche; und er sah: und siehe, der Dornbusch brannte ftn Feuer, und der Dornbusch wurde nicht verzehrt. Und Mose sprach: Ich will doch hinzutreten und dieses große Gesicht sehen, warum der Dornbusch nicht verbrennt" (V. 2. 3). Ein in Flammen stehender Dorn­busch, der dennoch nicht verbrannte, war in der Tat ein "großes Ge­sicht". Der Palast des Pharao hätte niemals ein solches Wunder hervor­bringen können. Aber dieses Wunder war nicht nur groß, sondern zu­gleich ein Ausdruck der Gnade, die mitten im Feuerofen Ägyptens die Auserwählten bewahrte, daß sie nicht verzehrt wurden. "Der HERR der Heerscharen ist mit uns, eine hohe Feste ist uns der Gott Jakobs" (Ps. 46, 7). Hier ist Kraft und Sicherheit, Sieg und Frieden! Gott mit uns, Gott in uns, Gott für uns; was für eine reiche Vorsorge für jedes Bedürfnis!

 

Die Weise, in der es dem HERRN gefiel, sich hier Seinem Knecht zu offenbaren, ist sehr interessant und lehrreich. Gott stand im Begriff, ihm den Auftrag zu erteilen, Sein Volk aus Ägypten zu führen, damit es in der Wüste wie im Lande Kanaan Seine Versammlung, Seine Wohnstätte bilde; und der Ort, von dem aus Er redete, war ein bren­nender Dornbusch. Welch ein schönes, passendes und ernstes Symbol der Wohnstätte des HERRN inmitten Seiner auserwählten und erkauf­ten Gemeinde! "Unser Gott ist ein verzehrendes Feuer" (Hebr. 12, 29); nicht um uns, sondern alles in und an uns zu verzehren, was Seiner Heiligkeit entgegen ist und unser wahres und ewiges Glück zerstört. .Deine Zeugnisse sind sehr zuverlässig. Deinem Hause geziemt Heilig­keit, o HERR, auf immerdar" (Ps. 93, 5).

 

Im Alten wie im Neuen Testament findet sich eine Reihe von Vor­fällen, bei denen Gott sich als ein "verzehrendes Feuer" offenbarte. So lesen wir z. B. in 3. Mose 10, daß Nadab und Abihu vom Feuer ver­zehrt wurden. Gott wohnte in der Mitte Seines Volkes, und Sein Wille war, es in einem Seiner selbst würdigen Zustand zu erhalten. Er konnte nicht anders handeln. Es würde weder zu Seiner Verherrlichung noch ZUM Besten der Seinigen dienen, wenn Er irgend etwas an ihnen duldete, was mit der Reinheit Seiner Gegenwart unverträglich wäre. Die Wohn­stätte Gottes muß heilig sein.

 

Die Sünde Achans (Jos. 7) liefert einen weiteren Beweis dafür, daß der HERR das Böse, wie verborgen es auch sein und in welcher Form es auch auftreten mag, niemals durch Seine Gegenwart bestätigen kann. Er war ein "verzehrendes Feuer"; und in diesem Charakter mußte Er handeln gegenüber jedem Versuch, eine Versammlung zu verunreini­gen, in deren Mitte sich Seine Wohnstätte befand. Die Absicht, die Gegenwart Gottes mit ungerichtetem Bösen in Verbindung zu bringen, ist der höchste Ausdruck der Gottlosigkeit.

 

Auch die Geschichte von Ananias und Sapphira (Apg. 5) belehrt uns in derselben ernsten Weise. Gott, der Heilige Geist, wohnte, und zwar nicht nur als Einfluß, sondern als eine göttliche Person, inmitten der Kirche, so daß es möglich war, Ihn zu "belügen". Die Kirche war und ist noch jetzt Sein Wohnplatz, und in ihrer Mitte muß Er herrschen und richten. Die Menschen mögen sich den Betrug, die Begierde und die Heuchelei zu Gefährten wählen; aber Gott kann es nicht. Wenn Er mit uns gehen soll, müssen wir unsere Wege richten, oder Er wird es an unserer Statt tun. (Vergl. auch 1. Kor. 11, 29‑32).

 

In allen diesen und in vielen anderen Fällen, die wir noch anführen könnten, erkennen wir die Kraft des ernsten Wortes: "Deinem Hause geziemt Heiligkeit, o HERR, auf immerdar" (Ps. 93, 5). Die morali­sche Wirkung dieser Wahrheit wird immer derjenigen gleichen, die sich hier bei Mose zeigt. "Nahe nicht hierher! Ziehe deine Schuhe aus von deinen Füßen, denn der Ort, auf dem du stehst, ist heiliges Land" (V. 5). Die Stätte der Gegenwart Gottes ist heilig; nur mit unbeschuhten Füßen darf sie betreten werden. Gott, der in der Mitte Seines Volkes wohnt, verleiht der Versammlung dieses Volkes den Charakter der Hei­ligkeit, die die Grundlage jeder heiligen Zuneigung und jeder heiligen Tätigkeit bildet. Die Wohnstätte muß dem Charakter ihres Besitzers entsprechen. Die Anwendung dieses Grundsatzes auf die Kirche, die ge­genwärtige Behausung Gottes im Geiste, ist in praktischer Hinsicht von größter Wichtigkeit. Wie es wahr ist, daß Gott durch den Heiligen Geist in jedem Glied der Kirche persönlich wohnt und jedem einzelnen den Charakter der Heiligkeit verleiht, so ist es ebenfalls wahr, daß die Versammlung Sein Wohnplatz ist und demzufolge heilig sein muß. Nichts Geringeres als die Person eines lebenden, siegreichen und ver­herrlichten Christus ist der Mittelpunkt, um den die Glieder gesammelt sind; und die Macht, die sie sammelt, ist keine geringere, als der Heilige Geist selbst; und der Herr, Gott, der Allmächtige, wohnt in ihnen und wandelt in ihrer Mitte (siehe Matth. 18, 20; 1. Kor. 6, 19; Eph. 2, 21. 22). Wenn dies nun aber die hohe, heilige Stellung des Hauses

 

Gottes ist, so ist es offenbar, daß sowohl im Grundsatz als auch im praktischen Wandel nichts Unreines darin geduldet werden darf. jeder, der mit dieser Behausung in Verbindung steht, sollte den Ernst und die Wichtigkeit des Wortes fühlen: "Der Ort, auf dem du stehst, ist heiliges Land". "Wenn jemand den Tempel Gottes verdirbt, den wird Gott verderben"( 1. Kor. 3, 17). Wie wichtig sind diese Worte für jedes Glied der Versammlung Gottes, für jeden "lebendigen Stein" an Seinem heiligen Tempel! 0 möchten wir doch alle lernen, die Vorhöfe Gottes mit unbeschuhten Füßen zu betreten!

 

Doch zeugen die Erscheinungen am Berge Horeb ebenso sehr von der Gnade des Gottes Israels, als von Seiner Heiligkeit. Ist die Heiligkeit Gottes unendlich, so ist es Seine Gnade nicht weniger; und während die Weise, in der Er sich Seinem Diener Mose offenbarte, die Heilig­keit erkennen läßt, bürgt die Tatsache, daß Er sich überhaupt offen­barte, für die Gnade. Daß Gott herniederkam, war Gnade; aber nachdem Er gekommen war, mußte Er sich in Heiligkeit offenbaren. "Und er sprach: Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs. Da verbarg Mose sein Angesicht, denn er fürchtete sich, Gott anzuschauen" (V. 6). Die Gegenwart Gottes bewirkt stets, daß die Natur sich verbirgt; wenn wir daher mit unbeschuhten Füßen, und mit bedecktem Antlitz, d. h. in jener Gesinnung, die in diesen Gesten ihren angemessenen Ausdruck findet, vor Gott stehen, so sind wir zubereitet, um die Worte der Gnade vernehmen zu können. Nimmt der Mensch den ihm geziemenden Platz ein, so kann Gott in uneingeschränkter Gnade mit ihm reden.

 

,Und der HERR sprach: Gesehen habe ich das Elend meines Volkes, das in Ägypten ist, und sein Geschrei wegen seiner Treiber habe ich gehört; denn ich kenne seine Schmerzen. Und ich bin herabgekommen, um es aus der Hand der Ägypter zu erretten, und es aus diesem Land hinaufzuführen in ein gutes und geräumiges Land, in ein Land, das von Milch und Honig fließt ... Und nun siehe, das Geschrei der Kinder Israel ist vor mich gekommen; und ich habe auch den Druck gesehen, womit die Ägypter sie drücken. Und nun gehe hin", usw. (V. 7‑9). Die freie, bedingungslose Gnade des Gottes Abrahams und des Gottes der Nachkommen Abrahams wird hier sichtbar, ohne irgendwie durch die "Wenn" und "Aber", durch die Gelübde, Entschlüsse und Bedingungen des gesetzlichen Geistes des Menschen gehemmt zu sein. Gott war herniedergekommen, um sich in unumschränkter Gnade zu offenbaren, um das ganze Werk der Erlösung zu vollbringen, und um Seine Ver­heißung zu erfüllen, die Er Abraham gegeben und Isaak und Jakob erneuert hatte. Er war nicht gekommen, um zu erforschen, ob die Ge­genstände Seiner Verheißung in einem Zustand waren, daß sie Seine Erlösung verdienten. Sie brauchten Erlösung; das war genug für Ihn. Der schwere Druck, der auf ihnen lastete, ihre Mühsal, ihre Tränen, ihre Seufzer, ihre harte Sklaverei ‑ alles das war eingehend von Ihm geprüft worden; denn, gepriesen sei Sein Name! Er zählt das Umher­irren Seines Volkes und legt dessen Tränen in Seinen Schlauch (Ps. 56, 8). Es waren nicht ihre Vorzüge oder ihre Tugenden, die Ihn an­gezogen hatten. Er besuchte sie nicht, weil Er etwas Gutes in ihnen entdeckt hatte oder voraussah; nein, Er wußte, was in ihnen war, Wir finden den einzigen wahren Grund Seines gnädigen Eingreifens in den Worten: "Ich bin der Gott Abrahams", und: "Gesehen habe ich das Elend meines Volkes".

 

Diese Worte offenbaren einen fundamentalen Grundsatz in den Wegen Gottes. Gott handelt stets auf Grund dessen, was Er ist. "Ich bin", sichert alles für "Mein Volk". Er wollte Sein Volk nicht bei den Ziegel­öfen Ägyptens und unter der Geißel der Fronvögte des Pharao lassen. Israel war Sein Volk; und Er wollte zu seinen Gunsten in einer Weise handeln, die Seiner selbst würdig war. Die Tatsache, daß Israel das Volk Gottes, der Gegenstand Seiner auserwählenden Liebe und Seiner be­dingungslosen Verheißung war, ordnete alles. Nichts sollte die Öffent­liche Entfaltung Seines Verhältnisses zu denen verhindern, welchen Er nach Seinen ewigen Ratschlüssen den Besitz des Landes Kanaan zuge­sichert hatte. Er war zu ihrer Befreiung gekommen; und die vereinigten Mächte der Erde und der Hölle konnten sie nicht eine Stunde über die von Ihm festgesetzte Zeit hinaus in Gefangenschaft halten. Wohl konnte Er Ägypten als Schule und den Pharao als Zuchtmeister brau­chen; und Er hat dies tatsächlich getan; aber nachdem das notwendige Werk vollendet war, wurden Schule und Zuchtmeister beiseite gesetzt, und mit starker Hand und ausgestrecktem Arm führte Er Sein auser­wähltes Volk aus Ägypten heraus.

 

Das also war der zweifache Charakter der Offenbarung, die Mose am Berg Horeb empfing. Heiligkeit und Gnade vereinigten sich in dem, was er sah und hörte. Diese beiden Elemente charakterisieren, wie wir wissen, alle Wege und Beziehungen unseres Gottes sehr deutlich; und ebenso sollten sie auch die Wege derer kennzeichnen, die auf irgendeine Art für Gott tätig sind oder Gemeinschaft mit Ihm haben. Jeder wahre Diener ist aus der unmittelbaren Gegenwart Gottes mit ihrer Gnade und Heiligkeit in seine Arbeit gesandt; er ist berufen, heilig und gnädig zu sein und auf der Erde die Gnade und Heiligkeit Gottes widerzuspiegeln; und um dies zu können, darf er nicht nur von der Gegenwart Gottes aus seinen Lauf beginnen, sondern muß dort auch immer im Geist anwesend sein. Das ist das Geheimnis jedes fruchtbaren Dienstes.

 

,Achte kindlich treu auf jedes Wort,

Schreit' zum Werke, weil es Tag ist, rüstig fort;

Doch verlaß bei Arbeit, Müh und Streit

Nie die traute Stätte Meiner Einsamkeit".

 

Nur der geistlich gesinnte Mensch versteht die Bedeutung der beiden Dinge: "Schreite zum Werke fort", und: "Verlasse nie". Um nach außen für Gott wirken zu können, muß ich innerlich bei Ihm sein. Wenn ich nicht in dem verborgenen Heiligtum Seiner Gegenwart bin, werde ich bald in meinem Dienst ermatten.

 

Viele scheitern an dieser Klippe. Wir sind immer der Gefahr ausgesetzt, im Getriebe unseres Verkehrs mit den Menschen und in der Aufregung der Diensttätigkeit aus dem Ernst und der Ruhe der Gegenwart Gottes herauszutreten. In diesem Punkt ist sorgfältige Wachsamkeit nötig. Wenn wir diese heilige Geistesstimmung verlieren, die in den "unbe­schuhten Füßen" ihren Ausdruck findet, so wird unser Dienst sehr bald geistlos und fruchtleer werden. Wenn wir unserer Arbeit erlauben, sich zwischen unser Herz und den Herrn zu drängen, so wird sie von ge­ringem Wert sein. Nur wenn wir Christus genießen, werden wir Ihm in wirksamer Weise dienen können. Nur wenn das Herz in Seiner Nähe bleibt, sind die Hände fähig, Seinem Namen in wohlgefälliger Weise zu dienen. Niemand kann Christus mit Frische und Kraft andern vorstellen, wenn er sich nicht selbst in der Verborgenheit von Ihm nährt. Wohl mag er einen Vortrag halten, Gebete sprechen, Bücher schreiben und den äußeren Dienst, soweit er reichen mag, ausüben; aber dennoch dient er Christus nicht. Wer Ihn vor andern darstellen will, muß selbst mit Ihm beschäftigt sein.

 

Glücklich ist der Mensch, der in dieser Weise tätig ist, wie auch immer der Erfolg seiner Arbeit und die Aufnahme seines Dienstes sein mag! Denn sollte auch sein Dienst nicht die allgemeine Beachtung finden, keinen sichtbaren Einfluß ausüben oder keine augenfälligen Ergebnisse aufweisen, so findet er selbst dennoch in Christus seine glückselige Ruhestätte und sein sicheres Teil, das ihm niemand rauben kann. Ein anderer dagegen, der sich nur an den Früchten seines Dienstes weidet, oder an der ihm geschenkten Beachtung seine Lust findet, gleicht einer Röhre, die anderen Wasser zuführt, aber für sich selbst nichts als Rest zurückbehält. Wie beklagenswert ist ein solcher Zustand! Und doch befindet sich tatsächlich jeder Diener in diesem Zustand, der sich mehr mit seiner Arbeit und deren Ergebnissen beschäftigt, als mit dem Herrn und Seiner Verherrlichung.

 

Dies ist eine Sache, die strenges Selbstgericht erfordert. Das Herz ist betrüglich und der Feind listig; und darum ist es unerläßlich nötig, daß wir auf das Wort der Ermahnung hören: "Seid nüchtern, wachet!" (1. Petr. 5, 8). Erst dann, wenn man sich der zahlreichen und verschie­denen Gefahren bewußt wird, die den Weg des Dieners Christi um­ringen, ist man fähig, die Notwendigkeit zu erkennen, viel mit Gott allein zu sein; denn nur dort ist man glücklich und in Sicherheit. Nur wenn wir unser Werk zu den Füßen des Herrn beginnen, fortsetzen und vollenden, ist unser Dienst von der rechten Art.

 

Nach diesen Ausführungen muß dem Leser einleuchten, daß der Auf­enthalt "hinter der Wüste" für jeden Diener Christi sehr heilsam ist. Horeb ist in der Tat der Ausgangspunkt für alle, die Gott zu Seinem Dienst aussendet. Am Horeb war es, wo Mose lernte, seine Schuhe auszuziehen und sein Antlitz zu verhüllen. Vierzig Jahre vorher hatte er seine Hand bereits ans Werk gelegt; aber dieser Anlauf war zur Un­zeit geschehen. Erst in der Einsamkeit des Berges Gottes und aus dem brennenden Busch hörte der Diener die Botschaft Gottes: "Und nun gehe hin, denn ich will dich zu dem Pharao senden, daß du mein Volk, die Kinder Israel, aus Ägypten herausführest" (V. 10). Hier war wirk­liche Autorität. Ob Gott jemand sendet oder ob ein Mensch unge­sandt seinen Lauf beginnt, das sind zwei sehr verschiedene Dinge; und es ist offenbar, daß Mose, als er zum ersten Mal die Hand zur Befreiung seiner Brüder erhob, nicht reif zum Dienst war. Wie hätte er auch, wenn eine vierzigjährige geheime Zucht für ihn erforderlich war, sein Werk früher erfüllen können? Unmöglich! Er mußte von Gott erzogen und von Gott ausgerüstet werden; und das gilt für alle, die den Weg des Dienstes und des Zeugnisses für Christus betreten. Möchten sich die heiligen Unterweisungen Gottes tief in unsere Herzen eingraben, damit alle unsere Werke das Gepräge der Autorität und des Beifalls unseres Herrn und Meisters tragen!

 

jedoch haben wir am Fuß des Berges Horeb noch etwas anderes zu Jemen. "Es ist gut, daß wir hier sind", sagte Petrus auf dem Berg der Verklärung (Matth. 17, 4). Die Gegenwart Gottes ist immer ein Ort von äußerst praktischer Bedeutung, weil dort das Herz aufgedeckt werden muß. Das Licht, das an dieser heiligen Stätte leuchtet, macht alles offenbar; und gerade dieses Offenbarwerden brauchen wir so sehr mitten unter den uns umringenden eitlen Anmaßungen und gegenüber den, Stolz und der Selbstherrlichkeit unserer eigenen Herzen.

 

Wir könnten nun meinen, daß Mose in demselben Augenblick, als er den göttlichen Auftrag empfing, geantwortet hätte: "Hier bin ich!" oder: ,Herr, was willst du, daß ich tun soll?" Aber nein; dahin mußte er noch gebracht werden. Ohne Zweifel erinnerte er sich an seinen früheren Fehlgriff; denn wenn man in irgendeiner Sache ohne Gott handelt, so wird, selbst wenn Gott uns aussendet, Verzagtheit und Mutlosigkeit die unausbleibliche Folge sein. "Und Mose sprach zu Gott: Wer bin ich, daß ich zu dem Pharao gehen, und daß ich die Kinder Israel aus Ägypten herausführen sollte?" (V. 11). Wie wenig gleicht hier Mose dem Mann, der vierzig Jahre früher "meinte ... seine Brüder würden ver­stehen, daß Gott durch seine Hand ihnen Rettung gebe"! (Apg. 7, 25). So ist der Mensch: heute zu eilig und morgen zu langsam zum Handeln. Mose hatte vieles gelernt seit dem Tage, an dem er den Ägypter erschlug. Er hatte Fortschritte gemacht in der Selbsterkenntnis; und diese Erkennt­nis erzeugte Mißtrauen und Furchtsamkeit. Aber zugleich zeigte er offenbaren Mangel an Gottvertrauen. Wenn ich allein auf mich schaue, werde ich nichts ausrichten; wenn ich aber auf Christus blicke, so ver­mag ich alles. Als daher Mose aus Mißtrauen und Furchtsamkeit die Frage stellte: "Wer bin ich?", antwortet Gott: "Ich werde mit dir sein" (V. 12). Das hätte ihm genügen sollen. Wenn Gott mit mir ist, dann ist es überhaupt nicht wichtig, wer ich bin oder was ich bin. Wenn Gott sagt: "Ich will dich senden", und "Ich werde mit dir sein", dann ist der Diener reichlich mit göttlicher Autorität und Kraft versehen, und er sollte daher freudig und zufrieden seine Straße ziehen.

 

Aber Mose erhebt noch eine andere Frage; denn das menschliche Herz ist voller Fragen. "Und Mose sprach zu Gott: Siehe, wenn ich zu den Kindern Israel komme und zu ihnen spreche. Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt, und sie zu mir sagen werden: Welches ist sein Name? was soll ich zu ihnen sagen"? (V. 13). Es ist verwunderlich ' wie das menschliche Herz hin und her überlegt und fragt, während es doch Gott Gehorsam ohne Zögern schuldet; aber wunderbar ist die Gnade, die alle Überlegungen und Bedenken geduldig trägt und alle Fragen beantwortet. Ja, jede Frage scheint immer nur einen neuen Zug dieser göttlichen Gnade hervorzubringen.

 

"Da sprach Gott zu Mose: Ich bin, der ich bin. Und er sprach: Also sollst du zu den Kindern Israel sagen: Ich bin" hat mich zu euch ge­sandt" (V. 14). Der Titel, den Gott sich hier beilegt, hat eine wunderbare Bedeutung. Wenn wir in der Heiligen Schrift die verschiedenen Namen aufsuchen, die Gott angenommen hat, so finden wir, daß sie stets in enger Beziehung zu den verschiedenen Bedürfnissen derer standen, mit denen Er in Verbindung trat. Er hat sich unter den bedeutungsvollen Namen geoffenbart: "Jahwe‑Jireh": der HERR wird ersehen (1. Mose 22, 14), Jahwe‑Nissi": der HERR, mein Panier (2. Mose 17, 15), "Jahwe‑Zidkenu": der HERR, unsere Gerechtigkeit (Jer. 23, 6), "Jahwe‑Schalom": der HERR ist Friede (Richt. 6, 24); und in allen diesen gnadenreichen Titeln begegnet Er den Bedürfnissen Seines Vol­kes. Wenn Er sich aber den Titel: Ich bin" beilegt, so schließt dieser alle andern ein. In diesem Titel überreicht der HERR Seinem Volk sozusagen einen Blankoscheck, der über einen beliebig hohen Betrag ausgestellt werden kann. Er nennt sich "Ich bin, und der Glaube darf kühn seine Bedürfnisse neben diesen unaussprechlich kostbaren Namen schreiben. Brauchen wir Leben, Christus sagt: "Ich bin das Leben"; brauchen wir Gerechtigkeit, Er ist unsere Gerechtigkeit; brauchen wir Frieden, Er ist unser Friede; brauchen wir Weisheit, Heilung und Er­lösung, Er ist uns zu allem diesem "geworden" (1. Kor. 1, 30). Wir müssen den ganzen weiten Bereich menschlicher Bedürfnisse kennenler­nen, um von der erstaunlichen Tiefe und Fülle dieses Namens: "Ich bin" eine richtige Vorstellung zu bekommen.

 

Welch eine Gnade, berufen zu sein, in der Gemeinschaft dessen zu leben, der einen solchen Namen trägt! Wir sind in der Wüste, und da begegnen wir Prüfungen, Kümmernissen und Schwierigkeiten; aber so­lange wir das Vorrecht genießen, immer und unter allen Umständen zu dem unsere Zuflucht nehmen zu dürfen, der sich gerade in Verbindung mit unseren Bedürfnissen und unserer Schwachheit in reicher Gnade ge­offenbart hat, solange haben wir keine Ursache, die Wüste zu fürchten. Gott stand im Begriff, Sein Volk durch die sandige Wüste zu führen, als Er Seinen allumfassenden Namen mitteilte; und obwohl der Gläu­bige jetzt, im Besitz des Geistes der Kindschaft, Abba Vater"! sagen kann, so hat er doch auch das Vorrecht, sich der Gemeinschaft mit Gott in all den verschiedenen Offenbarungen zu erfreuen, die Er uns in Sei­ner Güte über sich selbst geschenkt hat. Der Name "Gott" offenbart uns Ihn z. B. wie Er in der Abgeschiedenheit Seines eigenen Wesens wirkt, wie Er Seine ewige Macht und Gottheit in den Werken der Schöpfung entfaltet. "Der HERR, Gott" ist der Titel, den Er in Ver­bindung mit den Menschen annimmt. Seinem Diener Abraham erscheint Er als der "Allmächtige", um ihn in der Gewißheit zu befestigen, daß Er die ihm wegen seiner Nachkommen gegebene Verheißung erfüllen werde. Als "der HERR" endlich gibt Er sich den Kindern Israel kund, indem Er sie aus dem Land der Ägypter befreit und in das Land Kanaan bringt.

 

Das sind also die verschiedenen Arten, in denen Gott ... ehemals zu den Vätern geredet hat in den Propheten" (Hebr. 1, 1); und der Gläu­bige in der heutigen Zeit kann, weil er den Geist der Sohnschaft besitzt, kühn sagen: "Es ist mein Vater, der sich so geoffenbart, der so geredet, so gehandelt hat".

 

Kaum etwas könnte von größerem praktischem Wert sein als eine eingehende Prüfung der erhabenen Titel, die Gott sich in den verschie­denen Zeiten gegeben hat. Sie stehen immer in genauer moralischer Übereinstimmung mit den Umständen, unter denen sie geoffenbart wurden; aber in dem Namen: "Ich bin" findet sich eine Höhe und Tiefe, eine Breite und Länge, die sich weit über die Grenze menschlicher Vor­stellungen hinaus erstreckt.

 

Allerdings dürfen wir nicht aus dem Auge verlieren, daß Er diesen Namen nur in Beziehung zu Seinem Volk annimmt. Er wendet sich nicht an den Pharao unter einem solchen Namen. Wenn Er zu diesem redet, nennt Er sich mit dem achtunggebietenden, majestätischen Titel "Gott der Hebräer"; d. h. Er tritt vor ihn als der Gott, der gerade mit dem Volk verbündet war, das der Pharao unterdrücken wollte. Dies hätte genügen sollen, um den Pharao die entsetzliche Stellung erkennen zu lassen, in der er sich Gott gegenüber befand. Der Titel: "Ich bin" hätte für ein unbeschnittenes Ohr keinen verständlichen Sinn und für ein ungläubiges Herz keine göttliche Wirklichkeit gehabt. Als Gott, ge­offenbart im Fleische, den ungläubigen Juden die Worte zurief: "Ehe Abraham ward, bin ich" (Joh. 8, 58), hoben sie Steine auf, um Ihn zu steinigen. Der wahre Gläubige allein ist imstande, einigermaßen die unermeßliche Kraft und Schönheit des Namens "Ich bin" zu empfinden. Nur er kann mit Freude von seinem hoch gepriesenen Herrn die Worte vernehmen: "Ich bin das Brot des Lebens". "Ich bin das Licht der Wel7 "Ich bin der gute Hirte". "Ich bin die Auferstehung und das Leben". "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben". "Ich bin der wahre Weinstock". "Ich bin das Alpha und das Omega". "Ich bin der glänzen­de Morgenstern" usw. Er kann jeden Namen von göttlicher Würde und Schönheit nehmen und, nachdem er ihn hinter das majestätische "Ich bin" gestellt hat, mit Bewunderung und Anbetung Jesus darin er­blicken.

 

In dem Titel "Ich bin" liegt eine Schönheit und eine Fülle von Kraft, für die die menschliche Sprache keinen Ausdruck hat. Jeder Gläubige kann gerade das darin finden, was seinem persönlichen geistlichen Be­dürfnis völlig entspricht. Für jede einzelne Biegung auf seinem Wüsten­pfad, für jeden einzelnen Abschnitt in der Erfahrung seiner Seele, für jeden einzelnen Punkt in seiner Lage, ja, für alles findet er in diesem Titel eine göttlich befriedigende Lösung; und zwar aus dem einfachen Grund, weil er alle seine Bedürfnisse durch den Glauben nur jenem "Ich bin" gegenüber zu stellen braucht, um dann alles in Jesus zu finden. Es gibt für den Gläubigen, so schwach und gering er sein mag, nichts als Segnung in diesem Namen.

 

Ich kann dieses Kapitel nicht schließen, ohne die Aufmerksamkeit des Lesers noch auf die bemerkenswerten Worte zu lenken, die wir in V. 15 finden: "Und Gott sprach weiter zu Mose: Also sollst du zu den Kindern Israel sagen: Der HERR, der Gott eurer Väter, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs, hat mich zu euch gesandt. Das ist mein Name in Ewigkeit, und das ist mein Gedächtnis von Geschlecht zu Geschlecht". Dieser Ausspruch schließt eine wichtige Wahrheit in sich, die aber leider von vielen Christen völlig unbeachtet bleibt: die Wahr­heit nämlich, daß das Verhältnis Gottes zu Israel ein ewiges ist. Er ist ebenso sehr der Gott Israels heute, wie damals, als Er das Volk im Lande Ägypten besuchte. Er beschäftigt sich heute ebenso gewiß mit ihm, wie damals, wenn auch in einer anderen Weise. Er sagt klar und mit Nachdruck. "Das ist mein Name in Ewigkeit". Er sagt nicht: "Das ist mein Name für eine Zeit, oder für so lange, wie sie das bleiben, was sie sein sollen"; nein, sondern: "Das ist mein Name in Ewigkeit, und das ist mein Gedächtnis von Geschlecht zu Geschlecht". Möge der Leser dies wohl beachten! "Gott hat sein Volk nicht verstoßen, das Er zuvor erkannt hat" (Röm 11, 2). Das Volk Israel, ob ge­horsam, ob ungehorsam, ob vereinigt oder zerstreut, ob den Nationen geoffenbart oder von ihren Blicken verborgen, ist noch immer das Volk Gottes. Sie sind Sein Volk, und Er ist ihr Gott. Die Erklärung im 15. Vers unseres Kapitels liefert dafür den klaren Beweis. Die bekennende Kirche ist nicht berechtigt, ein Verhältnis zu leugnen, dessen "ewige" Fortdauer von Gott bestimmt ausgesprochen ist. Hüten wir uns, die Erklärung abzu­schwächen: "Das ist mein Name in Ewigkeit". Gott hat gesprochen, und Er meint, was Er sagt; und bald wird Er vor allen Nationen der Erde offenbar machen, daß Sein Verhältnis zu Israel alle Wechsel und Um­wälzungen der Zeit überdauert. "Die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind unbereubar" (Röm. 11, 29). "Ich bin" hat erklärt, daß Er in Ewigkeit der Gott Israels sein will; und alle Heiden werden dahin gebracht werden, diese Wahrheit zu erkennen und sich ver ihr in den Staub zu beugen; zugleich werden sie anerkennen müssen, daß alle Vorsehungswege Gottes mit ihnen, sowie alle ihre Geschicke in der einen oder der anderen Weise mit diesem begünstigten und geehrten, wenn auch jetzt gerichteten und zerstreuten Volk verbunden sind. "Als der Höchste den Nationen das Erbe austeilte, als er von einander schied die Menschenkinder, da stellte er fest die Grenzen der Völker nach der Zahl der Kinder Israel. Denn des HERRN Teil ist sein Volk, Jakob die Schnur seines Erbteils" (5. Mose 32, 8. 9).

 

Hat das, was Gott gesagt hat, aufgehört, wahr zu sein? Hat der HERR Sein "Teil" aufgegeben und die "Schnur Seines Erbteils" abgetreten? Ruht der Blick Seiner Liebe nicht mehr auf den zerstreuten Stämmen Israels, die dem menschlichen Auge schon so lange entschwunden sind? Sind die Mauern Jerusalems nicht mehr vor Ihm, oder hat ihr Staub aufgehört, teuer zu sein in Seinen Augen? Um diese Fragen eingehend zu beantworten, müßten wir einen großen Teil des Alten und zahl­reiche Stellen des Neuen Testaments anführen, aber hier ist nicht der Ort, um sorgfältig auf diese Einzelheiten einzugehen. Ich möchte nur noch am Schlug dieses Kapitels allen zurufen, nicht unbekannt zu sein mit diesem Geheimnis: "daß Verstockung Israel zum Teil widerfahren ist, bis daß die Vollzahl der Nationen eingegangen sein wird; und also wird ganz Israel errettet werden« (Röm. 11, 25. 26).

 

Kapitel 4

 

DER DORNBUSCH

 

Wir müssen uns noch deutlicher die Situation am Fuße des Berges Horeb "hinter der Wüste" klarmachen, um dort den Unglauben des Menschen und die grenzenlose Gnade Gottes in auffälliger Weise ans Licht treten zu sehen.

 

"Und Mose antwortete und sprach: Aber siehe, sie werden mir nicht glauben und nicht auf meine Stimme hören; denn sie werden sagen: der HERR ist dir nicht erschienen" (V. 1). Wie schwer ist es, den Unglauben des menschlichen Herzens zu besiegen, und welche Mühe kostet es den Menschen, sein Vertrauen auf Gott zu setzen! Wie zögert er, sich allein auf die Verheißung Gottes hin vorzuwagen! Zu allem ist die Natur bereit, nur dazu nicht. Sie hält das schwächste Rohr, das sichtbar ist, für einen stärkeren Stützpunkt ihres Vertrauens als den unsichtbaren "Fels der Ewigkeiten" (Jes. 26, 4). Sie wendet sich viel lieber an irgend­eine menschliche Hilfsquelle oder zu einem geborstenen Brunnen als daß sie an dem unsichtbaren "Born lebendigen Wassers" verweilt (vergl. Jer. 2, 13; 17, 13).

 

Man sollte annehmen, Mose habe bereits genug gesehen und gehört, um alle seine Befürchtungen fahren zu lassen. Man sollte meinen, daß das verzehrende Feuer in dem unversehrt bleibenden Busch, die herab­lassende Gnade und die großen und herrlichen Titel Gottes, der gött­liche Auftrag und die Gewißheit der Gegenwart Gottes jede Spur von Furcht genommen und ihm Sicherheit verliehen hätten. Aber noch erhebt Mose immer neue Fragen, und Gott läßt sie nicht unbeantwortet. Vielmehr bringt jede weitere Frage neue Gnade zum Vorschein. "Und der HERR sprach zu ihm: Was ist das in deiner Hand? Und er sprach: Ein Stab" (V. 2). Der Herr wollte Mose gerade so gebrauchen, wie er war, und das benutzen, was er in seiner Hand hatte. Derselbe Stab mit dem Mose die Schafe Jethros geweidet hatte, sollte das Werkzeug rein, um sowohl das Israel Gottes zu befreien und das Land Ägypten

zu züchtigen, als auch um dem erkauften Volke Gottes einen Weg durch das Meer zu bahnen und zur Erfrischung der durstigen Scharen Israels in der Wüste Wasser aus dem Felsen hervorströmen zu lassen. Gott be­nutzt schwache Werkzeuge, um Seine mächtigen Absichten zu erfüllen. Ein "Stab", ein "Widderhorn" (Jos. 6, 5), ein "geröstetes Gerstenbrot", ein "irdener Krug" (Richt. 7, 13. 16), die "Schleuder eines Hirten" (1. Sam. 17, 50), alles kann in der Hand Gottes zur Ausführung des Werkes dienen, das Er sich vorgesetzt hat. Der Mensch bildet sich ein, große Ziele seien nur durch große Mittel zu erreichen; aber das ist nicht die Weise Gottes. Er kann einen "Wurm" ebensogut zu Seinem Dienst verwenden wie eine "brennende Sonne" und einen "dürren Ost­wind" (siehe Jona 4).

 

Aber Mose hatte sowohl im Blick auf den Stab, als auch auf die Hand, die ihn führen sollte, noch etwas Wichtiges zu lernen. Er hatte zu lernen, und das Volk mußte überzeugt werden. "Und der HERR sprach: Wirf ihn auf die Erde. Da warf er ihn auf die Erde, und er ward zur Schlange; und Mose floh vor ihr. Und der HERR sprach zu Mose: Strecke deine Hand aus und fasse sie beim Schwanze. Und er streckte seine Hand aus und ergriff sie, und sie wurde zum Stabe in seiner Hand ‑: auf daß sie glauben, daß der HERR dir erschienen ist, der Gott ihrer Väter, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs' (V. 3‑5). Das war ein bedeutungsvolles Zeichen. Der Stab wird zur Schlange, so daß Mose vor ihr flieht; aber auf den Befehl des HERRN ergreift er sie beim Schwanz, und sie wird wieder zum Stab. Was hätte ein besserer Ausdruck von der gegen sich selbst gewendeten Macht Satans sein können? Die Wege Gottes liefern uns in dieser Weise eine Menge treffender Beispiele. Mose selbst war ein solches Beispiel. Die Schlange befindet sich völlig unter der Macht Christi; und wenn sie den Gipfel ihrer schrecklichen Laufbahn erreicht hat, wird sie im Feuersee ihre Stätte finden, um dort in alle Ewigkeit die Früchte ihres Werkes zu ernten. Die "alte Schlange", der "Verkläger", der "Wider­sacher", wird dann für ewig zermalmt sein unter dem Stab des Gesalb­ten Gottes.

 

,Und der HERR sprach weiter zu ihm: Stecke doch deine Hand in dei­nen Busen. Und er steckte seine Hand in seinen Busen; und er zog sie heraus, und siehe, seine Hand war aussätzig wie Schnee. Und er sprach: Tue deine Hand wieder in deinen Busen. Und er tat seine Hand wieder in seinen Busen; und er zog sie heraus aus seinem Busen, und siehe, sie war wieder wie sein Fleisch" (V. 6. 7). Die mit Aussatz bedeckte Hand und ihre Reinigung stellen uns die moralische Wirkung der Sünde und ihre Beseitigung durch das vollkommene Werk Christi vor Augen. Die in den Busen gesteckte reine Hand wird aussätzig; und die wiederum in den Busen gesteckte aussätzige Hand wird rein. Der Aussatz ist das bekannte Bild von der Sünde; und die Sünde wurde durch den ersten Menschen eingeführt und durch den zweiten wegge­nommen. "Denn sintemal durch einen Menschen der Tod kam, so auch durch einen Menschen die Auferstehung der Toten" (1. Kor. 15, 21). Durch den Menschen kam der Fall, durch den Menschen die Erlösung; durch den Menschen kam die Schuld, durch den Menschen die Verge­bung; durch den Menschen kam die Sünde, durch den Menschen die Gerechtigkeit; durch den Menschen kam der Tod in die Welt, durch den Menschen wurde der Tod abgeschafft und Leben, Gerechtigkeit und Herrlichkeit eingeführt. Die Schlange wird also nicht nur für ewig be­siegt und vernichtet, sondern auch jede Spur ihres scheußlichen Werkes wird durch das Sühnopfer dessen ausgerottet und weggewischt werden, der "geoffenbart worden ist, auf daß er die Werke des Teufels ver­nichte" (1. Joh. 3, 8).

 

"Und es wird geschehen, wenn sie selbst diesen zwei Zeichen nicht glauben und nicht auf deine Stimme hören, so sollst du von dem Wasser des Stromes nehmen und es auf das Trockene gießen; und das Wasser, das du aus dem Strome nehmen wirst, es wird zu Blut werden auf dem Trockenen"(V. 9). In diesem ausdrucksvollen und ernsten Bild ent­decken wir die Folge der Weigerung, sich unter das Zeugnis Gottes zu beugen. Dieses Zeichen sollte nur im Fall der Verwerfung der beiden vorhergehenden getan werden; es sollte zunächst ein Zeichen für Israel und dann eine Plage für Ägypten sein (vergl. Kap. 7, 17).

 

Aber Mose ist immer noch nicht zufriedengestellt. "Und Mose sprach zu dem HERRN: Ach Herr! ich bin kein Mann der Rede, weder seit gestern, noch seit vorgestern, noch seitdem du zu deinem Knecht redest; denn ich bin schwer von Mund und schwer von Zunge" (V. lo). Welch eine Feigheit! Aber die unendliche Geduld des HERRN konnte sie ertragen. War denn die Zusicherung Gottes Ich werde mit dir sein0 nicht eine sichere Bürgschaft, daß es Seinem Diener an nichts von allem,

 

was er etwa benötigte, mangeln würde? Wenn er eine beredte Zunge brauchte, was mußte Mose dann tun, angesichts des erhabenen Titels "Ich bin"? Beredsamkeit, Weisheit, Kraft, Energie ‑ alles war in dieser unerschöpflichen Schatzkammer zu haben. "Und der HERR sprach zu ihm: Wer hat dem Menschen den Mund gemacht? Oder wer macht stumm, oder taub, oder sehend, oder blind? Nicht ich, der HERR? Und nun gehe hin, und ich will mit deinem Munde sein und dich lehren, was du reden sollst" (V. 11. 12). Welch eine unvergleichliche Gnade! Eine Gnade, die des großen Gottes würdig ist! Niemand ist wie der Herr, unser Gott, dessen beharrliche Gnade alle unsere Schwierigkeiten besiegt und für alle unsere Bedürfnisse und Schwachheiten genügt. Das Ich, der HERR" sollte für immer die Einwände unserer fleischlichen Herzen zum Schweigen bringen. Aber wie schwer ist es, diese Einwen­dungen niederzuhalten! Immer von neuem stören sie unsern Frieden, und dadurch verunehren wir Gott, der sich in Seiner ganzen Fülle vor unsere Seelen stellt, um uns aus dieser Fülle nach unseren Bedürfnissen schöpfen zu lassen.

 

Es ist gut, uns immer wieder ins Gedächtnis zu rufen, daß, wenn der Herr mit uns ist, gerade unsere Mängel und Gebrechen für Ihn eine Veranlassung werden, Seine Gnade und Seine Geduld zu offenbaren. Hätte Mose daran gedacht, so hätte ihn sein Mangel an Beredsamkeit nicht beunruhigt. Paulus hatte gelernt zu sagen: "Daher will ich am allerliebsten mich vielmehr meiner Schwachheiten rühmen, auf daß die Kraft des Christus über mir wohne. Deshalb habe ich Wohlgefallen an Schwachheiten, an Schmähungen, an Nöten, an Verfolgungen, an Ängsten für Christum; denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark" (2. Kor. 12, 9. 10). Das ist in der Tat die Sprache eines Mannes, der die Schule Christi durchlaufen hatte. Es ist die Erfahrung eines Mannes, der trotz einer unberedten Zunge ruhig geblieben wäre, weil er in der Gnade des Herrn Jesus Christus für jedes Bedürfnis eine Antwort ge­funden hatte.

 

Diese Erkenntnis hätte Mose von seinem Mißtrauen und seiner Furcht­samkeit befreien sollen. Wenn der Herr ihm versichert hatte, daß Er mit seinem Munde sein werde, so hätte er über den Mangel an Beredsamkeit völlig beruhigt sein sollen. Er, der den Mund des Menschen geschaffen hat, konnte, wenn es nötig war, diesem Mund glänzende Beredsamkeit verleihen. Für den Glauben ist das sehr einfach; das zweifelnde Herz aber setzt sein Vertrauen weit lieber auf eine beredte Zunge, als auf den, der sie erschaffen hat. Wir würden das unerklärlich finden, wenn wir nicht wüßten, aus welchen Elementen das natürliche Herz gebildet ist. Dieses Herz kann Gott nicht vertrauen; und daher zeigt sich dieser demütigende Mangel an Vertrauen zu dem lebendigen Gott selbst bei Kindern Gottes, wenn sie sich durch ihre Natur beherrschen lassen. Auch Mose fährt fort, Einwände zu erheben: " Ach, Herr, sende doch ' durch wen du senden willst" (V. 13)! Tatsächlich wies er damit das Vorrecht von sich, der alleinige Gesandte des HERRN für Israel und Ägypten zu sein.

 

Wir wissen alle, daß eine göttlich bewirkte Demut eine unschätzbare Gnade ist. "Seid ... mit Demut fest umhüllt", (1. Petr. 5, 5) ist eine göttliche Vorschrift; und zweifellos ist Demut das geziemendste Kleid, in dem ein Sünder erscheinen kann. Aber die Weigerung, einen von Gott angewiesenen Platz einzunehmen, oder den von Ihm bezeichneten Weg zu gehen, ist alles andere als Demut. Daß Mose durchaus nicht durch wahre Demut geleitet wurde, zeigt uns deutlich der "Zorn des Herrn", der gegen ihn entbrannte. Sein Verhalten war auch nicht nur menschliche Schwachheit. Denn so lange es noch der Ausdruck einer übermäßigen Furchtsamkeit war, hatte, wie tadelnswert sein Verhalten auch sein mochte, die schrankenlose Gnade Gottes Nachsicht mit ihm und begegnete ihm mit erneuten Zusicherungen; als es aber den Cha­rakter des Unglaubens und der Herzensträgheit annahm, da rief es das gerechte Mißfallen des HERRN hervor; und Mose war nun nicht mehr das alleinige Werkzeug im Dienst des Zeugnisses und der Befreiung Israels, sondern er mußte jetzt dieses Vorrecht mit einem anderen teilen.

 

Eine geheuchelte Demut ist sehr verunehrend für Gott und sehr ge­fährlich für uns. Wenn wir uns weigern, eine von Gott angewiesene Stellung einzunehmen, weil wir uns für unbegabt oder untauglich hal­ten, so ist das sicher keine Demut; denn sobald wir meinen könnten, diese Gaben und Fähigkeiten zu besitzen, würden wir uns sicher für berechtigt halten, eine solche Stellung einzunehmen. Wäre Mose z. B. so redegewandt gewesen, wie er es zur Erfüllung seines Dienstes für notwendig hielt, wäre er wohl ohne Zögern dem Ruf Gottes gefolgt. Nun aber entsteht die Frage: Welch ein Maß von Beredsamkeit wäre erforderlich gewesen, um ihn für seinen Dienst zu befähigen? Die Ant­wort ist: Ohne Gott kann das höchste Maß menschlicher Beredsamkeit nicht ausreichen; mit Gott aber wird auch ein schlechter Redner sich als ein tüchtiger Diener bewähren.

 

Das ist eine wichtige Wahrheit für die Praxis. Unglaube ist nicht Demut, sondern offenbarer Hochmut. Er weigert sich, Gott zu glauben, weil er in dem eigenen Ich keine Ursache findet, um zu glauben. Wenn ich wegen irgendeiner Sache in mir selbst dem Zeugnis Gottes nicht glaube, so mache ich Ihn zum Lügner (1. Joh. 5, 10). Wenn Gott Seine Liebe ankündigt, und ich mich zu glauben weigere, weil ich mich dieser Liebe nicht würdig erachte, so mache ich Ihn zum Lügner und offenbare den Hochmut, der in meinem Herzen wohnt. Allein der Gedanke, daß ich irgend etwas außer der Hölle verdient haben könnte, beweist wie unwissend ich bin über meinen eigenen Zustand und über die Forderungen Gottes. Und die Weigerung, den Platz einzunehmen, den mir die Liebe Gottes kraft des vollendeten Sühnopfers Christi anweist, macht Gott zum Lügner und wirft eine Schmach auf das Opfer des Kreuzes. Die Liebe Gottes wirkt freiwillig. Nicht mein Verdienst, sondern mein Elend bat sie hervorgerufen; auch handelt es sich nicht um den Platz, den ich verdiene, sondern um den, welchen Christus verdient. Christus nahm am Kreuz den Platz des Sünders ein, damit der Sünder mit Ihm Seinen Platz in der Herrlichkeit teilen könnte. Christus empfing das, was der Sünder verdiente, damit der Sünder das empfangen kann, was Christus verdient. Das Ich ist daher völlig beiseite gesetzt; und das ist wahre Demut. Niemand kann wirklich demütig sein, bevor er die himm­lische Seite des Kreuzes erreicht hat; dort aber findet er göttliches Leben, göttliche Gerechtigkeit und göttliche Gunst. Dort hat er es für immer aufgegeben, von sich selbst Gutes und Gerechtigkeit zu erwarten und nährt sich von dem Reichtum eines andern. Dort ist er zubereitet, um in den Jubelruf einzustimmen, der alle Ewigkeit hindurch im Himmel erschallen wird: "Nicht uns, HERR, nicht uns, sondern deinem Namen gib Ehre !‑ (Ps. 115, 1).

 

Jedoch würde es uns übel anstehen, noch länger bei den Mängeln und Gebrechen eines so hochgeehrten Dieners wie Mose stehenzubleiben, von dem die Schrift sagt, daß er treu war in seinem ganzen Hause als Diener, zum Zeugnis von dem, was hernach geredet werden sollte (Hebr. 3, 5). Vor allem wäre es verwerflich, dies in einem Geist der Selbstgefälligkeit zu tun, als ob wir unter denselben Umständen anders gehandelt hätten. Eins aber sollten wir nicht vergessen, nämlich die Lehren für uns daraus zu ziehen, die sie uns vorstellen. Wir sollten lernen, uns selbst zu richten, unser bedingungsloses Vertrauen auf Gott zu setzen und unser Ich beiseite zu stellen, damit Gott in uns, durch uns und für uns wirken kann. Das ist das wahre Geheimnis der Kraft.

 

Wir haben bereits angedeutet, daß Mose nun nicht mehr das alleinige Werkzeug des HERRN in diesem herrlichen Werk sein konnte. Doch das war noch nicht alles. Wir lesen: "Da entbrannte der Zorn des HERRN wider Mose, und er sprach: Ist nicht Aaron, der Levit, dein Bruder? Ich weiß, daß er reden kann; und siehe, er geht auch aus, dir entgegen; und sieht er dich, so wird er sich freuen in seinem Herzen. Und du sollst zu ihm reden und die Worte in seinen Mund legen, und ich will mit deinem Munde und mit seinem Munde sein, und will euch lehren, was ihr tun sollt. Und er soll für dich zum Volk reden; und es wird ge­schehen, er wird dir zum Munde sein, und du wirst ihm zum Gott sein. Und diesen Stab sollst du in deine Hand nehmen, mit welchem du die Zeichen tun sollst" (V. 14‑17). Diese Stelle ist eine Fundgrube an praktischen Belehrungen. Wir haben die Befürchtungen und Zweifel gesehen, von denen Mose trotz aller Verheißungen und Zusicherungen der göttlichen Gnade erfüllt war. Und nun, ‑ obwohl an wirklicher Kraft durchaus nichts gewonnen war, obwohl in dem einen Mund nicht mehr Fähigkeit war als in dem andern und Mose nach allem immer noch derjenige blieb, der zu Aaron reden mußte ‑ sehen wir ihn ganz bereit zu gehorchen. Sobald er auf die Mitarbeit eines ebenso schwachen Sterblichen, wie er selbst war, rechnen konnte, wollte er gehen, wäh­rend er dies ablehnte, als ihm wieder und wieder die Versicherung ge­geben wurde, daß der HERR mit ihm sein wolle!

 

Ist dies alles für uns nicht ein deutlicher Spiegel, in dem wir unser eigenes Bild sehen können? Wir sind alle vielmehr geneigt, unser Ver­trauen auf irgend etwas anderes zu setzen, als auf den lebendigen Gott. Gestützt durch einen schwachen Menschen gehen wir mutig vorwärts; aber wir zittern, zögern und zweifeln, wenn wir die Gunst Gottes zu unserer Ermutigung und Seinen mächtigen Arm zu unserer Stütze haben. Das sollte uns tief vor dem Herrn demütigen und uns antreiben, Ihn besser kennen zu lernen, damit wir Ihm immer tiefer vertrauen, bei Ihm allein unsere Quelle finden und mit festerem Schritt unsern Weg gehen können. Freilich ist die Begleitung eines Bruders sehr nütz­lich. "Zwei sind besser daran als einer" (Pred. 4, 9), sei es in der Arbeit, in der Ruhe oder im Kampf. Auch der Herr Jesus sandte Seine jünger "zu zwei und zwei" aus; denn Vereinigung ist besser als Absonderung. Wenn aber unsere persönlichen Beziehungen zu Gott und unsere Er­fahrungen in Seiner Gegenwart uns nicht befähigen, notfalls allein unsern Weg zu gehen, so wird uns die Anwesenheit eines Bruders nur sehr wenig nützen. Ist es nicht bemerkenswert, daß gerade Aaron, dessen Begleitung Mose anscheinend so völlig zufriedenstellte, der Mann war, der nachher das goldene Kalb machte (Kap. 32, 21)? ja, wir werden oft erfahren, daß gerade die Person, deren Begleitung wir zu unserm Erfolg für unerläßlich halten, später eine Quelle tiefen Kummers für unsere Herzen wird. Möchten wir uns dessen immer bewußt sein!

 

Mose willigte also endlich ein zu gehorchen; aber bevor er völlig für sein Werk gerüstet war, hatte er noch eine andere schmerzliche Übung durchzumachen. Gott mußte das Todesurteil über seine Natur schreiben. Mose hatte "hinter der Wüste" viele wichtige Lektionen gelernt; aber er sollte "unterwegs in der Herberge" (V. 24) noch wichtigere lernen. Es ist eine ernste Sache, des Herrn Diener zu sein. Keine gewöhnliche Erziehung wird einen Menschen für diesen Beruf befähigen. Die Natur muß gekreuzigt und in der Stellung des Todes gehalten werden. "Wir selbst aber hatten das Urteil des Todes in uns selbst, auf daß unser Vertrauen nicht auf uns selbst wäre, sondern auf Gott, der die Toten auferweckt" (2. Kor. 1, 9). jeder Diener muß, um in seinem Dienst gesegnet zu sein, etwas von dieser Wahrheit erfahren haben. Auch Mose mußte, bevor er für seinen Dienst befähigt war, in eigener Er­fahrung kennenlernen, was es heißt, das Urteil des Todes in sich zu tragen. Er war im Begriff, dem Pharao die feierliche Botschaft zu bringen: "So spricht der HERR: Mein Sohn, mein erstgeborener, ist Israel; und ich sage zu dir: Laß meinen Sohn ziehen, daß er mir diene! und weigerst du dich, ihn ziehen zu lassen, siehe, so werde ich deinen Sohn, deinen erstgeborenen, töten" (V. 22. 23). Das war die Botschaft Moses an den Pharao, eine Botschaft des Todes und des Gerichts; zu gleicher Zeit hatte er Israel eine Botschaft des Lebens und des Heils zu bringen. jeder aber, der an Gottes Statt von Tod und Gericht von Leben und Errettung reden soll, muß zunächst die Kraft dieser Dinge in seiner eigenen Seele verwirklichen. So war es bei Mose. Wir haben ihn, nicht lange nach seiner Geburt, bildlich inmitten der Todesfluten gesehen; aber das war etwas ganz anderes als persönlich in die Erfah­rung des Todes einzutreten. Daher lesen wir: "Und es geschah auf dem Wege, in der Herberge, da fiel der HERR ihn an und suchte ihn zu töten. Da nahm Zippora einen scharfen Stein und schnitt die Vorhaut ihres Sohnes ab und warf sie an seine Füße und sprach: Fürwahr, du bist mir ein Blutbräutigam! Da ließ er von ihm ab. Damals sprach sie ,vB1utbräutigam", der Beschneidung wegen" (V. 24‑26). Diese Stelle macht uns mit einem Geheimnis aus der Familiengeschichte Moses ver­traut. Offensichtlich war Zippora bis zu diesem Augenblick davor zu­rückgeschreckt, das "Messer" an dem Gegenstand ihrer natürlichen Zuneigung anzuwenden. Sie hatte das Merkmal außer acht gelassen, das jedem Glied Israels aufgeprägt werden sollte. Sie wußte nicht, daß ihre Verbindung mit Mose den Tod für die Natur in sich schloß. Sie bebte vor dem Kreuz zurück. Das war ganz natürlich. Mose aber hatte ihr in dieser Sache nachgegeben und dies erklärt uns die geheimnisvolle Szene in der Herberge. Wenn Zippora sich weigert, ihren Sohn zu be­schneiden, so legt der HERR Seine Hand an ihren Mann; und will Mose die Gefühle seines Weibes schonen, so "sucht der HERR ihn zu töten". Das Todesurteil muß unbedingt auf die Natur geschrieben werden; suchen wir dem auf der einen Seite auszuweichen, so werden wir ihm auf der andern Seite begegnen.

 

Es ist bereits angedeutet worden, daß Zippora ein lehrreiches Bild der Kirche darstellt. Sie war mit Mose vereinigt während der Zeit seiner Verwerfung; und die soeben angeführte Stelle belehrt uns, daß die Kirche berufen ist, Christus als den zu erkennen, mit dem sie "durch Blut" vereinigt ist. Es ist ihr Vorrecht, aus Seinem Kelch zu trinken und mit Seiner Taufe getauft zu werden. Gekreuzigt mit Ihm, muß sie Seinem Tod gleichgestaltet werden, muß ihre Glieder töten, die auf der Erde sind, und das Kreuz täglich auf sich nehmen und Ihm nachfolgen. Ihre Verbindung mit Christus ist auf Blut gegründet; und die Offen­barung der Macht dieser Verbindung schließt unausbleiblich den Tod für die Natur in sich. "Und ihr seid vollendet in ihm, welcher das Haupt jedes Fürstentums und jeder Gewalt ist; in welchem ihr auch beschnitten worden seid mit einer nicht mit Händen geschehenen Beschneidung, in dem Ausziehen des Leibes des Fleisches, in der Beschneidung des Chri­stus, mit ihm begraben in der Taufe, in welcher ihr auch mitauferweckt worden seid durch den Glauben an die wirksame Kraft Gottes, der ihn aus den Toten auferweckt hat" (Kol. 2, 10‑12).

 

Das ist die Lehre von dem Platz, den die Kirche mit Christus einnimmt, eine Lehre voll herrlicher Vorrechte für die Kirche und für jedes ihrer Glieder. Hier finden wir alles. völlige Vergebung der Sünden, göttliche Gerechtigkeit, vollkommene Annahme, ewige Sicherheit, volle Gemein­schaft mit Christus in all Seiner Herrlichkeit. "Ihr seid vollendet in ihm". Das umfaßt alles. Was könnte einem Menschen, der "vollendet' ist, noch hinzugefügt werden? Die Philosophie, die Überlieferung der Menschen, die Elemente der Welt, die Speisen und Getränke, die Feste, Neumonde und Sabbathe, die Gebote und Lehren der Menschen, welche sagen: „Berühre nicht, koste nicht, betaste nicht!", die Tage, Monde, Zeiten und Jahre (siehe Kol. 2), ‑ könnte eines dieser Dinge, oder könnten sie alle zusammengenommen einem Menschen, den Gott als ,vollendet" bezeichnet, noch ein Jota hinzufügen? Man könnte ebenso gut fragen, ob nach den sechs Arbeitstagen, an denen Gott das herrliche Werk der Schöpfung vollendete, der Mensch es hätte unternehmen können, die letzte Hand an das zu legen, was Gott als "sehr gut" be­zeichnete.

 

Auch dürfen wir keineswegs diesen Zustand des Vollendetseins als eine Sache sehen, die der Christ noch erst erreichen muß, an deren Erlangung er beharrlich mitarbeiten muß, und deren Besitz er erst in der Todesstunde oder vor dem Richterstuhl sicher sein kann. Nein, diese Vollkommenheit ist das Teil des schwächsten, des unerfahren­sten und des unwissendsten Kindes Gottes. Der schwächste Heilige ist in dem Wörtchen "ihr" des Apostels mit eingeschlossen. Alle Kinder Gottes sind "vollendet in Christo". Paulus sagt nicht: "Ihr werdet voll­endet werden", oder: "Vielleicht seid ihr es", oder: "Hoffet, betet, daß ihr es werdet"; sondern er erklärt durch den Heiligen Geist völlig be­stimmt und unmißverständlich: "Ihr seid vollendet". Das ist der wahre Ausgangspunkt für den Weg des Christen; wenn daher der Mensch das, was Gott zum Ausgangspunkt bestimmt hat, als Endziel betrachtet, so verdreht er alles.

 

Aber, wird man fragen, haben wir denn keine Sünden, keine Fehler, keine Unvollkommenheiten mehr? Ganz sicher. "Wenn wir sagen, daß wir keine Sünde haben, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns" (1. Joh. 1, 8). Wir haben die Sünde in uns, aber nicht auf uns. Dazu stehen wir vor Gott nicht mehr in dem Ich, sondern in Christus. In Ihm sind wir vollendet. Gott sieht den Gläubigen in Chri­stus, mit Christus und wie Christus; das ist sein unwandelbarer Zu­stand, seine ewige Stellung. Die "Ausziehung des Leibes des Fleisches" ist durch die "Beschneidung des Christus" bewirkt worden (Kol. 2, 11). Der Gläubige ist nicht mehr im Fleische (Röm. 7, 5), obwohl das Fleisch noch in ihm ist. Er ist mit Christus in der Kraft eines neuen und unauf­löslichen Lebens vereinigt; und dieses Leben ist untrennbar mit der göttlichen Gerechtigkeit verbunden, in welcher der Gläubige vor Gott steht. Der Herr Jesus hat alles weggenommen, was gegen den Gläubi­gen war und hat ihn nahe zu Gott gebracht, um ihn derselben Gunst teilhaftig zu machen, die Er selbst genießt. Mit einem Wort, Christus ist unsere Gerechtigkeit (2. Kor. 5, 21). Das ordnet jede Frage, widerlegt jeden Einwand und bringt jeden Zweifel zum Schweigen. "Denn sowohl der, welcher heiligt, als auch die, welche geheiligt werden, sind alle von einem" (Hebr. 2, 11).

 

Die eben genannten Wahrheiten ergeben sich aus dem Bild, das uns in der Verbindung Moses mit Zippora vor Augen gestellt ist. Doch wir nehmen jetzt eine Zeitlang Abschied von der "Wüste", ohne jedoch die dort empfangenen Unterweisungen und Eindrücke zu vergessen, die für jeden Diener Christi und für jeden Gesandten des lebendigen Gottes von so wesentlicher Bedeutung sind. Alle, die in irgendeiner Weise dienen (sei es in der Evangelisation oder in den verschiedenen Dienst­verrichtungen des Hauses Gottes, d. 1. der Kirche oder der Versamm­lung) und in ihrem Dienst gesegnet sein wollen, werden das Bedürfnis fühlen, sich diese Unterweisungen tief einzuprägen, die Mose am Fuß des Berges Horeb und "auf dem Wege, in der Herberge" empfing.

 

Würde man diesen Dingen die Aufmerksamkeit schenken, die sie ver­dienen, so würde man nicht so viele Personen in Dienstverrichtungen sehen, für die sie nicht von Gott berufen sind. Möchte doch jeder, der sich aufmacht, um zu predigen, zu lehren, zu ermahnen oder in irgend­einer Weise zu dienen, ernsthaft untersuchen, ob er dazu von Gott ausgerüstet, belehrt und gesandt ist! Ohne das Wirken Gottes wird sein Werk weder von Gott anerkannt, noch für die Menschen gesegnet sein; und je schneller er sich in diesem Fall zurückzieht, um so besser sowohl für ihn selbst als auch für diejenigen, denen er es zugemutet hatte, ihn anzuhören. Ein von Menschen verordneter oder nur auf eigener Sendung beruhender Dienst ist innerhalb der Kirche Gottes immer fehl am Platze. Wer hier dienen will, muß von Gott ausgerüstet, von Gott belehrt und von Gott gesandt sein.

 

"Und der HERR sprach zu Aaron: Gehe hin, Mose entgegen in die Wüste. Und er ging hin und traf ihn am Berge Gottes und küßte ihn. Und Mose berichtete dem Aaron alle Wort des HERRN, der ihn ge­sandt, und alle die Zeichen, die er ihm geboten hatte" (V. 27. 28). Diese Szene brüderlicher Liebe und Eintracht bildet einen auffallenden Gegensatz zu verschiedenen Auftritten, die später auf ihrer Wanderung durch die Wüste zwischen diesen beiden Männern stattgefunden haben. Vierzig Jahre Wüstenleben können große Veränderungen bei Menschen und Dingen hervorrufen. Doch ist es schön, einen Augenblick bei den ersten Tagen der Laufbahn eines Gläubigen zu verweilen, bevor die ernste Wirklichkeit des Wüstenlebens die herzliche Zuneigung ge­hemmt hat, bevor Betrug, Verführung und Heuchelei das Vertrauen geschwächt und das ganze moralische Sein den Einflüssen einer arg­wöhnischen Neigung preisgegeben haben.

 

Daß solche Resultate oft durch Jahre der Erfahrung hervorgebracht worden sind, ist leider nur zu wahr. Glücklich derjenige, der mit geöff­neten Augen und in klarem Licht erkennt, was die menschliche Natur ist und dennoch seinen Zeitgenossen durch die Kraft jener Gnade die­nen kann, die von dem Herzen Gottes ausgeht. Wer hat je die Tiefen und Ränke des menschlichen Herzens so erkannt, wie Jesus sie er­kannte? "Er kannte alle und bedurfte nicht, daß jemand Zeugnis gebe von dem Menschen; denn er selbst wußte, was in dem Menschen war" ach. 2, 24. 25). Er konnte sich weder dem Menschen anvertrauen, noch seinem Bekenntnis Vertrauen schenken. Und dennoch, wer zeigte je eine solche Fülle von Gnade, wie Er? Wer solche Liebe, solche Zärt­lichkeit, solches Mitleiden, solches Mitgefühl? Mit einem Herzen, das jeden verstand, konnte Er für einen jeden fühlen. Er ließ sich durch Seine vollkommene Erkenntnis der Gottlosigkeit des Menschen nicht fernhalten von dessen Elend. Er ging umher, wohltuend und heilend. Warum? Etwa deshalb, weil Er meinte, daß alle, die sich um Ihn drängten, aufrichtig seien? Nein, sondern weil Gott mit Ihm war (Apg. 10, 38). Er ist unser Vorbild. Laßt uns Ihn nachahmen, wenn wir auch, indem wir es tun, bei jedem Schritt gezwungen sein mögen, unser eigenes Ich mit allen seinen Interessen zu verleugnen.

 

Wenn wir in den Fußspuren des Herrn Jesus wandeln, wenn wir Seine Gesinnung in uns aufnehmen, wenn wir sagen können: "Das Leben ist für mich Christus!‑, dann werden wir bei klarer Erkenntnis darüber, was die Welt ist und was wir von dem Menschen zu erwarten haben, durch die Gnade fähig sein, Christus in unserem Leben zu offenbaren. Die Triebfedern, die uns dann bewegen, und die Inhalte unseres Glau­bens, die uns beleben, sind droben, wo Christus ist, welcher derselbe ist gestern und heute und in Ewigkeit" (Hebr. 13, 8). Hier fand auch der Diener, aus dessen Geschichte wir schon so viele ernste Unterwei­sungen geschöpft haben, Gnade und Kraft, um die mühevollen und wechselnden Szenen des Wüstenlebens durchstehen zu können. Und wir dürfen sicher behaupten, daß Mose am Ende von allem, ungeachtet der vierzigjährigen übungen und Kämpfe, seinen Bruder mit derselben Wärme "auf dem Berge Hor" (4. Mose 20, 25.) umarmen konnte, wie im Anfang, als er ihm am "Berge Gottes" (2. Mose 4, 27) begegnete. Freilich war das Zusammentreffen bei beiden Gelegenheiten sehr ver­schieden. Am "Berge Gottes" begegneten und umarmten sich die beiden Brüder, um dann gemeinschaftlich den Weg ihrer göttlichen Sendung zu betreten. Auf dem "Berge Hor" begegneten sie sich auf Befehl des HERRN ' damit Mose seinem Bruder wegen eines Vergehens, an dem er selbst sich beteiligt hatte, die priesterlichen Kleider ausziehe und ihn zu seinen Vätern versammelt werden sehe. Wie ernst und nahegehend! Die Umstände wechseln; die Menschen können sich voneinander abwenden; aber bei Gott ist keine Veränderung noch ein Schatten von Wechsel (Jak. 1, 17).

 

"Und Mose und Aaron gingen hin, und sie versammelten alle Ältesten der Kinder Israel. Und Aaron redete alle die Worte, welche der HERR zu Mose geredet hatte, und er tat die Zeichen vor den Augen des Vol­kes. Und das Volk glaubte; und als sie hörten, daß der HERR die Kin­der Israel heimgesucht, und daß er ihr Elend gesehen habe, da neigten sie sich und beteten an" (V. 29‑31). Wenn die Hand Gottes zu wirken beginnt, muß jede Schranke fallen. Mose hatte gesagt: "Siehe, sie wer­den mir nicht glauben; aber es handelte sich nicht darum, ob sie ihm, sondern ob sie Gott glauben würden. Wenn jemand befähigt ist, sich selbst als Boten Gottes zu betrachten, kann er wegen der Annahme seiner Botschaft völlig ruhig sein. Diese Gewißheit beeinträchtigt kei­neswegs seine liebevolle Sorgfalt im Blick auf die, an die er sich wendet. Im Gegenteil; sie bewahrt ihn vor jener Unruhe des Geistes, die nur dazu dienen würde, ihn zur Ablegung eines ruhigen, erhabenen und beharrlichen Zeugnisses unfähig zu machen. Der Bote Gottes sollte nie vergessen, wessen Botschaft er bringt. Wurde etwa der Engel Gabriel im geringsten beunruhigt, als Zacharias die Frage an ihn stellte: "Wor­an soll ich dies erkennen?" Nein. Ruhig und würdevoll antwortete er: "Ich bin Gabriel, der vor Gott steht; und ich bin gesandt worden, zu dir zu reden und dir diese gute Botschaft zu verkündigen" (Luk. 1, 18. 19). Der Engel steht vor dem zweifelnden Sterblichen in dem klaren Bewußtsein der Hoheit seiner Botschaft. Es ist, als ob er sagen wollte: "Wie? du zweifelst, obwohl ich ein Bote aus der heiligen Gegen­wart der Majestät des Himmels bin?" Ebenso sollte, in seinem Maß, jeder Bote Gottes vorangehen und in diesem Geist seine Botschaft aus­richten.

 

Kapitel 5 und 6

 

MOSE UND AARON VOR DEM PHARAO

 

Die Wirkung der ersten an den Pharao gerichteten Aufforderung war nicht sehr ermutigend. Die Furcht, die Israeliten zu verlieren, verleitete den König zu größerer Strenge und zu doppelter Wachsamkeit. jede Einschränkung der Macht Satans vermehrt seinen Grimm. Das sehen wir auch hier. Der Feuerofen steht im Begriff, durch den Befreier aus­gelöscht zu werden; aber bevor dies geschieht, lodern die Flammen noch einmal gewaltig und mit zunehmender Heftigkeit empor. Der Teufel läßt nicht ohne weiteres von jemandem ab, der einmal in seinen Händen ist. Er ist der "Starke", dessen "Habe", während er "bewaff­net seinen Hof bewacht, in Frieden ist". Aber, Gott sei gepriesen! Da ist ein "Stärkerer als er", der "seine ganze Waffenrüstung, auf die er vertraute, hinweggenommen" und seine Beute unter die Gegenstände Seiner ewigen Liebe verteilt hat (Luk. 11, 21. 22).

 

,Und danach gingen Mose und Aaron hinein und sprachen zu dem Pharao: So spricht der HERR, der Gott Israels: Laß mein Volk ziehen, daß sie mir ein Fest halten in der Wüste!" (Kap. 5, ‑1). So lautete der Befehl Gottes an den Pharao. Er forderte für das Volk, für Sein Volk, eine völlige Befreiung, damit es Ihm in der Wüste ein Fest feiern sollte. Nur eine völlige Befreiung aus dem Joch der Knechtschaft kann das Herz Gottes hinsichtlich Seiner Auserwählten zufriedenstellen. Löset ihn auf und lasset ihn gehen" (Joh. 11, 44); diese Worte kenn­zeichnen in der Tat die Wege, die Gott mit Seinen Kindern geht, denen Er Seine ewige Liebe zuwendet, auch wenn sie noch in der Sklaverei Satans gehalten werden.

 

Wenn wir die Kinder Israel bei den Ziegelhütten Ägyptens betrachten, So sehen wir den Zustand, in dem sich jeder Nachkomme Adams von Natur aus befindet. Da lagen sie, gebeugt unter das Joch des Feindes und ohne jede Macht, sich selbst zu befreien. Allein die Erwähnung des Wortes Freiheit" veranlaßte den Unterdrücker, seine Gefangenen noch stärker zu ketten und sie mit noch schwereren Bürden zu beladen. Eine Befreiung konnte nur von außen kommen. Aber woher sollte sie kom­men? Wo waren die Mittel, um das Lösegeld zu bezahlen? Wo war die Macht, die ihre Ketten brechen konnte? Und wo war, wenn auch beides vorhanden gewesen wäre, der Wille, sie zu befreien? Wer war bereit, die Mühe ihrer Befreiung auf sich zu nehmen? Es gab für Israel keine Hoffnung, weder von innen, noch von außen. Das Volk konnte einzig und allein nach oben schauen. In Gott war sein Zufluchtsort. In dem HERRN, und in Ihm allein, gab es Rettung für das unterdrückte Volk.

 

Und so ist es immer. "Es ist in keinem anderen das Heil, denn auch kein anderer Name ist unter dem Himmel, der unter den Menschen ge­geben ist, in welchem wir errettet werden müssen" (Apg. 4, 12). Der Sünder befindet sich unter dem Joch eines Gebieters, der ihn mit despo­tischer Gewalt beherrscht. Er ist "unter die Sünde verkauft" (Röm. 7, 14), "gefangen vom Teufel für seinen Willen" (2. Tim. 2, 26), ge­schmiedet in die Ketten der Lüste, der Begierden und Leidenschaften, "kraftlos" (Röm. 5, 6), "keine Hoffnung habend", "ohne Gott" (Eph. 2, 12). Das ist der Zustand des Sünders. Wie könnte er sich nun selbst helfen? Was könnte er tun? Er ist der Sklave eines andern; und alles was er tut ist Sklavenarbeit. Alle seine Gedanken, Worte und Werke sind die Gedanken, Worte und Werke eines Sklaven. Selbst wenn er über sein Elend weint und nach Befreiung seufzt, liefern seine Tränen doch nur den traurigen Beweis seiner Sklaverei. Und sollte er sogar kämpfen, um frei zu werden, so beweist gerade dieser Kampf, wie sehr er auch sein Verlangen nach Freiheit bekunden mag, daß er sich in Knechtschaft befindet.

 

Aber es handelt sich nicht nur um den Zustand des Sünders; seine Natur selbst ist von Grund auf verdorben und der Macht Satans unterworfen. Er benötigt daher nicht nur die Einführung in einen neuen Zustand, eine neue Stellung, sondern er muß auch eine neue Natur erhalten. Natur und Stellung gehören zusammen. Wenn es in der Macht des Sünders stünde, seine Stellung zu verbessern, was nützte es ihm, so­lange seine Natur unheilbar ist? Ein Edelmann kann wohl einen Bettler von der Straße holen und ihn an Kindesstatt annehmen; er kann ihn mit den Reichtümern eines Edelmanns beschenken und ihn in die Stellung eines solchen einführen; aber nie wird er imstande sein, ihm eine die­sem hohen Rang entsprechende Natur zu verleihen. Die Natur des Bettlers würde sich daher in der Stellung eines Edelmanns nicht zu Hause fühlen. Es muß eine Natur vorhanden sein, die der Stellung entspricht; und andererseits eine Stellung, die den Fähigkeiten, Wün­schen und Bestrebungen der Natur angemessen ist.

 

Nun aber belehrt uns das Evangelium der Gnade Gottes, daß der Gläu­bige in eine ganz neue Stellung eingeführt ist und nicht mehr wie vorher als schuldig und verdammungswürdig, sondern als vollkommen und für ewig gerechtfertigt betrachtet wird; ja, die Stellung, in der Gott ihn jetzt sieht, schließt nicht nur eine völlige Vergebung ein, sondern ist so erhaben, daß selbst die unendliche Heiligkeit Gottes nicht den geringsten Flecken mehr entdecken kann. Der Gläubige ist dem früheren Zustand der Schuld völlig entrissen und ewig und bedingungs­los in die neue Stellung einer fleckenlosen Gerechtigkeit versetzt wor­den. Das bedeutet nicht, daß sein alter Zustand veredelt worden wäre. Das war geradezu unmöglich; denn Aas Krumme kann nicht gerade werden" (Pred. 1, 15), und "kann ein Mohr seine Haut wandeln, ein Pardel seine Flecken" (Jer. 13, 23)? Nichts ist der Grundwahrheit des Evangeliums mehr entgegengesetzt, als die Lehre von der allmählichen Veredlung des Zustandes, in dem sich der Sünder befindet. Er ist in einen bestimmten Zustand hineingeboren; und bevor er "von neuem geboren ist, kann er unmöglich einen anderen Zustand erlangen. Er mag versuchen, sich zu veredeln, er mag den Vorsatz fassen, in Zu­kunft besser zu werden, ja, er mag in jeder Beziehung seine Lebensweise ändern; aber trotz allem wird er um keine Haaresbreite aus dem wirk­lichen Zustand eines Sünders heraustreten können. Er mag "religiös" werden und sich allen Vorschriften eines menschlichen Gottesdienstes unterwerfen; aber nichts wird seinen Zustand vor Gott verändern.

 

Genau so ist es mit der "Natur" des Menschen. Wie kann ein Mensch seine Natur verändern? Er kann sie jeden Prozeß durchmachen lassen; er kann versuchen, sie zu bezähmen und einer strengen Zucht zu unter­werfen; aber sie wird bleiben, was sie ist. "Was aus dem Fleische ge­boren ist, ist Fleisch" (Joh. 3, 6). Der Mensch braucht ebenso eine neue Natur wie eine neue Stellung. Wie aber ist die zu erlangen? Antwort: Durch den Glauben an das Zeugnis, das Gott gezeugt hat über Seinen Sohn. "So viele ihn aber aufnahmen, denen gab er das Recht, Kinder Gottes zu werden, denen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus Geblüt, noch aus dem Willen des Fleisches, noch aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind" (Joh. 1, 12. 13). Wir sehen hier, daß alle, die an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes glau­ben, das Vorrecht besitzen, Kinder Gottes zu sein. Sie haben damit eine neue Natur bekommen; sie haben ewiges Leben empfangen. "Wer an den Sohn glaubt, hat ewiges Leben" (Joh. 3, 36). "Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern er ist aus dem Tode in das Leben übergegangen" (Joh. 5, 24). "Dies aber ist das ewige Leben, das sie dich, den allein wahren Gott, und den du gesandt hast, Jesum Christum, erkennen" (Joh. 17, 3). "Und dies ist das Zeug­nis: daß Gott uns ewiges Leben gegeben hat, und dieses Leben ist in seinem Sohne. Wer den Sohn hat, hat das Leben; wer den Sohn Gottes nicht hat, hat das Leben nicht" (1. Joh. 5, 11. 12).

 

Das also ist die deutliche Lehre der Heiligen Schrift bezüglich der wich­tigen Fragen über Stellung und Natur. Aber worauf gründet sich dies alles? In welcher Weise wird der Gläubige in eine Stellung göttlicher Gerechtigkeit eingeführt und der göttlichen Natur teilhaftig gemacht? Dieser große Wechsel beruht einzig und allein auf der Wahrheit, daß "Jesus gestorben und auferstanden ist" (1. Thess. 4, 14). Unser Herr und Heiland kam aus dem Schoß der ewigen Liebe, von dem Thron der Herrlichkeit und aus den Wohnungen des Lichts; Er stieg in Gleichheit des Fleisches der Sünde herab in die Welt der Sünde und des Elends und starb, nachdem Er in allen Handlungen Seines Lebens Gott voll­kommen geoffenbart und verherrlicht hatte, am Kreuz unter dem Ge­wicht aller Übertretungen Seines Volkes; und indem Er dies tat, be­gegnete Er in göttlicher Weise allem, was gegen uns war und gegen uns sein konnte. "Er machte das Gesetz groß und herrlich" (Jes. 4:2, 21), und wurde dann zum Fluch gemacht, indem Er an ein Holz gehängt wurde. jeder Forderung wurde Genüge getan; jeder Feind wurde zum Schweigen gebracht und jedes Hindernis aus dem Weg geräumt. "Güte und Wahrheit sind sich begegnet; Gerechtigkeit und Friede haben sich geküßt" (Ps. 85, 10). Die unendliche Gerechtigkeit Gottes wurde be­friedigt; und nun kann Seine unendliche Liebe in ihrer heilenden und erfrischenden Kraft in das zerbrochene Herz des Sünders ausgegossen werden. Aus der durchstochenen Seite des Gekreuzigten kamen Blut und Wasser heraus, und wir erkennen darin die Versöhnung und die Reinigung, die allen Bedürfnissen eines von Sünde überführten Gewis­sens begegnet. Der Herr Jesus befand sich an unserer Statt am Kreuz.

 

E war unser Stellvertreter. "Er, der Gerechte, litt für die Ungerechten' (l. Petr. 3, 18). "Er wurde für uns zur Sünde gemacht" (2. Kor. 5, 21). Er starb den Tod des Sünders, wurde begraben und nachdem alles voll­bracht war, verließ Er die Stätte des Todes. Daher gibt es von nun an nichts mehr, was gegen den Gläubigen sein könnte. Er ist eins mit Christus und befindet sich in derselben Stellung der Gerechtigkeit wie Er; denn "gleichwie er ist, sind auch wir in dieser Welt" (1. Joh. 4, 17).

 

Das gibt dem Gewissen einen dauernden, gefestigten Frieden. Wenn ich mich nicht mehr in einem Zustand der Strafbarkeit, sondern vielmehr in einem Zustand der Rechtfertigung befinde, wenn Gott mich in Chri­stus und wie Christus sieht, dann ist wirklich ein vollkommener Friede mein Teil. "Da wir nun gerechtfertigt worden sind aus Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus" (Röm. 5, 1). Das Blut des Lammes hat die Strafbarkeit des Gläubigen aufge­hoben, hat seine schwere Schuld ausgelöscht und in der Gegenwart der Heiligkeit, die das Böse nicht sehen kann (Hab. 1, 13), sein Konto voll­kommen ausgeglichen.

 

Jedoch hat der Gläubige nicht nur Frieden mit Gott gefunden, er ist auch ein Kind Gottes geworden, so daß er durch die Kraft des Heiligen Geistes die Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn genießen kann. Das Kreuz Christi muß von zwei Gesichtspunkten aus betrachtet wer­den: zunächst in Seiner Entsprechung der Forderungen Gottes und dann als der Ausdruck der Liebe Gottes. Blicken wir auf unsere Sünden an­gesichts der Forderungen Gottes als Richter, so finden wir, daß das Kreuz diesen Forderungen völlig genügt hat. Gott ist am Kreuz als Richter völlig zufriedengestellt, ja verherrlicht worden. Aber das ist nicht alles. Gott fordert nicht nur, sondern Er liebt auch; und das Kreuz des Herrn Jesus offenbart dem Sünder diese Liebe in einer überzeugen­den Weise, indem es ihn an der Natur Gottes teilhaben läßt und so ihn befähigt, diese Liebe überhaupt zu genießen und mit Gott Gemein­schaft zu haben. "Denn es hat ja Christus einmal für Sünden gelitten, der Gerechte für die Ungerechten, auf daß er uns zu Gott führe" (l. Petr. 3, 18). Wir werden also nicht nur in eine neue Stellung ver­setzt, sondern auch zu einer Person geführt, zu Gott selbst, und be­kommen eine Natur, die fähig ist, ihre Freude in Ihm zu finden. "Wir rühmen uns auch Gottes durch unseren Herrn Jesus Christus, durch welchen wir jetzt die Versöhnung empfangen haben" (Röm. 5, 11).

 

Welche Kraft und welche Schönheit liegt deshalb in den Befreiungs­worten: "Lag mein Volk ziehen, daß sie mir ein Fest halten in der Wüste!" (Kap. 5, 1). "Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich ge­salbt hat, Armen gute Botschaft zu verkündigen; er hat mich gesandt, Gefangenen Befreiung auszurufen und Blinden das Gesicht, Zerschlagene in Freiheit hinzusenden, auszurufen das angenehme Jahr des Herrn­(Luk. 4, 18. 19). Das Evangelium kündigt völlige Befreiung von jedem Joch der Knechtschaft an. Friede und Freiheit sind, wie Gott selbst erklärt, die Gaben, die das Evangelium allen gewährt, die es durch den Glauben aufnehmen.

 

Und beachten wir wohl die Worte: "Daß sie mir ein Fest halten in der Wüste". Sie beweisen, daß die Kinder Israel, wenn sie mit dem Pharao geendigt hatten, mit Gott beginnen sollten. Welch eine Veränderung! Anstatt sich unter den Fronvögten des Pharao abzumühen, sollten sie dem HERRN ein Fest feiern; und hatten sie auch von Ägypten aus eine Wüste zu durchwandern, so durften sie sich doch dort der Gegen­wart Gottes erfreuen, und ‑ der Weg führte nach Kanaan. Die gött­liche Absicht war, daß sie dem HERRN ein Fest in der Wüste halten sollten; und um das zu können, war es nötig, Ägypten zu verlassen.

 

Der Pharao war jedoch durchaus nicht gewillt, dem göttlichen Befehl Gehorsam zu leisten. "Wer ist der HERR", fragt er, "auf dessen Stimme ich hören soll, Israel ziehen zu lassen" (Kap. 5, 2)? Diese Worte sind der Ausdruck seines moralischen Zustandes. Er zeigt Un­kenntnis und Ungehorsam, und diese beiden Dinge gehen gewöhnlich zusammen. Wenn man Gott nicht kennt, so kann man Ihm nicht ge­horchen, denn Gehorsam gründet sich auf Erkenntnis. Eine Seele, die Gott kennt, macht die Erfahrung, daß diese Erkenntnis das ewige Leben ist (Joh. 17, 3). Leben aber ist Kraft; und wenn ich Kraft empfange, so kann ich handeln. Es ist einleuchtend, daß ein Mensch, der kein Leben hat, auch nicht tätig sein kann. Es ist daher unsinnig, einen Menschen aufzufordern, er solle sich eine Fähigkeit erarbeiten, die selbst erst Voraussetzung für jede Aktivität ist. Wie könnte ein kraft­loser Mensch Kraft beweisen?

 

Aber der Pharao war über sich selbst ebenso unwissend wie über Gott. Er wußte nicht, daß er ein unbedeutender Erdenwurm und ausdrücklich zu dem Zweck erweckt war, die Herrlichkeit dessen bekannt zu machen, von dem er sagte, daß er Ihn nicht kenne (2. Mose 9, 16; Röm. 9, 17). "Und sie sprachen: Der Gott der Hebräer ist uns begegnet; laß uns doch drei Tagereisen weit in die Wüste ziehen und dem HERRN, unse­rem Gott, opfern, daß er uns nicht schlage mit der Pest oder mit dem Schwerte. Und der König von Ägypten sprach zu ihnen: Warum, Mose und Aaron, wollt ihr das Volk von seinen Arbeiten losmachen? Gehet an eure Lastarbeiten! ... Schwer laste der Dienst auf den Männern, daß sie damit zu schaffen haben und nicht achten auf Worte des Trugs

(Kap. 5, 3‑9).

Hier zeigen sich die geheimen Motive des menschlichen Herzens und die Unfähigkeit, die Dinge Gottes zu verstehen. Alle göttlichen Rechte und Offenbarungen waren nach dem Urteil des Pharao nichts als "Worte des Trugs". Was wußte er von den "drei Tagereisen in die Wüste"? Was kümmerte ihn ein "Fest des HERRN"? Wie hätte er die Notwen­digkeit einer solchen Reise oder den Sinn eines solchen Festes begreifen können? Unmöglich! Er konnte das Lasttragen und das Ziegelbrennen verstehen, denn diese Dinge gehörten nach seinem Urteil der Wirklich­keit an. Wenn es sich aber um Gott handelte, um Seinen Dienst oder Seine Anbetung, so betrachtete er alles nur als ein Hirngespinst, her­vorgerufen durch jene, die nur eine Ausflucht suchten, um den Be­schwerden des Lebens entrinnen zu können.

 

Nur zu oft hat sich dieselbe Erscheinung bei den Weisen und Großen dieser Welt gezeigt. Sie sind schnell bereit, die göttlichen Zeugnisse als Torheit und Täuschung abzutun. Denken wir z. B. an die Meinung, die sich der "vortreffliche Festus" über die zwischen Paulus und den Juden schwebende Streitfrage gebildet hatte. Er sagte zu dem König Agrippa: "Sie hatten aber etliche Streitfragen wider ihn wegen ihres eigenen Gottesdienstes und wegen eines gewissen Jesus, der gestorben ist von welchem Paulus sagte, er lebe" (Apg. 25, 19). Wie wenig Wußte er, was er sagte! Wie wenig verstand er die Wichtigkeit der Frage, ob Jesus tot sei oder lebe. Er dachte nicht an ihre unermeßliche Tragweite für ihn selbst und seine Freunde Agrippa und Bernice. Jedoch änderte dies nichts an der Sache selbst. Sowohl er als sie wissen jetzt mehr darüber, obwohl sie es in den Tagen ihrer irdischen Herrlichkeit nur als eine alberne Streitfrage betrachteten, die nicht die Beachtung verständiger Menschen verdiente und ausschließlich geeignet war, das gestörte Gehirn von Schwärmern zu beschäftigen. Die große, das Schick­sal jedes Menschen entscheidende Frage, auf der der gegenwärtige und ewige Zustand der Kirche und der Welt beruht und an die sich alle Rat­schlüsse Gottes knüpfen, war nach dem Urteil des Festus nur eitler Aberglaube.

 

Dasselbe finden wir bei dem Pharao. Er wußte nichts von dem "Gott der Hebräer", von dem großen "Ich hin", und daher beurteilte er alles, was Mose und Aaron ihm von einem Gott darzubringenden Opfer ge­sagt hatten, als "Worte des Trugs". Die Dinge Gottes müssen dem unheiligen Geist des Menschen immer nutzlos und töricht erscheinen. Der Name Gottes mag in der Ausdrucksweise einer kalten Form‑Reli­gion seinen Platz finden; aber Gott selbst wird nicht gekannt. Sein kostbarer Name, in dem der Gläubige jeden Wunsch und jedes Bedürf­nis seines Herzens eingeschlossen findet, hat für den Ungläubigen weder Bedeutung noch Kraft noch Wert; und darum wird alles, was mit Gott in Verbindung steht, Seine Worte, Seine Ratschlüsse, Seine Gedanken und Seine Wege als "Worte des Trugs" betrachtet.

 

Aber es wird nicht mehr lange so sein. Der Richterstuhl Christi, der Schrecken der zukünftigen Welt, die Wogen des Feuersees ‑ sie alle werden nicht Worte des Trugs sein. Nein, gewiß nicht; und alle, die durch die Gnade heute schon glauben, daß diese Dinge Wirklichkeiten sind, sollten sie auf die Gewissen derer legen, die wie der Pharao das "Ziegelstreichen" als die einzig beachtenswerte Sache, als das einzig Wesentliche betrachten.

 

Leider leben selbst Christen so oft im Bereich der sichtbaren Dinge, im Bereich der Erde und der Natur, daß sie das bleibende und mächtige Bewußtsein von der Wirklichkeit der göttlichen und himmlischen Dinge verlieren. Was wir brauchen, ist ein ununterbrochenes Leben im Bereich des Glaubens, des Himmels und der "neuen Schöpfung". Dann werden wir die Dinge sehen, wie Gott sie sieht, sie beurteilen, wie Er sie be­urteilt, und unser ganzes Leben und Verhalten wird erhabener, gelasse­ner und von der Erde und den irdischen Dingen vollständiger getrennt sein.

 

Die schmerzlichste Prüfung für Mose entstand jedoch nicht aus dem Urteil, das der Pharao über seine Sendung fällte. Der treue Diener, dessen Herz ungeteilt für Christus ist, muß damit rechnen, von den Menschen dieser Welt ein Schwärmer genannt zu werden. Denn sie be­trachten ihn von einem Gesichtspunkt aus, der kein anderes Urteil von ihnen erwarten läßt. je treuer er seinem himmlischen Meister dient, um so mehr wird er Seinen Fußspuren folgen und Seinem Bild gleichförmig sein; und um so mehr wird er erwarten müssen, von den Söhnen der Erde für "unsinnig" gehalten zu werden. Das Urteil der Welt sollte ihn daher weder enttäuschen noch entmutigen. Eine weit schmerzlichere Sache aber ist es, wenn sein Dienst und Zeugnis von denen übel ge­deutet, mißverstanden, ja, zurückgewiesen wird, an die er sich gerade wendet. In diesem Fall ist er darauf angewiesen, viel in der Nähe Got­tes, in der Verborgenheit Seiner Gedanken und in der Macht Seiner Gemeinschaft zu sein, um in den Schwierigkeiten seines Dienstes auf­rechterhalten zu bleiben. Wenn ein Diener in solchen Umständen rächt überzeugt ist, von oben beauftragt zu sein, und er sich nicht der Ge­genwart Gottes bewußt ist, so ist ein Unterliegen die unausbleibliche Folge.

 

Wäre Mose nicht in dieser Weise aufrechterhalten worden, so wäre ihm der Mut völlig gesunken, als der zunehmende Druck der Macht des Pharao die Vorsteher der Kinder Israels zu den entmutigenden Worten bewog: "Der HERR sehe auf euch und richte, daß ihr unseren Geruch stinkend gemacht habt vor dem Pharao und vor seinen Knechten, so daß ihr ihnen das Schwert in die Hand gegeben habt, uns zu töten" (Kap. 5, 21). Diese Worte klangen trübe genug, und sie trafen das Herz Moses so sehr, daß er sich zum Herrn wandte und sagte: "Herr, warum hast du so übel an diesem Volke getan? Warum doch hast du mich gesandt? Denn seitdem ich zum Pharao hineingegangen bin, um in deinem Namen zu reden, hat er diesem Volk übel getan, und du hast dein Volk durchaus nicht errettet" (Kap. 5, 22. 23). Doch wie die dunkelste Stunde der Nacht oft der Morgendämmerung unmittelbar vorausgeht, so war auch hier, gerade in dem Augenblick, als die Be­freiung so nahe schien, die Lage am aussichtslosesten. Genauso wird es in der Geschichte Israels in den letzten Tagen sein. Die Stunde der tiefsten Finsternis und der schrecklichen Angst wird dem Aufgang der "Sonne der Gerechtigkeit" vorausgehen, die "mit Heilung in ihren Flügeln" hinter den Wolken hervorstrahlen wird, um den "Schaden der Töchter des Volkes Gottes‑ zu hellen (Mal. 4, 2).

 

Man könnte sich im Blick auf die oben angeführte Stelle fragen, ob und inwieweit das von Mose ausgesprochene "Warum" ein Zeichen echten Glaubens oder eines gebrochenen Willens war. Doch wie dem auch sein mag, nie tadelt der Herr einen Einwand, der durch den harten Druck des Augenblicks hervorgerufen wird. Er antwortete Mose in bewundernswerter Güte: "Nun sollst du sehen, was ich dem Pharao tun werde; denn durch eine starke Hand gezwungen soll er sie ziehen las­sen, und durch eine starke Hand gezwungen soll er sie aus seinem Lande wegtreiben" (Kap. 6, 1). Diese Antwort zeigt eine besondere Gnade. Anstatt es zu rügen, daß Mose es sich herausnimmt, die unerforschli­chen Wege des "Ich bin" in Zweifel zu ziehen, sucht Gott vielmehr Seinen erschöpften Diener dadurch zu ermutigen, daß Er ihm Seine Absichten enthüllt. Diese Handlungsweise war Gott, dem Geber jeder guten und vollkommenen Gabe, angemessen. "Denn er kennt unser Gebilde, ist eingedenk, daß wir Staub sind", Er, dessen Güte von Ewig­keit zu Ewigkeit ist über die, welche ihn fürchten (vergl. Ps. 103, 14. 17).

 

jedoch möchte Gott das Herz dahin führen, daß es nicht nur in Seinen Handlungen, sondern in Ihm selbst, in Seinem Namen und Charakter, Trost und Freude findet; und darin gibt es in der Tat eine vollkomme­ne, ewige Glückseligkeit. Wenn das Herz Gott selbst als seinen Zu­fluchtsort kennt, wenn es sich in den "starken Turm", den Sein Name darstellt, zurückziehen und im Wesen Gottes eine vollkommene Ant­wort auf alle seine Bedürfnisse finden kann, dann steht es wirklich hoch über dem Bereich alles Geschaffenen; dann kann es sich von allem abwenden, was die Erde Schönes verspricht, und erkennt die Anma­ßung des Menschen in ihrem wahren Wert. Ein Christ, der Gott aus Erfahrung kennt, kann nicht nur im Blick auf die Erde sagen: "Alles ist Eitelkeit!", sondern kann auch zu Gott emporschauen und ausrufen: "Alle meine Quellen sind in dir" (PS. 87, 7)!

 

"Und Gott redete zu Mose und sprach zu ihm: Ich bin der HERR. Und ich bin Abraham, Isaak und Jakob erschienen als Gott, der Allmächtige; aber mit meinem Namen HERR habe ich mich ihnen nicht kundge­geben. Und auch habe ich meinen Bund mit ihnen aufgerichtet, ihnen das Land Kanaan zu geben, das Land ihrer Fremdlingschaft, in welchem sie als Fremdlinge geweilt haben. Und auch habe ich das Wehklagen der Kinder Israel gehört, welche die Ägypter zum Dienste anhalten, und habe meines Bundes gedacht" (Kap. 6, 2‑5). "Der HERR" ist der Titel, den Gott in Verbindung mit Seinem Gnadenbund und als Befreier Seines Volkes annimmt. Er stellt sich darin als die unversiegbare Quelle der erlösenden Liebe vor, indem Er Seine Ratschlüsse bestätigt, Seine Verheißungen erfüllt und Sein auserwähltes Volk von jedem Feind und jedem Übel erlöst. Es war das Vorrecht Israels, stets unter dem Schutz dieses bedeutungsvollen Titels zu wohnen, eines Titels, .‑. sich Gott offenbart, wie Er für Seine eigene Herrlichkeit wirkt und sich Seines unterdrückten Volkes annimmt, um in ihm diese Herrlichkeit zu offenbaren (vergl. Jes. 43, 11. 12; 2. Mose 15, 21).

 

,Darum sprich zu den Kindern Israel: Ich bin der HERR, und ich werde euch herausführen unter den Lastarbeiten der Ägypter hinweg, und werde euch erretten aus ihrem Dienste, und euch erlösen mit ausge­strecktem Arm und durch große Gerichte. Und ich will euch annehmen mir zum Volke und will euer Gott sein; und ihr sollt erkennen, daß ich der HERR, euer Gott, bin, der euch herausführt unter den Lastarbeiten der Ägypter hinweg. Und ich werde euch in das Land bringen, welches ,dem Abraham, Isaak und Jakob zu geben ich meine Hand erhoben habe, und werde es euch zum Besitztum geben, ich, der HERR" (Kap. 6, 6‑8). Hier offenbart Gott den Seinigen Seine Gnade, daß Er in ihnen, für sie und mit ihnen zur Entfaltung Seiner eigenen Herrlichkeit wirken wollte. Wie schwach und elend sie auch sein mochten, Er war gekommen, um Seine Herrlichkeit zu zeigen, Seine Gnade zu offenbaren und in ihrer völligen Befreiung ein Beispiel Seiner Macht zu geben. Seine Herrlich­keit und ihre Erlösung waren untrennbar miteinander verbunden. Alles dieses wurde später in ihre Erinnerung zurückgerufen, wie wir in 5. Mose 7, 7. 8 lesen: "Nicht weil euer mehr wären als aller Völker, hat der HERR sich euch zugeneigt und euch erwählt; denn ihr seid das geringste unter allen Völkern; sondern wegen des HERRN Liebe zu euch, und weil er den Eid hielt, den er euren Vätern geschworen, hat der HERR euch mit starker Hand herausgeführt und dich erlöst aus dem Hause der Knechtschaft, aus der Hand des Pharao, des Königs von Ägypten.

 

Nichts ist mehr geeignet, ein zweifelndes Herz auf einen sicheren Boden ZU Stellen, als das Bewußtsein, daß Gott sich unser angenommen hat, gerade so wie wir sind und in der völligen Erkenntnis dessen, was wir sind, und daß Er niemals irgendeine neue Entdeckung in uns machen kann, die den Charakter oder das Maß Seiner Liebe zu uns verändern könnte. "Da er die Seinigen, die in der Welt waren, geliebt hatte, liebte ,er sie bis ans Ende (Joh. 13, 1). Seine Liebe ist unveränderlich; wen Er liebt und wie Er liebt ‑ Er liebt bis ans Ende. Das ist ein unaus­sprechlicher Trost. Gott kannte uns durch und durch. Als Er Seine Liebe zu uns in der Hingabe Seines Sohnes offenbarte, da war Ihm das Aller­schlechteste von uns bekannt. Er wußte, was notwendig war, und Er traf Vorsorge dafür. Er kannte unsere Schuld, und Er beglich sie. Er wußte, was getan werden mußte, und Er vollbrachte es. Seinen eigenen Anforderungen mußte entsprochen werden, und Er entsprach ihnen. Alles ist Sein eigenes Werk. Darum hören wir Ihn, wie in der oben angeführte Stelle, zu Israel sagen: "Ich werde euch herausführen" ‑

 

,ich werde euch bringen" ‑ "ich werde euch annehmen" ‑ "ich werde euch geben" ‑ "ich bin der HERR". Das alles wollte Er tun, und zwar aufgrund dessen, was Er war. Solange diese große Wahrheit nicht be­griffen, und solange sie nicht in der Kraft des Heiligen Geistes in der Seele aufgenommen worden ist, kann von keinem dauernden Frieden die Rede sein. Weder kann das Herz glücklich, noch das Gewissen ruhig sein, bevor man weiß und glaubt, daß alle göttlichen Forderungen ihre göttliche Befriedigung gefunden haben.

 

Der Schluß unseres Kapitels enthält ein Verzeichnis der Häupter der Vaterhäuser Israels. Es ist interessant, hier zu sehen, wie Gott die Zählung derer vornimmt, die, obwohl noch in der Gewalt des Feindes, Sein Eigentum waren. Israel war das Volk Gottes, und Gott zählt hier diejenigen auf, auf die Er ein unumschränktes Recht besaß. Welch eine Gnade, daß Gott Interesse an denen hatte, die sich in der tiefen Er­niedrigung der ägyptischen Knechtschaft befanden! Er, der die Welten gemacht hat, und der von unzähligen Heerscharen nicht gefallener Engel, den Tätern seines Wohlgefallens" (Ps. 103, 21), umgeben ist, kommt herab, um sich einer Anzahl von Sklaven anzunehmen, mit denen Er in unbegreiflicher Herablassung Seinen Namen verbinden will. Inmitten der Ziegelhütten Ägyptens sieht Er ein unter der Geißel der Fronvögte seufzendes Volk und spricht die denkwürdigen Worte: "Laß mein Volk ziehen!", und dann beginnt Er die Zählung dieses Volkes, als wollte Er sagen: "Diese sind mein; laß mich sehen, wie viele es sind, damit niemand von ihnen zurückbleibe". "Er hebt aus dem Staube empor den Geringen, aus dem Kote erhöht er den Armen, um sie sitzen zu lassen bei den Edlen; und den Thron der Ehre gibt er ihnen als Erbteil" (1. Sam. 2, 8).

 

Kapitel 7‑11

 

DIE PLAGEN

 

Diese fünf Kapitel bilden einen besonderen Abschnitt des 2. Buches Mose, dessen Inhalt nach drei verschiedenen Themen eingeteilt werden kann; wir finden darin

 

1. die zehn Gerichte Gottes,

2. den Widerstand des Jannes und Jambres" und

3. die vier Einwendungen des Pharao.

 

Ganz Ägypten wurde unter den aufeinanderfolgenden Schlägen der Rute Gottes zum Zittern gebracht. Alle, von dem Fürsten auf dem Thron bis herab zu dem geringsten Diener, mußten die Schwere dieser Ge­richte fühlen. "Er sandte Mose, seinen Knecht, Aaron, den er auser­wählt hatte. Sie taten unter ihnen seine Zeichen, und Wunder im Lande Hams. Er sandte Finsternis und machte finster; und sie waren nicht widerspenstig gegen seine Worte. Er verwandelte ihre Wasser in Blut und ließ sterben ihre Fische. Es wimmelte ihr Land von Fröschen, in den Gemächern ihrer Könige. Er sprach, und es kamen Hundsfliegen, Stechmücken in alle ihre Grenzen. Er gab ihnen Hagel als Regen, flam­mendes Feuer in ihrem Lande; und er schlug ihre Weinstöcke und Feigenbäume und zerbrach die Bäume ihres Landes. Er sprach, und es kamen Heuschrecken und Grillen ohne Zahl. Und sie fraßen alles Kraut in ihrem Lande und fraßen die Frucht ihres Bodens. Und er schlug alle Erstgeburt in ihrem Lande, die Erstlinge all ihrer Kraft" (Ps. 105, 26‑36).

 

Der Psalmist entwirft hier in gedrängter Kürze ein Bild von den schrecklichen Plagen, die wegen der Herzenshärtigkeit des Pharao über sein Land und Volk gebracht wurden. Der hochmütige Fürst hatte sich erkühnt, dem unumschränkten Willen und den Wegen des höchsten Gottes zu widerstehen, und als gerechte Folge traf ihn das Gericht der Verblendung und Verhärtung seines Herzens. "Und der HERR ver­härtete das Herz des Pharao, und er hörte nicht auf sie, so wie der HERR zu Mose geredet hatte. Und der HERR sprach zu Mose: Mache dich des Morgens früh auf und tritt vor den Pharao und sprich zu ihm. So spricht der HERR, der Gott der Hebräer: Laß mein Volk ziehen, daß sie mir dienen! Denn dieses Mal will ich alle meine Plagen in dein Herz senden, und über deine Knechte und über dein Volk, auf daß du wissest, daß niemand ist wie ich auf der ganzen Erde. Denn jetzt hätte ich meine Hand ausgestreckt, und hätte dich und dein Volk mit der Pest geschla­gen, und du wärest vertilgt worden von der Erde; aber eben deswegen habe ich dich bestehen lassen, um dir meine Kraft zu zeigen, und damit man meinen Namen verkündige auf der ganzen Erde" (Kap. 9, 12‑16).

 

Bei der Betrachtung des Pharao und seiner Handlungen wird man un­willkürlich an die ergreifenden Szenen des Buches der Offenbarung erinnert, in denen wir den letzten stolzen Widersacher des Volkes Gottes die sieben Schalen des Zornes des Allmächtigen auf sich und sein Königreich herabziehen sehen. Gott hat nach Seinem Vorsatz Israel den Vorrang auf der Erde eingeräumt; und daher muß jeder, der sich diesem Vorsatz in den Weg zu stellen wagt, beiseite geschafft wer­den. Die göttliche Gnade muß einen Gegenstand haben, dem sie sich zuwenden kann; und wenn sich irgend jemand erkühnt, sich dieser Gnade zu widersetzen, so wird er aus dem Wege geräumt ‑ sei es Ägypten oder Babylon, oder das "Tier, welches war, und nicht ist, und sein wird" (Offbg. 17, 8). Durch Seine Macht sorgt Gott dafür, daß Seine Gnade nicht behindert wird; und eine ewige Strafe wird alle treffen, die sich ihr in den Weg stellen. Sie werden in alle Ewigkeit die Frucht ihrer Empörung gegen "den HERRN, den Gott der Hebräer tragen müssen. Er hat zu Seinem Volk gesagt: "Keiner Waffe, die wider dich bereitet wird, soll es gelingen" (Jes. 54, 17).

 

So wurde auch, als der Pharao hartnäckig fortfuhr, das Volk Gottes mit eiserner Hand zurückzuhalten, der göttliche Zorn über ihn ausge­gossen, und ganz Ägypten wurde in Finsternis gehüllt und mit Krank­heiten und Verheerungen heimgesucht. Ebenso wird es einst sein, wenn der letzte große Widersacher, bekleidet mit satanischer Macht, aus dem Abgrund heraufsteigen wird, um die Auserwählten Gottes zu vernich­ten. Sein Thron wird gestürzt, sein Königreich durch die sieben letzten Plagen verwüstet und er selbst schließlich nicht in das Rote Meer, son­dern in den "Feuer‑ und Schwefelsee geworfen werden (vergl. Offbg. 12, 9; 20, 10).

 

Nicht ein Jota von dem, was Gott Seinen Knechten Abraham, Isaak und Jakob verheißen hat, wird unerfüllt bleiben. Gott wird alles vollbringen. Trotz allem, was dagegen geredet und getan worden sein mag, wird Er sich Seiner Verheißungen erinnern und sie erfüllen. Alle Seine Verheißungen sind Ja und Amen in Christo Jesu (2. Kor. :t, 20). Fürsten­geschlechter sind erstanden und haben in der Geschichte ihre Rollen gespielt; Throne sind auf den Ruinen der alten Herrlichkeit Jerusalems aufgerichtet worden; Reiche haben eine Zeitlang geblüht und sind wieder verfallen; ehrgeizige Machthaber haben um den Besitz des "Landes der Verheißung" gekämpft; aber trotz all dieser Erscheinungen hat der HERR in bezug auf Jerusalem gesagt: "Das Land soll nicht für immer verkauft werden, denn mein ist das Land" (3. Mose 25, 23). Deshalb wird letzten Endes niemand als der HERR selbst das Land be­sitzen und es den Nachkommen Abrahams zum Erbteil geben. Eine einzige klare Stelle der Heiligen Schrift genügt, um uns bezüglich dieser oder jeder anderen Frage Gewißheit zu geben. Das Land Kanaan ist für den Samen Abrahams, und der Same Abrahams für das Land Kanaan; und niemals kann eine irdische oder höllische Macht diese gött­liche Ordnung umstürzen. Der ewige Gott hat Sein Wort gegeben, und das Blut des ewigen Bundes ist zur Bestätigung dieses Wortes geflossen. Wer also könnte es ungültig machen? "Der Himmel und die Erde wer­den vergehen, meine Worte aber sollen nicht vergehen" (Matth. 24, 35). Wahrlich, "keiner ist wie der Gott Jeschuruns, der auf den Himmeln einherfährt zu deiner Hilfe, und in seiner Hoheit auf den Wolken. Deine Wohnung ist der Gott der Urzeit, und unter dir sind ewige Arme; und er vertreibt vor dir den Feind und spricht: Vertilge! Und Israel wohnt sicher, abgesondert der Quell Jakobs, in einem Lande von Korn und Most; und sein Himmel träufelt Tau. Glückselig bist du, Israel! Wer ist wie du, ein Volk, gerettet durch den HERRN, den Schild deiner Hilfe, und der das Schwert deiner Hoheit ist? Und es werden dir schmeicheln deine Feinde, und du, du wirst einherschreiten auf ihren Höhen" (5. Mose 33, 26‑29).

 

Wir kommen jetzt zu dem zweiten Punkt, dem Widerstand der ägypti­schen Zauberer "Jannes und Jambres". Wir würden die Namen dieser alten Widersacher der Wahrheit Gottes nicht kennen, wenn der Heilige Geist sie uns nicht Überliefert hätte, und zwar in Verbindung mit den "schweren Zeiten", vor denen der Apostel Paulus sein Kind Timotheus warnt. Es ist wichtig, ein klares Verständnis über die wahre Natur des Widerstandes zu haben, den diese Zauberer Mose entgegensetzten; und um den Ernst dieser Sache klarzumachen, ist es nützlich, diese Stelle aus dem zweiten Timotheusbrief im ganzen Wortlaut zu zitieren:

 

"Dieses aber wisse, daß in den letzten Tagen schwere Zeiten da sein werden; denn die Menschen werden eigenliebig sein, geldliebend, prahlerisch, hochmütig, Lästerer, den Eltern ungehorsam, undankbar, heillos, ohne natürliche Liebe, unversöhnlich, Verleumder, unenthalt­sam, grausam, das Gute nicht liebend, Verräter, verwegen, aufgeblasen, mehr das Vergnügen liebend als Gott, die eine Form der Gottseligkeit haben, ihre Kraft aber verleugnen; und von diesen wende dich weg! Denn aus diesen sind, die sich in die Häuser schleichen und Weiblein gefangen nehmen, welche mit Sünden beladen, von mancherlei Lüsten getrieben werden, die immerdar lernen und niemals zur Erkenntnis der Wahrheit kommen können. Gleicherweise aber wie Jannes und Jambres Mose widerstanden, also widerstehen auch diese der Wahrheit, Men­schen, verderbt in der Gesinnung, unbewährt hinsichtlich des Glaubens. Sie werden aber nicht weiter fortschreiten, denn ihr Unverstand wird allen offenbar werden, wie auch der von jenen es wurde" (2. Tim. 311‑9).

 

Es ist ernst und beachtenswert, auf welche Weise Jannes und Jambres dem Mose widerstanden: Sie versuchten alles, was er tat, so weit es ihnen möglich war, nachzuahmen. Wir finden nicht, daß sie seine Hand­lungen einer falschen oder bösen Macht zuschrieben; sondern sie be­mühten sich, deren Wirkung auf das Gewissen dadurch zu vereiteln, daß sie dasselbe taten. Was Mose tat, konnten auch sie tun, so daß schließlich zwischen beiden kein großer Unterschied bestand. Ein Wun­der ist ein Wunder. Wenn Mose Wunder tat, um Israel aus Ägypten herauszuführen, so konnten auch sie Wunder tun, um es im Lande zurückzuhalten. Wo also war der Unterschied?

 

Wir erkennen daraus, daß der stärkste satanische Widerstand gegen das Zeugnis Gottes in der Welt von denen ausgeübt wird, die die Wirkungen der Wahrheit nachahmen und nur eine "Form der Gott­seligkeit haben, ihre Kraft aber verleugnen" (2. Tim. 3, 5). Leute dieser Art können dasselbe tun, dieselben Gewohnheiten und Formen annehmen, dieselbe Sprache führen und dieselben Ansichten bekennen wie andere. Wenn der Christ, gedrängt durch die Liebe Christi, den Hungrigen speist, den Nackten bekleidet, den Kranken besucht, gute Schriften und Traktate verbreitet, das Evangelium predigt, betet und Loblieder singt, so sind das alles Dinge, die auch der Formalist zu tun vermag; und gerade das ist der besondere Charakter des Widerstandes gegen die Wahrheit "in den letzten Tagen" ‑ es ist der Geist des "Jannes und Jambres". Wie notwendig ist es, dies klar zu verstehen! Wie wichtig, sich daran zu erinnern, daß "gleicherweise wie Jannes und Jambres Mose widerstanden, also auch diese" eigenliebigen, die Welt suchenden und dem Vergnügen nachjagenden Bekenner "der Wahrheit widerstehen"! Ohne "eine Form der Gottseligkeit" möchten sie nicht sein; aber indem sie, weil das einmal so üblich ist, die "Form" anneh­men, hassen sie die "Kraft", weil diese stets Selbstverleugnung be­inhaltet. Die "Kraft der Gottseligkeit" schließt die Anerkennung der For­derungen Gottes und als notwendige Folge die Verwirklichung dieser Dinge in Gesinnung und Wandel ein; der Formalist aber kennt nichts davon. Die "Kraft" der Gottseligkeit kann niemals auch nur mit einem einzigen der oben erwähnten Charakterzüge im Einklang stehen; die "Form" aber verdeckt sie nur und läßt ihnen freien Lauf; und das kommt dem natürlichen Menschen sehr entgegen. Er will nämlich nicht, daß seine Lüste und Vergnügungen eingeschränkt, seine Leidenschaften und Neigungen beherrscht werden und sein Herz gereinigt wird; er will nur gerade soweit religiös sein, um aus der gegenwärtigen und zukünf­tigen Welt den besten Vorteil ziehen zu können. Er weiß nichts von einem Aufgeben der gegenwärtigen Welt um der zukünftigen willen.

 

Wenn wir die Formen des Widerstandes Satans gegen die Wahrheit Gottes betrachten, so finden wir, daß es von jeher seine Taktik ge­wesen ist, der Wahrheit zunächst durch offene Gewalt zu widerstehen und ‑ wenn er damit keinen Erfolg hatte ‑ sie durch eine Nachäffung zu verderben. So suchte er auch hier zuerst Mose zu töten (Kap. 2, 15) und dann, als er diesen Vorsatz nicht ausführen konnte, seine Werke nachzuahmen.

 

Dieselbe Erscheinung zeigt sich bei der Wahrheit, die der Kirche Gottes anvertraut ist. Die ersten Anstrengungen Satans offenbarten sich in Verbindung mit der Wut der Hohenpriester und Ältesten des Volkes, in Verbindung mit dem Richterstuhl, dem Gefängnis und dem Schwert. Aber in dem Zitat aus 2. Tim. 3 wird eine solche Tätigkeit nicht er­

 

wähnt. An der Stelle offener Gewalt war nun das viel raffiniertere und gefährlichere Instrument einer kraftlosen Form, eines leeren Bekennt­nisses und einer menschlichen Ersatzreligion getreten. Seine Waffe war nicht mehr das Schwert der Verfolgung, sondern ein religiöses Bekennt­nis. Was er im Anfang bekämpfte und verfolgte, das verfälschte und bekannte er nun; und durch diese List errang er für die Gegenwart die betrüblichsten Vorteile. Die übelsten Formen sittlichen Verfalls, die von Jahrhundert zu Jahrhundert die Geschichte der Menschheit ver­unehrt haben, sind nicht nur in finsterem Heidentum zu finden, wo man sie naturgemäß erwarten könnte, sondern ‑ hübsch geordnet ‑unter dem Gewand eines kalten und kraftlosen Bekenntnisses. Dies ist eins der größten Meisterstücke Satans.

 

Daß der Mensch als ein gefallenes Geschöpf "eigenliebig, geldliebend, prahlerisch, hochmütig" usw. ist, befremdet uns nicht; aber daß er diese Eigenschaften unter einer "Form der Gottseligkeit" verbirgt, das kennzeichnet die besondere Energie Satans in seinem Widerstand gegen die Wahrheit "in den letzten Tagen". Daß der Mensch sich nicht scheut, jene Laster, Begierden und Leidenschaften auszuüben, welche die un­ausbleiblichen Folgen seiner Entfernung von der Quelle der göttlichen Heiligkeit und Reinheit sind, wundert uns nicht, denn bis ans Ende seiner Geschichte wird er seine Natur nicht verändern können. Daß er aber den heiligen Namen des Herrn Jesus mit der Gottlosigkeit und Bosheit des Menschen verbindet, daß er heilige Grundsätze mit ruch­losen Sitten vereinigt, daß er endlich die im ersten Kapitel des Römer­briefes geschilderten Charakterzüge heidnischen Verderbens mit einer "Form der Gottseligkeit" in Verbindung bringt ‑ das sind in der Tat die Kennzeichen der "letzten Tage", der Widerstand des "Jannes und Jambres".

 

Es gab allerdings nur drei Dinge, die die ägyptischen Zauberer den Dienern des lebendigen und wahren Gottes nachmachen konnten: sie verwandelten ihre Stäbe in Schlangen (Kap. 7, 12), sie verwandelten das Wasser in Blut (Kap. 7, 22), und sie ließen Frösche über das Land kommen (Kap. 8, 7). Das vierte Wunder aber, das die Nichtigkeit der Natur zeigte und zugleich Leben hervorbrachte, versetzte sie in Be­stürzung, und sie riefen: "Das ist Gottes Finger"' (Kap. 8, 19). Ebenso wird es bei denen sein, die "in den letzten Tagen", der Wahrheit wider­stehen. Alles, was sie tun, geschieht infolge der unmittelbaren Einwir­kung Satans und liegt innerhalb der Grenzen seiner Macht.

 

Die drei Dinge, die "Jannes und Jambres" nachmachen konnten, waren durch satanische Macht, durch Tod und Unreinheit gekennzeichnet; es handelte sich um Schlangen, um Blut und Frösche. So "widerstanden sie Mose", und "also widerstehen auch diese der Wahrheit" und verhin­dern ihre moralische Wirkung auf das Gewissen. Nichts kann die Kraft der Wahrheit so sehr schwächen, als wenn Personen, die durchaus nicht unter dem Einfluß der Wahrheit stehen, genau die gleichen Dinge tun wie solche, die von der Wahrheit geprägt sind. Und dies entspricht gerade der Taktik Satans in der heutigen Zeit. Er versucht zu erreichen, daß alle Menschen als Christen betrachtet werden. Er möchte uns gern glauben machen, daß wir von einer "christlichen Welt" umgeben sind, während wir doch in Wirklichkeit eine nachgeahmte Christenheit um uns her sehen, die keineswegs ein Zeugnis für die Wahrheit ist, sondern sogar von dem Feind der Wahrheit benutzt wird, um ihrem heiligenden und reinigenden Einfluß zu widerstehen. Der Diener Christi und der Zeuge für die Wahrheit ist auf allen Seiten von dem Geist des "Jannes und Jambres" umgeben; und daran muß er sich erinnern, wenn er das Böse, mit dem er zu kämpfen hat, vom Grund her erkennen will. Nie darf er vergessen, daß dieser Geist eine satanische Nachbildung des wirkli­chen Werkes Gottes ist, hervorgerufen durch einen offenbar gottlosen Zauberer und durch falsche Bekenner, die nur eine "Form der Gottselig­keit haben, ihre Kraft aber verleugnen"; und obwohl sie dem äußeren Anschein nach gute und wahre Dinge verrichten, haben sie weder das Leben Christi in ihren Seelen, noch die Liebe Gottes in ihren Herzen, noch die Kraft des Wortes Gottes in ihren Gewissen.

 

"Aber", fügt der inspirierte Apostel hinzu, "sie werden nicht weiter fortschreiten, denn ihr Unverstand wird allen offenbar werden, wie auch der von jenen es wurde". Die Torheit des Jannes und Jambres" war vor aller Augen bloßgestellt, denn sie konnten die weiteren Taten Moses und Aarons nicht mehr nachahmen und wurden sogar selbst von den Gerichten getroffen. Die Torheit aller, die nur die Form besitzen, wird einmal in ähnlicher Weise ans Licht gestellt werden; und sie wer­den nicht nur unfähig sein, die Wirkungen der göttlichen Liebe und Macht nachzuahmen, sondern sie werden selbst von jenen Gerichten getroffen werden, die als eine unausbleibliche Folge der Verwerfung der Wahrheit hereinbrechen werden.

 

Liegt in diesen Dingen nicht eine unüberhörbare Warnung für die Zeit kraftloser Glaubensbekenntnisse? Und reden diese Dinge nicht mit ein­dringlichem Ernst zu unseren Herzen? Jeder von uns sollte sich auf­richtig diese Frage stellen, ob er in der Kraft der Gottseligkeit für die Wahrheit eintritt oder ob er nur die Form der Gottseligkeit kennt, ihre Wirkungen aber hemmt und schwächt. Ihre Wirkung nämlich besteht darin, daß wir "in dem bleiben, was wir gelernt haben" (2. Tim. 3, 14).

 

Gott sei Dank! In den zahlreichen Gruppen der bekennenden Kirche gibt es noch eine große Menge solcher Christen. Es gibt viele, hier und dort, deren Gewissen in dem Blut des Lammes Gottes gereinigt ist (1. Joh. 1, 7), deren Herz in wahrer Hingabe für Christus schlägt, und in deren Seele die Hoffnung lebendig ist, Ihn bald zu sehen, wie Er ist, und für immer Seinem Bilde gleichförmig gemacht zu werden. Es ist ermutigend, an diese Vielen zu denken; und es ist eine unschätz­bare Gnade, Gemeinschaft mit solchen zu haben, die von der Hoffnung, die in ihnen ist, und von der Stellung, die sie einnehmen, Rechenschaft geben können. Möge der Herr täglich ihre Zahl vermehren! Möge die Kraft der Gottseligkeit sich nach allen Richtungen hin in diesen letzten Tagen ausbreiten, damit ein klares und kräftiges Zeugnis für den Namen dessen abgelegt werden kann, der allein "würdig ist!

 

Es muß nun noch der dritte oben angedeutete Punkt näher betrachtet werden, nämlich die vier Einwendungen des Pharao gegen die völlige Befreiung und Trennung des Volkes Gottes von Ägypten. Die erste Einwendung finden wir in Kap. 8, 25: "Und der Pharao rief Mose und Aaron und sprach: Gehet hin und opfert eurem Gott in dem Lande". Wir brauchen kaum zu erwähnen, daß hinter dem Widerstand der Zauberer und den Einwendungen des Pharao in Wirklichkeit Satan stand; und hinter diesem Vorschlag des Pharao verbarg sich ganz offensichtlich seine Absicht, das Zeugnis für den Namen des Herrn zu verhindern; ein Zeugnis, das mit der gänzlichen Trennung des Volkes Gottes von Ägypten verbunden war. Es ist klar, daß von einem solchen Zeugnis keine Rede sein konnte, wenn das Volk in Ägypten zurück­blieb, selbst wenn dort ein Opfer gebracht worden wäre. Denn dadurch hätte Israel sich mit den Ägyptern auf denselben Boden und ihren HERRN mit den Göttern Ägyptens auf die gleiche Ebene gestellt; und ein Ägypter hätte mit Recht zu einem Israeliten sagen können: Ich sehe keinen Unterschied zwischen uns. Ihr habt euren Gottesdienst, und wir haben unseren; wo ist da der Unterschied?

 

Die Menschen finden es ganz in Ordnung und selbstverständlich, daß sich jeder zu irgendeiner Religion bekennt. Die Form unserer Religion bietet nur geringen Anstoß. Das sind die Gedanken der Menschen in bezug auf das, was sie Religion nennen, aber die Verherrlichung des Namens Jesu findet darin keinen Platz. Das Prinzip der Absonderung vom Bösen wird immer auf den Widerstand des Feindes und auf das Unverständnis der Menschen stoßen. Wohl mag der Mensch, weil ihm das Gewissen bezeugt, daß nicht alles in Ordnung ist, ein Verlangen nach Religiosität haben; aber er trachtet ebenso auch nach der Welt. Am liebsten würde er "Gott opfern in dem Lande"; und das Ziel Satans ist erreicht, wenn man eine weltliche Religion annimmt und sich weigert, "auszugehen und sich abzusondern" (2. Kor. 6). Seine Absicht ging von jeher dahin, das Zeugnis für den Namen Gottes auf der Erde zu verhin­dern. Und gerade diese Absicht verbarg sich hinter dem Vorschlag: Gehet hin und opfert eurem Gott in dem Lande". Wie wäre das Zeugnis gelähmt worden, wenn dieser Vorschlag Annahme gefunden hätte! Das Volk Gottes in Ägypten, und Gott selbst in Verbindung mit den Abgöttern Ägyptens ‑ welch ein schrecklicher Gedanke!

 

Wir sollten mit Ernst über diese Dinge nachdenken. Die Anstrengung des Feindes, um Israel zu bewegen, dem Herrn in Ägypten zu opfern, stellt einen weit wichtigeren Grundsatz ans Licht, als wir auf den ersten Blick meinen mögen. Der Feind würde triumphieren, wenn er durch irgendwelche Mittel und zu irgendeiner Zeit auch nur den Schein einer göttlichen Anerkennung der Religion der Welt herbeiführen könnte. Gegen eine Religion dieser Art erhebt er keine Einsprüche. Er erreicht sein Ziel ebenso sicher durch das, was man die "religiöse Welt" nennt, wie durch jedes andere Mittel; und wenn es ihm daher gelingt, einen wahren Christen dahin zu bringen, daß er die Religion des Tages an­erkennt, so hat er in der Tat einen großen Erfolg errungen. Es ist eine bekannte Tatsache, daß in der Welt nichts einen so heftigen Unwillen erregt wie der göttliche Grundsatz der Absonderung von dem gegen­wärtigen bösen Zeitlauf. Man mag dieselben Ansichten haben, dieselben Lehren verkünden und dieselben Werke tun; sobald man aber auch nur versucht, nach den göttlichen Geboten "Von diesen wende dich weg" (2. Tim. 3, 5), und: Gehet aus ihrer Mitte aus und sondert euch ab" (2. Kor. 6, 17), zu handeln, so muß man mit heftigem Widerstand rechnen. Wie ist das zu erklären? In erster Linie durch die Tatsache, daß Christen, die sich von der Religion der Welt trennen, ein Zeugnis für Christus sind, und das ist in Verbindung mit der Welt nicht mög­lich,

 

Zwischen einer weltlichen Religion und Christus besteht ein sehr großer Unterschied. Auch ein Hindu wird von seiner Religion zu reden wissen; aber von Christus weiß er nichts. Der Apostel sagt nicht: "Wenn nun irgendeine Ermunterung ist in der Religion" (Phil. 2, 1), obwohl die Anhänger jeder Religion ohne Zweifel das darin finden, was sie für eine Ermunterung halten; Paulus aber fand seinen Trost in Christus, nachdem er die Nichtigkeit der Religion, und zwar in ihrer schönsten und bestechendsten Form, völlig erprobt hatte (vergl. Gal. 1, 13. 14; Phil. 3, 4‑11).

 

Zwar redet der Geist Gottes von einem "reinen und unbefleckten Gottesdienst" (Jak. 1, 27); aber der nicht wiedergeborene Mensch kann sich in keiner Weise daran beteiligen. Denn wie könnte er an etwas teilhaben, was "rein und unbefleckt" ist? Dieser Gottesdienst ist aus dem Himmel, wo alles, was rein und lieblich ist, seinen Ursprung hat; er ist nur vor "Gott und dem Vater" möglich und dient zur Ausübung der Tätigkeiten der neuen Natur, die jeder bekommt, der an den Namen des Sohnes Gottes glaubt (Joh. 1, 12. 13; Jak. 1, 18; 1. Petr. 1, 23; 1. Joh. 5, 1); und dieser Gottesdienst läßt sich zwei grundlegenden Prinzipien zuordnen: der praktischen Nächstenliebe und der persönli­chen Heiligkeit, d. i. "Waisen und Witwen in ihrer Drangsal besuchen, sich selbst von der Welt unbefleckt erhalten" (Jak. 1, 27).

 

Alles, was zu den echten Früchten des christlichen Glaubens zählt, läßt sich unter diese beiden Grundsätze einordnen; und es ist sehr bemer­kenswert, daß sowohl in 2. Mose 8 als auch in Jakobus 1 die Absonde­rung von der Welt als eine unerläßliche Eigenschaft in der Ausübung des wahren Gottesdienstes bezeichnet wird. Gott kann nichts als "rein und unbefleckt" annehmen oder anerkennen, das mit dem "gegen­wärtigen bösen Zeitlauf" (Gal. 1, 4) in Berührung gekommen ist. "Dar­um gehet aus ihrer Mitte aus und sondert euch ab, spricht der Herr, und rühret Unreines nicht an, und ich werde euch aufnehmen; und ich werde euch zum Vater sein, und ihr werdet mir zu Söhnen und Töch­tern sein, spricht der Herr, der Allmächtige" (2. Kor. 6, 17. 18).

 

In Ägypten gab es keinen Begegnungsort für den HERRN und Sein auserwähltes Volk. Befreiung und Trennung von Ägypten war für Israel dieselbe Sache. Gott hatte gesagt: "Ich bin herabgekommen, um es zu erretten" (Kap. 3, 8); und nichts weniger als das hätte Ihn befriedigen oder verherrlichen können. Eine Erlösung, die das Volk in Ägypten zurückgelassen hätte, wäre keine Erlösung Gottes gewesen. Zudem dürfen wir nicht aus dem Auge verlieren, daß es bei der Erlösung Israels und ebenso bei der Vernichtung des Pharao die Absicht Gottes war, daß man Seinen Namen verkündige auf der ganzen Erde (Kap. 9, 16). Aber wie hätte der Name oder der Charakter Gottes bekanntge­macht werden können, wenn Sein Volk versucht hätte, Ihm in Ägypten ein Opfer zu bringen? Entweder gar nicht oder nur in verfälschter Weise. Für die vollkommene und zuverlässige Offenbarung des Charak­ters Gottes war es deshalb notwendig, daß Sein Volk befreit und völlig von Ägypten getrennt wurde. Und um heute ein klares, eindeutiges Zeugnis für den Sohn Gottes ablegen zu können, ist es ebenso not­wendig, daß alle, die Ihm wirklich angehören, von dem gegenwärtigen bösen Zeitlauf getrennt sind. Das ist der Wille Gottes, und zu diesem Zweck hat Christus sich selbst hingegeben, wie wir lesen: "Gnade euch und Friede von Gott, dem Vater, und unserem Herrn Jesus Christus, der sich selbst für unsere Sünden hingegeben hat, damit er uns her­aus nehme aus der gegenwärtigen bösen Welt, nach dem Willen unseres Gottes und Vaters, welchem die Herrlichkeit sei von Ewigkeit zu Ewig­keit! Amen" (Gal. 1, 3‑5).

 

Die Galater waren auf dem Wege, sich einer fleischlichen und weltli­chen Religion zuzuwenden, einer Religion mit Satzungen, Tagen, Neu­monden, Zeiten und Jahren, und der Apostel beginnt seinen Brief mit der Mitteilung, daß der Herr Jesus sich selbst hingegeben habe, um Sein Volk gerade davon zu befreien. Das Volk Gottes muß ein abge­sondertes Volk sein, jedoch nicht etwa aufgrund seiner höheren per­sönlichen Heiligkeit, sondern weil es Gottes Volk ist, und damit Gott bei dem Volk eine Ihm gemäße Antwort auf Seine Gnade finden kann, ,die darin besteht, daß Er das Volk mit sich selbst und mit Seinem Namen verbunden hat. Ein Volk inmitten der Greuel Ägyptens hätte unmöglich ein Zeugnis für den heiligen Gott sein können; und ebenso­wenig kann heute jemand, der mit einer verderbten weltlichen Religion verbunden ist, ein entschlossener und treuer Zeuge für den gekreuzig­ten und auferstandenen Christus sein.

 

Die Erwiderung Moses auf den ersten Einwand des Pharao ist sehr be­merkenswert. "Und Mose sprach: Es geziemt sich nicht, also zu tun; denn wir würden dem HERRN, unserem Gott der Ägypter Greuel*) opfern; siehe, opferten wir der Ägypter Greuel vor ihren Augen, wür‑

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*) Das Wort "Greuel" bezieht sich auf die Götzen, die die Ägypter verehrten.

 

den sie uns nicht steinigen? Drei Tagesreisen weit wollen wir in die Wüste ziehen und dem HERRN, unserem Gott, opfern, so wie er zu uns geredet hat" (Kap. 8, 26. 27). Das war eine wirkliche Trennung von Ägypten: drei Tagesreisen weit"; und das allein konnte den Glauben zufriedenstellen. Das Volk Gottes mußte in der Kraft der Auferstehung von dem Land des Todes und der Finsternis getrennt werden. Das Wasser des Roten Meeres mußte zwischen den Erkauften Gottes und dem Land Ägypten sein, ehe sie ihrem HERRN in gebührender Weise opfern konnten. Wären sie in Ägypten geblieben, so hätten sie Ihm die Gegenstände des greulichen Gottesdienstes Ägyptens opfern müssen; das aber hätte nicht genügt. Die Stiftshütte, der Tempel und der Altar wären in Ägypten nicht denkbar gewesen. Innerhalb der Grenzen dieses Landes gab es keinen Platz für irgend etwas Derartiges. Und tatsächlich begann der Dienst der Anbetung und das Lob Gottes nicht eher, als bis die ganze Gemeinde in der Kraft der vollbrachten Erlösung die andere, Kanaan zugewandte Seite des Roten Meeres erreicht hatte. Genauso ist es heute. Der Gläubige muß wissen, wohin der Tod und die Auferstehung des Herrn Jesus Christus ihn für immer gestellt haben, bevor er ein einsichtsvoller Anbeter, ein wohlgefälliger Diener und ein wirksamer Zeuge sein kann.

 

Es handelt sich hier nicht um die Frage, ob man ein Kind Gottes und somit gerettet ist. Viele Kinder Gottes sind weit davon entfernt, alle Ergebnisse des Todes und der Auferstehung Christi zu verstehen. Sie vermögen nicht die kostbare Wahrheit zu erfassen, daß der Tod Christi ihre Sünden für immer hinweggetan hat (Hebr. 9, 26), und daß sie die glücklichen Teilhaber Seines Auferstehungslebens sind, eines Lebens, mit dem die Sünde nichts mehr zu tun hat. Christus ist für uns zum Fluch geworden, und zwar nicht ‑ wie etliche uns be­lehren möchten ‑ weil Er unter dem Fluch eines übertretenen Gesetzes geboren wurde, sondern weil Er am Holze hing (vergl. 5. Mose 21, 23; Gal. 3, 13). Wir waren unter dem Fluch, weil wir das Gesetz nicht ge­halten hatten; aber Christus, der vollkommene Mensch, wurde, nachdem Er das Gesetz groß und herrlich gemacht hatte (Jer. 42, 21), gerade durch Seinen vollkommenen. Gehorsam ein Fluch für uns, indem Er ans Holz gehängt wurde. In Seinem Leben machte Er also das Gesetz Gottes groß, und in Seinem Tode trug Er unseren Fluch. Für den Gläubigen gibt es deshalb jetzt weder Schuld, noch Zorn, noch Verdammnis; und obwohl er vor dem Richterstuhl Christi geoffenbart werden muß, so wird sich doch dieser Richterstuhl ebenso günstig für ihn erweisen, wie es jetzt der Sühnmittel ist. Der Richterstuhl wird die Wahrheit seiner Stellung, nämlich daß nichts gegen ihn ist, offenbar machen; und was er ist, das hat Gott aus ihm gemacht. Er ist das Werk Gottes. Gott hat sich seiner angenommen, als er in einem Zustand des Todes und der Verdammnis war, und hat ihn genau so gebildet, wie Er ihn haben wollte. Der Richter selbst hat alle seine Sünden getilgt und ist jetzt seine Gerechtigkeit, so daß der Richterstuhl ihm keinen Schaden brin­gen kann. Im Gegenteil, er wird für den Himmel, die Erde und die Hölle die öffentliche und feierliche Erklärung sein, daß der, der in dem Blut des Lammes von seinen Sünden gewaschen ist, so rein ist, wie nur Gott allein ihn rein zu machen vermag (vergl. Joh. 5, 24; Röm. 8, 1; 2. Kor. 5, 5. 10. 11; Eph. 2, 10). Alles was getan werden mußte, hat Gott selbst getan. Könnte Er Sein eigenes Werk verdammen? Die Gerechtigkeit, die gefordert wurde, hat Gott selbst bewirkt. Sollte Er noch einen einzigen Makel daran finden? Das Licht des Richterstuhls wird hell genug sein, um zu zeigen, daß der Gläubige ganz rein ist (Joh. 13, 10; 15, 3; Eph. 5, 27).

 

Weil diese Grundwahrheiten nicht in einfältigem Glauben ergriffen werden, haben so viele Kinder Gottes keinen dauernden Frieden und ständige Veränderungen in ihrem geistlichen Zustand. Jeder Zweifel in dem Herzen eines Christen ist aber eine Unehre für das Werk Gottes und für das Opfer Christi. Wenn ein Gläubiger von Zweifeln und Furcht gequält wird, dann deshalb, weil er sich noch nicht in dem vollen Lichte sieht, welches einst von dem Richterstuhl ausstrahlen wird. Und dennoch ist diese wankelmütige Haltung so vieler Seelen von untergeordneter Bedeutung, weil es nur ihre eigene Erfahrung betrifft. Viel beklagenswerter sind die dadurch hervorgebrachten Wirkungen auf ihre Anbetung, ihren Dienst und ihr Zeugnis, weil dies die Ehre des Herrn betrifft. Aber an diese Ehre wird im allgemeinen wenig ge­dacht. Bei der Mehrzahl der bekennenden Christen gilt die persönliche Errettung als Hauptgegenstand, als Ziel und Ende. Wir sind immer geneigt, alles was uns selbst betrifft als wesentlich anzusehen, während das, was auf die Verherrlichung Christi in und durch uns Bezug hat, als unwesentlich betrachtet wird.

 

Hier fehlt es an der klaren Erkenntnis, daß dieselbe Wahrheit, die dem Gläubigen einen unerschütterlichen Frieden gibt, ihn auch zu einer ein­sichtsvollen Anbetung, zu einem wohlgefälligen Dienst und zu einem wirksamen Zeugnis befähigt. In 1. Kor. 15 bezeichnet der Apostel den Tod und die Auferstehung Christi als das Fundament von allem, indem 19 er sagt: "Ich tue euch aber kund, Brüder, das Evangelium, das ich euch verkündigt habe, das ihr auch angenommen habt, in welchem ihr auch stehet, durch welches ihr auch errettet werdet, (wenn ihr an dem Worte festhaltet, das ich euch verkündigt habe), es sei denn, daß ihr vergeb­lich geglaubt habt. Denn ich habe euch zuerst überliefert, was ich auch empfangen habe: daß Christus gestorben ist für unsere Sünden, nach den Schriften; und daß er begraben wurde, und daß er auferweckt worden ist am dritten Tage nach den Schriften" (V. 1‑4). Das ist das Evangelium in kurzen, aber umfassenden Worten. Ein gestorbener und auferstandener Christus ist die Grundlage der Errettung. Er ist un­serer Übertretungen wegen dahingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt worden (Röm. 4, 25). Jesus im Glauben zu betrach­ten ‑ an das Kreuz geschlagen und jetzt sitzend auf dem Throne Gottes ‑ gibt dem Gewissen festen Frieden und dem Herzen vollkom­mene Freiheit. Wir blicken in das Grab und finden es leer, wir schauen zum Thron hinauf und sehen ihn besetzt: und wir gehen unseren Weg mit Freuden. Der Herr Jesus hat am Kreuz alles zugunsten Seines Vol­kes in Ordnung gebracht; und zum Beweis dafür sehen wir Ihn jetzt zur Rechten Gottes. Die Auferstehung Christi ist die ewige Gewähr einer vollbrachten Erlösung; und wenn die Erlösung eine vollendete Tatsache ist, dann ist der Friede des Gläubigen unerschütterlich. Nicht wir haben Frieden gemacht, wir hätten es auch nicht tun können. Aber Christus hat, nachdem Er durch das Blut Seines Kreuzes Frieden ge­macht hat, triumphierend über jeden Feind in den himmlischen Örtern Platz genommen (Eph. 1, 20 f.). Durch Ihn verkündigt Gott Frieden. Das Evangelium bringt diesen Frieden; und wer dem Evangelium glaubt, besitzt Frieden, unantastbaren Frieden vor Gott; denn Christus selbst ist sein Friede (Apg. io, 36; Röm. 5, 1; Eph. 2, 14; Kol. 1, 20). Auf diese Weise hat Gott nicht nur Seinen eigenen Ansprüchen Genüge getan, sondern eben damit auch einen gerechten Ausweg gefunden, durch den Seine unendliche Liebe hinabströmen kann bis zu dem Schuldigsten unter den Nachkommen Adams.

 

Und endlich ist dies alles auch für das praktische Leben eines Christen von Bedeutung. Das Kreuz Christi hat nicht nur die Sünden des Gläu­bigen weggenommen, sondern auch für immer seine Verbindung mit der Welt gelöst, so daß er das Vorrecht hat, die Welt als eine gekreu­zigte Sache zu betrachten und von ihr als ein Gekreuzigter betrachtet zu werden. Das ist das Verhältnis zwischen einem Gläubigen und der Welt. Sie ist ihm gekreuzigt und er ihr. Das Urteil der Welt über Christus fand seinen Ausdruck in dem Platz, den sie Ihm mit Bedacht zuwies. Die Welt hatte zwischen Christus und einem Mörder zu wählen. Sie gab dem Mörder die Freiheit, während sie Christus zwischen zwei Räubern an das Kreuz heftete. Und wenn jetzt der Gläubige in der Nachfolge die Gesinnung Christi offenbart, dann gebührt ihm ‑ auch nach dem Urteil der Welt ‑ derselbe Platz. Auf diese Weise wird er nicht nur erkennen, daß er im Blick auf seine Stellung vor Gott mit Christus gekreuzigt ist, sondern er wird diese Tatsache auch in seinem Leben und in seinen Erfahrungen Tag für Tag verwirklichen.

 

Aber während das Kreuz das Band, das einst den Gläubigen mit der Welt verband, zerrissen hat, brachte ihn die Auferstehung in den Machtbereich neuer Verbindungen und neuer Beziehungen. Wie wir in dem Kreuz das Urteil der Welt über Christus erblicken, so zeigt uns die Auferstehung das Urteil Gottes. Die Welt hat Christus ge­kreuzigt; Gott aber hat Ihn hoch erhoben (Phil. 2, 9). Der Mensch gab Christus den niedrigsten Platz, Gott gab Ihm den höchsten; und da der Gläubige in seinen Gedanken über Christus zu einer vollkommenen Ge­meinschaft mit Gott berufen ist, so ist er befähigt, das Blatt umzudrehen und die Welt als eine gekreuzigte Sache zu betrachten. Die moralische Entfernung, die den Gläubigen von der Welt trennt, ist daher uner­meßlich. Wenn sie es aber ihrem Wesen nach ist, so sollte sie es auch in der Praxis sein. Die Welt und der Christ sollten auch praktisch nichts miteinander gemein haben.

 

as alles ist deutlich genug; aber wir müssen uns darüber klar sein, welcher Platz uns dadurch im Blick auf diese Welt angewiesen wird. Es ist ein Platz völlig außerhalb der Welt! Wir sind der Welt gestorben und mit Christus lebendig gemacht. Wir sind mit Ihm verbunden in Seiner Verwerfung, aber auch in Seiner Annahme im Himmel; und die Freude darüber läßt uns die Trübsal der Verwerfung ertragen. Von der Erde verworfen zu sein, ohne zu wissen, daß ich einen Platz im Himmel habe, ist unerträglich; aber wenn die Herrlichkeiten des Himmels meinen Sinn ausfüllen, was frage ich dann nach der Erde und ihren Dingen?

 

Aber man wird vielleicht fragen: "Was ist die Welt?" Schwerlich wird man einen Ausdruck finden, der unklarer und unbestimmter ausgelegt wird, als das Wort "Welt‑ oder "Weltlichkeit"; denn wir neigen dazu, die "Weltlichkeit" so zu definieren, daß wir uns selbst nicht verurteilen müssen. Das Wort Gottes hingegen gibt mit Bestimmtheit über die Be­deutung des Ausdruckes "Welt" Aufschluß, indem es sie als das kennzeichnet, was "nicht von dem Vater ist" (1. Joh. 2, 15. 16). je enger daher meine Gemeinschaft n‑üt dem Vater ist, um so schärfer wird mein Unterscheidungsvermögen im Blick auf die Weltlichkeit sein. Das ist

Gottes Art, uns zu belehren. Je mehr man sich an der Liebe des Vaters erfreut, um so mehr verwirft man die Welt. Und wer offenbart den Vater? Der Sohn. In welcher Weise? Durch die Kraft des Heiligen Geistes. je besser ich daher in der Kraft des Geistes die durch den Sohn bewirkte Offenbarung des Vaters verstehe, um so richtiger wird mein Urteil über alles sein, was von der Welt ist. Den Begriff "Welt" klar begrenzen zu wollen wäre vergebliche Mühe; denn er enthält, wie je­mand einmal gesagt hat, alle Farbenabstufungen, vom hellsten Weiß bis ins tiefste Schwarz. Man kann keine Grenzen setzen und sagen: "Hier ist der Punkt, wo die Weltlichkeit beginnt"; aber die empfind­same göttliche Natur weicht vor ihr zurück; und unsere einzige Aufgabe besteht darin, daß wir in der Kraft dieser Natur leben, um uns vor Weltlichkeit zu bewahren. "Wandelt im Geiste, und ihr werdet die Lust des Fleisches nicht vollbringen" (Gal. 5, 16). Wandelt mit Gott, und ihr werdet nicht mit der Welt wandeln. Kalte Erklärungen und strenge Regeln werden hier wirkungslos bleiben. Was wir brauchen ist die Macht des göttlichen Lebens und geistliches Verständnis über die prak­tische Bedeutung jener „drei Tagereisen in die Wüste", durch die wir nicht nur von den Ziegelhütten und Fronvögten Ägyptens, sondern auch von den Tempeln und Altären dieses Landes für immer getrennt sind.

 

Der zweite Einwand des Pharao unterschied sich nur wenig von dem ersten. "Und der Pharao sprach: "Ich will euch ziehen lassen, daß ihr dem HERRN, eurem Gott, in der Wüste opfert; nur entfernet euch nicht so weit" (Kap. 8, 28)! Wenn er die Israeliten nicht in Ägypten be­halten konnte, so wollte er sie doch wenigstens in seiner Nähe ansie­deln, um durch die Einflüsse des Landes auf sie einwirken zu können. Vielleicht hätten sie später einmal wieder zurückgeführt werden kön­nen; und dann wäre das Zeugnis weit wirkungsvoller vernichtet ge­wesen, als wenn sie Ägypten nie verlassen hätten. Der Sache Christi geschieht weit mehr Schaden, wenn Seelen zur Welt zurückkehren, nachdem sie scheinbar von ihr ausgegangen sind, als wenn sie immer in der Welt geblieben wären; denn solche Seelen geben dadurch zu erkennen, daß sie nach einer Prüfung der himmlischen Dingen meinen, daß die irdischen Dinge besser sind und mehr Befriedigung geben können.

 

Das ist aber noch nicht alles. Die Wirkung der Wahrheit auf das Ge­wissen unbekehrter Menschen verliert durch das Beispiel solcher Be­kenner ihre Kraft. Das heißt nicht, daß solche Fälle jemanden berechti­gen, die Wahrheit Gottes zu verwerfen, denn jeder ist für sich selbst verantwortlich und wird Gott für sich selbst Rechenschaft geben müssen. Aber die Wirkung bleibt in jeder Hinsicht beklagenswert. "Denn wenn sie, entflohen den Befleckungen der Welt durch die Erkenntnis des Herrn und Heilandes Jesus Christus, aber wiederum in diese ver­wickelt, überwältigt werden, so ist ihr Letztes ärger geworden als das Erste. Denn es wäre ihnen besser, den Weg der Gerechtigkeit nicht er­kannt zu haben, als, nachdem sie ihn erkannt haben, umzukehren von dem ihnen überlieferten heiligen Gebot" (2. Petr. 2, 20. 21).

 

Wenn daher jemand nicht "weit wegziehen will, so wäre es viel besser, wenn er gar nicht auszöge. Der Feind wußte das sehr wohl und machte deshalb seinen zweiten Einwand. Die Einnahme einer Grenz­stellung entspricht bestens seinen Absichten. Alle, die diese Stellung einnehmen, stehen weder auf der einen, noch auf der anderen Seite; und tatsächlich wird sich ihr Einfluß, welcher Art er auch sei, stets in einer verkehrten Richtung auswirken.

 

Es ist in der Tat sehr wichtig, bei allen diesen Einwendungen die Ab­sicht Satans zu sehen. Er wollte unter allen Umständen das Zeugnis für den Namen des Gottes Israels verhindern, das nur durch eine "drei­tägige Reise in die Wüste abgelegt werden konnte. Die Entfernung war viel größer, als der Pharao sich vorstellen konnte, und viel weiter, als er ihnen folgen konnte. Welch ein Glück wäre es, wenn alle, die von Ägypten auszugehen bekennen, sich in ihrem praktischen Leben ebensoweit von dem Land entfernten und das Kreuz und das Grab Christi als die Grenzen zwischen sich und der Welt anerkennen würden! In der Kraft der eigenen Natur kann kein Mensch diesen Boden be­treten. Der Psalmist mußte sagen: "Gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht! Denn vor dir ist kein Lebendiger gerecht" (Ps. 143, 2). Genauso ist es in bezug auf die echte Absonderung von der Welt. Kein "Leben­diger" kann sie verwirklichen. Nur als "gestorben mit Christus" und als "auferweckt mit ihm durch den Glauben an die wirksame Kraft Gottes` (Kol. 2, 12) kann von einer Rechtfertigung vor Gott oder von einer Ab­sonderung von der Welt die Rede sein. Das ist es, was man ein "weites Wegziehen" nennen kann. Möchten doch alle, die Christen zu sein be­kennen, so weit wegziehen! Dann wäre ihr Leben eindeutig, ihr Wandel himmlisch und ihre Erfahrungen reich. Und vor allem würde dann, dem Willen Gottes entsprechend, der Name des Herrn Jesus Christus durch die Kraft des Heiligen Geistes an ihnen verherrlicht werden.

 

Der dritte Einwand des Pharao verdient unsere besondere Aufmerk­samkeit. "Und Mose und Aaron wurden wieder zu dem Pharao ge­bracht, und er sprach zu ihnen: Ziehet hin, dienet dem HERRN, eurem 2ott! Welche alle sind es, die ziehen sollen? Da sprach Mose: Mit un­seren jungen und mit unseren Alten wollen wir ziehen, mit unseren Söhnen und mit unseren Töchtern, mit unserem Kleinvieh und mit unseren Rindern wollen wir ziehen; denn wir haben ein Fest des HERRN. Und er sprach zu ihnen: Der HERR sei so mit euch, wie ich euch und eure Kinder ziehen lasse! Sehet zu, denn ihr habt Böses vor! Nicht also! Ziehet doch hin, ihr Männer, und dienet dem HERRN; denn das ist es, was ihr begehrt habt. Und man trieb sie von dem Pharao hinaus" (Kap. 10, 8‑11). Wieder sehen wir hier die Bemühung des Feindes, dem Zeugnis für den Namen des Gottes Israels einen töd­lichen Schlag zu versetzen. Die Eltern in der Wüste und ihre Kinder in Ägypten ‑ welche Verwirrung! Das wäre wirklich nur eine halbe Be­freiung und nicht nur nutzlos für Israel, sondern auch verunehrend für den Gott Israels gewesen. Das durfte nicht geschehen. Wenn die Kinder in Ägypten zurückgeblieben wären, dann hätte man nicht von den Eltern sagen können, daß sie Ägypten verlassen hätten, denn ihre Kin­der waren ein Teil von ihnen. Man hätte höchstens behaupten können, daß sie teils dem HERRN und teils dem Pharao dienten. Aber der HERR konnte kein Teil mit dem Pharao haben; Er mußte alles besitzen oder gar nichts. Das ist ein wichtiger Grundsatz für christliche Eltern! Es ist ein Vorrecht für uns, daß wir unsere Kinder Gott anvertrauen und "in der Zucht und Ermahnung des Herrn" (Eph. 6, 1) erziehen dürfen; und wir sollten uns für sie mit nichts Geringerem begnügen, als mit dem, was wir selbst besitzen.

 

Der vierte und letzte Einwand des Pharao bezieht sich auf das Rind­ und Kleinvieh. "Und der Pharao rief Mose und sprach: Ziehet hin, dienet dem HERRN; nur euer Kleinvieh und eure Rinder sollen zurück­bleiben; auch eure Kinder mögen mit euch ziehen" (Kap. 10, 24). Mit welch zäher Beharrlichkeit machte Satan den Israeliten jeden Zoll des Weges aus Ägypten streitig! Zunächst sucht er sie im Lande zurückzu­halten; dann fordert er sie auf, sich in der Nähe des Landes niederzulassen; dann sucht er einen Teil des Volkes zurückzuhalten, und schließlich, als alle diese Forderungen erfolglos bleiben, will er sie ziehen lassen ohne Opfertiere für den Gottesdienst. Konnte er die Diener nicht zurückhalten, so wollte er doch jedenfalls ihren Dienst ver­hindern, um so wenigstens teilweise seinen Zweck zu erreichen. Konnte er sie nicht bewegen, im Lande selbst zu opfern, so sollten sie doch aus dem Lande ziehen ohne Schlachtopfer.

 

Die Antwort Moses auf diesen letzten Einwand enthält eine herrliche Darstellung der unumschränkten Rechte des HERRN über Sein Volk und über alles, was Ihm angehört. "Und Mose sprach: Auch Schlacht­opfer und Brandopfer mußt du in unsere Hände geben, daß wir dem HERRN, unserem Gott ' opfern. So muß auch unser Vieh mit uns ziehen, nicht eine Klaue darf zurückbleiben; denn davon werden wir nehmen, dem HERRN, unserem Gott, zu dienen, wir wissen ja nicht, womit wir dem HERRN dienen sollen, bis wir dorthin kommen" (Kap. 10, 25. 26). Nur wenn die Kinder Gottes in einfältigem Glauben die hohe Stellung einnehmen, in die sie durch den Tod und die Auferste­hung versetzt sind, haben sie in etwa ein Verständnis von den Rechten Gottes über sie. "Wir wissen ja nicht, womit wir dem HERRN dienen sollen, bis wir dorthin kommen"; d. h. Israel kannte weder seine Ver­antwortlichkeit noch die Forderungen Gottes, bis es den Weg von "drei Tagesreisen" zurückgelegt hatte. Wie hätte das Volk auch diese Dinge in der verunreinigten Atmosphäre Ägyptens erkennen können? Man muß die Erlösung als eine vollendete Tatsache kennen, bevor man eine richtige oder vollständige Vorstellung von der Verantwortlichkeit haben kann. "Wenn jemand seinen Willen tun will, so wird er von der Lehre wissen... " (Joh. 7, 17). Wir müssen in der Kraft des Todes und der Auferstehung von Ägypten ausgegangen sein, und nur dann werden wir wissen, was eigentlich der Dienst des Herrn ist. Erst wenn wir durch den Glauben die herrlichen Segnungen verstanden haben, die uns das kostbare Blut Christi erworben hat, wenn wir um uns her blicken und die wunderbaren Ergebnisse der göttlichen Liebe über­schauen, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf Christus richten, der uns an diesen Platz gebracht und uns mit diesen Reichtümern beschenkt hat, nur dann fühlen wir uns gedrängt, Ihm zu dienen und Ihn anzu­beten:

 

"Und wäre das ganze Naturreich auch mein,

Es wäre zum Opfer zu wenig, zu klein;

Die Liebe, so göttlich ‑ wer kann sie erheben?

Sie fordert mein Alles, mein Herz und mein Leben".

 

"Nicht eine Klaue darf zurückbleiben". Ägypten ist nicht der Platz für irgend etwas, was den Erlösten Gottes gehört. Christus allein gebührt alles: Leib, Seele und Geist; alles, was wir sind und haben, gehört Ihm. Wir sind nicht unser selbst; denn wir sind um einen Preis erkauft (1. Kor. 6, 20); und es ist unser Vorrecht, uns mit allem, was wir be­sitzen, ihm zu weihen, dem wir angehören und dem zu dienen wir be­rufen sind. Das hat nichts mit einer gesetzlichen Gesinnung zu tun. Die Worte "bis wir dorthin kommen" bieten uns einen göttlichen Schutz gegen dieses schreckliche Übel. Wir haben "drei Tagesreisen" zurückgelegt, ehe wir ein einziges Wort bezüglich des Opfers hören oder verstehen konnten; wir haben das Auferstehungs‑Leben und ewige Gerechtigkeit; wir haben das Land des Todes und der Finsternis ver­lassen und sind zu Gott selbst geführt worden, so daß wir uns an Ihm erfreuen können in der Kraft des Lebens, das Er uns geschenkt, und in dem Bereich der Gerechtigkeit, in die Er uns versetzt hat: somit ist es unsere Freude, zu dienen. Es gibt keine Zuneigung im Herzen, deren Er nicht würdig, kein Schlachtopfer unter der ganzen Herde, das für Seinen Altar zu kostbar wäre. je näher wir bei Ihm sind, um so mehr werden wir es als unsere Speise betrachten, Seinen heiligen Willen zu tun. Der Gläubige sieht sein höchstes Vorrecht darin, dem Herrn d;ien2n zu können. Er findet seine Freude in jeder Tätigkeit und jeder Offenbarung der göttlichen Natur. Er steht nicht unter dem Druck eines schmerzhaften Joches oder einer unerträglichen Last. Sein Joch ist ge­brochen wegen der Salbung (Jes. 10, 27), seine Last ist für immer von ihm genommen durch das Blut des Kreuzes; und er selbst geht seinen Weg als "Erkaufter, Wiedergeborener und Befreiter" aufgrund der tröstenden und ermunternden Worte: "Lag mein Volk ziehen!"

 

(Wir werden das 11. Kapitel in Verbindung mit der Sicherheit Israels unter dem Schutz des Blutes des Passahlammes betrachten.)

 

Kapitel 12

 

PASSAH UND AUSZUG AUS ÄGYPTEN

 

"Und der HERR sprach zu Mose: Noch ein Plage will ich über den Pharao und über Ägypten bringen; danach wird er euch von hinnen ziehen lassen. Wenn er euch vollends ziehen lassen wird, so wird er euch sogar von hier wegtreiben" (Kap. 11, 1). Noch ein heftiger Schlag mußte diesen hartnäckigen Herrscher und sein Land treffen, um ihn zu zwingen, die Gegenstände der unumschränkten Gnade Gottes ziehen zu lassen.

 

Wie sinnlos ist es für den Menschen, sich gegen Gott zu verhärten und zu erheben! Gott kann das härteste Herz zermalmen und den hochmütigsten Geist in den Staub beugen. "Die in Hoffart wandeln vermag Er zu erniedrigen" (Dan. 4, 37). Der Mensch mag sich einbilden, etwas zu sein; er mag in törichtem Stolz und in Selbstverherrlichung sein Haupt erheben, als ob er sein eigener Her und Meister sei; aber wie wenig kennt er seinen wirklichen Zustand und Charakter! Er ist nur ein Werkzeug in der Hand Satans, von ihm benutzt, um den Absichten Gottes entgegenzuwirken. Der glänzendste Verstand, das hervorragendste Talent, die größte Tatkraft sind, wenn sie nicht unter der unmittelbaren Leitung des Geistes Gottes stehen, nur Mittel in der Hand Satans, um seine finsteren Pläne zu verwirklichen. Kein Mensch ist sein eigener Herr; er steht entweder unter der Herrschaft Christi oder unter der Herrschaft Satans. Der König von Ägypten mochte sich für unabhängig halten; in Wirklichkeit aber war er ein Werkzeug in der Hand eines anderen. Satan stand hinter dem Thron; und infolge des Widerstandes, den der Pharao gegen die Pläne Gottes erhob, wurde er dem verblendenden und verhärtenden Einfluß seines selbstgewählten Gebieters ausgeliefert.

 

Dieser Gedanke macht uns einen Ausdruck verständlich, dem wir in den ersten Kapiteln dieses Buches häufiger begegnen: "Und der HERR ver­härtete das Herz des Pharao". Es wäre unvernünftig, dem vollständiger, Sinn dieses Wortes ausweichen zu wollen. Wenn der Mensch sich dem göttlichen Zeugnis widersetzt, wird er dem Gericht der Verblendung und Verhärtung überliefert. Gott überläßt ihn sich selbst, und dann kommt Satan und führt ihn ins Verderben. Es hätte dem Pharao völlig klar sein können, daß es nichts als Torheit war, das Volk zurückzu­halten, das er nach dem Befehl Gottes freilassen sollte. Aber sein Widerstand gegen Gott entsprach dem Zustand und der Gesinnung seines Herzens; und darum gab Gott ihn dahin und machte ihn zu einem Mahnmal für die Entfaltung Seiner Herrlichkeit "auf der ganzen Erde".

 

Gott gibt manchmal der Neigung oder dem Verlangen der Menschen nach; so lesen wir z. B.: "Und deshalb sendet ihnen Gott eine wirksame Kraft des Irrtums, daß sie der Lüge glauben, auf daß alle gerichtet wer­den, die der Wahrheit nicht geglaubt, sondern Wohlgefallen gefunden haben an der Ungerechtigkeit" (2. Thess. 2, 11. 12). Wenn die Men­schen die Wahrheit nicht annehmen wollen, wenn sie ihnen vorgestellt wird, so werden sie sicher einer Lüge zum Opfer fallen. Wollen sie Christus nicht, so erhalten sie Satan; schlagen sie den Himmel aus, so bleibt ihnen nur die Hölle.*) Will der Geist des Unglaubens daran etwas tadeln? Ehe er es tut, mag er den Beweis liefern, daß alle, die in dieser Weise gerichtet werden, ihrer Verantwortlichkeit entsprochen haben; mag er z. B. beweisen, daß der Pharao auch nur annähernd dem Licht gemäß gehandelt hat, das er besaß. Und dasselbe gilt für jeden andern Fall. Ohne Zweifel liegt die Mühe des Beweises bei denen, die

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*) Es besteht ein großer Unterschied zwischen der Handlungsweise Gottes mit den Heiden (Röm. 1) und Seinem Verhalten gegenüber denen, die das Evan­gelium verwerfen (2. Thess. 2, 10). Bezüglich der Erstgenannten lesen wir: "Gleichwie sie es nicht für gut fanden, Gott in Erkenntnis zu haben, hat Gott sie dahingegeben in einen verworfenen Sinn, zu tun, was sich nicht geziemt" , ‑ während das Wort bezüglich der letzteren lehrt: " . . . darum, daß sie die Liebe zur Wahrheit nicht annahmen, damit sie errettet würden. Und deshalb sendet ihnen Gott eine wirksame Kraft des Irrtums, daß sie der Lüge glau­ben, auf daß alle gerichtet werden". Die Heiden nehmen das Zeugnis der Schöpfung nicht an und werden deshalb sich selbst überlassen. Die Verwerfer des Evangeliums aber weisen das Licht des Kreuzes zurück, und deshalb wird ihnen Gott bald "eine wirksame Kraft des Irrtums" senden. Wie ernst ist das für die heutige Zeit, die so reich ist an Licht und Bekenntnis!

 

die Wege Gottes tadeln wollen. Der einfältige Gläubige wird Gott in Seinen Anforderungen rechtfertigen; und kann er auch nicht alle schwie­rigen Fragen eines zweifelnden Geistes lösen, so findet er doch seine Ruhe in den Worten: "Sollte der Richter der ganzen Erde nicht recht tun?" (l. Mose 18, 25). In dieser Art, eine Schwierigkeit zu beseitigen, liegt mehr Weisheit als in einem noch so gründlich durchdachten Be­weis; denn wer sich nicht scheut, wider Gott das Wort zu nehmen (Röm. 9, 20), der wird auch durch menschliche Beweisgründe nicht zu überzeugen sein.

 

Gott aber beantwortet alle stolzen Überlegungen des Menschen und macht hochmütige menschliche Pläne zunichte. Er hat über die Natur, selbst in ihren besten Formen, das Todesurteil geschrieben. Es ist den Menschen gesetzt, einmal zu sterben (Hebr. 9, 27). Niemand kann diesem Urteil entrinnen. Der Mensch mag mit allen Mitteln versuchen, seine Erniedrigung zu verbergen, seine Todverfallenheit durch Heldenmut zu verdecken und die letzten demütigenden Tage seiner Laufbahn mit ehrenvollen Titeln zu belegen; er mag sich anstrengen, das Sterbe­bett mit einem falschen Schimmer zu umgeben, die Bestattung und das Grab so aufwendig und wirkungsvoll wie möglich zu gestalten; er mag über dem verwesenden Leichnam ein Denkmal errichten und die Tugen­den des Verstorbenen in goldenen Buchstaben darin eingraben lassen ‑ und doch vermag nichts etwas anderes aus dem Tod zu machen, als was er ist: der Lohn der Sünde" (Röm. 6, 23).

 

Die Eingangsworte des 11. Kapitels haben diese Gedanken mit sich ge­bracht. "Noch eine Plage!" sagt der Herr. Damit war das Todesurteil über die Erstgeborenen Ägyptens, über "die Erstlinge all ihrer Kraft" (Ps. 105, 36) besiegelt. "Und Mose sprach: So spricht der HERR: Um Mitternacht will ich ausgehen mitten durch Ägypten; und alle Erstge­burt im Lande Ägypten soll sterben, von dem Erstgeborenen des Pharao, der auf seinem Throne sitzt, bis zum Erstgeborenen der Magd, die hinter der Mühle ist, und alle Erstgeburt des Viehes. Und es wird ein großes Geschrei sein im ganzen Lande Ägypten, desgleichen nie ge­wesen ist und desgleichen nicht mehr sein wird" (Kap. 11, 4‑6). Das sollte die Schlußplage sein: der Tod in jedem Hause! "Aber gegen alle Kinder Israel wird nicht ein Hund seine Zunge spitzen, vom Menschen bis zum Vieh; auf daß ihr wisset, daß der HERR einen Unterschied macht zwischen den Ägyptern und den Israeliten" (V. 7). Nur der Herr kann einen Unterschied machen zwischen denen, die Sein sind, und denen, die es nicht sind. Es geziemt uns nicht, zu irgend jemandem zu sagen: "Bleibe für dich und nahe mir nicht, denn ich bin heilig“ (Jes. 65, 5). Das wäre die Sprache eines Pharisäers. Aber wenn Gott "einen Unterschied macht", so ist es unsere Pflicht, zu untersu­chen, worin dieser Unterschied besteht; und in dem vorliegenden Fall sehen wir, daß es sich um den Gegensatz von Leben und Tod handelte. Das ist der große Unterschied, den Gott macht. Er zieht eine Grenzlinie; auf der einen Seite dieser Linie ist das Leben, auf der anderen der Tod. Viele der Erstgeborenen Ägyptens mochten ebenso schön oder vielleicht noch sympathischer sein als diejenigen von Israel; aber Israel besaß Leben und Licht, und zwar aufgrund der erlösenden Liebe Gottes und bestätigt durch das Blut des Lammes. Das war die gesegnete Stellung Israels, während man in ganz Ägypten, von dem Fürsten auf dem Thron bis zu der Magd hinter der Mühle, nur Tod und Verzweiflung sehen konnte. Gott kann den stolzen Geist des Menschen in den Staub beugen. Er kann bewirken, daß der Grimm des Menschen Ihn preist; und mit dem Rest des Grimms gürtet Er sich (Ps 76, 10). "Und alle diese deine Knechte werden zu mir herabkommen und sich vor mir niederbeugen und sagen. Ziehe aus, du und alles Volk, das dir folgt! Und danach werde ich ausziehen" (V. 8). Gott wird Seine Ratschlüsse erfüllen. Seine Gnadenabsichten müssen um jeden Preis ausgeführt werden; und wer sich Ihm widersetzt, wird beschämt wer­den. "Preiset den HERRN! denn er ist gütig, denn seine Güte währt ewiglich ... Den, der Ägypten schlug an seinen Erstgeborenen, denn seine Güte währt ewiglich, und Israel herausführte aus ihrer Mitte, denn seine Güte währt ewiglich, mit starker Hand und mit ausgestrecktem Arm, denn seine Güte währt ewiglich! (Ps. 136).

 

"Und der HERR redete zu Mose und Aaron im Lande Ägypten und sprach: Dieser Monat soll euch der Anfang der Monate sein, er soll euch der erste sein von den Monaten des Jahres" (Kap. 12, 1. 2). Hier begegnen wir einem sehr interessanten Wechsel in der Zeitordnung. Der HERR unterbrach den Ablauf des bürgerlichen Jahres und zeigte damit, daß Er für Sein Volk eine neue Zeitrechnung beginnen wollte. Die frühere Geschichte Israels sollte gleichsam als ungültig betrachtet werden; die Erlösung war der erste Schritt im wirklichen Leben des Volkes.

 

An dieser Stelle lernen wir eine einfache Wahrheit. Das Leben eines Menschen ist :in der Tat ohne Bedeutung, bis er seine vollkommene Errettung erkennt, aufgrund des Blutes des Lammes Frieden mit Gott hat und ein Leben mit Gott führt. Bis dahin ist er nach dem Urteil Gottes und nach den Worten der Heiligen Schrift "tot in Vergehungen und Sünden" und "entfremdet dem Leben Gottes" (Eph. 2, 1; 4, 18). Seine ganze Geschichte ist wertlos für Gott, auch wenn sie nach menschlichem Ermessen voller Aktivität gewesen ist. Alles, was die Aufmerksamkeit des Weltmenschen fesselt: Ansehen, Reichtum, Ver­gnügung ‑ alles ist, im Licht Gottes betrachtet, öde und wertlos, völlig unwürdig, in dem Bericht des Heiligen Geistes einen Platz zu finden. ,Wer dem Sohne nicht glaubt, wird das Leben nicht sehen" (Joh. 3, 36). Die Menschen meinen, "das Leben zu sehen", wenn sie sich in Gesell­schaften stürzen, hierhin und dorthin reisen, um alles zu sehen, was es zu sehen gibt; aber sie vergessen, daß das einzig wirkliche und göttliche Mittel, um "das Leben zu sehen", darin besteht, "zu glauben an den Sohn Gottes".

 

Wie wenig denken die Menschen darüber nach! Sie meinen, daß das ,wahre Leben" zu Ende sei, sobald jemand in Tat und Wahrheit und Recht nur dem äußeren Bekenntnis nach ein Christ wird, während das Wort Gottes uns belehrt, daß wir gerade dann erst imstande sind, das Leben zu sehen und wirklich glücklich zu sein. "Wer den Sohn hat, hat das Leben" (1. Joh. 5, 12). "Glückselig der, dessen Übertretung verge­ben, dessen Sünde zugedeckt ist!" (Ps. 32, 1). Nur in Christus können wir Leben und Glückseligkeit erreichen. Ohne Ihn ist nach göttlichem Urteil alles elend und tot ‑ wie annehmlich es auch erscheinen mag. Erst wenn der Unglaube aufhört und wir das geschlachtete Lamm' das unsere Sünden am Fluchholz getragen hat, im Glauben erblicken, erst dann betreten wir den Weg des Lebens und haben teil an dem Frieden Gottes. Dieses Leben beginnt bei dem Kreuz und mündet in eine Ewigkeit von Herrlichkeit; dieser Friede wird die Verbindung mit Gott und das Ruhen in Christus immer mehr vertiefen, bis wir den eigentlichen Bereich des Friedens erreichen ‑ die Gegenwart Gottes und des Lammes.

 

Allerdings versucht der Feind der Seelen dieses vorübergehende Leben so verlockend zu gestalten, daß die Menschen glauben, es sei das eigent­liche und wahre Leben. Er versucht alles, um die gedankenlose Menge bei guter Laune zu erhalten, damit sie sich nicht erinnert, daß Satan es ist, der die Fäden in der Hand hält und nichts anderes beabsichtigt, als die Seelen von Christus zu entfernen und sie ins ewige Verderben zu stürzen. Es gibt nichts Wirkliches, nichts Bleibendes und nichts wahr­haft Befriedigendes, als in Christus allein. Außer Ihm ist alles "Eitelkeit und ein Haschen nach Wind" (Pred. 2, 17). Nur in Ihm ist wirkliche und ewige Freude zu finden; und unser Leben beginnt erst dann, wenn wir anfangen, in Ihm, von Ihm und für Ihn zu leben. Dieser Monat soll euch der Anfang der Monate sein, er soll euch der erste sein von den Monaten des Jahres". Die in den Ziegelhütten und bei den Fleisch­töpfen zugebrachte Zeit wird überhaupt nicht mitgerechnet; sie war für Israel ohne Bedeutung, außer, daß die Erinnerung daran ihnen immer wieder ins Bewußtsein bringen sollte, was die Gnade Gottes für sie getan hatte.

 

"Redet zu der ganzen Gemeinde Israel und sprechet: Am zehnten dieses Monats, da nehme sich ein jeder ein Lamm für ein Vaterhaus, ein Lamm für ein Haus ... Ein Lamm ohne Fehl sollt ihr haben, ein männliches, einjährig; von den Schafen oder von den Ziegen sollt ihr es nehmen. Und ihr sollt es in Verwahrung haben bis auf den vierzehnten Tag dieses Monats, und die ganze Versammlung der Gemeinde Israel soll es schlachten zwischen den zwei Abenden" (V. 3‑6). Hier haben wir die Erlösung des Volkes; sie ist gegründet auf das Blut des Lammes nach dem ewigen Ratschluß Gottes und darum auch von ewiger Be­ständigkeit. Die Erlösung nimmt in den Gedanken Gottes den ersten Platz ein; sie ist nicht erst in späterer Zeit von Ihm beschlossen worden. Bevor die Welt, bevor Satan, bevor die Sünde war, bevor je die Stimme Gottes das Schweigen der Ewigkeit brach und die Welten ins Dasein rief, bestanden Seine tiefen Ratschlüsse der Liebe. Diese Ratschlüsse konnten allerdings in der Schöpfung niemals eine sichere Grundlage finden; denn alle Segnungen und Herrlichkeiten der Schöpfung gründeten sich auf den Gehorsam eines Geschöpfes; und sobald dieser Gehorsam fehlte, war alles verloren. Doch den Versuch Satans, die Schöpfung zu verder­ben, nahm Gott zum Anlaß, Seine tiefere Absicht, die Erlösung, zu offenbaren.

 

Diese Wahrheit wird uns im Bilde dadurch vor Augen gestellt "daß das Lamm vom zehnten bis zum vierzehnten Tag in Verwahrung blieb. Daß dieses Lamm ein Bild von Christus ist, steht außer Zweifel, denn wir lesen in 1. Kor. 5, 7: "Denn auch unser Passah, Christus, ist geschlach­tet"; und in 1. Petr. 1, 18‑20: "Indem ihr wisset, daß ihr nicht n* verweslichen Dingen, mit Silber oder Gold, erlöst worden seid von eurem eitlen, von den Vätern Überlieferten Wandel, sondern mit dem kostbaren Blute Christi, als eines Lammes ohne Fehl und ohne Flecken; welcher zwar zuvorerkannt ist vor Grundlegung der Welt, aber geoffen­bart worden am Ende der Zeiten um euretwillen".

 

Von Ewigkeit her war Christus der Inhalt aller Vorsätze Gottes, und keiner Anstrengung des Feindes ist es je gelungen, sie in Frage zu stellen; vielmehr dienten diese Anstrengungen nur zur Entfaltung der unergründlichen Weisheit und der unerschütterlichen Festigkeit der Ratschlüsse Gottes. Wenn das "Lamm ohne Fehl und ohne Flecken ... vor Grundlegung der Welt zuvorerkannt" war, dann muß die Erlösung sicher schon vor Grundlegung der Welt in den Gedanken Gottes ge­wesen sein. Der erhabene Gott brauchte nicht innezuhalten, um einen Plan zur Heilung des schrecklichen Übels zu entwerfen, das Satan in die Schöpfung gebracht hatte; Er brauchte nur aus dem unerforschlichen Reichtum Seiner Weisheit die Ratschlüsse in bezug auf das Lamm zu enthüllen, welches von Ewigkeit her zuvorerkannt war und am Ende der Zeiten um unsertwillen geoffenbart werden sollte.

 

Das Blut des Lammes war noch nicht nötig, als die Schöpfung gerade erst aus der Hand des Schöpfers hervorgegangen war und in jedem ihrer Teile den Abdruck Seiner Herrlichkeit, die unwiderlegbaren Beweise Seiner ewigen Kraft und Göttlichkeit (Röm. 1) an sich trug. Als aber dann „durch einen Menschen" (Röm. 5, 12) die Sünde in die Welt ge­kommen war, trat der vollkommenere und herrlichere Gedanke der Er­lösung durch das Blut des Lammes in den Vordergrund. Er war schon erkennbar, als das erste Menschenpaar aus dem Garten Eden vertrieben wurde; er schimmerte auch durch die Bilder und Schatten der mosaischen Haushaltung; in voller Klarheit aber wurde er vor der ganzen Welt ans Licht gebracht, als Gott persönlich in die Welt kam, "geoffenbart im Fleische" (1. Tim. 3, :16). Und schließlich wird die Erlösung vollendet sein, wenn die unzählige Menge der Erlösten in weißen Gewändern vor dem Thron Gottes und des Lammes steht und die ganze Schöpfung unter dem Friedensszepter des Sohnes Davids ruht.

 

In dem Lamm, das am zehnten Tag herbeigeholt und bis zum vier­zehnten Tag aufbewahrt wurde, sehen wir also Christus, von Ewigkeit her von Gott zuvorerkannt und um unsertwillen in den letzten Tagen geoffenbart. Der ewige Vorsatz Gottes in Christus wird die Grund­lage zum Frieden für den Gläubigen. Nichts weniger als das konnte genügen. Dieser Vorsatz Gottes liegt außerhalb der Schöpfung und der Zeit er bestand weit vor dem Eintritt der Sünde in die Welt und vor allem, was irgendwie die Grundlage unseres Friedens antasten könnte. Der Ausdruck: "zuvorerkannt vor Grundlegung der Welt" führt uns zurück in die unergründlichen Tiefen der Ewigkeit und zeigt uns, wie Gott Seine Ratschlüsse der erlösenden Liebe bildet und sie auf das ver­söhnende Blut Seines eigenen fleckenlosen Lammes gründet. Von Ewig­keit her hatte Christus den ersten Platz im Herzen und in den Gedanken Gottes; und deshalb stellte Gott Ihn in Schatten und Bildern dar, sobald Er zu reden oder zu handeln begann. Wenn wir die inspirierten Mittei­lungen der Bibel untersuchen, finden wir in jeder Zeremonie, in jeder Vorschrift und in jedem Opfer das "Lamm Gottes, welches die Sünde der Welt wegnimmt" (Joh. 1, 29). Nirgends aber tritt es uns deutlicher entgegen als im Passah. Das Passahlamm mit all den Besonderheiten, die seine Opferung begleiteten, ist eins der lehrreichsten Bilder der Hei­ligen Schrift.

 

Es geht in diesem Kapitel eigentlich um eine Versammlung und ein Opfer. "Und die ganze Versammlung der Gemeinde Israel soll es schlachten zwischen den zwei Abenden" (V. 6). Es handelt sich nicht so sehr um eine Anzahl von Familien mit verschiedenen Lämmern (obwohl das natürlich auch wahr ist), als vielmehr um eine einzige Versammlung und ein einziges Lamm. Jedes Haus bildete nur den örtlichen Ausdruck der ganzen, um das Lamm versammelten Gemeinde. Das Gegenbild hiervon haben wir in der ganzen Kirche Gottes, die durch den Heiligen Geist im Namen Jesu gesammelt wird und von der jede einzelne Ver­sammlung, wo sie auch zusammenkommen mag, der örtliche Ausdruck sein sollte.

 

"Und sie sollen von dem Blute nehmen und es an die beiden Pfosten und an die Oberschwelle tun, an den Häusern, in welchen sie es essen. Und sie sollen in selbiger Nacht das Fleisch essen, gebraten am Feuer, und ungesäuertes Brot; mit bitteren Kräutern sollen sie es essen. Ihr sollt nichts roh davon essen und keineswegs im Wasser gesotten, son­dern am Feuer gebraten: seinen Kopf samt seinen Schenkeln und samt seinem Eingeweide" (V. 7‑9). Wir haben das Passahlamm von zwei verschiedenen Gesichtspunkten aus zu betrachten, nämlich als Grund­lage des Friedens und als Mittelpunkt der Einheit. Das Blut an den Tür­pfosten sicherte Israel den Frieden. "Und sehe ich das Blut, so werde ich an euch vorübergehen" (V. 13). Die Besprengung mit dem Blut ge­nügte, um angesichts des Würgengels einen unerschütterlichen Frieden zu haben. Der Tod kam in alle Häuser Ägyptens. "Es ist dem Menschen gesetzt, einmal zu sterben" (Hebr. 9, 27). Aber Gott fand in Seiner großen Barmherzigkeit für Israel einen fleckenlosen Stellvertreter, an dem das Todesurteil vollzogen wurde. So genügte also dem Anspruch Gottes und der Notlage Israels eine und dieselbe Sache, das Blut des Lammes. Das Blut an den Türpfosten war der Beweis, das alles göttlich und darum vollkommen in Ordnung gebracht war; und das gab den Be­wohnern des Hauses einen vollkommenen Frieden. Ein Schatten von Zweifel in dem Herzen eines Israeliten wäre für das göttliche Funda­ment des Friedens, das Blut der Versöhnung, eine Unehre gewesen.

 

Ohne Zweifel fühlte jeder, der sich hinter den mit Blut bestrichenen Türpfosten befand, daß das Todesurteil der gerechte Lohn für seine Sünden gewesen wäre; aber das Lamm hatte an seiner Statt die Strafe erduldet. Das war die feste Grundlage seines Friedens. Das Gericht, das er verdient hatte, traf ein von Gott ausersehenes Schlachtopfer; und indem er dies glaubte, konnte er im Innern des Hauses in Frieden davon essen. Der geringste Zweifel hätte Gott zum Lügner gemacht, denn Er hatte gesagt: "Und sehe ich das Blut, so werde ich an euch vorüber­gehen". Es ging dabei nicht um persönliches Verdienst; das stand so­wieso außer Frage. Alle, die sich unter dem Schutz des Blutes befanden, waren in Sicherheit. Sie konnten nicht nur gerettet werden, sondern sie waren gerettet. Ihr Rettung war nicht Gegenstand ihrer Hoffnung oder ihres Gebets, sondern war eine sichere Tatsache, gestützt auf die Glaub­würdigkeit der Zusage Gottes. Auch waren sie nicht zum Teil gerettet und zum Teil dem Gericht ausgesetzt; sie waren vollständig gerettet. Das Blut des Lammes und das Wort des Herrn bildeten die Grundlage für den Frieden Israels in jener schrecklichen Nacht, in der Gott alle Erstgeborenen Ägyptens schlug. Wäre einem Israeliten auch nur ein Haar gekrümmt worden, so wäre das Wort des HERRN nichtig und das Blut des Lammes wertlos gewesen.

 

Es ist sehr wichtig, ein klares Verständnis davon zu haben, was den Grund des Friedens eines Sünders in der Gegenwart Gottes ausmacht. Man hat so viele Dinge mit dem vollbrachten Werk Christi vermengt, daß viele Seelen über ihre Annahme bei Gott in Ungewißheit sind. Sie verstehen nicht, daß die Erlösung durch das Blut Christi, wenn sie es einmal auf sich angewendet haben, eine für immer geordnete Sache ist. Sie wissen nicht, daß die vollkommene Vergebung einfach darauf be­ruht, daß ein vollkommenes Sühnopfer dargebracht worden ist, und daß diese Tatsache in aller Deutlichkeit demonstriert wurde, indem der Stellvertreter des Sünders aus den Toten auferstand. Sie wissen wohl, daß es außer dem Blut des Kreuzes kein Rettungsmittel gibt; aber das wissen auch die Teufel, und dennoch nützt es ihnen nichts. Was ihnen fehlt, ist das Bewußtsein, daß sie gerettet sind. Der Israelit wußte nicht nur, daß in dem Blut Rettung zu finden war, sondern er war seiner Rettung gewiß. Und warum? War es etwa aufgrund von irgend etwas, das er getan, gefühlt oder gedacht hatte? Nein, sondern weil Gott ge­sagt hatte: "Und sehe ich das Blut, so werde ich an euch vorüber­gehen". Er verließ sich auf das Zeugnis Gottes. Er glaubte, weil Gott es gesagt hatte. "Wer sein Zeugnis angenommen hat, hat besiegelt, daß Gott wahrhaftig ist" (Joh. 3, 33).

 

Beachten wir wohl, daß sich der Israelit nicht auf seine eigenen Gedan­ken, Gefühle oder Erfahrungen stützte. Da hätte er in der Tat auf einen unsicheren, sandigen Boden gebaut. Seine Gedanken und Gefühle konnten gründlich oder oberflächlich sein, aber in beiden Fällen hatten sie nichts mit der Grundlage des Friedens zu tun. Gott hatte nicht ge­sagt: "Wenn ihr das Blut seht und es in seinem ganzen Wert erkennt, will ich an euch vorübergehen". Das hätte allerdings jeden Israeliten in Verzweiflung stürzen können, weil es dem menschlichen Geist unmög­lich ist, das Blut des Lammes jemals genügend zu würdigen. Was Frie­den gab, war die Tatsache, daß Gott das Blut sah und seinen Wert kannte. Das allein konnte das Herz beruhigen. Das Blut war draußen und der Israelit drinnen, so daß er es unmöglich sehen konnte, aber Gott sah es, und darauf allein kam es an.

 

Diese Wahrheit erhellt auch die Frage, wie heute ein Sünder Frieden be­kommt. Nachdem der Herr Jesus Sein Blut als eine vollkommene Süh­nung für die Sünde vergossen hatte, brachte Er es in die Gegenwart Gottes und sprengte es dort; und das Zeugnis Gottes versichert dem glaubenden Sünder, daß alles zu seinen Gunsten in Ordnung gebracht ist, und zwar nicht durch seine Wertschätzung dieses Blutes, sondern durch die Kraft des Blutes selbst, das in den Augen Gottes einen so hohen Wert hat, daß Er um des Blutes willen in Gerechtigkeit alle Sün­den vergeben und den Sünder ‑ vollkommen gerecht in Christus ‑ an­nehmen kann. Könnte je ein Mensch dauerhaften Frieden haben, wenn der Friede von ihm selbst abhängig wäre? Unmöglich! Der menschliche Geist reicht einfach nicht aus, um das Blut in dem Wert zu erkennen, den es in den Augen Gottes hat. Wenn daher unser Friede davon ab­hinge, inwieweit wir das Blut wertschätzen, dann wäre er ebenso unerreichbar, als wenn wir ihn durch "Gesetzeswerke" zu erlangen suchten (Röm. 9, 32; Gal. 2, 16; 3, 10). Entweder bietet das Blut allein eine Grundlage für unseren Frieden, oder wir können niemals Frieden haben. Sobald wir unsere Wertschätzung des Blutes mit dem Blut selbst ver­wechseln, kehren wir den Inhalt des Christentums ebenso um, als wenn wir einen Sünder unter das Gesetz vom Sinai stellen wollten. Entweder genügt das Sühnopfer Christi oder es genügt nicht. Wenn es aber ge­nügt, warum dann Zweifel und Befürchtungen? Mit unseren Lippen ver­kündigen wir, daß das Werk vollbracht ist; aber die Zweifel und Be­fürchtungen unseres Herzens erklären, daß es nicht so ist. Wer an der vollkommenen Vergebung seiner Sünden zweifelt, leugnet dadurch, wenigstens in bezug auf sich selbst, die Vollkommenheit des Opfers Christi.

 

Allerdings gibt es viele, die nie soweit gehen würden, die Kraft des Blutes Christi bewußt in Zweifel zu ziehen, die aber dennoch keinen sicheren Frieden haben. Solche Personen sind überzeugt, daß das Blut Christi vollkommen den Bedürfnissen des Sünders genügt ‑ wenn sie nur gewiß wären, daß auch sie selbst den rechten Glauben haben und unter dem Schutz des Blutes stehen. Viele Seelen befinden sich in diesem unglücklichen Zustand. Anstatt sich mit dem Blut Christi und dem Wort Gottes zu beschäftigen, bleiben sie bei ihren eigenen Gedan­ken und ihrem Glauben stehen; anstatt auf Christus zu schauen, blicken sie in sich hinein. Aber das ist kein Glaube, und infolgedessen haben sie auch keinen Frieden. Ein hinter den blutbesprengten Türpfosten ge­borgener Israelit hätte diesen Seelen eine passende Unterweisung geben können. Er war nicht gerettet infolge seines Interesses an dem Blut, noch wegen seiner Gedanken darüber, sondern einfach durch das Blut. Ohne Zweifel war er in seinen Gedanken sehr mit dem Blut beschäftigt; aber Gott hatte nicht gesagt: "Wenn ich euer Interesse an dem Blut sehe, will ich an euch vorübergehen". Hätte das Volk auch nur ein Stück ungesäuertes Brot als Grundlage seiner Sicherheit, dem Blut zur Seite stellen wollen, so hätte es damit seinen HERRN zum Lügner gemacht und die Vollkommenheit Seines Heilmittels geleugnet.

 

Wir halten leicht etwas in uns oder in Verbindung mit uns für notwen­dig als Grundlage unseres Friedens. Aus den Zweifeln und Befürch­tungen, von denen so viele Christen geplagt werden, geht hervor, daß über diesen wichtigen Punkt sehr wenig Klarheit und Verständnis vor­handen ist. Wir sind viel eher bereit, die Werke des Geistes in uns, als das Werk Christi für uns als das Fundament unseres Friedens anzu­sehen. Wir werden bald Gelegenheit haben, zu sehen, welchen Platz das Werk des Heiligen Geistes im Christentum einnimmt; aber niemals wird dieses Werk in der Schrift als die Grundlage unseres Friedens bezeichnet. Nicht der Heilige Geist hat Frieden gemacht, sondern Chri­stus. Nicht von dem Heiligen Geist wird gesagt, daß Er unser Friede sei, sondern von Christus. Gott hat nicht durch den Heiligen Geist Frie­den verkündigt, sondern durch Jesus Christus (vergl. Apg. 10, 36; Eph. 2, 14. 17; Kol 1, 20). Man kann diesen wichtigen Unterschied gar nicht einfältig genug erfassen. Das Blut Christi allein gibt uns Frieden und eine vollkommene, göttliche Gerechtigkeit; es führt uns ins Allerheiligste, rechtfertigt Gott bei der Annahme eines glaubenden Sünders und ver­leiht uns ein Anrecht auf alle Herrlichkeiten des Himmels (siehe Röm. 3, 24‑26; 5, 9; Eph. 2, 13‑18; Kol. 1, 20‑22; Hebr. 9, 14; 10, 19; 1. Petr. 1, 19; 2, 24; 1. Joh. 1, 7; Offbg. 7, 14‑17). Indem ich das Blut Christi an dem von Gott angewiesenen Platz lasse, sollen nicht etwa die Wirkungen des Heiligen Geistes irgendwie abgewertet werden. Der Heilige Geist offenbart Christus, läßt uns Ihn erkennen, bewirkt, daß wir uns von Ihm nähren; Er nimmt die Dinge Christi und verkün­digt sie uns (Joh. 16, 15). Er ist die Kraft der Gemeinschaft, das Siegel, der Zeuge, das Unterpfand, die Salbung ‑alle Seine Wirkungen sind un­bedingt notwendig. Ohne Ihn könnten wir Christus weder sehen noch hören, weder erkennen noch fühlen, weder erfahren noch genießen, noch Ihn in irgendeiner Weise darstellen. Die Lehre von den Wirkungen des Heiligen Geistes ist in der Schrift klar dargestellt und wird von jedem wahren und richtig belehrten Christen erkannt und angenommen.

 

Dennoch ist das Werk des Geistes nicht der Grund des Friedens; wenn es so wäre, könnten wir vor der Ankunft Christi keinen dauern­den und sicheren Frieden haben, weil das Werk des Heiligen Geistes in der Kirche erst vollendet ist, wenn der Herr kommt. Er setzt immer noch Sein Werk in den Gläubigen fort. Er "verwendet sich für ‑uns in unaus­sprechlichen Seufzern" (Röm. 8, 26). Er wirkt, um uns dem Bilde des Sohnes in allem gleichförmig zu machen. Er ist der einzige Urheber jedes guten Wunsches, jeder reinen Zuneigung, jeder göttlichen Erfah­rung und jeder gesunden Überzeugung; aber es ist klar, daß Sein Werk in uns nicht eher vollständig ist, als bis wir den gegenwärtigen Schau­platz verlassen und unseren Platz mit Christus in der Herrlichkeit ein­genommen haben, ebenso wie das Werk Eliesers, des Knechtes Abra­hams, nicht eher vollendet war, bis er Rebekka dem Isaak vorstellen konnte.

 

Anders aber verhält es sich mit dem Werk Christi für uns. Es ist gänzlich und für immer vollendet. Christus konnte sagen: "Das Werk habe ich vollbracht, welches du mir gegeben hast, daß ich es tun sollte" (Joh. 7, 4). Und Er konnte ausrufen: "Es ist vollbracht!" (Joh. 19, 30). Aber der Heilige Geist kann nicht sagen, daß Er Sein Werk voll­bracht habe. Als der Stellvertreter Christi auf Erden wirkt Er fort­während inmitten der zahlreichen feindseligen Einflüsse, die Sein Werk behindern wollen. Er wirkt in den Herzen der Kinder Gottes, um sie auch praktisch zu dem Maße des göttlichen bezeichneten Wuchses hin­zuführen (Eph. 4, 1,3). Aber niemals belehrt Er einen Gläubigen, seinen Frieden in der Gegenwart Gottes von Seinem Werke abhängig zu machen. Er hat den Auftrag, von Jesus zu reden und nicht von sich selber; "denn, sagt Christus, "von dem Meinen wird er empfangen und euch verkündigen" (Joh. 16, 13. 14). Wenn also jemand nur durch den Heiligen Geist den wahren Grund des Friedens erkennen kann, und wenn der Heilige Geist niemals von sich selbst redet, so ist es deutlich, daß Er nur das Werk Christi als die Grundlage bezeichnen kann, auf der die Seele für immer ruhen muß; kraft dieses Werkes kann der Heilige Geist überhaupt nur Wohnung in dem Gläubigen machen und in ihm Seine wunderbaren Wirkungen fortsetzen.

 

So ist also das Passahlamm, als der Grund des Friedens Israels, ein be­merkenswertes Bild von Christus, der Grundlage des Friedens für den Gläubigen. Dem Blut an den Türpfosten war nichts hinzuzufügen, und ebensowenig bedarf das Blut Christi irgendeiner Ergänzung. Das unge­säuerte Brot und die bitteren Kräuter waren zwar notwendig; aber sie waren keinesfalls der Grund des Friedens. Sie waren für das Innere des Hauses bestimmt und bildeten die charakteristischen Zeichen der Ge­meinschaft in diesem Hause, aber das Blut des Lammes war die Grund­lage von allem. Es rettete vom Tode und brachte Leben, Licht und Frie­den. Es stellte die Verbindung her zwischen Gott und Seinem erlösten Volk. Und nachdem die Israeliten aufgrund dieser Erlösung mit Gott verbunden waren, war es ein Vorrecht, auch gewisse Verpflichtungen zu haben; aber diese Verpflichtungen waren natürlich nicht die Voraus­setzung, sondern nur das Ergebnis ihrer Verbindung mit Gott.

 

Ich möchte auch daran erinnern, daß in der Heiligen Schrift nicht das gehorsame Leben Christi als die Ursache bezeichnet wird, durch die wir Vergebung erlangen. Sein Tod am Kreuz war es, der die Liebe Gottes ausströmen ließ, die sonst für immer verborgen geblieben wäre. Hätte Christus bis heute "wohltuend und heilend" (Apg 10, 38) Seinen Gang durch die Städte Israels fortgesetzt, so wäre der Vorhang des Tempels nie zerrissen und hätte noch heute dem Anbeter den Zugang zu Gott versperrt. Es war Sein Tod, der den Vorhang "von oben bis unten" zer­riß (Mark. 15, 38). "Durch seine Striemen", und nicht durch Sein ge­horsames Leben, "ist uns Heilung geworden" (Jes. 53, 5; 1. Petr. 2, 24); und diese Striemen empfing Er am Kreuz, und nirgendwo anders. Seine eigenen Worte stellen dies außer Zweifel: "Ich habe aber eine Taufe, womit ich getauft werden muß, und wie bin ich beengt, bis sie vollbracht ist" (Luk. 12, 50)! Kann sich diese Stelle auf etwas anderes als auf Seinen Tod am Kreuz beziehen? Dieser Tod war die Vollziehung Seiner Taufe und öffnete Seiner Liebe einen Weg, auf dem sie in Gerechtigkeit frei ausströmen konnte zu den schuldigen Nachkommen Adams. Weiter hat Er gesagt: "Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein" (Joh. 12, 24). Er war dieses "Weizenkorn"; und Er wäre, obwohl Er Fleisch geworden war, für immer allein geblieben, wenn Er nicht durch Seinen Tod am Fluchholz alles aus dem Weg ge­räumt hätte, was die Vereinigung Seines Volkes mit Ihm in der Aufer­stehung verhindern konnte. wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht".

 

Es gibt in Verbindung mit dieser wichtigen und ernsten Frage zwei Gedanken, die wir beachten müssen, nämlich, daß eine Vereinigung mit Christus nur in der Auferstehung möglich ist, und zweitens, daß Chri­stus nur am Kreuz für Sünden gelitten hat. Wir dürfen nicht denken, daß Christus schon durch Seine Menschwerdung uns mit sich vereinigt habe. Das war unmöglich. Wie hätte unser sündiges Fleisch mit Ihm vereinigt werden können? Der Leib der Sünde mußte durch den Tod zerstört werden. Die Sünde mußte den göttlichen Anforderungen ge­mäß beseitigt, und die ganze Macht des Feindes mußte vernichtet wer­den. Wie konnte das alles geschehen? Nur dadurch, daß sich das flecken­lose Lamm Gottes dem Tod am Kreuz unterwarf. "Denn es geziemte ihm, um deswillen alle Dinge und durch den alle Dinge sind, indem er viele Söhne zur Herrlichkeit brachte, den Anführer ihrer Errettung durch Leiden vollkommen zu machen" (Hebr. 2, 10). "Siehe, ich treibe Dämo­nen aus und vollbringe Heilungen heute und morgen, und am dritten Tage werde ich vollendet" (Luk. 13, 32). Die Ausdrücke "vollkommen" und "vollendet" in diesen Stellen beziehen sich nicht auf Christus in Seiner eigenen Person; denn Er war als Sohn Gottes vollkommen von Ewigkeit her, und auch in Seiner Menschheit war Er durchaus vollkommen. Aber als "Anführer ihrer Errettung", der "viele Söhne zur Herr­lichkeit brachte", als der, welcher "viel Frucht bringt" und ein erlöstes Volk mit sich vereinigt ‑ mußte Er den "dritten Tag" erreichen, um "vollendet" zu werden. Er stieg allein hinab in die "Grube des Ver­derbens" und in den "kotigen Schlamm"; aber als Er Seinen "Fuß auf den Felsen" der Auferstehung stellte, vereinigte Er mit sich die "vielen Söhne' (Ps. 40, 1‑3). Er focht den Kampf allein aus; aber als der mäch­tige Überwinder läßt Er uns jetzt an der Siegesbeute teilhaben, damit wir uns für immer daran erfreuen können.

 

Zum anderen dürfen wir das Kreuz Christi nicht als das Ende eines dem Sündentragen geweihten Lebens betrachten. Das Kreuz war der einzige Ort, an dem der Herr Jesus Sünden trug. Er trug "unsere Sünden an seinem Leibe auf dem Holze" (1. Petr. 2, 24). Er trug sie weder in der Krippe, noch in der Wüste, noch im Garten Gethsemane, sondern einzig und allein "auf dem Holze". Er hatte niemals etwas mit der Sünde zu schaffen, außer am Kreuz; dort aber neigte Er Sein Haupt und gab unter dem Gewicht der Sünden Seines Volkes Sein Leben hin. Nirgendwo anders als am Kreuz litt Er von der Hand Gottes; dort aber verbarg Gott Sein Angesicht vor Ihm, weil Er "zur Sünde gemacht" war (2. Kor. 5,21).

 

Der bisherige Gedankengang und die angeführten Stellen der Heiligen Schrift tragen vielleicht dazu bei, die göttliche Kraft der Worte tiefer zu empfinden: "Sehe ich das Blut, so werde ich an euch vorübergehen". Natürlich mußte das Lamm fleckenlos sein, denn was hätte sonst der Heiligkeit des HERRN begegnen können? Aber wäre das Blut nicht vergossen worden, so hätte der HERR an Seinem Volk nicht vorüber­gehen können; denn "ohne Blutvergießung ist keine Vergebung" (Hebr. 9, 22). Dieser Gedanke begegnet uns noch anschaulicher in den Bildern des 3. Buches Mose. Er verdient unsere ernsthafte Aufmerksamkeit, wenn wir unseren Herrn Jesus Christus in Aufrichtigkeit lieb haben.

 

Betrachten wir jetzt das Passah unter dem zweiten Gesichtspunkt, nämlich als den Mittelpunkt, um den sich das Volk in friedlicher und heili­ger Gemeinschaft versammelte. Die Rettung durch das Blut und das Passahmahl sind zwei sehr verschiedene Dinge. Das Volk war nur durch das Blut gerettet, aber der Mittelpunkt, um den es sich ver­sammelte, war das am Feuer gebratene Lamm. Das ist ein bedeutsamer Unterschied. Das Blut des Lammes bildet die Grundlage unserer Bezie­hungen zu Gott und auch unserer Beziehungen zu einander. Getrennt von dem vollkommenen Sühnopfer Christi kann weder von einer Ge­meinschaft mit Gott, noch von einer Gemeinschaft mit der Versammlung Gottes die Rede sein. jedoch dürfen wir nicht aus dem Auge verlieren, daß es der lebendige Christus im Himmel ist, mit dem der Heilige Geist die Gläubigen verbindet. Es ist ein lebendiges Haupt, mit dem wir ver­einigt, ein "lebendiger Stein", zu dem wir gekommen sind (l. Petr. 2, 4). Nachdem wir durch Sein Blut Frieden gefunden haben, ist Er nun unser Sammelpunkt sowie das Band, das uns vereinigt. "Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte" (Matth. 18, 20). Der Heilige Geist allein ist es, welcher sammelt; Christus ist der einzige Gegenstand, zu dem hin die Gläubigen gesammelt werden; und unsere Versammlung muß, wenn wir so zusammengekommen sind, durch Heiligkeit charakterisiert sein, damit der Herr, unser Gott, in un­serer Mitte wohnen kann. Der Heilige Geist kann das Volk Gottes nur zu Christus und nicht zu einem System, zu einem Namen, zu einer Lehre oder Vorschrift hin sammeln. Er sammelt zu einer Person hin, und diese Person ist der im Himmel verherrlichte Christus. Das verleiht der Versammlung Gottes einen besonderen Charakter. Die Menschen mögen sich aus irgendeinem Grund, um irgendeinen Mittelpunkt oder zu irgendeinem beliebigen Zweck vereinigen; aber wenn der Heilige Geist vereinigt, dann geschieht es nur aufgrund einer vollbrachten Er­lösung um die Person Christi, um für Gott eine heilige Wohnstätte zu bereiten (l. Kor. 3, 16. 17; 6, 19; Eph. 2, 21. 22; 1. Petr. 2, 4. 5).

 

Es müssen nun noch die Grundsätze im einzelnen betrachtet werden, die in der Verordnung zum Passahfest enthalten sind. Die Versamm­lung Israels stand zwar schon unter dem Schutz des Blutes, aber sie mußte auch in einer Gott geziemenden Weise stattfinden. Um vor dein Gericht in Sicherheit zu sein, war nur das Blut erforderlich, aber im Blick auf die Gemeinschaft, die dadurch zustandegebracht war, waren andere Dinge nötig, die nicht vernachlässigt werden durften.

 

"Und sie sollen in selbiger Nacht das Fleisch essen, gebraten am Feuer, und ungesäuertes Brot; mit bitteren Kräutern sollen sie es essen. Ihr sollt nichts roh davon essen und keineswegs im Wasser gesotten, son­dern am Feuer gebraten: seinen Kopf samt seinen Schenkeln und samt seinem Eingeweide" (V. 8. 9). Das Lamm mußte der Wirkung des Feuers unterworfen werden. Hierin sehen wir Christus, "unser Passah" (1. Kor. 5, 7), wie Er sich selbst dem Feuer der göttlichen Heiligkeit und des göttlichen Gerichts aussetzte, das aber an Ihm keinen Makel finden konnte. Er konnte sagen: "Du hast mein Herz geprüft, hast mich des Nachts durchforscht; du hast mich geläutert ‑ nichts fandest du; mein Gedanke geht nicht weiter als mein Mund" (Ps. 17, 3). Bei Ihm war alles vollkommen. Das Feuer läuterte Ihn, aber es zeigten sich keine Schlacken. "Sein Kopf samt seinen Schenkeln und samt seinem Einge­weide", das ist: der Sitz des Verstandes sowie der äußere Wandel samt allem, was damit zusammenhing ‑ alles wurde dem Feuer ausgesetzt, und alles erwies sich als vollkommen. Das Braten des Lammes war daher, wie jede Einzelheit in den Anordnungen Gottes, von großer Be­deutung.

 

"Ihr sollt nichts roh davon essen und keineswegs im Wasser gesotten". Wäre das Lamm in dieser Weise gegessen worden, so hätte das Passahmahl nicht die Absicht Gottes erfüllt, Christus darzustellen als das wirk­liche Passahlamm, das am Kreuz das Feuer des gerechten Zornes Gottes erdulden mußte. Wir stehen nicht nur unter dem ewigen Schutz des Blutes des Lammes, sondern durch den Glauben nähren wir uns auch von dem Lamm. Viele von uns verkümmern in dieser Beziehung. Sie begnügen sich mit dem Bewußtsein ihrer Errettung durch das voll­brachte Werk Christi, haben aber kein Verlangen nach praktischer Ge­meinschaft mit Ihm. Er aber kann sich damit nicht begnügen. Er hat uns so eng mit sich selbst verbunden, damit wir uns von Ihm nähren und uns in Ihm freuen können. Er stellt sich uns vor als das Lamm, das bis zum äußersten den Zorn Gottes ertragen hat, und in eben diesem Charakter will Er auch die Nahrung für unsere Seelen sein.

 

Aber wie sollte dieses Lamm gegessen werden? Mit ungesäuertem Brot und bitteren Kräutern. Der Sauerteig ist in der ganzen Schrift ausnahms­los ein Bild des Bösen. Weder im Alten noch im Neuen Testament wird dieses Wort gebraucht, um irgend etwas Reines, Heiliges oder Gutes darzustellen. Daher ist das „Fest der ungesäuerten Brote" in diesem Kapitel ein Bild der praktischen Absonderung vom Bösen, die das Ergebnis der Reinigung durch das Blut des Lammes ist, die sich aber auch aus der Gemeinschaft mit Seinen Leiden ergibt. Nur ein ungesäuertes Brot war dem am Feuer gebratenen Lamm angemessen. Die geringste Menge Sauerteig hätte den Charakter des Passahmahls verdorben. Wie könnten wir irgend etwas Böses mit unserer Gemeinschaft mit dem leidenden Christus vereinbaren? Alle, die durch die Kraft des Heiligen Geistes die Bedeutung des Kreuzes verstehen, werden auch sicherlich durch dieselbe Kraft jeden Sauerteig aus ihrer Mitte entfernen. „Feget den alten Sauer­teig aus, auf daß ihr eine neue Masse sein möget, gleichwie ihr unge­säuert seid. Denn auch unser Passah, Christus, ist geschlachtet. Darum laßt uns Festfeier halten, nicht mit altern Sauerteig, auch nicht mit Sauer­teig der Bosheit und Schlechtigkeit, sondern mit ungesäuertem Brote der Lauterkeit und Wahrheit" (1. Kor. 5, 7. 8). Die hier erwähnte Festfeier im Leben der Kirche entspricht dem Fest der ungesäuerten Brote im Alten Testament. Dieses Fest dauerte sieben Tage; und sowohl dj[e Kirche in ihrer Gesamtheit, als auch der einzelne Christ sind berufen, während der sieben Tage, d. h. während ihres ganzen Daseins auf Erden, in praktischer Heiligkeit zu leben. Diese Notwendigkeit ergibt sich unmittelbar aus der Tatsache, daß sie durch das Blut gewaschen sind und mit dem Leiden Christi Gemeinschaft haben.

 

Der Israelit tat den Sauerteig nicht weg, um gerettet zu werden, son­dern weil er gerettet war; und wenn er es versäumt hätte, ihn zu be­seitigen, so wäre das zwar eine betrübliche Vernachlässigung gewesen, hätte aber keineswegs seine durch das Blut erlangte Sicherheit, sondern nur seine Gemeinschaft mit der Gemeinde beeinträchtigt. "Sieben Tage soll kein Sauerteig in euren Häusern gefunden werden; denn jeder, der Gesäuertes isset, selbige Seele soll aus der Gemeinde Israel ausgerottet werden, er sei Fremdling oder Eingeborener des Landes' (V. 19). Die Ausrottung eines Israeliten aus der Gemeinde entspricht genau der Unterbrechung der Gemeinschaft eines Christen, wenn dieser etwas Böses bei sich duldet, das mit der Heiligkeit Gottes in Widerspruch steht. Gott kann das Böse nicht dulden. Ein einziger unreiner Gedanke unter­bricht schon die Gemeinschaft mit Ihm; und solange diese Verunreini­gung nicht durch die Fürsprache Christi und ein darauf gegründetes Be­kenntnis weggetan worden ist, kann die Gemeinschaft nicht wiederher­gestellt werden (siehe 1. Joh. 1, 5‑10; vergl. auch Ps. 32, 3‑5). Ein aufrichtiger Christ freut sich auch darüber. Er kann frohen Herzens an die Heiligkeit Gottes denken und würde, auch wenn er es könnte, das Maß der Heiligkeit auch nicht um eine Haaresbreite vermindern. Für ihn ist es eine Freude, mit jemandem Gemeinschaft zu haben, der keinen Augenblick mit der geringsten Spur von "Sauerteig" in Verbindung sein kann.

 

Gott sei Dank, daß nichts unsere Verbindung mit Ihm lösen kann. Wir sind gerettet durch den HERRN, nicht mit einer bedingten, vorüber­gehenden, sondern mit einer ewigen Rettung (Jes. 45, 17). Aber Er­rettung und Gemeinschaft sind zwei verschiedene Dinge. Viele Seelen sind errettet, ohne es zu wissen; und viele auch, ohne sich ihrer Erret­tung zu erfreuen. Ich kann mich nicht über die Sicherheit freuen, die das Blut an den Türpfosten mir bietet, wenn sich Sauerteig in meinem Hause befindet. Das ist ein unveränderlicher göttlicher Grundsatz. Die praktische Heiligkeit ist nicht die Grundlage unseres Heils, aber sie ist eng verbunden mit der Freude daran. Ein Israelit hatte nicht in dem un­gesäuerten Brot, sondern in dem Blut seine Rettung gefunden; aber dennoch unterbrach der Sauerteig seine Gemeinschaft mit Gott. Ebenso ist der Christ nicht durch seine praktische Heiligkeit, sondern durch das Blut errettet; aber wenn er in Gedanken, Worten oder Werken etwas Böses bei sich duldet, kann er keine wirkliche Freude und auch keine wirkliche Gemeinschaft mit dem Lamm Gottes haben.

 

Ich zweifle nicht daran, daß die Mißachtung dieses wichtigen Grund­satzes zum großen Teil die Ursache der geistlichen Dürre und des Man­gels an wahrem und beständigem Frieden ist, denen man unter den Kin­dern Gottes so oft begegnet. Sie leben nicht in praktischer Heiligkeit; sie halten nicht das "Fest der ungesäuerten Brote". Das Blut ist an den Türpfosten; aber der Sauerteig in ihren Häusern verhindert die Freude an der durch das Lamm bewirkten Sicherheit. Die Zulassung des Bösen macht jede Gemeinschaft mit Gott unmöglich. Alle, die der Versamm­lung Gottes angehören, müssen heilig sein. Sie sind befreit von der Schuld und den Folgen der Sünde, aber auch von der Kraft und der Sklaverei der Sünde. Gerade diese Befreiung durch das Blut des Passah­lammes verpflichtete die Israeliten, den Sauerteig aus allen ihren Gren­zen zu verbannen. Sollten sie etwa die schreckliche Sprache eines Ge­setzesverächters führen und sagen: "jetzt, nachdem wir gerettet sind, können wir leben, wie es uns gefällt"? Waren sie aus Gnaden gerettet, dann waren sie auch zur Heiligkeit gerettet. Wer die Freiheit der göttli­chen Gnade und die Vollkommenheit der Versöhnung zum Anlaß neh­men kann, "in der Sünde zu verharren (Röm. 6, 1), gibt dadurch zu erkennen, daß er weder die eine, noch die andere Sache versteht.

 

Ein Christ ist durch die Gnade nicht nur für alle Ewigkeit errettet, son­dern er hat auch eine neue, göttliche Natur bekommen; und diese neue Natur in ihm kann nicht sündigen, sondern findet ihre Freude an allem, was göttlich ist (Joh. 1, 13; 1. Joh. 3, 9; 2. Petr. 1, 4; 1. Joh. 2, 29; 5, 18). Ein Leben in der Kraft dieser Natur ist in Wirklichkeit ein "Halten" des Festes der ungesäuerten Brote. Es befindet sich weder "alter Sauerteig", noch "Sauerteig der Bosheit und Schlechtigkeit" (l. Kor 5, 8) in der neuen Natur, denn sie ist aus Gott; und Gott ist heilig, "Gott ist Liebe (l. Joh. 4, 8). Es liegt daher auf der Hand, daß wir nicht deshalb das Böse von uns wegtun, um die alte, verderbte Natur zu veredeln, oder um die neue Natur zu erlangen, sondern weil wir die neue Natur schon besitzen. Wir haben Leben, und in der Kraft dieses Lebens beseitigen wir das Böse. Erst wenn wir von unserer Sün­denschuld befreit sind, können wir die wahre Kraft der Heiligkeit offen­baren. Dies auf einem anderen Wege erreichen zu wollen, wäre ein hoffnungsloses Bemühen. Das Fest der ungesäuerten Brote kann nur unter dem Schutz des Blutes gefeiert werden.

 

Ebenso bedeutsam und bildlich anwendbar wie das ungesäuerte Brot ist das, was ihm beigefügt werden mußte: die "bitteren Kräuter". Wir können uns nicht der Gemeinschaft mit den Leiden Christi erfreuen, ohne uns daran zu erinnern, was diese Leiden notwendig machte; und diese Erinnerung wird ohne Zweifel eine demütige Haltung des Geistes in uns bewirken, die in den "bitteren Kräutern" bei der Feier des Passah Ausdruck fand. Diese bitteren Kräuter rufen dem Gläubigen ins Bewußtsein, daß es seine Sünden waren, die Christus als das Lamm Gottes auf sich lud, und derentwegen Er den Zorn ertragen mußte. "Die Strafe zu unserem Frieden lag auf ihm, und durch seine Striemen ist uns Heilung geworden" (Jes. 53, 5). Wegen der außerordentlichen Leichtfertigkeit unserer Herzen ist es gut, die Bedeutung der bitteren Kräuter richtig zu verstehen. Wer könnte den 6., 22., 69., s8 und 109. Psalm lesen, ohne dabei an die Bedeutung des ungesäuerten Brotes und der bitteren Kräuter zu denken? Wirkliche Gemeinschaft mit den Leiden Christi bewirkt praktische Heiligkeit und tiefe Demut; denn Sünde und Leichtfertigkeit des Geistes sind angesichts solcher Leiden undenkbar.

 

Ohne Zweifel empfinden wir auch eine tiefe Freude bei dem Bewußt­sein, daß Christus unsere Sünden getragen und an unserer Statt den gerechten Zorn Gottes erduldet hat. Das ist die unerschütterliche Grundlage unserer Freude. Aber könnten wir es je vergessen, daß unsere Sünden die Ursache Seiner Leiden waren? Könnten wir je die überwältigende Wahrheit aus dem Auge verlieren, daß das Lamm Gottes Sein Haupt beugte unter dem schweren Gericht unserer Übertretungen? Wir müssen unser Lamm essen mit bitteren Kräutern und bringen damit die tiefen Erfahrungen eines Gläubigen zum Ausdruck, der mit geist­lichem Verständnis die Bedeutung des Kreuzes erkennt und verwirklicht.

 

Am Kreuz ist unsere ganze Schuld getilgt worden, und diese Tatsache erfüllt uns mit Frieden und Freude. Aber gleichzeitig finden wir darin das Ende unserer Natur, die Kreuzigung "des Fleisches", den Tod des "alten Menschen" (Siehe Röm. 6, 6; Gal. 2, 20; 6,14; Kol. 2, 11). Das ist "bitter" für unsere Natur. Denn nun sind wir aufgerufen, uns selbst zu verleugnen, unsere Glieder, die auf der Erde sind, zu töten (Kol. 3, 5) und uns der Sünde für tot zu halten (Röm. 6, 11). Das scheint eine schreckliche Konsequenz zu sein; aber wenn man einmal in das blutbe­sprengte Haus eingetreten ist, denkt man ganz anders darüber. Diesel­ben Kräuter, die für einen Ägypter ohne Zweifel ganz bitter waren, bildeten einen wesentlichen Teil des Erlösungsfestes der Israeliten. Wer durch das Blut des Lammes erkauft ist und die Freude der Gemeinschaft mit Ihm kennt, betrachtet es als ein "Fest", das Böse zu beseitigen und die Natur für tot zu halten.

 

"Und ihr sollt nichts davon übriglassen bis an den Morgen; und was davon bis an den Morgen übrigbleibt, sollt ihr mit Feuer verbrennen" (V. 10). Diese Vorschrift lehrt uns, daß die Gemeinschaft der versam­melten Israeliten nur in unmittelbarer Verbindung mit dem geopferten Lamm möglich war. Auch wir müssen uns daran erinnern, daß unsere Gemeinschaft auf das Opfer Christi gegründet ist und mit diesem Opfer verbunden bleiben muß. Wer glaubt, auf irgendeiner anderen Grund­lage mit Gott Gemeinschaft haben zu können, der meint damit zugleich, daß Gott mit dem in uns wohnenden Bösen Gemeinschaft machen könne; und wer daran denkt, mit Menschen auf einem anderen Boden Gemeinschaft zu machen, der ist auf dem Wege, eine unreine und un­heilige Vereinigung zu bilden, aus der nur Verwirrung und Ungerechtig­keit hervorgehen kann. Mit einem Wort, es muß alles auf das Blut ge­gründet und mit dem Blut untrennbar verbunden sein. Das ist die ein­fache Bedeutung der Vorschrift, das Lamm noch in derselben Nacht zu essen, in der das Blut geflossen war. Die Gemeinschaft darf nicht von ihrer Grundlage getrennt werden.

 

Es ist wirklich ein vollendetes Bild, das wir hier vor uns haben! Das Volk Israel ist unter dem Schutz des Blutes in Frieden versammelt und ißt das am Feuer gebratene Lamm mit dein ungesäuerten Brot und mit den bitteren Kräutern. Da war keine Furcht vor dem Gericht, keine Furcht vor dem Zorn des HERRN, keine Furcht vor der schrecklichen, aber gerechten Rache, die um Mitternacht über Ägypten kommen würde. Hinter den mit Blut bestrichenen Türpfosten war Friede. Die Israeliten hatten nichts von draußen her zu fürchten; und auch im Innern konnte sie nichts beunruhigen, es sei denn der Sauerteig, der ihrem Frieden und ihrem Glück ein Ende bereitet hätte. Welch ein Bild für die Kirche und für den Christen! Es lohnt sich, darüber nachzudenken und daraus zu lernen!

 

wir sind jedoch mit der Betrachtung der Passahverordnung noch nicht zu Ende. Wir haben gesehen, in welche Stellung die Versammlung Israels gebracht war und was ihre Speise war. Richten wir nun unseren Blick auf ihre Bekleidung. "Und also sollt ihr es essen: Eure Lenden gegürtet, eure Schuhe an euren Füßen, und euren Stab in eurer Hand; und ihr sollt es essen in Eile. Es ist das Passah des HERRN" (V. 11). Die Israeliten sollten schon während des Essens bereit sein, das Land des To­des und des Gerichts hinter sich zu lassen und sich dem Land der Verhei­ßung, dem für sie bestimmten Erbteil, zuzuwenden. Das Blut, das sie vor dem Schicksal der Erstgeborenen Ägyptens bewahrt hatte, war zugleich die Grundlage ihrer Befreiung aus der Knechtschaft Ägyptens; und jetzt soll­ten sie mit Gott zu jenem Land aufbrechen, das von Milch und Honig floß. Freilich hatten sie noch nicht das Rote Meer durchschritten und noch nicht die drei Tagesreisen" vollendet. Und doch waren sie im Prinzip schon erlöst, abgesondert, abhängig von Gott und bereit, die Reise zu beginnen. Auch ihre Kleidung mußte mit dieser Stellung und Bestim­mung in Einklang sein. Die gegürteten Lenden waren ein Zeichen ihrer Bereitwilligkeit zum Dienst und der Absonderung von allem, was sie umgab. Die beschuhten Füße bezeichneten ihre Bereitschaft, Ägypten zu verlassen, während der Stab in der Hand andeutete, daß sie ein wan­derndes Volk waren, das sich auf etwas außerhalb seiner selbst stützen mußte. Der Herr gebe, daß diese Kennzeichen bei allen Seinen Erlösten mehr sichtbar werden!

 

Laßt uns die bisherigen Gedanken kurz zusammenfassen. Durch die Gnade haben wir die reinigende Wirkung des Blutes Jesu erfahren, und infolgedessen ist es unser Vorrecht, uns von Ihm und Seinem "unaus­forschlichen Reichtum" zu nähren (Eph. j, 8) und mit Seinen Leiden Gemeinschaft zu haben. Unser Leben soll nun geprägt sein durch un­gesäuertes Brot und bittere Kräuter, durch umgürtete Lenden, beschuhte Füße und durch den Stab in der Hand. Möchten wir gekannt sein als ein heiliges und gekreuzigtes, als ein wachsames und fleißiges Volk ‑als ein Volk, das auf dem Weg zur Herrlichkeit ist! Gott gebe uns die Gnade, mehr in die Tiefe und Kraft dieser Dinge einzudringen, so daß sie nicht nur eine Sache schriftgemäßer Erkenntnis und Auslegung für uns sind, sondern vielmehr lebendige Wirklichkeiten, die wir durch Erfahrung kennen und in unserem Leben darstellen zur Ehre Gottes!

 

In den Versen 43‑49 finden wir die Anordnung, daß kein unbeschnitte­ner Fremdling am Passahmahl teilnehmen durfte. "Kein Fremdling soll davon essen . . . Die ganze Gemeinde Israel soll es feiern". Die Beschnei­dung war erforderlich, ehe man das Passah essen konnte. Es muß, mit anderen Worten, das Todesurteil über unsere Natur geschrieben werden, bevor Christus als die Grundlage des Friedens oder als der Mittelpunkt der Gemeinschaft unsere Nahrung sein kann. Die Beschneidung ist das Zeichen von Gottes Bund mit Israel und von dem Ausziehen des Leibes des Fleisches (vergl. Kol. 2, 11. 12); ihr Gegenbild ist das Kreuz. Nur alles Männliche in Israel wurde beschnitten. Das Weibliche fand seine Darstellung in dem Männlichen. So hat Christus am Kreuz Seine Kirche dargestellt, und deshalb ist sie mit Christus gekreuzigt. Dennoch lebt der Gläubige, und zwar durch das Leben Christi, das durch die Kraft des Heiligen Geistes auf Erden geoffenbart wird. "Und wenn ein Fremd­ling bei dir weilt und das Passah dem HERRN feiern will, so werde alles Männliche bei ihm beschnitten, und dann komme er herzu, es zu feiern; und er soll sein wie ein Eingeborener des Landes. Aber kein Un­beschnittener soll davon essen" (V. 48). "Die aber, welche im Fleisch sind, vermögen Gott nicht zu gefallen" (Röm. 8, 8).

 

Die Anordnung der Beschneidung trennte das Volk Gottes von allen Bewohnern der Erde; und ebenso ist das Kreuz des Herrn Jesus die Schranke zwischen der Kirche und der Welt. Weder persönliche Quali­täten, noch die Stellung, die ein Mensch einnahm, änderten etwas an dieser Sachlage; solange er sich nicht der Beschneidung unterwarf, hatte er durchaus kein Teil mit Israel. Ein beschnittener Bettler war Gott näher als ein unbeschnittener König. Und ebenso ist heute das Kreuz unseres Herrn Jesus Christus das einzige Mittel, um die Freude der Erlösten Gottes teilen zu können; und dieses Kreuz beseitigt alle Anmaßungen, Unterschiede und Vorzüge und vereinigt alle Erlösten zu einer heiligen Versammlung von Anbetern, die in dem Blut gewaschen sind. Das Kreuz bildet eine so hohe Schranke und eine so undurchdringliche Schutz­mauer, daß kein Stäubchen von der Erde und der Natur hindurchgelan­gen kann, um sich mit der "neuen Schöpfung" zu vermischen. "Das Alte ist vergangen, siehe, alles ist neu geworden. Alles aber von dem Gott, der uns mit sich selbst versöhnt hat durch Jesus Christus" (2. Kor. 5,17.18).

 

Es wurde jedoch nicht nur die Absonderung Israels von allen Fremd­lingen im Passahmahl zum Ausdruck gebracht, sondern auch die Ein­heit Israels. "In einem Hause soll es gegessen werden; du sollst nichts von dem Fleische aus dein Hause hinausbringen, und ihr sollt kein Bein an ihm zerbrechen" (V. 46). Ein schöneres Bild von dem einen Leib und dem einen Geist (Eph. 4, 4) könnte kaum gefunden werden. Die Kirche oder Versammlung Gottes ist eins. Gott betrachtet und er­hält sie so, und Er wird sie auch angesichts der Engel, Menschen und Teufel so darstellen, trotz aller Versuche, diese heilige Einheit zu zer­stören. Gott sei Dank! Er selbst ist es, der die Einheit Seiner Kirche ebenso garantiert wie ihre Rechtfertigung und ihre ewige Sicherheit. "Er bewahrt alle seine Gebeine; nicht eines von ihnen wird zerbrochen" (Ps. 34, 20). Und wiederum: Kein Bein von ihm wird zerbrochen werden" (Joh. 19, 36). Trotz der Grausamkeit der Kriegsknechte Roms und trotz aller feindlichen Einflüsse, die von Jahrhundert zu Jahrhundert gewirkt haben, ist der Leib Christi eins, und seine göttliche Einheit kann nie zerstört werden (vergl. Joh. 11, 52; 1. Kor. 1, 12. 13; 12, 4‑27; Eph. 2, 14‑22; 4, 3‑16). "Da ist ein Leib und ein Geist", und zwar hier, auf dieser Erde. Glückselig alle, die diese kostbare Wahrheit im Glauben anerkennen und treu genug sind, sie in diesen letzten Tagen auch darzustellen, ungeachtet der fast unüberwindlichen Schwierigkeiten, denen sie auf ihrem Weg begegnen! Ich glaube, daß Gott solche aner­kennen und ehren wird. Möge der Herr uns von dem Geist des Un­glaubens befreien, der uns verleitet, nicht nach Seinem unveränderlichen Wort zu urteilen, sondern nach dem, was sichtbar ist.

 

Kapitel 13

 

ERSTGEBURT UND FEST DER UNGESÄUERTEN BROTE

 

Die ersten Verse dieses Kapitels zeigen uns sehr deutlich, daß persön­liche Hingabe und praktische Heiligkeit die Antwort der Erlösten auf die Liebe Gottes sind. Die Weihung des Erstgeborenen und das Fest der ungesäuerten Brote werden uns hier in unmittelbarer Verbindung mit der Befreiung des Volkes aus Ägypten vor Augen gestellt. "Heilige mir alles Erstgeborene, was irgend die Mutter bricht unter den Kindern Israel, an Menschen und an Vieh; es ist mein. ‑ Und Mose sprach zu dem Volke: Gedenket dieses Tages, an welchem ihr aus Ägypten ge­zogen seid, aus dem Hause der Knechtschaft; denn mit starker Hand hat der HERR euch von hier herausgeführt; und es soll nichts Gesäuer­tes gegessen werden" (V. 2. 3). Und weiter: "Sieben Tage sollst du Un­gesäuertes essen, und am siebenten Tage ist ein Fest dem HERRN. Die sieben Tage soll Ungesäuertes gegessen werden; und nicht soll Gesäuer­tes bei dir gesehen werden, noch soll Sauerteig bei dir gesehen werden in allen deinen Grenzen" (V. 6. 7).

 

Dann wird uns mitgeteilt "aus welchem Grund diese beiden Verordnun­gen befolgt werden sollten. "Und du sollst deinem Sohne an selbigem Tage kundtun und sprechen: Es ist um deswillen, was der HERR mir getan hat, als ich aus Ägypten zog" (V. 8). Und weiter: "Und es soll geschehen, wenn dein Sohn dich künftig fragt und spricht: Was ist das? so sollst du zu ihm sagen: Mit starker Hand hat der HERR uns aus Ägypten herausgeführt, aus dem Hause der Knechtschaft. Und es geschah, da der Pharao sich hartnäckig weigerte, uns ziehen zu lassen, tötete der HERR alle Erstgeburt im Lande Ägypten, vom Erstgeborenen des Menschen bis zum Erstgeborenen des Viehes; darum opfere ich dem HERRN alles, was die Mutter bricht, die Männlichen, und jeden Erst­geborenen meiner Söhne löse ich" (V. 14. 15).

 

je mehr wir durch die Kraft des Geistes Gottes die Erlösung, die in Jesus Christus ist, verstehen und verwirklichen, um so entschiedener wird unsere Absonderung und um so aufrichtiger wird unsere Hingabe sein. Wenn wir das eine oder das andere verwirklichen wollen, bevor wir die Erlösung erkannt haben, dann ist unsere Anstrengung vergeblich. Alles, was wir tun, muß deswegen geschehen, weil der Herr so viel an uns getan hat, und nicht in der Absicht, etwas von Ihm zu erlangen. Wer Leben und Frieden durch eigene Anstrengung verdienen will, dem ist die Kraft des Blutes noch fremd. "Denn durch die Gnade seid ihr errettet, mittelst des Glaubens, und das nicht aus euch, Gottes Gabe ist es, nicht aus Werken, auf daß niemand sich rühme. Denn wir sind sein Werk, geschaffen in Christo Jesu zu guten Werken, welche Gott zuvor bereitet hat, auf daß wir in ihnen wandeln sollen" (Eph. 2, 8‑10). Gott hat schon einen Weg guter Werke für uns bereitet; und durch die Gnade bereitet Er uns jetzt zu, um diesen Weg gehen zu können. Und wir können das nur, weil wir schon erlöst sind; andernfalls würden wir uns selbst rühmen können. Wenn aber wir selbst und auch der Weg, den wir gehen, das Werk Gottes sind, so ist kein Grund zum Rühmen vorhanden (Röm. 3, 27; 1. Kor. 1, 27‑31).

 

Wahres Christentum ist nichts anderes als die Offenbarung des Lebens Christi, das in uns eingepflanzt ist. Alle Werke, die wir vor der Ein­pflanzung dieses Lebens getan haben, sind tote Werke", von denen unser Gewissen ebenso wie von "bösen Werken" gereinigt werden mußte (Hebr. 9, 14). Der Ausdruck "tote Werke' umfaßt alles, was ein Mensch tut, um dadurch Leben zu erlangen. Wenn jemand das Leben sucht, so ist es klar, daß er es noch nicht empfangen hat. Er mag in seinem Suchen sehr aufrichtig sein, aber gerade seine Aufrichtigkeit zeigt um so deutlicher, daß er noch nicht gefunden hat, was er sucht. Das Leben Christi ist die einzige Quelle, aus der gute Werke hervorkommen können. Beachten wir wohl, daß es sich hier nicht um "böse Werke" handelt. Niemand würde daran denken, durch böse Werke das Leben zu erlangen. Im Gegenteil, man wird finden, daß die Menschen ständig zu "toten Werken" ihre Zuflucht nehmen, um ihr von "bösen Werken" belastetes Gewissen zu beruhigen. Das Wort Gottes aber belehrt uns, daß das Gewissen ebenso von den einen wie von den anderen gereinigt werden muß.

 

Auch in bezug auf die Gerechtigkeit lesen wir: " . . . alle unsere Ge­rechtigkeiten (sind) gleich einem unflätigen Kleide« (Jes. 6.4, 6). Es wird nicht gesagt, daß unsere Gottlosigkeiten ein unflätiges Kleid seien. Das würde jeder sofort zugeben. Aber gerade das Beste, was wir an Religiosität und Gerechtigkeit hervorbringen können, wird in der Bibel als "totes Werk" und als "unflätiges Kleid" bezeichnet. Gerade unsere Anstrengungen zur Erlangung des Lebens sind der Beweis, daß wir tot sind; und gerade unsere Anstrengungen zur Erlangung der Gerechtig­keit beweisen, daß wir ein unflätiges Kleid tragen. Erst wenn wir schon ewiges Leben und göttliche Gerechtigkeit besitzen, können wir die von Gott bereiteten guten Werke vollbringen. Tote Werke und ein unflätiges Kleid genügen nicht, um diesen Weg betreten zu können. Nur "die Be­freiten des HERRN" (Jes. 51, 11) sind dazu befähigt. Nur als ein er­löstes Volk feierte Israel das Fest der ungesäuerten Brote und weihte seine Erstgeborenen dem Herrn.

 

Der Würgengel ging durch Ägypten, um alle Erstgeburt zu töten; aber die Erstgeborenen Israels entgingen dem Gericht durch den Tod des von Gott vorgesehenen Stellvertreters. So waren sie nun gerettet durch das Blut des Lammes und konnten ihr Leben dem weihen, der es ihnen ge­geben hatte. Nur als Erlöste besaßen sie das Leben. Die Gnade Gottes hatte ihretwegen einen Unterschied gemacht (2. Mose 11, 5‑7) und ihnen als lebendigen Menschen einen Platz in Seiner Gegenwart ge­geben. Sie hatten sicher keine Ursache, sich zu rühmen, denn wir lernen aus diesem Kapitel, daß sie in Anbetracht ihres persönlichen Verdienstes oder Wertes mit einem unreinen Tier auf eine Ebene gestellt wurden. "Und jedes Erstgeborene des Esels sollst du mit einem Lamme lösen, und wenn du es nicht lösest, so brich ihm das Genick; und jedes Erst­geborene des Menschen unter deinen Söhnen sollst du lösen" (V. 13). Es gab Reines und Unreines für Israel, und der Mensch wurde zu dem letzteren gezählt. Das Lamm mußte die Stelle des Unreinen einnehmen. Und wenn der Esel nicht gelöst wurde, mußte ihm das Genick gebrochen werden. So stand also ein nicht erlöster Mensch mit einem unreinen, verachteten Tier auf gleicher Ebene. Welch ein demütigendes Bild des Menschen in seinem natürlichen Zustand! Würden wir dar. klarer vor Augen haben, dann könnte kein Stolz mehr bei uns zu finden sein; dann würden wir auch die Freude darüber tiefer empfinden, daß wir in dem Blut des Lammes von aller Schuld und Ungerechtigkeit reinge­waschen sind!

 

Christus war das reine, fleckenlose Lamm. Wir waren unrein. Aber Er nahm unseren Platz ein; Er wurde am Kreuz zur Sünde gemacht und als solche behandelt. Das, was wir alle in Ewigkeit hätten erdulden müssen, hat Er am Kreuz für uns erduldet. Er ertrug dort alles, was wir verdient haben, damit uns für immer das zuteil werden könnte, was Er verdient hat. Er empfing unseren Lohn, damit wir Seinen empfan­gen konnten. Der Reine nahm eine Zeitlang den Platz des Unreinen ein "damit der Unreine für ewig den Platz des Reinen einnehmen könnte. Während wir also unserer Natur nach in einem Esel, dessen Genick gebrochen war, dargestellt werden, sehen wir uns nun durch die Gnade in dem auferstandenen und im Himmel verherrlichten Christus darge­stellt. Welch ein Gegensatz! Mit der Herrlichkeit und dem Rühmen des Menschen ist es nun vorbei; die Liebe Gottes und des Lammes aber kann nicht genug gelobt werden; von Ewigkeit zu Ewigkeit wird dieses Lob in den Himmeln. gehört werden.*)

 

Wir werden hier unwillkürlich an die Worte erinnert, die der Apostel an die Gläubigen in Rom schrieb: "Wenn wir aber mit Christo gestor­ben sind, so glauben wir, daß wir auch mit ihm leben werden, da wir wissen, daß Christus, aus den Toten auferweckt, nicht mehr stirbt; der Tod herrscht nicht mehr über ihn. Denn was er gestorben ist, ist er ein für allemal der Sünde gestorben; was er aber lebt, lebt er Gott. Also auch ihr, haltet euch der Sünde für tot, Gott aber lebend in Christo Jesu. So herrsche denn nicht die Sünde in eurem sterblichen Leibe, um seinen Lüsten zu gehorchen; stellet auch nicht eure Glieder der Sünde dar zu Werkzeugen der Ungerechtigkeit, sondern stellet euch selbst Gott dar als Lebende aus den Toten, und eure Glieder Gott zu Werkzeugen der Gerechtigkeit. Denn die Sünde wird nicht über euch herrschen, denn ihr seid nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade"

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*) Es ist interessant, daß wir von Natur mit einem unreinen Tier auf gleichen Boden gestellt, aber durch die Gnade mit Christus vereinigt sind. Es gibt keinen niedrigeren Platz als den, der uns von Natur aus zusteht, und keinen höheren, als den, der uns aus Gnaden geschenkt worden ist. Betrachtet man einen Esel, dessen Genick gebrochen ist, dann kennt man den Wert eines nicht erlösten Menschen; schaut man auf das "kostbare Blut Christi", dann kennt man den Wert eines Erlösten. "Euch nun, die ihr glaubet, ist die Kostbarkeit" (1. Petr. 2, 7). Das will sagen: alle, die in dem Blute gewa­schen sind, teilen die Kostbarkeit Christi. Wie Er ein "lebendiger Stein" ist, so sind auch sie kostbare Steine". Sie empfangen Leben und Kostbarkeit von Ihm und in Ihm. Sie sind, wie Er ist. Jeder Stein in dem Bau ist kostbar, weil er durch keinen geringeren Preis als "das Blut des Lammes" erkauft ist. Wie wichtig ist es für die Christen, sich dieser Stellung vor Gott bewußt zu sein 1

 

(Röm. 6, 8‑14). Wir sind nicht nur losgekauft von der Macht des Todes, sondern auch vereinigt mit Ihm, der uns um einen so hohen Preis losge­kauft hat, damit wir in der Kraft des Heiligen Geistes unser neues Leben mit allen seinen Kräften Seinem Dienste weihen, damit Sein Name in uns verherrlicht werde.

 

In den letzten Versen unseres Kapitels sehen wir, wie mitfühlend der Herr auf die Bedürfnisse Seines Volkes eingeht. "Er kennt unser Ge­bilde, ist eingedenk, daß wir Staub sind" (Ps. 103, 14). Als Er Israel erlöste, um es mit sich selbst in Verbindung zu bringen, lud Er in Seiner unergründlichen Gnade alle Bedürfnisse und Schwachheiten der Seinigen auf sich. Was sie waren und was sie brauchten, hatte nichts zu bedeuten, wenn Er, der sich "Ich bin" nannte, in der ganzen Fülle dieses Namens ihnen das Geleit gab. Er war im Begriff, sie aus Ägypten nach Kanaan zu führen; und nun sehen wir, wie Er einen geeigneten Weg für sie auswählt. "Und es geschah, als der Pharao das Volk ziehen ließ, da führte sie Gott nicht den Weg durch das Land der Philister, wiewohl er nahe war; denn Gott sprach Damit es das Volk nicht ge­reue, wenn sie den Streit sehen, und sie nicht nach Ägypten zurück­kehren. Und Gott führte das Volk herum, den Weg der Wüste des Schilfmeeres; und die Kinder Israel zogen gerüstet aus dem Lande Ägypten herauf" (V. 17. 18).

Der Herr richtet in Seiner Gnade alles so weise ein, daß die Seinen nicht gleich am Anfang ihres Weges allzu großen Schwierigkeiten begegnen, damit sie nicht entmutigt und zum Rückzug gedrängt werden. Der "Weg der Wüste" war viel länger als der durch das Land der Philister, aber Gott wollte Seinem Volk verschiedene wichtige Lehren beibringen, die es nur in der Wüste lernen konnte. Später wurden sie daran er­innert: "Und du sollst gedenken des ganzen Weges, den dich der HERR, dein Gott, hat wandern lassen diese vierzig Jahre in der Wüste, um dich zu demütigen, um dich zu versuchen, um zu erkennen, was in deinem Herzen ist, ob du seine Gebote beobachten würdest oder nicht. Und er demütigte dich und ließ dich hungern; und er speiste dich mit dem! Man, das du nicht kanntest und das deine Väter nicht kannten, um dir kund­zutun, daß der Mensch nicht von Brot allein lebt, sondern daß der Mensch von allem lebt, was aus dem Munde des HERRN hervorgeht. Dein Kleid ist nicht an dir zerfallen, und dein Fuß ist nicht geschwollen diese vierzig Jahre" (5. Mose 8, 2‑4). Solche Erfahrungen wären auf dem Weg durch das Land der Philister nicht möglich gewesen. Auf diesem Weg hätten die Israeliten wohl lernen können, was Krieg ist;

 

aber auf dem "Weg der Wüste" lernten sie das Fleisch kennen in seiner ganzen Verdorbenheit, in seinem Unglauben und seiner Empörung. Doch der "Ich bin" war bei ihnen mit Seiner langmütigen Gnade, mit Seiner Weisheit und Macht. Niemand außer Ihm konnte den Er­fordernissen des Augenblicks entsprechen. Niemand außer Ihm konnte aber auch die Tiefen des menschlichen Herzens ertragen. Wenn mein Herz aufgedeckt würde, ohne daß ich zugleich die unendliche Gnade Gottes sehen könnte, müßte ich hoffnungslos verzweifeln. Das Herz des Menschen ist eine Hölle im kleinen. Was für eine unendliche Gnade ist es deshalb, von seinen schrecklichen Tiefen befreit zu sein!

 

"Und sie brachen auf von Sukkoth und lagerten sich in Etham, am Rande der Wüste. Und der HERR zog vor ihnen her, des Tages in einer Wolkensäule, um sie auf dem Wege zu leiten, und des Nachts in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten, damit sie Tag und Nacht ziehen könnten. Des Tages wich nicht die Wolkensäule, noch des Nachts die Feuersäule vor dem Volke" (V. 20‑22). Der HERR wählte nicht nur einen Weg für die Seinen aus, sondern Er ging auch selbst mit ihnen auf diesem Weg und kam allen ihren Bedürfnissen entgegen. Er führte sie nicht nur sicher aus Ägypten hinaus, sondern Er ließ sich auch herab, um bei allen Zwischenfällen ihrer Wüstenreise ihr Gefährte zu sein. Das war göttliche Gnade. Die Israeliten wurden nicht aus Ägypten erlöst und dann sich selbst überlassen, um den Weg nach Kanaan, so gut sie es konnten, allein zu gehen. Das ist nicht die Handlungsweise Gottes. Er wußte, daß sie eine beschwerliche und gefährliche Reise vor sich hatten, auf der es Schlangen und Skorpione, Fallstricke und Schwierig­keiten, Dürre und Unfruchtbarkeit gab. Da wollte Er sie nicht allein gehen lassen, und Er zog vor ihnen her. Er war ein Führer, ein Licht, ein Schutz, um sie von jeder Furcht zu befreien. Wie war es möglich, einen solchen Herrn so oft durch Hartnäckigkeit und Ungehorsam zu betrüben! Wäre das Volk nur demütig und zufrieden geblieben und hätte vertrauensvoll auf Ihn geblickt, dann wäre die Reise vom Anfang bis zum Ende ein Triumphzug gewesen. Mit dem HERRN an ihrer Spitze hätte keine Macht ihren Zug von Ägypten nach Kanaan auf­halten können. Er hätte sie nach Seiner Verheißung und durch Seine Macht in das Land geführt, hätte es ihnen zum Besitz gegeben und nicht erlaubt, daß ein einziger Kanaaniter zurückbliebe, um ihnen das Erbteil streitig zu machen. Doch so wird es einst sein, wenn der HERR Seine Hand zum zweiten Mal ausstrecken wird, um Sein Volk aus der Gewalt aller ihrer Unterdrücker zu befreien. Wie bald schon mag es soweit sein!

 

Kapitel 14

 

DAS ROTE MEER

 

"Die sich auf Schiffen aufs Meer hinabbegeben, auf großen Wassern Handel treiben, diese sehen die Taten des HERRN und seine Wunder­werke in der Tiefe" (Ps. 107, 23. 24). Vor diesen "großen Wassern" schrecken wir leicht zurück. Wir ziehen eine Aktivität vor, die mehr an der Oberfläche bleibt, und deshalb merken wir nichts von den "Wun­derwerken" unseres Gottes; denn diese können nur "in der Tiefe" ge­sehen werden.

 

Wenn man in Schwierigkeiten kommt, erfährt man, was für ein Glück es ist, auf Gott rechnen zu dürfen. Wenn alles leicht vonstatten geht, dann meint man, auf die Wirklichkeit und Gegenwart des Herrn nicht so angewiesen zu sein. Der Herr hat uns nicht verheißen, daß wir von Prüfungen und Leiden verschont bleiben sollen. Er sagt uns im Gegen­teil, daß wir Trübsalen und Schwierigkeiten begegnen werden. Aber zu­gleich verheißt Er uns, in den Schwierigkeiten mit uns zu sein, und das ist unendlich viel besser als eine Verschonung von Trübsal. Es ist viel tröstlicher, Sein Mitgefühl zu erfahren, als Seine Macht und Hilfe. Die Gegenwart des Herrn bei Seinen treuen Dienern, als sie durch den Feuerofen gingen, war weit besser als die Entfaltung Seiner Macht, um sie vor ihm zu bewahren (Dan. 3). Wir wünschen uns oft einen Weg ohne Trübsal, aber die Erfüllung dieses Wunsches wird ein großer Ver­lust für uns sein. Die Gegenwart des Herrn ist nie wohltuender als in Augenblicken großer Schwierigkeiten.

 

Das erfuhren auch die Israeliten, als es Gott gefiel, sie in eine scheinbar unüberwindliche Schwierigkeit zu bringen. Nachdem der Pharao seine Zustimmung zu ihrem Auszug aus seinem Land bereut hatte, faßte er den Entschluß, sie durch eine letzte, verzweifelte Anstrengung wieder zurückzuführen. "Und er spannte seinen Wagen an und nahm sein Volk mit sich. Und er nahm sechshundert auserlesene Wagen und alle Wagen Ägyptens, und Wagenkämpfer auf jedem derselben ... Und als der Pharao nahte, da hoben die Kinder Israel ihre Augen auf, und siehe, die Ägypter zogen hinter ihnen her; und die Kinder Israel fürchteten sich sehr und schrieen zu dem HERRN" (V. 6. 7. 10). Das war in der Tat eine schwere Prüfung, in der alle menschlichen Anstrengungen nutz­los waren. Vor ihnen war das Meer, hinter ihnen die Kriegsheere des Pharao, und auf beiden Seiten erhoben sich die Berge. Und Des war von Gott zugelassen und angeordnet. Er hatte ihnen "bei Pi‑Hachiroth, zwi­schen Migdol und dem Meere, vor Baal‑Zephon" ihr Lager angewiesen. Er erlaubte dem Pharao, sie zu verfolgen. Und warum? Um gerade in der Errettung Seines Volkes und in der Vernichtung seiner Feinde Seine Macht zu offenbaren. "Den, der das Schilfmeer in zwei Teile zerteilte, denn seine Güte währt ewiglich, und Israel mitten hindurchgehen ließ, denn seine Güte währt ewiglich, und den Pharao und sein Heer ins Schilfmeer stürzte, denn seine Güte währt ewiglich" (Ps. 136, 13‑15).

 

Auf dem ganzen Weg der Erlösten durch die Wüste gibt es keinen einzigen Abschnitt, der nicht in Weisheit und Liebe von Gott vorgeplant wäre. Jede Situation, in die wir kommen, hat ihren Sinn und ihren Einfluß auf uns. Die Orte wie "Pi‑Hachiroth" und "Migdol" stehen je­weils in Verbindung mit unserem moralischen Zustand und zugleich mit dem Charakter Gottes. Der Unglaube läßt wohl oft die Frage auf­kommen: "Warum ist dies oder jenes so?" Gott weiß es; und zweifellos wird Er diese Frage beantworten, wenn es zu Seiner Verherrlichung und zum Wohl Seines Volkes dient. Wie oft entsteht bei uns die Frage, warum wir in diese oder jene Umstände gebracht werden. Wie oft mühen wir uns ab, die Ursache von Prüfungen zu erforschen, denen wir ausgesetzt sind. Wieviel besser aber wäre es, wenn wir demütig und vertrauensvoll sagen würden: "Es wird so am besten sein"! Wenn Gott uns in eine Situation bringt, dann können wir sicher sein, daß sie mit Weisheit gewählt und heilsam für uns ist; und selbst wenn wir sie in törichter und eigenwilliger Weise selbst gewählt haben, wird Gott den­noch in Seinem Erbarmen unsere Torheit zum Guten wenden und die Folgen unseres selbstgewählten Weges zu unserem geistlichen Wohl mitwirken lassen.

 

Gerade in den größten Schwierigkeiten können wir die Herrlichkeit Gottes und die Herrlichkeit Seiner Wege mit uns erkennen; und Gott führt uns deshalb oft in schwere Prüfungen, damit Er sich um so herr­licher offenbaren kann. Er hätte Israel durch das Rote Meer führen und vor den Kriegsheeren des Pharao in Sicherheit bringen können, noch bevor diese von Ägypten aufbrachen. Aber dann wäre Sein Name nicht so wunderbar verherrlicht und der Feind nicht so vollständig ver­nichtet worden. Nur zu oft verlieren wir diese große Wahrheit aus dem Auge; und die Folge davon ist, daß wir in Zeiten der Trübsal leicht ermatten. Wenn wir eine schwere Krise nur als eine Gelegenheit zur Entfaltung der Gnade Gottes betrachteten, so würden unsere Seelen im Gleichgewicht bleiben, und selbst in den schwierigsten Prüfungen wür­den wir Gott verherrlichen.

 

Die Worte der Israeliten bei dieser Gelegenheit erscheinen uns vielleicht erstaunlich und unerklärlich; aber je mehr wir unsere eigenen ungläu­bigen Herzen kennen, um so mehr finden wir, wie groß die Ähnlichkeit zwischen uns und diesem Volk ist. Sie schienen die so kurz vorher erlebte Entfaltung der Macht Gottes ganz und gar vergessen zu haben. Vor ihren Augen waren die Götter Ägyptens gerichtet worden, die Macht Ägyptens war vernichtet und die Ketten ihrer Sklaverei zer­brochen. Sobald aber eine dunkle Wolke am Horizont erschien, schwand ihr Vertrauen, und ihr Unglaube fand seinen Ausdruck in den Worten: "Hast du uns darum, weil in Ägypten keine Gräber waren, weggeholt, um in der Wüste zu sterben? Warum hast du uns das getan, daß du uns aus Ägypten herausgeführt hast? ... Denn besser wäre es uns, den Ägyptern zu dienen, als in der Wüste zu sterben" (V. 11. 12). Der Un­glaube ist blind und beurteilt die Wege Gottes immer falsch. Das ist zu allen Zeiten so. Der Unglaube verleitete David in einer bösen Stunde, zu sagen: "Nun werde ich eines Tages durch die Hand Sauls umkom­men; mir ist nichts besser, als daß ich eilends in das Land der Philister entrinne" (1. Sam. 27, 1). Und was geschah wirklich? Saul fiel auf dem Gebirge Gilboa, und der Thron Davids wurde für immer aufgerichtet. Derselbe Unglaube verleitete Elia in einem Augenblick tiefer Niederge­schlagenheit, sich durch die Flucht vor den Drohungen Isebels in Sicher­heit zu bringen. Und wie endete alles? Isebel wurde auf das Pflaster hinabgestürzt und Elia in einem feurigen Wagen in den Himmel ent­rückt.

 

So war es auch mit dem Volk Israel bei der ersten Prüfung, die in der Wüste über sie kam. Sie glaubten wirklich, daß der Herr sie nur des­halb mit solcher Mühe aus Ägypten befreit habe, um sie in der Wüste sterben zu lassen. Sie bildeten sich ein, nur deshalb durch das Blut des Passahlammes vor dem Tode bewahrt worden zu sein, um in der Wüste ihr Grab zu finden. So urteilt der Unglaube! Anstatt die Schwierigkeit im Lichte Gottes zu betrachten, deutet er die Gedanken Gottes ange­sichts der Schwierigkeit. Der Glaube sieht über die Schwierigkeit hinaus und sieht die Treue, Liebe und Macht Gottes. Ein Gläubiger kann ständig in der Gegenwart Gottes sein. Das Blut des Herrn Jesus Chri­stus hat ihn in diese Stellung gebracht und er sollte sich durch nichts von dort verdrängen lassen. Die Stellung selbst kann er niemals verlieren, da Christus, sein Haupt und Stellvertreter, sie für ihn eingenommen hat; aber wie schnell kann er die Freude und die Kraft dieser Stellung verlieren! Sooft seine Schwierigkeiten sich zwischen ihn und den Herrn drängen, genießt er nicht die Gegenwart des Herrn, sondern er leidet angesichts der Schwierigkeiten; es ist so, als wenn eine Wolke zwischen uns und die Sonne tritt und uns für eine Zeit von ihr trennt. Die Wolke verhindert nicht das Leuchten der Sonne, aber sie nimmt uns die Freude an ihren Strahlen. Genauso ist es, wenn wir den Trübsalen und Sorgen des Lebens erlauben, sich zwischen uns und das Angesicht unseres Vaters zu drängen, der mit unveränderlicher Liebe und Güte auf uns blickt. Es gibt keine Schwierigkeit, die für unseren Gott zu groß wäre. Im Gegenteil, je größer die Schwierigkeit ist, um so mehr bietet sich Ihm die Gelegenheit, Seine Macht und Gnade zu erweisen. Das Volk Israel war hier allerdings in einer sehr schwierigen und für Fleisch und Blut völlig ausweglosen Lage. Aber auch der Schöpfer des Himmels und der Erde war da, und Israel hätte die Möglichkeit gehabt, Seine Kraft einfach in Anspruch zu nehmen.

 

Doch wie schnell ermatten wir, wenn es gilt, sich in einer Prüfung zu bewähren! Es läßt sich von diesen Dingen so leicht reden und schreiben; und sie sind auch wahr ‑ Gott sei dafür gepriesen! Aber es geht darum, sie auch praktisch auszuführen, wenn die Gelegenheit kommt. Nur in ihrer Verwirklichung erweist sich ihre Kraft und ihr Segen. Wenn je­mand seinen Willen tun will, so wird er von der Lehre wissen, ob sie aus Gott ist" (Joh. 7, 17).

 

"Und Mose sprach zu dem Volke: Fürchtet euch nicht! stehet und sehet die Rettung des HERRN, die er euch heute schaffen wird; denn die Ägypter, die ihr heute sehet, die werdet ihr hinfort nicht mehr sehen ewiglich. Der HERR wird für euch streiten, und ihr werdet still sein` (V. 13. 14). "Still sein", das ist das Erste, was der Glaube angesichts

 

einer Prüfung bewirkt. Für Fleisch und Blut ist das unmöglich. Wer die Ruhelosigkeit des menschlichen Herzens vor Trübsalen und Schwie­rigkeiten kennt, wird sich in etwa eine Vorstellung davon machen kön­nen, was alles in diesem "Stillsein" eingeschlossen ist. Der natürliche Mensch muß etwas tun. Er läuft hierhin und dorthin und möchte gern in irgendeiner Weise selbst Hand anlegen. Und wenn er auch versucht, sein wertloses Tun zu rechtfertigen, indem er es als "legitimes Anwen­den vorhandener Mittel" bezeichnet, so ist es im Grunde noch nichts anderes, als eine Frucht des Unglaubens, der Gott ausklammert und nur die dunklen Wolken sieht, die er selbst geschaffen hat. Denn der Unglaube schafft Schwierigkeiten oder vergrößert sie; und dann treibt er uns an, sie durch unsere eigene unruhige und fruchtlose Tätigkeit zu beseitigen, die uns in Wirklichkeit nur daran hindert, das Heil Gottes zu sehen.

 

Der Glaube dagegen erhebt uns über die Schwierigkeiten und befähigt uns, ruhig zu sein und auf Gott zu sehen. Wir erreichen nichts durch unsere eigenen ängstlichen Anstrengungen. Wir vermögen nicht ein Haar weiß oder schwarz zu machen, noch unserer Größe eine Elle zuzu­setzen (Matth. 5, 36; 6, 27). Was konnten die Kinder Israel am Roten Meer tun? Sie konnten weder seine Fluten austrocknen, noch die Berge ebnen, noch die Kriegsheere Ägyptens vernichten. Sie standen da, um­schlossen von einer Mauer von Schwierigkeiten, angesichts derer ihre Ohnmacht offenbar wurde. Aber genau das war für Gott der Augen­blick zum Handeln.

 

Wenn der Unglaube beseitigt ist, tritt Gott auf den Plan; und um zu einer richtigen Einsicht in Seine Handlungen zu gelangen, müssen wir still sein". Jede Regung unserer Natur hindert uns, die Rettung Gottes wahrzunehmen und zu genießen.

 

Das zeigt sich bei uns auf jeder Stufe unseres Glaubenslebens. Es be­ginnt, wenn wir die Last unserer Sünden fühlen und versucht sind, zu eigener Anstrengung Zuflucht zu nehmen, um so zur Ruhe zu gelangen. Es bleibt uns dann tatsächlich nichts anderes übrig, als "still zu sein", um die Rettung des HERRN zu sehen". Denn was könnten wir tun, um die Sünde zu sühnen? Hätten wir mit Ihm hinabsteigen können in die "Grube des Verderbens" und in den "kotigen Schlamm?" (Ps. 40, 2). Hätten wir von uns aus einen Weg zur Auferstehung finden können? Ein solcher Gedanke wäre eine Gotteslästerung. Gott allein kann er­lösen; und uns bleibt nichts anderes übrig, als still zu sein und die Rettung des HERRN zu sehen. Schon die Tatsache, daß es die Rettung des HERRN ist, beweist, daß der Mensch nichts dabei zu tun hat.

 

Das gilt aber auch für uns von dem Augenblick an, da wir unsere christliche Laufbahn begonnen haben. Bei jeder neuen Schwierigkeit zeigt sich unsere Weisheit, wenn wir still sind, auf eigene Werke ver­zichten und unsere Ruhe bei Gott zu suchen. Auch können wir keinen Unterschied in den Schwierigkeiten machen, indem wir meinen, leichtere Versuchungen selbst bewältigen zu können, während aus anderen nur Gott uns retten könne. Alle Schwierigkeiten übersteigen unsere Kräfte. Wir sind ebensowenig fähig, die Farbe eines Haares zu verändern, wie einen Berg zu versetzen, wir können weder einen Grashalm produzieren noch eine Welt erschaffen. Alles ist für uns gleich, und alles ist gleich für Gott. Wir sollen uns nur in lebendigem Glauben dem anvertrauen, „der sich herabneigt, um auf die Himmel und auf die Erde zu schauen" (Ps. 113, 6). Wir erfahren oft, daß wir im Triumph durch schwere Trübsale geführt werden, während wir zu anderen Zeiten unter harm­losen Versuchungen versagen. Woher kommt das? Wir waren im ersten Fall gezwungen, unsere Sorge auf den Herrn zu werfen, während wir im letzteren in überheblicher Weise selbst mit ihr fertig zu werden ver­suchten.

 

"Der HERR wird für euch streiten, und ihr werdet still sein" (V. 14). Welch eine tröstliche Zusicherung! Sie kann angesichts der größten Schwierigkeiten und Gefahren unseren Geist beruhigen. Der Herr stellt sich nicht nur zwischen uns und unsere Sünden, sondern auch zwischen uns und unsere Probleme. Durch ersteres gibt Er uns den Frieden des Gewissens, durch letzteres den Frieden des Herzens. Daß diese beiden Dinge völlig verschieden sind, weiß jeder erfahrene Christ. Viele Gläubige besitzen Frieden des Gewissens, ohne Frieden des Her­zens zu haben. Aus Gnaden und durch Glauben haben sie erkannt, wie Christus in der Wirksamkeit Seines Blutes zwischen sie und ihre Sünden getreten ist; aber sie sind nicht fähig, mit derselben Einfalt Ihn in Seiner Weisheit, Liebe und Macht zwischen sich und ihren Problemen zu er­blicken. Dieser Mangel hat weitgehende Folgen für das praktische Leben, aber auch für das Zeugnis eines Christen. Denn kaum etwas trägt so sehr zur Verherrlichung des Namens unseres Herrn Jesus bei, wie die tiefe Ruhe, die dem Bewußtsein entspringt, daß sich Jesus zwischen uns und allem befindet, was unsere Herzen beunruhigen könnte. "Den festen Sinn bewahrst du in Frieden, in Frieden; denn er vertraut auf dich" (Jes. 26. 3).

 

Aber sollen wir selbst gar nichts tun? Können wir denn überhaupt etwas tun? Jeder, der sich selbst wirklich kennt, wird antworten: Nichts. Wenn wir aber nichts tun können, ist es dann nicht am besten, "still zu sein"? Wenn der Herr für uns wirkt, ist es dann nicht weise, wenn wir uns zurückhalten? Wollen wir durch unsere Geschäftigkeit Ihm zuvorkommen? Wollen wir Ihm in den Weg treten? Es ist unnütz, daß zwei handeln, wo einer vollkommen fähig ist, alles zu tun. Wem würde es einfallen, eine Kerze zu holen, um das Licht der Sonne zu ver­stärken?

 

Wenn aber Gott in Seiner großen Barmherzigkeit einen Weg öffnet, darf der Gläubige ihn ohne Zögern betreten. Er verzichtet dann auf einen menschlichen Weg, um auf dem Weg Gottes zu gehen. "Und der HERR sprach zu Mose: Was schreist du zu mir? Rede zu den Kindern Israel, daß sie aufbrechen" (V. 15). Nur wenn wir gelernt haben, still zu sein, sind wir wirklich fähig, aufzubrechen und vorwärts zu gehen; wenn wir das eine tun wollen, ohne das andere gelernt zu haben, wird es nur dazu dienen, unsere Torheit und Schwachheit offenbar zu ma­chen. Laßt uns daher in jeder Schwierigkeit auf Gott allein warten; Er wird uns bestimmt einen Weg zeigen, und wir können dann mit fried­lichem und glücklichem Herzen diesen Weg gehen. Es gibt keine Un­sicherheit, wenn Gott uns einen Weg bahnt. jeder selbstgewählte Weg aber wird sich immer als ein Weg des Zweifels und der Unschlüssigkeit erweisen. Der nicht wiedergeborene Mensch mag mit großer Festigkeit und Entschiedenheit seine eigenen Weg verfolgen; aber eins der wesentlichen Elemente der neuen Schöpfung ist das Mißtrauen gegen sich selbst, verbunden mit dem Vertrauen auf Gott. Nur wenn wir die Rettung Gottes gesehen haben, können wir darin wandeln; aber wir werden sie niemals deutlich erkennen, bevor wir nicht von der Nutz­losigkeit unserer eigenen Anstrengungen überzeugt worden sind.

 

Wie eindrucksvoll sind die Worte: "Sehet die Rettung des HERRN!­ Schon die Tatsache, daß wir berufen sind, die Rettung Gottes zu sehen, beweist ihre Vollkommenheit. Sie zeigt uns, daß das Heil Gottes ein Werk ist, das Er selbst gewirkt und geoffenbart hat, damit wir es sehen und genießen können. Dieses Heil ist nicht zum Teil ein Werk Gottes und zum Teil ein Werk des Menschen; dann könnte es nicht das Heil Gottes genannt werden (vergl. Luk. 3, 6; Apg. 28, 28). Das Heil Gottes trägt nichts Menschliches an sich. Menschliche Werke kön­nen nur den Blick für das Heil Gottes verdunkeln.

 

"Rede zu den Kindern Israel, daß sie aufbrechen". Mose selbst scheint zu einem Stillstand gekommen zu sein, denn der Herr fragt ihn "Was schreist du zu mir?" Mose konnte dem Volk sagen: "Stehet und sehet die Rettung des HERRN!" während er selbst noch ziemlich beunruhigt war. Es ist aber nutzlos zu schreien, wenn wir eigentlich handeln sollen, und zu handeln, wenn wir warten sollen. Und doch ist es oft so bei uns; wir versuchen aufzubrechen, wenn wir stillstehen sollten, und wir stehen still, wenn wir aufbrechen sollten. In den Herzen der Israeliten hätte wohl die Frage entstehen können: "Wohin sollen wir gehen"? Als eine unüberwindliche Schwierigkeit lag das Meer vor ihnen. In eigener Kraft konnten sie dieses Problem nicht lösen; aber wir können sicher sein, daß Gott uns nie etwas gebietet, ohne uns die Kraft zum Gehorchen zu geben. Unser praktischer Zustand mag durch das Gebot auf die Probe gestellt werden; aber wenn wir durch die Gnade bereit sind zu gehorchen, empfangen wir dazu auch die Kraft von oben. Als Christus dem Menschen mit der verdorrten Hand gebot, sie auszu­strecken, hätte dieser natürlich fragen können: "Wie kann ich eine Hand ausstrecken, die tot ist?" Er stellte aber keine Fragen, denn aus derselben Quelle kamen sowohl das Gebot als auch die Kraft zum Ge­horchen (vergl. Lk. 6, 6‑10). Ebenso war es mit Israel. Mit dem Gebot, aufzubrechen, bereitete Gott auch den Weg dazu. "Und du, erhebe deinen Stab und strecke deine Hand aus über das Meer und spalte es, daß die Kinder Israel mitten in das Meer hineingehen auf dem Trocke­nen" (V. 16). Das war der Weg des Glaubens. Der Herr ebnet uns den Weg, um den ersten Schritt zu tun; und das ist alles, was der Glaube verlangt. Gott gibt nie Anweisung für zwei Schritte auf einmal. Ich muß einen Schritt tun, und dann empfange ich Licht für den zweiten. Dadurch bleibe ich dann in ständiger Abhängigkeit von Gott. "Durch Glauben gingen sie durch das Rote Meer wie durch trockenes Land" (Hebr. 1‑1, 29). Das war der Weg, den die Erlösten des HERRN unter Seiner Leitung gingen. Sie durchschritten die Wasser des Todes und machten die Entdeckung, daß gerade diese Wasser ihnen eine Mauer waren zur Rechten und zur Linken (V. 22).

 

Auf einem solchen Weg konnten die Ägypter nicht folgen. Sie ver­suchten es zwar, weil sie nach dem Sichtbaren urteilten; bei ihnen war es Sehen und nicht Glauben. " . . welches die Ägypter versuchten und verschlungen wurden" (Hebr. 11, 29). Ein Mensch wird nie Erfolg haben, wenn er im Unglauben etwas zu tun versucht, was nur im Glau­ben getan werden kann. Der Weg, auf den Gott Sein Volk führt, kann in eigener Kraft nicht betreten werden. Fleisch und Blut können das Reich Gottes nicht ererben (l. Kor. 15, 50); ebensowenig können sie in den Wegen Gottes wandeln. Der Glaube ist der alles entscheidende Grund­satz des Reiches Gottes; und er allein macht uns fähig, Nachfolger Christi zu sein. Und Hebr. 11, 6 sagt uns, daß es ohne Glauben unmög­lich ist, Gott wohlzugefallen. Wir verherrlichen Ihn besonders dann, wenn wir Ihm ohne Einwände oder Rückfragen folgen; denn das ist der Beweis, daß wir Ihm mehr vertrauen als uns selbst. Wenn ich weiß, daß Gott für mich besorgt ist, so kann ich selbst unbesorgt sein und in Ruhe und Sicherheit vorangehen. Im menschlichen Bereich wissen wir, daß, wenn ein Wachthabender auf seinem Posten steht, andere ruhig schlafen können. Wieviel mehr können wir in vollkommener Sicherheit ruhen, da wir wissen, daß Er, der "nicht schlummert noch schläft" (Ps. 121, 4), Sein Auge auf uns gerichtet hat!

 

 

,Und der Engel Gottes, der vor dem Heere Israels herzog, brach auf und trat hinter sie; und die Wolkensäule brach auf von vorn und stellte sich hinter sie. Und sie kam zwischen das Heer der Ägypter und das Heer Israels, und sie wurde dort Wolke und Finsternis, und erleuchtete hier die Nacht; und so nahte jenes nicht diesem die ganze Nacht" (V. 19. 20). Gott selbst stellte sich zwischen Israel und die Feinde; das war in der Tat ein mächtiger Schutz. Um einem einzigen Israeliten ein Haar krümmen zu können, hätte der ~ Pharao den Allmächtigen selbst über­winden müssen. So stellt sich Gott immer zwischen Sein Volk und jeden Feind, so daß niemand gegen Sein Volk etwas ausrichten kann (vergl. Jes. 54, 17). Er hat sich zwischen uns und unsere Sünden ge­stellt; aber durch die Gnade haben wir auch das Vorrecht, Ihn zwischen uns und allen Personen oder Dingen zu sehen, die gegen uns sein könnten. Der Gläubige mag nach seinen Sünden suchen; aber er wird sie nicht finden, weil Gott alle unsere Sünden hinter sich geworfen hat (Jes. 38, 17), und wir nun als Versöhnte unbefangen vor Sein Angesicht treten dürfen.

 

Ebenso könnte der Gläubige sich nach seinen Schwierigkeiten umsehen und sie nicht finden, weil Gott sich zwischen ihn und sie gestellt hat. Wenn nur unser Blick nicht auf unsere Sünden und Trübsale, sondern auf Christus gerichtet wäre, wie manches Leid würde dann beendet und wie manches Problem gelöst werden! Wir werden immer die Erfahrung machen, daß sehr viele unserer Prüfungen und Leiden aus gefürchteten oder eingebildeten Übeln bestehen, die nur in unserem vom Unglauben beherrschten Geist vorhanden sind. Kennen wir alle den bleibenden Frieden des Gewissens und des Herzens, der daraus entspringt, daß man Christus in Seiner ganzen Fülle zwischen sich und allen seinen Sünden und allen seinen Schwierigkeiten erblickt?

 

Es ist ernst und interessant zugleich, den zweifachen Charakter der Wolkensäule in diesem Kapitel zu betrachten. Sie war "Wolke und Finsternis" für die Ägypter, aber sie "erleuchtete die Nacht" fÜr die Israeliten. Hierin sehen wir eine deutliche Parallele zu dem Kreuz unse­res Herrn Jesus Christus! Auch dieses Kreuz hat seine zwei Seiten. Es ist die Grundlage des Friedens für den Gläubigen und besiegelt zu­gleich das Verdammungsurteil über die Welt. Das gleiche Blut, das dem Gläubigen ein reines Gewissen und vollkommenen Frieden gibt, bedeu­tet eine schreckliche Anklage für diese Welt. Die Tatsache, daß der Sohn Gottes Mensch geworden ist, hat der Welt jede Möglichkeit der Ent­schuldigung genommen; für die Kirche aber ist sie die Ursache der Rechtfertigung und ewiger Anbetung geworden. Dasselbe Lamm, das durch Seinen Zorn alle Geschlechter der Erde erzittern läßt, wird in Ewigkeit Seinen Erlösten dienen und Weide geben (vergl. Offb. 6, 15‑17 mit 7, 13‑17).

 

Das Ende des Kapitels zeigt uns Israel am anderen Ufer des Roten Meeres, während das Heer des Pharao in den Fluten seinen Untergang gefunden hat. Sowohl die Befürchtungen der Israeliten, als auch die Selbstüberschätzung der Ägypter hatten sich als gegenstandslos erwie­sen und waren durch das wunderbare Werk Gottes beendet worden. Dieselben Wasser, die für das Volk Gottes als Mauern dienten, wurden dem Pharao zum Grab. Und so wird der Gläubige immer einen gang­baren Weg finden, während der Ungläubige, der diesen Weg zu be­treten versucht, ein Grab findet. Das ist eine ernste Tatsache, und auch die Empörung des Pharao gegen den Willen Gottes ändert daran nichts. Es wird sich immer bewahrheiten, daß jemand, der die Handlungen des Glaubens nachahmen will, zuschanden wird. Glückselig aber, wer be­fähigt ist, durch Glauben zu wandeln, so schwach es auch sein mag! Er geht einen Weg, der nur Segnungen bringen kann und der, wenn er auch von Mängeln und Versagen gekennzeichnet ist, doch mit Gott angefangen, fortgesetzt und vollendet wird. Wenn wir doch alle mehr die ruhige Erhabenheit und heilige Unabhängigkeit dieses Weges ver­stünden 1

 

Auch der Apostel Paulus spielt auf die Wolke und das Meer an, indem er sagt: "Ich will nicht, daß ihr unkundig seid, Brüder, daß unsere Väter alle unter der Wolke waren und alle durch das Meer hindurchgegangen sind, und alle auf Moses getauft wurden in der Wolke und in dem Meere" (1. Kor. 10, 1. 2). Diese Stelle enthält eine sehr wichtige Be­lehrung; denn der Apostel fügt hinzu: "Diese Dinge aber sind als Vor­bilder für uns geschehen" (V. 6), so daß wir berechtigt sind, die Taufe Israels in der Wolke und in dem Meere" bildlich auszulegen, zumal diese Auslegung große Bedeutung für unser praktisches Leben hat. Nachdem sie in dieser Weise getauft waren, begannen die Kinder Israel ihre Reise durch die Wüste; eine Reise, für die Gott mit "geistlicher Speise" und "geistlichem Trank" reichlich Vorsorge getroffen hatte. Sie waren, im Bilde gesprochen, ein totes Volk für Ägypten und für alles, was dazu gehörte, denn die Wolke und das Meer waren für sie, was das Kreuz und das Grab Christi für uns sind. Die Wolke schützte sie vor ihren Feinden ' und das Meer trennte sie von Ägypten. Ebenso schützt uns das Kreuz vor allem, was gegen uns sein könnte, und wir stehen jenseits des Grabes Jesu. Von hier aus beginnen wir unsere Wüsten­reise. Hier fangen wir an, das himmlische Manna zu essen und aus dem "geistlichen Felsen" zu trinken, während wir als ein Volk ohne Bürger­recht auf dem Weg zu dem Land der Ruhe sind, von dem Gott zu uns geredet hat.

 

Ich möchte noch kurz auf den Unterschied zwischen dem Roten Meer und dem Jordan aufmerksam machen. Beides sind Bilder vom Tod Christi. Aber während das Rote Meer die Trennung von Ägypten be­deutet, sehen wir im Jordan die Grenze zum Land Kanaan. Der Gläubige ist durch das Kreuz Christi nicht nur von dem gegenwärtigen bösen Zeitlauf getrennt, sondern Gott hat ihn auch "mitauferweckt und mit­sitzen lassen in den himmlischen Örtern in Christo Jesu" (Eph. 2, 5. 6). Deshalb ist er zwar von den Dingen Ägyptens, d. h. dieser Welt umgeben, aber er empfindet seine Umwelt als eine Wüste; und gleichzeitig weiß er sich durch Glauben in die Herrlichkeit versetzt, wo Jesus zur Rechten Gottes sitzt. Der Gläubige hat also nicht nur die Ver­gebung aller seiner Sünden empfangen, sondern er ist auch tatsächlich mit dem auferstandenen Christus im Himmel vereinigt. Er ist nicht nur durch Christus errettet, sondern auch für immer mit ihm verbunden. Nichts Geringeres konnte der Liebe Gottes genügen oder Seine Rat­schlüsse in bezug auf die Kirche verwirklichen.

 

jeder Gläubige muß vor sich selbst die Frage beantworten, inwieweit er diese Dinge versteht, glaubt und verwirklicht. Aber die Gnade Gottes sei gepriesen: sie sind wahr und gültig für jedes Glied des Leibes Jesu Christi, welche Stellung und Funktion es auch haben mag. Ihre Wahr­heit hängt nicht davon ab, ob wir sie verwirklichen oder verstehen, son­dern allein von dem "kostbaren Blut Christi", das unsere ganze Schuld getilgt und zu allen uns betreffenden Ratschlüssen Gottes den Grund gelegt hat. Hier ist für jedes zerbrochene Herz und für jedes belastete Gewissen Ruhe zu finden.

 

Kapitel 15

 

DAS LIED MOSES. MARA UND ELIM

 

Dieses Kapitel beginnt mit dem herrlichen Triumphgesang der Kinder Israel am Ufer des Roten Meeres, als sie die große Macht sahen, die der HERR an den Ägyptern erwiesen hatte (Kap. 14, 31). Sie hatten die Rettung des HERRN gesehen, und darum besangen sie Ihn jetzt und erzählten Seine mächtigen Taten. "Damals sangen Mose und die Kinder Israel dieses Lied dem HERRN" (V. 1). Bis dahin haben wir kein Lob aus dem Munde der Israeliten vernommen. Wir hörten ihren Notschrei, als sie sich abmühten bei den Ziegelhütten Ägyptens; wir vernahmen ihr ungläubiges Rufen, als sie sich von scheinbar unüberwindlichen Schwie­rigkeiten umringt sahen; aber von einem Loblied wird bis zu diesem Augenblick nichts erwähnt. Erst als die Rettung sichtbar und vollendet war, stimmte die ganze erlöste Versammlung den Triumphgesang an. Als sie aus ihrer Taufe "in der Wolke und in dem Meere" hervorge­gangen waren und der herrliche Sieg ihnen bewußt wurde, fühlten sechshunderttausend Männer das Verlangen, ein Siegeslied zu singen. Die Wasser des Roten Meeres waren zwischen ihnen und Ägypten, und als ein völlig befreites Volk standen sie am Ufer. Darum waren sie fähig, den HERRN zu loben.

 

In dieser und in anderer Hinsicht sind sie "Vorbilder für uns". Auch wir müssen uns durch Tod und Auferstehung gerettet wissen, bevor wir zu einer klaren und einsichtsvollen Anbetung fähig sind. Fehlt je­mandem dieses Bewußtsein, so bleibt immer ein Vorbehalt und ein Zögern in seiner Seele, weil er den Wert der in Jesus Christus voll­brachten Erlösung noch nicht erkannt hat. Man mag überzeugt sein, daß in Christus und in keinem anderen das Heil ist; aber den Charakter und den Grund dieses Heils im Glauben ergreifen und sich praktisch zu eigen machen ist eine ganz andere Sache. Der Geist Gottes offenbart uns in der Heiligen Schrift mit unmißverständlicher Klarheit, daß die Kirche mit Christus in Tod und Auferstehung vereinigt, und daß der auferstandene Christus zur Rechten Gottes die Gewähr ihrer Annahme ist* Sobald ein Christ das versteht, hat er den Zweifel und die Unge­wißheit überwunden; denn wie könnte er zweifeln, wenn er weiß, daß ein Sachwalter, und zwar "Jesus Christus, der Gerechte", ihn beständig vor dem Thron Gottes vertritt? (1. Joh. 2, 1). Das schwächste Glied der Kirche Gottes kann wissen, daß es durch Christus am Kreuz vertreten wurde, und daß dort alle seine Sünden bekannt, getragen, gerichtet und gesühnt worden sind. Das ist eine göttliche Realität, die, wenn sie durch den Glauben erfaßt wird, Frieden geben muß. Aber auch nichts weniger als das kann Frieden geben. Man mag aufrichtig und ernst nach Gott verlangen; man mag fromm und ergeben alle Vorschriften, Pflichten und Formen der Religion beobachten; aber um das Bewußtsein zu erhalten, daß das Gewissen vollständig von der Sünde befreit ist, gibt es kein anderes Mittel, als die Sünde gerichtet zu sehen, und zwar in der Person Jesu Christi, der als ein Schlachtopfer für die Sünde am Fluchholz litt und starb (Hebr. 9, 26; 10, 1‑18). Wenn die Sünde dort "ein für alle­mal" gerichtet wurde, so darf der Gläubige sie jetzt als eine göttlich und deshalb für immer erledigte Sache betrachten. Und daß sie dort ge­richtet wurde, ist durch die Auferstehung des Bürgen erwiesen. "Ich habe erkannt, daß alles, was Gott tut, für ewig sein wird: es ist ihm nichts hinzuzufügen und nichts davon wegzunehmen; und Gott hat es also gemacht, damit man sich vor ihm fürchte" (Pred. 3, 14).

 

'Es wird nun zwar im allgemeinen eingeräumt, daß dies alles in bezug auf die Kirche in ihrer Gesamtheit wahr ist, aber vielen fällt es doch außerordentlich schwer, es auf sich persönlich anzuwenden. Sie sind bereit, mit dem Psalmisten zu sagen: "Fürwahr, Gott ist Israel gut, denen, die reinen Herzens sind. Ich aber.. . " usw. (Ps. 73. 1. 2). Anstatt auf Christus als den Gestorbenen und Auferstandenen zu schauen, rich­ten sie ihre Blicke auf sich selbst. Sie beschäftigen sich mehr mit ihrer eigenen Zuneigung zu Christus als mit Christus selbst. Sie denken mehr an ihre Fähigkeit als an ihre Stellung vor Gott. Auf diese Weise bleiben sie in trostloser Ungewißheit und können infolgedessen nie den Platz eines verständigen und glücklichen Anbeters einnehmen. Sie hoffen auf Errettung, anstatt sich der längst geschehenen Errettung zu erfreuen. Sie sehen ihre unvollkommenen Werke, anstatt der vollkommenen Ver­söhnung Christi.

 

Wenn wir jetzt den Gesang der Israeliten im einzelnen betrachten, so finden wir in ihm keine Silbe, die auf das Ich, auf seine Handlungen, Worte oder Gefühle Bezug nimmt, sondern er handelt von Anfang bis Ende nur von dem HERRN. Das Lied beginnt mit den Worten: "Singen will ich dem HERRN, denn hoch erhaben ist er; das Roß und seinen Reiter hat er ins Meer gestürzt" (V. 1). Hier wird schon der Inhalt des ganzen Liedes angedeutet; vom Anfang bis zum Schluß redet es von den Eigenschaften und Taten Gottes. Im 14. Kapitel war das Volk durch den übermäßigen Druck der Umstände wie gelähmt gewesen; hier in Kap. 15 aber ist der Druck weggenommen, und sie sind frei und ungehindert, um Gott zu loben. Das Ich ist vergessen. Die Probleme liegen hinter ihnen. Nur der HERR selbst, Sein Charakter und Seine Wege stehen vor ihren Blicken. Sie konnten sagen: "Du hast mich er­freut, HERR, durch dein Tun; über die Werke deiner Hände will ich jubeln" (Ps. 92, 4). Das ist wahre Anbetung. Nur wenn das wertlose Ich, mit allem was ihm angehört, nicht mehr in unserem Blickfeld existiert und Christus allein unsere Herzen ausfüllt, sind wir fähig, in der rechten Weise Gottesdienst zu üben. Dann ist keine fleischliche Frömmigkeit nötig, um Gefühle der Andacht wachzurufen. Auch die äußeren Hilfs­mittel einer weltlichen Religion, die zum Gelingen eines wohlgefälligen Gottesdienstes mitwirken sollen, erübrigen sich dann völlig. Wenn ein Gläubiger nur mit der Person Christi beschäftigt ist, werden Lobgesänge die natürliche Folge sein. Man kann nicht mit aufgedecktem Angesicht den Herrn anschauen, ohne sich in Anbetung niederzubeugen. Wenn wir z. B. in der Offenbarung die Anbetung der zahllosen Erlösten be­trachten, so finden wir, daß sie immer durch die Darstellung irgend­eines besonderen Zuges der Wesensart Gottes hervorgerufen wird. So sollte es auch in der Kirche sein, solange sie noch auf der Erde ist. Wenn es aber nicht so ist, dann deshalb, weil wir uns von Dingen beanspruchen lassen, die angesichts der Herrlichkeit Gottes keinen Bestand haben. Gott selbst ist das Ziel, der Gegenstand und die Kraft wahrer An­betung.

 

Wir sehen in diesem Kapitel ein schönes Beispiel davon, wie Gott durch ein Lied geehrt werden kann. Es ist die Sprache eines erlösten Volkes, das seinen Erlöser lobt. "Meine Stärke und mein Gesang ist der HERR, denn er ist mir zur Rettung geworden; dieser ist mein Gott, und ich will ihn verherrlichen, meines Vaters Gott, und ich will ihn erheben. Der HERR ist ein Kriegsmann, HERR sein Name ... Deine Rechte, 0 HERR, ist herrlich in Macht; deine Rechte, o HERR, hat zerschmettert den Feind ... Wer ist dir gleich unter den Göttern, o HERR! wer ist dir gleich, herrlich in Heiligkeit, furchtbar an Ruhm, Wunder tuend!. Du hast durch deine Güte geleitet das Volk, das du erlöst, hast es durch deine Stärke geführt zu deiner heiligen Wohnung ... Der HERR wird König sein immer und ewiglich" (V. 2. 3. 6. 11. 13. 18). Der Rahmen dieses Gesangs ist sehr weit gefaßt. Er beginnt mit der Erlösung und endet mit der Herrlichkeit. Er beginnt mit dem Kreuz und endet mit dem Königreich, er reicht ‑ neutestamentlich gesprochen von den "Leiden" bis zu den "Herrlichkeiten danach" (1. Petr. 1, 11). Und bei allem ist Gott allein das Thema. Ein solcher Gesang kann nur durch das An­schauen Gottes und Seiner herrlichen Taten hervorgerufen werden.

 

Überdies wird in diesem Gesang die Erfüllung der Ratschlüsse Gottes vor­weggenommen, indem wir lesen: "Du hast durch deine Güte geleitet das Volk, das du erlöst, hast es durch deine Stärke geführt zu deiner heiligen Wohnung" (V. 13). Die Kinder Israel konnten so sprechen, obwohl sie eben erst die Wüste betreten hatten. Es war nicht der Ausdruck einer unbestimmten Hoffnung oder eines möglichen Zufalls. Wenn ein Gläu­biger mit Gott allein beschäftigt ist, so wird er die Fülle Seiner Gnade immer tiefer erkennen und sich immer mehr erfreuen an den Schätzen Seiner Barmherzigkeit und Güte. Und in diesem Bewußtsein, mit dem auferstandenen Christus in die himmlischen Örter versetzt zu sein, kann nichts den Gläubigen hindern, die unergründlichen Pläne Gottes zu er­forschen und seine Freude zu haben an der Herrlichkeit, die Gott nach Seinem ewigen Ratschluß für alle bereitet hat, deren Kleider in dem Blut des Lammes gewaschen sind.

 

Dies erklärt den unvergleichlichen Charakter aller Lobgesänge, die wir in der Heiligen Schrift finden. Nicht ein Geschöpf, sondern Gott ist das Thema, von dem der Gläubige erfüllt ist. Der Mensch, seine Gefühle oder seine Erfahrungen würden das Lob Gottes nur unterbrechen; sie werden deshalb gar nicht erwähnt. Darum sind diese Gesänge so ver­schieden von solchen Liedern, die immer wieder Ausdrücke unserer Schwächen und Unzulänglichkeiten enthalten; und gerade solche Lieder sind so oft in christlichen Versammlungen zu hören. Tatsache ist, daß wir nie mit geistlicher Kraft und Einsicht singen können, wenn wir auf uns selbst blicken. Denn in uns selbst werden wir immer etwas ent­decken, das unser Lob und unsere Anbetung hemmt. Manche scheinen es allerdings beinahe als eine Gnade zu betrachten, wenn sie ständig in Zweifel und Ungewißheit sind; an ihren Liedern ist das allerdings auch zu erkennen. Solche Personen haben, so treu und aufrichtig sie es auch meinen, noch nicht verstanden, was Gottesdienst eigentlich ist. Sie sind noch nicht mit sich selbst zum Abschluß gekommen. Sie haben noch nicht das Rote Meer durchschritten und als ein geistlich getauftes Volk in der Kraft der Auferstehung am anderen Ufer ihren Platz eingenommen. Sie sind in der einen oder anderen Weise noch mit sich selbst be­schäftigt und betrachten das Ich, mit dem Gott für immer ein Ende ge­macht hat, nicht als gekreuzigt.

 

Möge der Heilige Geist in allen Kindern Gottes bewirken, daß sie ihren Platz und ihre Vorrechte klar verstehen und erkennen, daß sie, gewa­schen von ihren Sünden in dem Blut Christi, in derselben unendlichen und vollkommenen Annehmlichkeit vor Gott stehen wie Christus selbst, das auferstandene und verherrlichte Haupt Seiner Kirche! Zweifel und Befürchtungen stehen den Kindern Gottes nicht gut an, denn ihr gött­licher Bürge hat jede nur denkbare Ursache von Zweifel und Furcht beseitigt. Ihr Platz ist innerhalb des Vorhangs. Sie haben Freimütigkeit zum Eintritt in das Heiligtum durch das Blut Jesu (Hebr. 10, ‑19). Gibt es etwa Zweifel und Befürchtungen im Heiligtum? Ist es nicht deutlich, daß jeder Zweifel die Vollkommenheit des Werkes Christi in Frage stellt, eines Werkes, von dem Gott angesichts aller Geschöpfe durch die Auferweckung Christi aus den Toten Zeugnis gegeben hat? Christus hätte nicht das Grab verlassen können, wenn nicht jeder Grund zum Zweifeln und Fürchten für Sein Volk weggeräumt gewesen wäre. Des­wegen kann ein Christ sich ständig eines vollkommenen Heils erfreuen, Gott selbst ist sein Heil geworden; und seine Aufgabe ist, die Früchte des Werkes, das Gott für ihn gewirkt hat, zu genießen und zu Seiner Verherrlichung zu leben, solange er auf die Zeit wartet, da "der HERR König sein wird immer und ewiglich" (V. 18).

 

"Und Mose ließ Israel aufbrechen vom Schilfmeer, und sie zogen aus in die Wüste Sur; und sie gingen drei Tage in der Wüste und fanden kein Wasser" (V. 22). Wenn unser Erfahrungsleben in der Wüste be­gonnen hat, dann erweist es sich, inwieweit wir Gott und unsere eige­nen Herzen kennen. Am Anfang unserer christlichen Laufbahn haben wir gewöhnlich noch sehr viel Frische und ein Übermaß von Freude, die aber sehr bald durch den schneidenden Wind der Wüste beeinträchtigt werden; und wenn dann nicht das tiefe Bewußtsein davon, was Gott für uns ist, alles andere beherrscht, so besteht die Gefahr, daß wir zusammenbrechen und uns in unseren Herzen nach Ägypten zurückwenden

 

(Apg. 7, 39). Die Zucht der Wüste ist nötig, allerdings nicht, damit wir ein Anrecht auf das Land Kanaan erhalten, sondern damit wir Gott und unsere eigenen Herzen besser kennenlernen. Auch die Kraft unseres Verhältnisses zu Gott erleben wir nur in der Wüste, und schließlich ‑wenn wir Kanaan erreicht haben ‑ wird aufgrund unserer Erfahrungen in der Wüste auch unsere Freude an dem Land vermehrt werden (vergl. 5. Mose 8, 2‑5).

 

Die Frische und der Zauber des Frühlings verschwinden bald vor der Hitze des Sommers; aber gerade diese Hitze bringt die gereiften Früchte des Herbstes hervor. So ist es auch im Leben des Christen. Überhaupt gibt es eine auffallende Übereinstimmung zwischen den Grundsätzen der Natur und denen des Reiches Gottes; wie könnte es auch anders sein, da die einen wie die anderen das Werk desselben Gottes sind?

 

Es gibt drei verschiedene Bereiche, in denen wir die Israeliten be­trachten können. Ägypten, die Wüste und das Land Kanaan. In jedem dieser Bereiche sind sie ein Bild von uns; nur befinden wir uns in allen dreien gleichzeitig. Das mag seltsam klingen, aber es ist die Wahrheit. Tatsächlich sind wir in Ägypten, und zwar umringt von natürlichen Dingen, die dem natürlichen Herzen ganz und gar entsprechen. Aber weil Gott uns durch Seine Gnade in die Gemeinschaft Seines Sohnes Jesus Christus berufen hat, haben wir eine neue Natur mit neuen Neigungen und Wünschen bekommen und damit zugleich auch einen Platz außer­halb Ägyptens*), d. h. der Welt in ihrem natürlichen Zustand. Und für

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*) Zwischen Ägypten und Babylon besteht ein wichtiger moralischer Unterschied. Ägypten war der Ort, von dem die Israeliten auszogen, und Babylon das Land, in das sie später geführt wurden. (Vergl. Amos 5,25‑27 mit Apg.7. 42. 43). Ägypten ist der Ausdruck dessen, was der Mensch aus der Welt gemacht hat; Babylon der Ausdruck dessen, was Satan aus der bekennenden Kirche gemacht hat oder noch machen wird. Wir sind deshalb nicht nur von den Verhältnissen Ägyptens, sondern auch von den moralischen Grundsätzen Babylons umgeben.

Das macht unsere Tage zu »schweren Zeiten", wie der Heilige Geist sich ausdrückt (2. Tim. 3, i~). Man braucht die Energie des Geistes Gottes und vor­behaltlose Unterwerfung unter die Autorität der Heiligen Schrift, um den Verlockungen Ägyptens und zugleich dem Geist und den Grundsätzen Babylons widerstehen zu können. Das erste entspricht den Wünschen des natür­lichen Herzens, während das zweite sich an die natürliche Religiosität richtet und einen großen Einfluß auf das Herz erlangt. Der Mensch ist ein religiöses Wesen und besonders empfänglich für die Eindrücke der Musik, der Bau­kunst, der Malerei und der Prachtentfaltung religiöser Gebräuche und Zeremonien. Wenn diese Dinge auch noch die Erfüllung seiner natürlichen Wün. sche und äußeres Wohlleben mit sich bringen, dann kann nur die Kraft des Wortes und Geistes Gottes jemanden in der Treue für Christus bewahren.

Beachten wir auch, daß es zwischen dem Endschicksal Ägyptens und Babylons einen großen Unterschied gibt. In Jes. 19 werden uns die Segnungen vor Augen gestellt, die für Ägypten aufbewahrt sind. Wir lesen am Schluß des Kapitels: "Und der HERR wird die Ägypter schlagen, schlagen und heilen; und sie werden sich zu dem HERRN wenden, und er wird sich von ihnen erbitten lassen und sie heilen ... An jenem Tage wird Israel das dritte sein mit Ägypten und mit Assyrien, ein Segen inmitten der Erde; denn der HERR der Heerscharen segnet es und spricht: Gesegnet sein mein Volk Ägypten, und Assyrien, meiner Hände Werk, Israel, mein Erbteil" (Jes. 19, 22‑25).

Ganz anders ist das Ende der Geschichte Babylons, mag man nun buchstäblich an eine Stadt oder an ein geistliches System denken. "Und ich will es zum Besitztum der Igel machen und zu Wassersümpfen, und ich werde es ausfegen mit dem Besen der Vertilgung, spricht der HERR der Heer­scharen". (Jes. 14, 23). "Es wird in Ewigkeit nicht bewohnt werden und keine Niederlassung mehr sein von Geschlecht zu Geschlecht" (Jes. 13, 2o). Das ist das Schicksal Babylons, wenn wir es als Stadt betrachten. Sehen wir es aber in seiner geistlichen Bedeutung, so finden wir in Offb, 18 sein Endurteil; das ganze Kapitel handelt von Babylon und schließt mit den Worten: "Und ein starker Engel hob einen Stein auf wie einen großen Mühlstein und warf ihn ins Meer und sprach: Also wird Babylon, die große Stadt, mit Gewalt nieder­geworfen und nie mehr gefunden werden. ‑. "

Wie sollte sich jeder von diesen Worten getroffen fühlen, der irgendwie mit Babylon und seinen Grundsätzen verbunden ist! "Gehet aus ihr hinaus, mein Volk, auf daß ihr nicht ihrer Sünden mitteilhaftig werdet, und auf daß ihr nicht empfanget von ihren Plagen!" (Offbg. 18, 4). Die "Kraft" des Heiligen Geistes kann sich nur in einer bestimmten "Form" äußern aber es ist immer das Ziel des Feindes gewesen, die bekennende Kirche der Kraft zu berauben, gleichzeitig aber zu bewirken daß sie die Form beibehielt, auch wenn der Geist und das Leben längst verschwunden waren. In dieser Weise baut er das geistliche Babylon auf. Die Steine, aus denen diese Stadt besteht, sind leblose Bekenner; und der Mörtel, wodurch Satan die Steine verbindet, ist "eine Form der Gottseligkeit ohne Kraft".

 

unsere praktische Erfahrung bedeutet das ein Leben in der Wüste. Die göttliche Natur in uns verlangt nach einer anderen Ordnung der Dinge, nach einer reineren Atmosphäre als die, von der wir umgeben sind, und dadurch läßt sie uns fühlen, daß Ägypten seinem Wesen nach eine Wüste ist.

 

Schließlich aber sind wir in den Augen Gottes auch auf ewig mit Chri­stus vereinigt, der in die Himmel eingegangen ist und dort zur Rechten der Majestät Platz genommen hat, und deshalb dürfen wir durch den Glauben wissen, daß Er auch uns in Ihm hat mitsitzen lassen in den himmlischen Örtern (Eph. 2, 6). So sind wir nun dem Leibe nach in Ägypten, hinsichtlich unserer Erfahrungen in der Wüste und können doch gleichzeitig durch den Glauben in Kanaan eintreten und uns von "dem Getreide des Landes, d. h. von Christus nähren; nicht nur von Christus, der auf die Erde herabgestiegen ist, sondern von Christus, der in den Himmel zurückgekehrt ist und jetzt dort in Herrlichkeit thront (vergl. 1. Tim. 3, 16).

 

Die letzten Verse des Kapitels zeigen uns die Kinder Israel in der Wüste. Bis dahin war es glücklich gelaufen. Schreckliche Gerichte waren über Ägypten hereingebrochen, Israel aber war völlig verschont geblieben; das ägyptische Heer lag tot am Ufer, Israel aber triumphierte. Alles war nach Wunsch gegangen. Aber wie schnell änderte sich die Lage. Die Lobgesänge verstummten und Murren trat an ihre Stelle.

 

"Und sie kamen nach Mara, aber sie konnten das Wasser von Mara nicht trinken, denn es war bitter ‑ darum gab man ihm den Namen Mara. Und das Volk murrte wider Mose und sprach: Was sollen wir trinken?" (V. 23. 24). Und weiter: "Und die ganze Gemeinde der Kin­der Israel murrte wider Mose und wider Aaron in der Wüste. Und die Kinder Israel sprachen zu ihnen: 'V\7ären wir doch im Lande Ägypten durch die Hand des HERRN gestorben, als wir bei den Fleischtöpfen saßen, als wir Brot aßen bis zur Sättigung! denn ihr habt uns in diese Wüste herausgeführt, um diese ganze Versammlung Hungers sterben zu lassen" (Kap. 16, 2. 3).

 

Das waren die Prüfungen der Wüste: "Was sollen wir essen?" und "Was sollen wir trinken"? Das Wasser von Mara stellte das Herz des Volkes Israel auf die Probe und offenbarte seinen unzufriedenen Geist; aber der Herr zeigt ihm, daß es keine Bitterkeit gab, die Er nicht ver­süßen konnte. "Und der HERR wies ihm ein Holz; und er warf es in das Wasser, und das Wasser wurde süß. Dort stellte er ihm Satzung und Recht, und dort versuchte er es" (V. 25). Ein wunderbares Bild von dem, der in die bitteren Wasser des Todes geworfen wurde, damit ihnen die Bitterkeit um unsertwillen für ewig genommen würde.

 

Der 26. Vers stellt uns den Ernst dieser ersten Station der Erlösten Gottes in der Wüste vor Augen. Gerade dann sind wir in Gefahr, un­ruhig und ungeduldig zu werden. Nur das beständige "Hinschauen auf Jesus" (Hebr. 12, 2.) kann uns vor diesem Geist schützen. Der Herr offenbart sich immer in einer Weise, die den jeweiligen Bedürfnissen Seines Volkes angemessen ist; und die Seinen sollten, anstatt sich über die Umstände zu beklagen, sie zum Anlaß nehmen, sich immer von neuem auf Ihn zu stützen. Auf diese Weise dient die Wüste dazu, uns erfahren zu lassen, wer Gott ist. Sie ist eine Schule, in der wir Seine Geduld, Seine Treue und Hilfe kennenlernen. "Und eine Zeit von etwa vierzig Jahren pflegte er sie in der Wüste" (Apg. 13, 18). Wer geistlich gesinnt ist, weiß, daß es der Mühe wert ist, bitteren Wassern zu be­gegnen, damit Gott sie versüßen kann. "Wir rühmen uns auch der Trübsale, da wir wissen, daß die Trübsal Ausharren bewirkt, das Aus­harren aber Erfahrung, die Erfahrung aber Hoffnung; die Hoffnung aber beschämt nicht, denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, welcher uns gegeben worden ist" (Röm. 5, 3‑5).

 

Allerdings gibt es in der Wüste auch Orte wie "Elim", nicht nur solche wie Mara": es gibt Wasserquellen und Palmbäume ebenso wie bittere Wasser. "Und sie kamen nach Elim, und daselbst waren zwölf Wasser­quellen und siebenzig Palmbäume; und sie lagerten sich daselbst an den Wassern" (V. 27). Der Herr bereitet in Seiner Gnade und Sorgfalt grüne Plätze für Sein Volk in der Wüste; und wenn es auch nur Oasen sind, so wirken sie doch erfrischend und belebend. Der Aufenthalt in Elim ließ das Murren der Israeliten verstummen. Der Schatten der Palm­bäume und die Quellen Elims kamen zur gelegenen Zeit nach den Prü­fungen Maras und zeigen uns, wie vollkommen Gott Seinem Volk auf Erden dient. Die Zahlen 12 und 70 stehen in Verbindung mit dem Dienst (vergl. Luk. 10, 1‑17; 6, 13).

 

Doch Elim war nicht Kanaan. Die Wasserquellen und Palmblume Elims waren nur ein Vorgeschmack von dem Land, das jenseits der Wüste lag. Ohne Zweifel fand Israel hier eine Erfrischung; aber es war eine Er­frischung der Wüste, und sie reichte nur für eine kurze Zeit aus, um das Volk zu ermutigen und für seinen weiteren Weg nach Kanaan zu stärken. Den gleichen Sinn hat der Dienet in der Kirche. Er ist eine gnädige Vorsorge für unsere Bedürfnisse und dazu bestimmt, unsere Herzen zu stärken und zu ermutigen, "bis wir alle hingelangen zu der Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes" (Eph. 4,13).

 

Kapitel 16

 

IN DER WÜSTE SIN

 

"Und sie brachen auf von Elim, und die gan e Gemeinde der Kinder Israel kam in die Wüste Sin, die zwischen Elim und Sinai ist, am fünf­zehnten Tage des zweiten Monats nach ihrem Auszug aus dem Lande Ägypten" (V. 1). Die Kinder Israel sind hier an einem bemerkenswer­ten Punkt angelangt. Sie sind noch in derselben Wüste, aber in einem sehr wichtigen Teil davon, nämlich "zwischen Elim und Sinai". Elim war der Platz, wo Gott sie gerade erst durch Seinen Dienst gestärkt hatte, und Sinai wurde der Ort, wo sie den Boden der freien und un­umschränkten Gnade verließen, um sich unter ein Bündnis von Werken zu stellen. Das macht die Wüste Sin zu einem besonders wichtigen Teil der Reise der Kinder Israel. Noch begegnet Gott ihnen in derselben Gnade, mit der Er sie aus Ägypten geführt hatte, und darum hilft Er unmittelbar, sobald ein Mangel auftaucht. Wenn Gott Seine Gnade offenbaren will, dann gibt es für Ihn kein Hindernis. Der Segen, der von Ihm ausgeht, kann dann nicht unterbrochen werden. Nur wenn der Mensch sich selbst unter Gesetz stellt, verwirkt er alles; dann wird es sich zeigen, was der Mensch aufgrund seines eigenen Tuns erreichen kann.

 

Gott hat Sein Volk sicher nicht in der Absicht erlöst und aus Ägypten herausgeführt, um es in der Wüste eine Beute des Hungers und Durstes werden zu lassen. Die Kinder Israel hätten das wissen sollen. Sie hätten sich auf Ihn stützen und im Vertrauen auf die Liebe, die sie in so wun­derbarer Weise den Schrecken der ägyptischen Knechtschaft entrissen hatte, ihren Weg fortsetzen sollen. Sie hätten daran denken sollen, daß es unendlich viel besser war, mit Gott in der Wüste als mit dem Pharao bei den Ziegelhütten zu sein. Aber es fällt dem menschlichen Herzen un­endlich schwer, der vollkommenen Liebe Gottes Glauben zu schenken.

 

Der Mensch setzt mehr Vertrauen auf Satan als auf Gott (vergl. 1. Mose 3, 1‑6). Woher kommen die vielen Leiden, das Elend und die Entwürdi­gung des Menschen? Sind sie nicht die Folgen seines Hörens auf die Stimme Satans? Und dennoch beklagt er sich nie über sein Sklaven­dasein, noch drückt er je den Wunsch aus, diesem Dienst zu entrinnen. Er ist weder unzufrieden mit Satan noch des Dienens überdrüssig. Alle Tage erntet er bittere Früchte auf dem Feld, auf das Satan ihn geführt hat; und dennoch sieht man ihn immer wieder denselben Samen aus­streuen und willig dieselbe mühevolle Arbeit tun.

 

Wie ganz anders handelt der Mensch im Blick auf Gott! Kaum haben wir angefangen, in Seinen Wegen zu wandeln, so sind wir bei der ersten Prüfung oder Trübsal schon unzufrieden und zur Empörung bereit. In der Tat sind wir in kaum einer Sache so nachlässig wie in der Dank­barkeit. Wir vergessen zehntausend Gnadenerweisungen angesichts einer einzigen geringfügigen Entbehrung. Wir haben die Vergebung aller unserer Sünden empfangen (Eph. 1, 7; Kol. 1, 14), sind "begnadigt in dem Geliebten" (Eph. 1, 6), wir sind zu Erben Gottes und zu Mit­erben Christi gemacht (Eph. 1, 11; Röm. 8, 17; Gal. 4, 7), wir erwarten die ewige Herrlichkeit (Röm. 8, :18‑25; 2. Kor. 4, 15; 5, 4; Phil. 3, 20. 21; Gal. 5, 5; Tit. 2, 13; 1. Joh. 3, 2 u. a.), und obendrein er­fahren wir Tag für Tag durch unzählige Gnadenerweisungen die Güte unseres Herrn; und doch braucht nur eine Wolke, "klein wie eines Mannes Hand", am Horizont zu erscheinen, und wir vergessen ange­sichts dieser Wolke, die sich vielleicht sogar als Segen für uns erweisen wird, alle die reichen Segnungen in der Vergangenheit. Dieser Gedanke sollte uns in der Gegenwart Gottes tief demütigen. Wie weit sind wir in dieser und in jeder anderen Hinsicht von unserem Herrn entfernt! Be­trachten wir Ihn, den wahren "Israel", wie Er in der Wüste, um­ringt von wilden Tieren, vierzig Tage fastete. Beklagte Er Sein Los? Wünschte Er eine Änderung der Umstände? Nein. Gott war das Teil Seines Erbes und Seines Bechers (Ps. 16). Und als der Ver­sucher Ihm die Herrlichkeit und Ehren dieses Lebens anbot, konnte Er darum alles ausschlagen und blieb unerschütterlich in der Abhängigkeit von Gott und in der bedingungslosen Unterwürfigkeit unter Sein Wort. Er wollte nur von Gott Brot empfangen, und auch die Herrlichkeit nur von Ihm.

 

Wie anders war es bei dem irdischen Volk Israel! Kaum verspürten sie Hunger, da "murrten sie wider Mose und wider Aaron in der Wüste".

 

Sie schienen tatsächlich das Bewußtsein ihrer Befreiung durch die Hand des HERRN verloren zu haben, denn sie schrieen: "Ihr habt uns in diese Wüste herausgeführt"! (V. 3) und in Kap. 17: "Warum doch hast du uns aus Ägypten herausgeführt, um mich und meine Kinder und mein Vieh sterben zu lassen vor Durst?" So offenbarten sie bei jeder Gelegenheit einen Geist der Bitterkeit und Unzufriedenheit und zeigten nur zu deutlich, wie wenig ihnen die Gegenwart ihres allmächtigen und gnädigen Befreiers bedeutete.

 

Wie sehr wird Gott verunehrt durch das Murren derer, die Ihm an­gehören! Der Apostel Paulus erwähnt diesen undankbaren Geist als ein besonderes Kennzeichen heidnischer Verderbtheit. "weil sie Gott kennend, ihn weder als Gott verherrlichten, noch ihm Dank darbrach­ten, und dann folgt das Resultat: "sondern in ihren Überlegungen in Torheit verfielen, und ihr unverständiges Herz verfinstert wurde" (Röm. 1, 21). Wer nicht mehr mit Dankbarkeit an die Güte Gottes denken kann, dessen Herz wird bald mit Finsternis erfüllt werden. Auf diese Weise verloren die Kinder Israel das Bewußtsein, in Gottes Hand zu sein, und wie es zu erwarten ist, gerieten sie dadurch in noch tiefere Finsternis. In einem späteren Abschnitt ihrer Geschichte hören wir sie sagen: "Warum bringt uns der HERR in dieses Land, daß wir durchs Schwert fallen und unsere Weiber und unsere Kindlein zur Beute wer­den" (4. Mose 14, 3)? Das ist der abschüssige Weg einer Seele, die ihre Gemeinschaft mit Gott verloren hat. Sie verliert zunächst das Be­wußtsein, daß sie nur zu ihrem eigenen Segen in den Händen Gottes ist, und schließlich glaubt sie sogar, daß es zu ihrem Unglück sei. Was für ein trauriger Rückschritt!

 

Weil Gott aber diesem Volk Israel Seine besondere Gnade zuwenden wollte, traf Er auf wunderbare Weise Vorsorge: "Da sprach der HERR zu Mose: Siehe, ich werde euch Brot vom Himmel regnen lassen" (V. 4). In ihrem Unglauben hatten sie kurz vorher gesagt: "Wären wir doch im Lande Ägypten durch die Hand des HERRN gestorben, als wir bei den Fleischtöpfen saßen, als wir Brot aßen bis zur Sättigung!" (V. 3 . Und jetzt heißt es: "Ich werde euch Brot vom Himmel regnen lassen". Welch ein Gegensatz! Welch ein Unterschied zwischen den Fleischtöpfen, den Zwiebeln, dem Knoblauch Ägyptens und dem himmlischen Manna, dem "Brot der Starken" (Ps. 78, 25)! Das erste war irdisch, das andere himmlisch.

 

Nun aber mußte diese himmlische Speise dazu dienen, den Zustand des Volkes zu prüfen: " . . damit ich es versuche, ob es wandeln wird in meinem Gesetz oder nicht" (V. 4). Die Israeliten mußten sich auch in­nerlich von Ägypten gelöst haben, um mit dem ßrot vom Himmel" zufrieden zu sein und es genießen zu können. Aber wir wissen, daß sie mit diesem Brot nicht zufrieden waren, sondern es verachteten, indem sie es eine "elende Speise" (4. Mose 21, 5) nannten und wieder Fleisch essen wollten. Sie gaben damit den Beweis, wie wenig sie in ihren Herzen von Ägypten befreit und den Gesetzen Gottes zu folgen bereit waren. Sie "wandten sich in ihren Herzen nach Ägypten zurück" (Apg. 7, 39). Aber anstatt wieder dorthin zu kommen, wurden sie am Ende nach Babylon verschleppt. (Apg. 7, 43). Das 'ist eine ernste Lehre für uns Christen. Wenn wir von dem gegenwärtigen Zeitlauf erlöst sind ' aber nicht in Dankbarkeit des Herzens mit Gott wandeln und mit der Vor­sorge, die Er für Seine Erlösten in der Wüste getroffen hat, nicht zu­frieden sind, dann sind wir in Gefahr, den Einflüssen Babylons zum Opfer zu fallen. Unsere menschliche Natur findet keinen Geschmack an der Speise, die Gott bereitet hat; sie sehnt sich nach Ägypten zurück und muß daher im Tod gehalten werden. Als solche, die auf den Tod Christi getauft, mit Ihm in der Taufe begraben und durch den Glauben an die wirksame Kraft Gottes mitauferweckt sind (Röm. 6. 3; Kol. 2, 12), haben wir das Vorrecht, uns von Christus als dem "Brot des Lebens, das aus dem Himmel herniedergekommen ist", zu nähren (Joh. 6, 48. 51). Unsere Speise in der Wüste ist Christus, so wie Er uns in dem geschriebenen Wort durch den Heiligen Geist vorgestellt wird; darüber hinaus ist auch der Heilige Geist selbst zu uns herabge­kommen, als die Frucht des geschlagenen Felsens, d. h. des für uns ge­schlagenen Christus. Das ist unser herrliches Los in der Wüste dieser Welt.

 

Es ist natürlich klar, daß wir in einer solchen Situation nur dann glück­lich sein können, wenn unsere Herzen von allem gelöst sind, was dem gegenwärtigen, bösen Zeitlauf angehört, von allem, was sich an unsere alte Natur richtet. Ein weltliches Herz und eine fleischliche Gesinnung werden Christus nicht in Seinem Wort finden, und wenn sie Ihn finden könnten, würden sie Ihn nicht genießen. Das Manna war so empfind­lich, daß es keine Berührung mit der Erde ertragen konnte. Es fiel auf den Tau herab und mußte vor Sonnenaufgang gesammelt werden. Jeder mußte daher früh aufstehen, um seine tägliche Nahrung zu suchen. So ist es auch heute mit dem Volk Gottes. Das himmlische Manna muß jeden Morgen frisch gesammelt werden. Das gestrige Manna taugt nicht für heute, noch das heutige für morgen. Wir müssen uns jeden Tag mit neuer Energie des Geistes von Christus nähren, sonst werden wir auf­hören zu wachsen. Auch müssen wir Christus in allen Dingen den Vor­rang geben. Wir müssen Ihn früh suchen, bevor andere Dinge unsere leicht beeinflußbaren Herzen in Anspruch nehmen. Viele von uns sind hierin leider zu bequem. Wir geben Christus den zweiten Platz, und Schwachheit und Dürre zeigen sich als die Folgen. Der Feind ist wachsam und benutzt unsere geistliche Trägheit, um uns den Segen und die Kraft zu rauben, die wir empfangen, wenn wir uns von Christus nähren. Das neue Leben in dem Gläubigen kann nur durch Christus genährt und erhalten werden. "Gleichwie der lebendige Vater mich gesandt hat und ich lebe des Vaters wegen, so auch, wer mich ißt, der wird auch leben meinetwegen" (Joh. 6, 57).

 

Die Gnade des Herrn Jesus Christus, der vom Himmel herabkam, um die Speise Seines Volkes zu sein, ist von unschätzbarem Wert für eine erneuerte Seele; aber um Ihn so genießen zu können, müssen wir in der Wüste als solche dastehen, die aufgrund einer vollbrachten Erlösung für Gott abgesondert sind. Wenn ich mit Gott durch die Wüste gehe, dann werde ich doch auch mit der Speise, die Er mir gibt, zufrieden sein; und diese Speise ist Christus, der vom Himmel Herniedergekom­mene. Das "Getreide des Landes Kanaan" hat sein Gegenbild in dem im Himmel verherrlichten Christus. Als solcher ist Er die richtige Speise für diejenigen, die durch den Glauben wissen, daß sie mit Ihm aufer­weckt und in Ihm in die himmlischen Örter versetzt sind. Das Manna aber ist der vom Himmel herabgestiegene Christus, der für das Leben und die Erfahrungen des Volkes in der Wüste nötig ist. Als ein auf der Erde nicht beheimatetes Volk brauchen wir einen Christus, der auch selbst auf der Erde ein Fremdling war. Als ein Volk, das im Geist schon in den Himmel versetzt ist, brauchen wir einen Christus, der ebenfalls dort Seinen Platz genommen hat. Das macht den Unterschied zwischen dem "Manna" und dem "Getreide des Landes" deutlich. Es geht hier nicht um die Erlösung; diese finden wir in dem Blut und dem Kreuz. Sondern es geht um die Vorsorge, die Gott im Blick auf die verschie­denen Situationen Seines Volkes getroffen hat ‑ ob es sich gerade in der Wüste abmüht oder im Geist schon von dem himmlischen Erbteil Besitz nimmt.

 

So hatten nun die Kinder Israel Ägypten hinter sich gelassen, vor ihnen lag Kanaan und rings um sie her der Sand der Wüste, während sie selbst berufen waren, ihre tägliche Nahrung vom Himmel zu erwarten. Die Wüste bot dem Volk Gottes weder einen Grashalm noch einen Tropfen Wasser. In dem HERRN allein war die Hoffnung der Erlösten. In allem sehen wir ein Bild des durch diese Welt wandernden Volkes Gottes. Sie finden nichts in dieser Welt, und ihr Leben kann, weil es himmlisch ist, nur durch himmlische Dinge erhalten werden. Obwohl in der Welt, sind sie doch nicht von der Welt, weil Christus sie von der Welt auserwählt hat. Als ein himmlisches Volk befinden sie sich auf dem Weg zu ihrem Vaterland und werden durch die Speise erhalten, die sie von dort her empfangen. Ihr Ziel ist der Himmel, und nur dort­hin werden sie durch die Herrlichkeit Gottes geleitet. Es ist sinnlos, nach. Ägypten zurückzuschauen, denn dort ist nicht ein einziger Strahl der Herrlichkeit zu erblicken. " . . da wandten sie sich gegen die Wüste, und siehe, die Herrlichkeit des HERRN erschien in der Wolke" (V. 10). Gott selbst war mit ihnen in der Wüste, und alle, die in Gemeinschaft mit Ihm sein wollten, mußten ebenfalls dort sein; dann aber sollte auch das himmlische Manna, und nichts anderes, ihre Speise sein.

 

Dieses Manna war allerdings ein eigentümliches Nahrungsmittel, das einem Ägypter niemals zusagen würde und von dem er auch nicht leben könnte; aber diejenigen, die "in der Wolke und in dem Meere getauft" waren und in Übereinstimmung mit dieser Taufe lebten, konnten Ge­schmack daran finden und sich auch davon ernähren. Ebenso ist es jetzt mit den wahren Gläubigen. Ein Mensch dieser Welt kann nicht begreifen, wie ein Gläubiger lebt. Sowohl das Leben des Gläubigen selbst, als auch das, wodurch er erhalten wird, sind dem Blick des natürlichen Menschen verborgen, denn dieses Leben ist Christus, und auch die Kraft dieses Lebens ist Christus. Ein Christ lebt durch Glau­ben von der Vortrefflichkeit dessen, der "über allem ist, Gott, gepriesen in Ewigkeit" (Röm. 9, 5), der aber "Knechtsgestalt annahm, indem er in Gleichheit der Menschen geworden ist" (Phil. 2, 7). Er sieht, wie Er aus der Gegenwart des Vaters zum Kreuz und vom Kreuz zum Thron ging, und er findet in Ihm, in jedem Abschnitt Seines Lebens, die Speise für den "inneren Menschen' (Eph. 3, 16). Die Umgebung des Christen ist zwar Ägypten, aber doch erlebt er sie nur als eine dürre Wüste, die dem erneuerten Geist nichts bieten kann; und in dem Maß, wie seine Seele dort Nahrung findet, werden seine Fortschritte im geistlichen Leben gehemmt. Die einzige Speise, die Gott für uns bereitet hat, ist das Manna, und jeder Gläubige sollte ein echtes Verlangen nach dieser Speise haben.

 

Es ist sehr traurig, wenn man Christen findet, die den Dingen dieser Welt nachjagen. Es beweist deutlich, daß sie des himmlischen Mannas überdrüssig geworden sind und es als eine "elende Speise" betrachten. Sie dienen dem, was sie töten sollten. Unser neues Leben kann nur dann wirksam sein, wenn wir gleichzeitig den "alten Menschen mit seinen Handlungen" ausziehen (Kol. 3, 9), und je mehr das verwirk­licht wird, um so größer wird das Verlangen nach dem wahren Manna. Wie im täglichen Leben jede Anstrengung unseren Appetit steigert, so vermehrt sich auch im geistlichen Leben das Bedürfnis, uns von Christus zu ernähren, wenn wir unser neues Leben wirken lassen. Zu wissen, daß wir in Christus das Leben besitzen, verbunden mit einer völligen Vergebung und Annahme bei Gott, ist eine Sache. Aber etwas ganz anderes ist es, gewohnheitsgemäß in Gemeinschaft mit Ihm zu sein und in Ihm allein Speise für die Seele zu finden. Viele bekennen, Vergebung und Frieden in Jesus gefunden zu haben, und doch haben sie in ihrem praktischen Leben vollauf Genüge an allerlei Dingen, die in keiner Verbin­dung mit Christus stehen. Sie nähren ihren Geist mit politischen Kom­mentaren oder geistlosen Erzeugnissen der Tagesliteratur. Finden sie dort Christus? Teilt uns der Heilige Geist dadurch etwas von Christus mit? Ist das das himmlische Manna, das Gott Seinen Erlösten in der Wüste zur Nahrung gibt? Nein; an diesen Dingen kann nur unsere alte Natur Freude finden. Wie könnte ein Christ von ihnen leben? Das Wort Gottes belehrt uns, daß der Gläubige zwei Naturen in sich trägt, und wir möchten fragen: Welche von diesen beiden Naturen findet ihre Nahrung in der Literatur dieser Welt? Die Antwort ist nicht schwer. Welche aber von beiden möchte ich stärken? Mein praktisches Leben wird die beste Antwort auf diese Frage geben. Wenn ich aufrichtig wünsche, im göttlichen Leben zu wachsen, wenn es mein wichtigstes Ziel ist, Christus gleichförmig zu werden und für Ihn zu leben, wenn ich ernsthaft danach trachte, daß das Reich Gottes in meinem Innern Fortschritte macht, dann werde ich auch nur die Nahrung suchen, die Gott zur Förderung meines geistlichen Wachstums bereitet hat. Das ist sehr einfach. Die Handlungen eines Menschen sind der beste Maßstab für seine Wünsche und Absichten. Wenn ich jemanden finde, der ein Christ sein will, aber seine Bibel vernachlässigt, während er genug Zeit findet und oft seine besten Stunden dazu verwendet, Zeitungen zu lesen, so kann es mir nicht schwer fallen, den wahren Zustand seiner Seele zu beurteilen. Ein solcher Christ kann nicht geistlich sein, kann sich auch nicht von Christus nähren, nicht für Ihn leben oder von Ihm zeugen.

 

Wenn ein Israelit es versäumt hätte, morgens seine tägliche Ration der für ihn bestimmten Nahrung zu sammeln, dann hätte ihm bald die Kraft gefehlt, seine Reise fortzusetzen. Ebenso ist es mit uns. Wenn nicht Christus der Hauptinhalt unseres Lebens ist, dann wird zwangs­läufig unser geistliches Wachstum verhindert. Selbst Gefühle und Er­fahrungen, die mit Christus in Verbindung stehen, können nicht unsere geistliche Nahrung ausmachen, weil sie veränderlich und ständigen Schwankungen unterworfen sind. Christus war es gestern, und Er muß es heute und in alle Ewigkeit sein. Es geht auch nicht an, daß wir uns teils von Christus und teils von anderen Dingen nähren. Christus allein kann das Leben ‑eben und Er allein kann es erhalten.

 

 

Es ist wohl wahr, daß wir uns, wie es in dem "Getreide des Landes" (siehe Jos. 5) bildlich gezeigt wird, schon jetzt im Glauben von dem auferstandenen und verherrlichten Christus nähren können, der auf­grund der vollbrachten Erlösung in den Himmel zurückgekehrt ist. Und nicht nur das, sondern wir wissen auch, daß die Erlösten, wenn sie jenseits des Jordan die Herrlichkeit, die Ruhe und die Unsterblichkeit erreicht haben, mit der Speise der Wüste zum Abschluß gekommen sind. Aber mit Christus werden sie nicht zum Abschluß gekommen sein, noch mit der Erinnerung an das, was einst in der Wüste ihre Nahrung war.

 

Die Kinder Israel sollten in dem Land, das von Milch und Honig floß, nie vergessen, was während ihres vierzigjährigen Aufenthalts in der Wüste zu ihrem Unterhalt gedient hatte. "Dies ist das Wort, das der HERR geboten hat: Ein Ghomer voll davon sei zur Aufbewahrung für eure Geschlechter, damit sie das Brot sehen, womit ich euch in der Wüste gespeist habe, als ich euch aus dem Lande Ägypten herausführte. Und Mose sprach zu Aaron: Nimm einen Krug und tue Man darein, einen Ghomer voll, Lind lege es vor dem HERRN nieder zur Aufbewahrung für eure Geschlechter. So wie der HERR Mose geboten hatte, legte Aaron es vor das Zeugnis nieder, zur Aufbewahrung" (V. 32 bis 34). Das war eine wichtige Erinnerung an die Treue Gottes. Er ließ sie nicht Hungers sterben, wie es ihre Torheit und ihr Unglaube angenommen hatte. Er gab ihnen Brot vom Himmel, nährte sie mit dem Brot der Starken, wachte über sie wie ein Vater, handelte in Langmut und Ge­duld mit ihnen und trug sie auf Adlers Flügeln (Kap. 19, 4), und wären sie auf dem Boden der Gnade geblieben, dann hätte Er ihnen zum ewigen Besitz gegeben, was Er ihren Vätern verheißen hatte. Der mit Manna gefüllte Krug, der einen Ghomer als täglichen Speisebedarf für eine Person enthielt und vor den Herrn hingestellt wurde, ist daher ein lehrreiches Bild für uns. Es gab keinen Wurm oder irgend etwas anderes in diesem Krug, was Fäulnis hätte bewirken können. Er bezeugte für alle Zeiten die Treue Gottes in der Fürsorge für die, die Er aus der Hand des Feindes befreit hatte.

 

Ganz anders war es, wenn der Mensch das Manna für sich selbst auf­häufte. Dann erschienen bald die Zeichen der Fäulnis. Wir können niemals einen Vorrat sammeln. Es ist unser Vorrecht, uns Tag für Tag von Christus zu nähren als dem, der vom Himmel herabkam, um der Welt das Leben zu geben. Wollte aber jemand dies vergessen und sich für den folgenden Tag einen Vorrat sammeln, d. h. eine Wahrheit, die sein augenblickliches Bedürfnis übersteigt, für spätere Zeiten aufbe­wahren, anstatt sie zur Förderung seiner Kräfte zu verwerten, so würde sie sicher dem Verderben anheimfallen. Das ist eine heilsame Unter­weisung. Die Wahrheit kennenlernen ist eine sehr ernste Sache; denn jeder Grundsatz, den wir gelernt zu haben bekennen, legt uns die Verpflichtung auf, ihn auch praktisch zu verwirklichen. Gott will keine Theoretiker. Man zittert oft, wenn man Gläubige, sei es in ihren Ge­beten oder bei anderen Gelegenheiten, erhabene Bekenntnisse ablegen und Worte der tiefsten Hingebung aussprechen hört, da man fürchten muß, daß sie, wenn die Stunde der Prüfung kommt, nicht die nötige geistliche Kraft besitzen, um das, was ihre Lippen ausgesprochen haben, zur Ausführung zu bringen.

 

Es besteht immer eine große Gefahr, daß der Verstand das Gewissen und die Zuneigungen überholt. Daher kommt es auch, daß viele anfangs bis zu einem gewissen Punkt große Fortschritte zu machen scheinen, dann aber plötzlich stehen bleiben und zurück gehen. Sie gleichen dem Israeliten, der mehr Manna sammelte, als er zur Nahrung für einen Tag brauchte. Er legte scheinbar einen weit größeren Fleiß an den Tag als alle anderen; aber doch war jedes Korn, das er über seinen täglichen Bedarf hinaus gesammelt hatte, nicht nur nutzlos, sondern es brachte Würmer hervor. So verhält es sich auch mit dem Christen. Er muß von dem, was er empfängt, Gebrauch machen. Er muß ein echtes Verlangen haben, sich von Christus zu nähren, und dieses Verlangen wird gerade durch einen tätigen Dienst bewirkt. Um den Charakter und die Wege Gottes, die Schönheit Christi und die lebendigen Tiefen des Wortes kennenzulernen, sind Glaube und echtes Verlangen notwendig. Nur wenn wir von dem Empfangenen Gebrauch machen, wird uns mehr ge­geben. Der Weg des Gläubigen muß ein praktischer sein; und gerade hieran scheitern so viele. Es kommt oft vor, daß diejenigen, die in der Theorie am schnellsten vorwärtskommen, in der Praxis und in der Er­fahrung die Trägsten sind, weil bei ihnen das Christentum mehr eine Sache des Verstandes als des Gewissens und Herzens ist. Wir sollten aber nie vergessen, daß das Christentum nicht aus einer Sammlung von Meinungen und Dogmen besteht, daß es nicht ein Lehrsystem ist, sondern eine lebendige Wirklichkeit, eine persönliche, praktische, mäch­tige Sache, die sich in allen Ereignissen und Umständen des täglichen Lebens offenbart. Es übt einen heilsamen Einfluß auf den Charakter und den Wandel und auf alle Beziehungen aus, in die Gott uns stellt. Zusammenfassend gesagt: es ist das Ergebnis unserer Vereinigung und Beschäftigung mit Christus. Das ist Christentum. Man kann richtige Begriffe verwenden, klare Anschauungen und gesunde Grundsätze ver­treten, ohne irgendwelche Gemeinschaft mit Jesus zu haben; aber ein orthodoxes Glaubensbekenntnis ohne Christus wird sich immer als eine kalte und tote Sache erweisen.

 

Wir müssen sorgfältig darauf achten, daß wir nicht allein durch Chri­stus errettet sind, sondern auch von Ihm leben, indem wir Ihn zu unserer täglichen Speise machen! Wir müssen Ihn "früh suchen und nur Ihn allein suchen! Wenn irgend etwas unsere Aufmerksamkeit fesseln will ' so sollten wir uns fragen: "Wird Christus dadurch meinem Herzen nahe gebracht?" oder "Wird mir dadurch Seine Liebe größer und mein Herz enger mit Ihm verbunden?" Wenn diese Fragen zu verneinen sind, so sollte jene Sache ohne Zögern verworfen werden, wenn sie auch noch so erstrebenswert und notwendig erscheint. Wenn es wirklich unser Wunsch ist, im göttlichen Leben Fortschritte zu machen und per­sönliche Gemeinschaft mit Christus zu pflegen, dann müssen wir hin­gehen, das auf den Tau fallende Manna sammeln und es essen. Und je wachsamer unser Wandel mit Gott durch die Wüste ist, um so größer wird unser Hunger nach diesem Manna sein.*)

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*) Es wird von Nutzen sein, bezüglich des Mannas einen Blick auf das 6. Kapitel des Johannesevangeliums zu richten. Das Passah war nahe; Jesus speist die Menge und zieht sich dann auf einen Berg zurück, um dort allein zu sein. Von da kehrt Er zurück, um den Seinen zu helfen, die auf den unruhigen Wogen des Meeres umhergeschleudert werden und sich in großer Not befinden. Darauf enthüllt Er die Lehre von Seiner Person und Seinem Werk und erklärt, wie Er Sein Fleisch für das Leben der Welt geben werde, und daß niemand das Leben haben kann, der nicht Sein Fleisch ißt und Sein Blut trinkt. Schließlich redet Er von sich als dem Sohn des Menschen, der dahin auffahren werde, wo Er zuvor gewesen war, sowie von der belebenden Kraft des Heiligen Geistes.

 

Es gibt in diesem Kapitel noch eine andere Sache, die wir hervorheben müssen, nämlich die Einführung des Sabbaths in seiner Verbindung mit dem Manna und mit der Stellung Israels, wie sie uns hier beschrie­ben wird. Von 1. Mose 2 an bis zum vorliegenden Kapitel wird dieses Thema mit keiner Silbe berührt. Das ist bemerkenswert. Abels Opfer, Henochs Wandel mit Gott, Noahs Predigt, Abrahams Berufung und die ausführlich erzählte Geschichte Isaaks, Jakobs und Josephs ‑ alles das wird mitgeteilt; aber nirgends finden wir eine Anspielung auf den Sabbath bis zu dem Augenblick, da wir Israel als Volk anerkannt sehen, und zwar in Verbindung mit dem HERRN und unter der Verantwort­lichkeit, die aus dieser Verbindung entspringt. Der Sabbath war in Eden unterbrochen worden und wird hier für Israel in der Wüste wieder ein­geführt. Aber der Mensch hat kein Herz für die Ruhe Gottes. "Und es geschah am siebenten Tage, daß etliche von dem Volke hinausgingen, um zu sammeln, und sie fanden nichts. Und der HERR sprach zu Mose: ­Bis wann weigert ihr euch, meine Gebote und meine Gesetze zu beob­achten? Sehet, weil der HERR euch den Sabbath gegeben hat, darum gibt er euch am sechsten Tage Brot für zwei Tage; bleibet ein jeder an seiner Stelle, niemand gehe am siebenten Tage von seinem Orte heraus" (V. 27‑29). Gott wollte Sein Volk an Seiner eigenen Ruhe teilhaben lassen. Es war Sein Wille, ihm sogar in der Wüste Ruhe, Nahrung und Erquickung zu geben. Aber das Herz des Menschen ist nicht geneigt, mit Gott zu ruhen. Die Israeliten konnten von jener Zeit reden, da sie bei den Fleischtöpfen Ägyptens sagen (V. 3); aber in ihren Zelten zu sitzen, sich mit Gott der "Ruhe des heiligen Sabbaths" zu erfreuen und sich von dem Manna des Himmels zu nähren, das vermochten sie nicht als einen Segen zu schätzen.

 

Beachten wir auch, daß der Sabbath hier als eine Gabe dargestellt wird. "Der HERR hat euch den Sabbath gegeben" (V. 29). An späterer Stelle in diesem Buch werden wir die Sabbathruhe als Gesetz wiederfinden, verbunden mit Fluch und Gericht im Fall des Ungehorsams. Doch der gefallene Mensch mag ein Vorrecht oder ein Gesetz, einen Segen oder einen Fluch empfangen, es ist alles von gleicher Wirkung. Seine Natur ist böse; er kann weder mit Gott ruhen, noch für Gott tätig sein. Wenn Gott wirkt und ihm eine Ruhe bereitet, so will er an dieser Ruhe nicht teilnehmen; und wenn Gott ihn zum Wirken auffordert, dann will er nicht tun, was Gott von ihm fordert. So ist der Mensch. Er hat kein Herz für Gott. Er kann freilich zum Zeichen seiner Frömmigkeit vorn Sabbath Gebrauch machen; aber er ist nicht imstande, Gottes Sabbath als eine Gabe zu würdigen; und wenn wir uns zu 4. Mose 15, 32‑36 wenden, dann finden wir, daß er auch unfähig ist, ihn als ein Gesetz zu beobachten.

 

Nun ist aber der Sabbath ebenso wie das Manna ein Bild. An und für sich war er eine Segnung, ein Gnadengeschenk aus der Hand eines liebenden und gnädigen Gottes, der aus sieben Tagen einen Ruhetag wählte, um die Mühe und Arbeit der sündenbeladenen Erde erträglicher zu machen. Von welcher Seite wir auch die Einführung des Sabbaths betrachten, wir sehen darin sowohl für den Menschen als auch für die Tierwelt die Weisheit und die Gnade Gottes. Und wenn auch die Chri­sten "den ersten Tag der Woche", "den Tag des Herrn" feiern und die ihm eigenen Grundsätze damit verbinden, so ist dennoch auch in diesem Tage die gnädige Vorsehung Gottes ebenso zu erkennen. "Der Sabbath ward um des Menschen willen"; und obwohl der Mensch ihn nie in einer den Gedanken Gottes entsprechenden Weise beachtet hat, vermindert dies doch nicht die Gnade, die wir in seiner Einsetzung sehen, noch nimmt es diesem Tag die Bedeutung als Bild von der ewigen Ruhe, die für das Volk Gottes bleibt, oder als Schatten von dem, worüber sich der Glaube jetzt in der Person und dem Werk des auferstandenen Christus freut.

 

Es ist nicht die Absicht des Verfassers, in irgendeiner Weise die gnädige Verordnung eines Ruhetages für den Menschen und die Schöpfung an­zutasten, und noch viel weniger, die besondere Stellung, die der Tag des Herrn im Neuen Testament einnimmt, zu verkennen. Als Mensch schätzt er den Tag der Ruhe zu hoch und als Christ erfreut er sich des Tages des Herrn zu sehr, als daß er eine einzige Silbe reden oder schreiben könnte, durch die der einen oder anderen Sache Abbruch ge­schähe. Man sollte aber diese Gedanken auf der Waage der Heiligen Schrift abwägen, bevor man sich ein Urteil bildet. Wenn der Herr es erlaubt, werden wir noch auf dieses Thema zurückkommen. Mögen wir die Ruhe, die unser Gott in Christus für uns bereitet hat, mehr schätzen lernen und uns von Ihm nähren als "dem verborgenen Manna" (Offbg. 2, 17), das in der Kraft der Auferstehung im innersten Heiligtum auf­bewahrt wird zum Zeugnis von dem, was Gott für uns vollbracht hat, damit wir in der Vollkommenheit Christi vor Ihm sein können.

 

Kapitel 17

 

DER GESCHLAGENE FELS. AMALEK

 

"Und die ganze Gemeinde der Kinder Israel brach auf aus der Wüste Sin, nach ihren Zügen, nach dem Befehl des HERRN, und sie lagerten sich zu Rephidim; und da war kein Wasser zum Trinken für das Volk. Und das Volk haderte mit Mose, und sie sprachen: Gebet uns Wasser, daß wir trinken! Und Mose sprach zu ihnen: Was hadert ihr mit mir? was versuchet ihr den HERRN?" (V. 1. 2). Wenn wir nicht ein wenig die demütigende Bosheit unserer eigenen Herzen kennten, würden wir uns die Gefühllosigkeit der Israeliten gegenüber der Güte und Treue und den mächtigen Taten Gottes nicht erklären können. Gerade hatten sie noch Brot vom Himmel herabfallen sehen, um 600 000 Menschen in der Wüste zu speisen und schon neigen sie dazu, Mose zu steinigen ‑unter dem Vorwand, er habe sie in die Wüste geführt, um sie vor Durst umkommen zu lassen. Nichts kann den entsetzlichen Unglauben und die Bosheit des menschlichen Herzens übertreffen, als nur die überströ­mende Gnade Gottes. Nur in dieser Gnade können wir ruhen trotz der immer zunehmenden Erkenntnis unserer bösen Natur, die durch die Umstände offenbar gemacht wird. Wenn die Israeliten von Ägypten un­mittelbar nach Kanaan geführt worden wären, dann hätten sie keine so traurigen Beweise von der Unzulänglichkeit des Menschen gegeben; dann wären sie allerdings auch keine so treffenden Beispiele für uns geworden. Nun aber ist ihre vierzigjährige Wüstenwanderung für uns eine Quelle ernster Ermahnungen, Warnungen und Unterweisungen. Unter vielem anderen zeigen sie uns die unverständliche Neigung des menschlichen Herzens, Gott mit Mißtrauen zu begegnen. Dies Herz will alles ‑ nur Gott nicht. Es stützt sich lieber auf die armseligen mensch­lichen Hilfsmittel, als auf den allmächtigen, allweisen und allgütigen Gott; und eine kleine Wolke genügt, um ihm das Licht des Angesichts Gottes zu verbergen. Mit Recht wird es ein "böses Herz des Unglau­bens" genannt, das ständig bereit ist, von dem lebendigen Gott abzu­fallen (Hebr. 3, 12).

 

Es sind zwei interessante Fragen, die der Unglaube in diesem und im vorigen Kapitel erhebt. Es sind genau dieselben Fragen, die tagtäglich in uns selbst und in unserer Umgebung aufkommen: "Was sollen wir essen?" und‑. "Was sollen wir trinken?" (Matth. 6, 31). Das Volk stellt hier zwar nicht die dritte Frage dieser Art: "Was sollen wir anziehen?", aber das sind die Fragen der Wüste: "Was?" "Wo?" "Wie?" Für jede von ihnen hat der Glaube nur eine kurze, aber entscheidende Antwort, nämlich: Gott! Das ist eine vollkommene Antwort! Möchten wir immer mehr erkennen, welche Kraft und Fälle darin liegt. Gewiß ist es nötig, daß wir uns in Prüfungssituationen an die Worte des Apostels erinnern: "Keine Versuchung hat euch ergriffen, als nur eine menschliche; Gott aber ist treu, der nicht zulassen wird, daß ihr über euer Vermögen ver­sucht werdet, sondern wird mit der Versuchung auch den Ausgang schaffen, so daß ihr sie ertragen könnt" (1. Kor. 10, 13). Sooft wir in irgendeine Bedrängnis kommen, dürfen wir überzeugt sein, daß mit dieser Bedrängnis auch ein Ausweg da ist, wenn wir nur unseren Eigen­willen ablegen und einfältig genug sind, um diesen Ausweg zu sehen.

 

"Da schrie Mose zu dem HERRN und sprach: Was soll ich mit diesem Volke tun? Noch ein wenig, und sie steinigen mich. Und der HERR sprach zu Mose: Gehe hin vor dem Volke und nimm mit dir von den Ältesten Israels; und deinen Stab, womit du den Strom geschlagen hast, nimm in deine Hand und gehe hin. Siehe, ich will daselbst vor dir stehen auf dem Felsen am Horeb; und du sollst auf den Felsen schla­gen, und es wird Wasser aus demselben herauskommen, daß das Volk trinke. Und Mose tat also vor den Augen der Ältesten Israels" (V. 4‑6). So führt jede Unzufriedenheit eine neue Offenbarung der Gnade herbei. Wir sehen hier das erfrischende Wasser aus dem geschlagenen Felsen hervorquellen ‑ ein Bild von dem Geist, der dem Gläubigen als die Frucht des vollbrachten Opfers Christi geschenkt ist. Im vorigen Kapitel fanden wir ein Bild von Christus als dem, der vom Himmel kam, um der Welt das Leben zu geben; hier haben wir ein Bild des Heiligen Geistes, der kraft des vollbrachten Werkes Christi "ausgegossen" worden ist. und alle denselben geistlichen Trank tranken, denn sie tranken aus einem geistlichen Felsen, welcher nachfolgte. (Der Fels aber war er, Christus)" (1. Kor. 10, 4). Aber wer hätte trinken können, bevor der Felsen geschlagen worden war? Die Kinder Israel hätten diesen Felsen tagelang anstarren und doch vor Durst sterben können; denn bevor er nicht durch den Stab Gottes geschlagen war, konnte er keine Erquickung schenken. Das ist leicht zu verstehen. Der Herr Jesus ist der Mittelpunkt und die Grundlage aller Ratschlüsse der Liebe und Barm­herzigkeit Gottes. Die Gnade sollte durch das "Lamm Gottes" geoffen­bart werden; aber bevor das möglich war, mußte das Lamm geschlach­tet und das Werk am Kreuz eine vollendete Tatsache sein. Erst als der Fels durch die Hand des HERRN gespalten war, wurden die Schleusen der ewigen Liebe weit geöffnet und verlorene Sünder durch das Zeugnis des Heiligen Geistes eingeladen, in Fülle und umsonst zu trinken (Offbg. 22, 17). "Die Gabe des Heiligen Geistes" (Apg. 2, 38) ist das Resultat des am Kreuz vollbrachten Werkes Christi. Die Verheißung des Vaters (Luk. 24, 49) konnte nicht eher erfüllt werden, als bis Christus zur Rechten der Majestät in den Himmeln erhöht worden war, und zwar nachdem Er eine vollkommene Gerechtigkeit bewirkt, alle Forderungen der Heiligkeit erfüllt, das Gesetz verherrlicht, den Zorn Gottes über die Sünde in seiner ganzen Schärfe getragen und die Macht des Todes ge­brochen hatte. Nachdem dies alles geschehen war, ist Er "hinaufgestie­gen in die Höhe" und hat "die Gefangenschaft gefangen geführt und den Menschen Gaben gegeben. Das aber: Er ist hinaufgestiegen, was ist es anders, als daß er auch hinabgestiegen ist in die unteren Teile der Erde? Der hinabgestiegen ist, ist derselbe, der auch hinaufgestiegen ist über alle Himmel, auf daß er alles erfüllte" (Ps. 68, 18; Eph. 4, 8‑10).

 

Dies ist für alle Ewigkeit die Grundlage des Friedens, der Glückseligkeit und der Herrlichkeit der Kirche. Bevor der Felsen geschlagen wurde, konnte kein Wasser hervorkommen, und der Mensch war unfähig, etwas zu tun. Welche menschliche Macht hätte aus einem harten Felsen Wasser hervorbringen können? Welche menschliche Gerechtigkeit hätte die Macht gehabt, die Schleusen der Liebe Gottes zu öffnen? Es gab kein besser geeignetes Mittel, um die Fähigkeit des Menschen zu er­proben. Weder durch seine Handlungen, noch durch seine Worte, noch durch seine Gefühle hätte er die Sendung des Heiligen Geistes bewir­ken können. Aber, Gott sei Dank! was der Mensch nicht vermochte, das hat Gott getan. Christus hat das Werk vollbracht! Der Felsen ist ge­schlagen worden, und ein Strom ist daraus hervorgebrochen, an dein jeder Dürstende Erquickung finden kann. Der Herr Jesus sagt: "Das Wasser, das ich ihm geben werden, wird in ihm eine Quelle Wassers werden, das ins ewige Leben quillt" (Joh. 4, 14). Und an anderer Stelle lesen wir: "An dem letzten, dem großen Tage des Festes aber stand Jesus und rief und sprach: Wenn jemanden dürstet, so komme er zu mir und trinke. Wer an mich glaubt, gleichwie die Schrift gesagt hat, aus dessen Leibe werden Ströme lebendigen Wassers fließen. Dies aber sagte er von dem Geiste, welchen die an ihn Glaubenden empfangen sollten; denn der Geist war noch nicht, weil Jesus noch nicht verherrlicht worden war" (Joh. 7, 37‑39; vergl. Apg. 19, 2).

 

Das aus dem geschlagenen Felsen hervorströmende Wasser ist also ein Bild des Heiligen Geistes. "Wenn du die Gabe Gottes känntest,... so würdest du ihn gebeten haben, und er hätte dir lebendiges Wasser (d. h. den Heiligen Geist) gegeben" (Joh. 4, 10). Aber der Name des Ortes, an dem dieses Bild gegeben wurde, ist ein ewiges Denkmal von dem Unglauben des Menschen. "Und er gab dem Orte den Namen Massa (Versuchung) und Meriba (Hader), wegen des Haderns der Kinder Israel, und weil sie den HERRN versucht hatten, indem sie sagten: Ist der HERR in unserer Mitte oder nicht?" (V. 7.) Nach so vielen Zu­sicherungen und Beweisen von der Gegenwart Gottes zeigte diese Frage, wie tief der Unglaube im menschlichen Herzen verwurzelt ist. Das hieß in der Tat "Ihn versuchen". Dasselbe taten die Juden, als Christus unter ihnen lebte: sie versuchten Ihn, indem sie ein Zeichen vom Himmel forderten. So handelt der Glaube niemals; er glaubt an die Gegenwart Gottes und freut sich darüber, und zwar nicht aufgrund eines Zeichens, sondern aufgrund der Erkenntnis Gottes selbst. Möge der Herr uns ein einfältigeres Vertrauen auf Ihn geben!

 

Das nächste, was uns in diesem Kapitel vor Augen gestellt wird, ist von besonderer Bedeutung für uns. "Und es kam Amalek und stritt wider Israel in Rephidim. Und Mose sprach zu Josua: Erwähle uns Männer und ziehe aus, streite wider Amalek: morgen will ich auf dem Gipfel des Hügels stehen mit dern Stabe Gottes in meiner Hand" (V. 8. 9). Die Gabe des Heiligen Geistes führt zum Kampf. Das Licht streitet mit der Finsternis (vergl. Eph. 5, 7‑14 und 6, 12). Wo alles finster ist, gibt es keinen Kampf; aber der schwächste Kampf beweist, daß Licht vorhanden ist. "Das Fleisch gelüstet wider den Geist, der Geist aber wider das Fleisch; diese aber sind einander entgegengesetzt, auf daß ihr nicht das tut, was ihr wollt" (Gal. 5, 17). Genauso ist es in dem vor uns liegen­den Kapitel; kaum ist der Felsen geschlagen und läßt seine Wasser hervorströmen, lesen wir: "Und es kam Amalek und stritt wider Israel".

 

Zum ersten Mal sehen wir hier die Kinder Israel im Kampf mit einem äußeren Feind. Bisher hatte der Herr für sie gekämpft, wie wir in Kap. 14 lesen: "Der HERR wird für euch streiten, und ihr werdet still sein". Hier aber heißt es: "Erwähle uns Männer". Allerdings mußte Gott jetzt in Israel streiten, wie Er bisher für Israel gestritten hatte. Aber doch ist der Unterschied groß. Und wenn wir das Gegenbild betrachten, sehen wir, daß es auch zwischen dem Kampf Christi für uns und dem Kampf des Heiligen Geistes in uns einen großen Unterschied gibt. Der Kampf Christi ist für immer beendet, der Sieg errungen und ein ewiger Friede gesichert. Der Kampf des Heiligen Geistes aber ist heute noch not­wendig.

 

Der Pharao und die Amalekiter versinnbildlichen zwei verschiedene Mächte oder Einflüsse. Der Pharao stellt die Macht dar, die sich der Be­freiung Israels aus Ägypten widersetzte, während Amalek ein Bild von dem ist, was das Volk hinderte, mit Gott durch die Wüste zu gehen. Der Pharao versuchte, durch die Dinge Ägyptens die Kinder Israel am Dienst für den Herrn zu hindern; ebenso benutzt Satan die "gegen­wärtige böse Welt" (Gal. 1, 4) gegen das Volk Gottes. Amalek dagegen tritt als ein Bild des Fleisches auf. Er war der Enkel Esaus, der ein Linsengericht seinem Erstgeburtsrecht vorgezogen hatte (s. ‑1. Mose 36, 12). Amalek war der erste, der sich den Israeliten nach ihrer Taufe "in der Wolke und in dem Meere" entgegenstellte. Diese beiden Tat­sachen zeigen uns sehr deutlich seinen Charakter. Auch wissen wir aus späteren Tagen, daß Saul als König Israels verworfen wurde, weil er Amalek nicht völlig vernichtet hatte (l. Sam. 15). Und schließlich sehen wir, daß Haman, der letzte Amalekiter, den die Heilige Schrift erwähnt, wegen seines bösen Anschlags gegen die Juden an ein Holz gehängt wurde (Esther 7). Keinem Amalekiter war der Eintritt in die Gemeinde des Herrn gestattet; und am Schluß unseres Kapitels kündigt der Herr einen fortdauernden Krieg mit Amalek an (vergl. 5. Mose 25, 17‑19).

 

Dies alles zeigt uns deutlich, daß Amalek ein Bild des Fleisches im Christen ist. Die Verbindung zwischen seinem Kampf mit Israel und dem aus dem Felsen fließenden Wasser ist sehr bedeutungsvoll und steht vollkommen im Einklang mit dem Kampf, den ein Gläubiger mit sein r fleischlichen Natur zu bestehen hat, einem Kampf, der unver­meidlich ist, weil wir eine neue Natur haben, in der der Heilige Geist Wohnung gemacht hat. Der Streit nahm für die Kinder Israel erst seinen Anfang, als sie in der vollen Kraft der Erlösung standen und nachdem

 

sie "die geistliche Speise gegessen und aus dem geistlichen Felsen ge­trunken hatten" (1. Kor. 10, 3. 4). Bis zu dem Augenblick, da sie mit Amalek zusammentrafen, gab es für sie nichts zu tun. Sie stritten nicht mit dem Pharao, noch zerstörten sie die Macht Ägyptens oder brachen die Ketten ihrer Sklaverei; sie zerteilten nicht das Meer, noch ließen sie die Wasserwogen über dem Pharao und seinem Heer zusammen­schlagen. Sie ließen weder Brot vom Himmel regnen, noch Wasser aus dem Felsen hervorquellen. Nichts von alledem hatten sie getan, nichts hatten sie tun können. Jetzt aber werden sie zum Kampf gegen Amalek gerufen. Alle bisherigen Kämpfe hatten zwischen dem HERRN und dem Feind stattgefunden; sie hatten nur "still zu sein" und die glänzen­den Siege Gottes anzuschauen und die Früchte davon zu genießen. Der Herr hatte für sie gekämpft; aber jetzt kämpfte Er in ihnen und durch sie.

 

Ebenso verhält es sich mit der Kirche Gottes. Die Siege, auf die ihr ewiger Friede und ihre ewige Glückseligkeit gegründet sind, hat Christus allein für sie errungen. Er war allein am Kreuz, allein im Grab. Wie hätte die Kirche auch dort sein können? Wie hätte sie Satan besiegen, den Zorn Gottes ertragen oder den Tod seines Stachels berauben kön­nen? Für sündige Menschen war das unmöglich, aber nicht für Ihn, der zur Errettung der Verlorenen kam und der allein fähig war, das schwere Gewicht all ihrer Sünden zu tragen und es durch Sein vollkommenes Opfer für immer hinwegzutun. Und aufgrund dieser Versöhnung, die der Sohn Gottes vollbracht hat, konnte Gott der Vater den Heiligen Geist senden, der nun in der Kirche insgesamt, aber auch in jedem

einzelnen Glied der Kirche, Seine Wohnung genommen hat.

 

Sobald aber der Heilige Geist, als Folge des Todes und der Auferstehung Christi, Wohnung in uns nimmt, beginnt der Kampf. Christus hat für uns gekämpft; der Heilige Geist kämpft in uns. Gerade diese Tatsache, die für uns die erste Frucht des Sieges Christi ist, bringt uns sofort in Konflikt mit dem Feind. Aber wie tröstlich ist es, daß wir schon Sieger sind, bevor wir das Schlachtfeld betreten! Der Gläubige schreitet zum Kampf mit dem Ruf: "Gott aber sei Dank, der uns den Sieg gibt durch unseren Herrn Jesus Christus" (1. Kor. 15, 57)! Wir kämpfen daher "nicht wie aufs Ungewisse ... nicht wie einer, der die Luft schlägt", in­dem wir unseren Leib zerschlagen und in Knechtschaft führen (1. Kor. 9, 26. 27). "Wir sind mehr als Überwinder durch den, der uns geliebt hat" (Röm. 8, 37). Die Gnade, in der wir stehen, nimmt dem Fleisch alle Macht über uns (siehe Röm. 6). Wie "die Kraft der Sünde" im Gesetz liegt (1. Kor. 15, 56), so wird die Sünde kraftlos durch die Gnade. Das Gesetz gibt der Sünde Gewalt über uns; die Gnade gibt uns Gewalt über die Sünde.

 

"Und Mose sprach zu Josua: Erwähle uns Männer und ziehe aus, streite wider Amalek; morgen will ich auf dem Gipfel des Hügels stehen, mit dem Stabe Gottes in meiner Hand. Und Josua tat, wie Mose ihm gesagt hatte, um wider Amalek zu streiten; und Mose, Aaron und Hur stiegen auf den Gipfel des Hügels. Und es geschah, wenn Mose seine Hand er­hob, so hatte Israel die Oberhand, und wenn er seine Hand ruhen ließ, so hatte Amalek die Oberhand. Und die Hände Moses wurden schwer. Da nahmen sie einen Stein und legten denselben unter ihn, und er setzte sich darauf; und Aaron und Hur unterstützten seine Hände, hier einer und dort einer; und so waren seine Hände fest, bis die Sonne unterging. Und Josua streckte Amalek und sein Volk nieder mit der Schärfe des Schwertes" (V. 9‑13).

 

Wir haben hier zwei verschiedene Dinge: Kampf und Fürbitte. Christus ist als Fürsprecher für uns tätig, während der Heilige Geist in uns den Kampf führt. Beides geht Hand in Hand. In demselben Maß, wie wir durch den Glauben die Kraft der Fürbitte Christi verwirklichen, trium­phieren wir über unsere böse Natur. Manche möchten den Kampf des Christen mit dem Fleische in Abrede stellen, indem sie die Wiederge­burt als eine gänzliche Veränderung oder Erneuerung der alten Natur betrachten. Aus diesem Grundsatz würde folgen, daß ein Christ mit nichts mehr zu kämpfen habe. Denn wenn meine alte Natur erneuert ist, was bereitet mir dann noch Kampf? In mir gibt es nichts, weil meine alte Natur neugemacht ist; und von außen kann nichts auf mich ein­wirken, weil das Böse keinen Anknüpfungspunkt in mir findet. Die Welt hat keinen Reiz für jemanden, dessen Fleisch völlig verändert ist; und Satan findet nichts, wodurch und worauf er wirken könnte. Wer eine solche falsche Lehre aufstellt, hat den Platz vergessen, den Amalek in der Geschichte des Volkes Gottes einnimmt. Wenn die Israeliten sich eingebildet hätten, daß mit der Vernichtung der Heere des Pharao der Kampf für sie beendet sei, dann wäre es traurig um sie bestellt gewesen, als Amalek sie überfiel. Vielmehr nahm ihr Kampf gerade damals seinen Anfang. Und bei den Gläubigen ist es genauso. "Alle diese Dinge aber widerfuhren jenen als Vorbilder und sind geschrieben worden zu unserer Ermahnung, auf welche das Ende der Zeitalter gekommen ist" (1‑ Kor 10. 11). Für den Menschen, dessen alte Natur erneuert wäre, fänden sich in diesen Dingen aber weder "Vorbilder", noch "Beispiele", noch "Er­mahnungen". In der Tat, ein solcher Mensch hat kein Bedürfnis nach der, Vorsorge, die Gott für Seine Auserwählten getroffen hat.

 

Die Heilige Schrift belehrt uns eindeutig, daß der Gläubige etwas in sich trägt, was dem Volk Amalek in der Wüste entspricht; und das ist: "das Fleisch" ‑ "der alte Mensch ‑ "die Lust des Fleisches" (Röm. 6; 8, 7; Gal. 5, 17). Wenn nun aber ein Christ, indem er die Regungen seiner alten Natur verspürt, an der Echtheit seines Christentums zu zweifeln beginnt, so macht er sich nicht nur äußerst unglücklich, son­dern er gibt damit auch seine vorteilhafte Stellung gegenüber dem Feind auf. Das Fleisch ist in dem Gläubigen und wird dort bis zum Ende be­stehen. Der Heilige Geist erkennt seine Existenz völlig an, wovon wir uns aus verschiedenen Stellen des Neuen Testaments überzeugen kön­nen. In Römer 6, 12 z. B. lesen wir: "SO herrsche denn nicht die Sünde in eurem sterblichen Leibe". Ein solches Gebot wäre sinnlos, wenn das Fleisch nicht mehr in dem Gläubigen vorhanden wäre. Wie könnten wir ermahnt werden, die Sünde nicht in uns herrschen zu lassen, wenn sie tatsächlich nicht mehr in uns wohnte? Zwischen Wohnen und Herrschen besteht ein großer Unterschied. Die Sünde wohnt in dem Gläubigen, aber sie herrscht in dem Ungläubigen.

 

Die Sünde wohnt also in uns; aber ‑ Gott sei Dank! ‑ sind wir gleich­zeitig in einer Stellung, die es uns ermöglicht, die Sünde zu überwinden. „Denn die Sünde wird nicht über euch herrschen, denn ihr seid nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade" (Röm. 6, 14). Die Gnade, die durch das Blut des Kreuzes die Sünde weggenommen hat, sichert uns den Sieg und verleiht uns in der Gegenwart Macht über sie.

 

Wir sind der Sünde gestorben, und deshalb hat sie keine Ansprüche mehr an uns. "Denn wer gestorben ist, ist freigesprochen von der Sün­de" (Röm. 6, 7). "Indem wir dieses wissen, daß unser alter Mensch mit­gekreuzigt worden ist, auf daß der Leib der Sünde abgetan sei, daß wir der Sünde nicht mehr dienen" (Röm. 6, 6). "Josua streckte Amalek und sein Volk nieder mit der Schärfe des Schwertes" (V. 13). Alles war Sieg, und das Banner des HERRN wehte über dem triumphierenden Heer mit der ermutigenden Inschrift: "Jahwe-Nissi" ‑ der HERR mein Panier! Der Sieg sollte ebenso gewiß sein wie die Vergebung, und wir wissen, daß beides auf die Tatsache des Todes und der Auferstehung Jesu gegründet ist. Aufgrund dieser Tatsache kann der Gläubige sich eines gereinigten Gewissens erfreuen und die in ihm wohnende Sünde im Tode halten. Da der Tod Christi allen Forderungen Gottes hinsicht­lich unserer Sünden entsprochen hat, wird die Auferstehung Christi zu einer Quelle der Kraft für jeden Abschnitt des Kampfes. Er ist gestor­ben für uns, und Er lebt jetzt in uns. Das erste gibt uns Frieden, das zweite Kraft.

 

Es besteht ein bedeutsamer Unterschied zwischen Mose auf dem Hügel und Christus auf dem Thron. Die Hände unseres großen Fürsprechers können niemals sinken, und Seine Fürbitte endet nie. Er lebt immer­dar, um sich für uns zu verwenden (Hebr. 7, 25). Alle Schwierigkeiten können durch Seine Fürsprache beseitigt werden. Nachdem Er in der Macht göttlicher Gerechtigkeit in den Himmeln Platz genommen hat, wirkt Er für uns in Übereinstimmung mit dem, was Er ist, und gemäß der un­endlichen Vollkommenheit dessen, was Er getan hat. Seine Hände können niemals "schwer" werden, und Er braucht niemanden zu ihrer Unterstützung. Seine vollkommene Fürsprache ist gegründet auf Sein vollkommenes Opfer. Er stellt uns vor Gott, bekleidet mit Seiner eigenen Vollkommenheit, so daß der Heilige Geist (obwohl wir im Bewußtsein dessen, was wir sind, immer Ursache haben, uns in den Staub zu beu­gen) uns gegenüber dennoch nur von dem Zeugnis geben kann, was Christus für uns ist und was wir in Ihm sind. "Ihr aber seid nicht im Fleische, sondern im Geist" (Röm. 8, 9). Wir befinden uns, unserem tatsächlichen Zustand nach, in dem Leibe; aber niemals sind wir, unserer Stellung nach, im Fleische. Zwar ist das Fleisch in uns, obwohl wir ihm gestorben sind; aber wir sind nicht in dem Fleische, weil wir mit Christus lebendig gemacht sind.

 

Bevor wir die Betrachtung dieses Kapitels schließen, möchte ich noch bemerken, daß Mose "den Stab Gottes", mit dem er den Felsen geschla­gen hatte, auf dem Hügel bei sich führte. Dieser Stab war das Sinnbild der Macht Gottes, die in der Versöhnung und ebenso in der Fürsprache erkennbar ist. Nachdem das Werk der Versöhnung vollbracht war, nahm Christus Seinen Platz im Himmel ein, und der Heilige Geist wurde gesandt, um in der Kirche Wohnung zu machen, so daß eine untrennbare Verbindung zwischen dem Werk Christi und dem Werk des Heiligen Geistes besteht. In beiden zeigt sich die Macht Gottes.

 

Kapitel 18

 

JETHRO

 

Wir sind nun am Schluß eines bemerkenswerten Teiles des zweiten Buches Mose angelangt. Gott hat in Seiner vollkommenen Gnade Sein Volk erlöst; Er hat es aus Ägypten herausgeführt und es zunächst aus der Hand des Pharao und dann aus der Hand Amaleks befreit. Wir haben in dem Manna ein Bild des aus dem Himmel herabgekommenen Christus gesehen, in dem Felsen ein Bild des für Sein Volk geschlage­nen Christus und schließlich in dem hervorströmenden Wasser ein Bild des Heiligen Geistes. Und jetzt folgt gemäß der wunderbaren Ordnung, die wir überall in der Heiligen Schrift finden, ein Bild, das uns die zukünftige Herrlichkeit in ihren drei Hauptzügen vor Augen stellt, näm­lich in Verbindung mit den Juden, mit den Heiden und mit der Kirche Gottes.

 

Während der Verwerfung Moses durch seine Brüder wurde ihm in der Wüste eine Frau, die Gefährtin seiner Verwerfung, gegeben; und der Anfang dieses Buches hat uns über den Charakter der Verbindung Moses mit seiner Frau belehrt. Er war für sie ein "Blutbräutigam", d. h. gerade das, was Christus für die Kirche ist. Die Verbindung der Kirche mit Christus gründet sich auf Seinen Tod und Seine Auferstehung, und sie ist zur Gemeinschaft Seiner Leiden berufen. Sie wird, wie wir wissen, während der Zeit des Unglaubens Israels und der Verwerfung Christi gesammelt, und wenn sie nach den Ratschlüssen Gottes vollendet und die "Vollzahl der Nationen eingegangen ist" (Röm. 11, 25), wird die Geschichte Israels wieder aufgenommen.

 

Ebenso war es mit Zippora und Israel. Für die Zeit seiner Sendung zu Israel hatte Mose sie zurückgesandt; nachdem das Volk aber gänzlich befreit worden war, lesen wir: "Und Jethro, der Priester von Midian

 

der Schwiegervater Moses, hörte alles, was Gott an Mose und an Israel, seinem Volke, getan ... Und Jethro, der Schwiegervater Moses, nahm Zippora, das Weib Moses, nach ihrer Heimsendung, und ihre zwei Söhne, von denen der Name des einen Gersom war, denn er sprach: Ein Fremdling bin ich geworden in fremdem Lande, und der Name des anderen Elieser: denn der Gott meines Vaters ist meine Hilfe gewesen und hat mich errettet vom Schwerte des Pharao; und Jethro, der Schwie­gervater Moses, und seine Söhne und sein Weib kamen zu Mose in die Wüste, wo er gelagert war am Berge Gottes. Und er ließ Mose sa­gen: Ich, dein Schwiegervater Jethro, bin zu dir gekommen und dein Weib und ihre beiden Söhne mit ihr. Da ging Mose hinaus, seinem Schwiegervater entgegen, und beugte sich nieder und küßte ihn; und sie fragten einer den anderen nach ihrem Wohlergehen und gingen in das Zelt. Und Mose erzählte seinem Schwiegervater alles, was der HERR an dem Pharao und an den Ägyptern getan hatte um Israels willen, all die Mühsal, die sie auf dem Wege getroffen, und daß der HERR sie errettet habe. Und Jethro freute sich über all das Gute, das der HERR an Israel getan, daß er es errettet hatte aus der Hand der Ägypter. Und Jethro sprach: Gepriesen sei der HERR, der euch errettet hat aus der Hand der Ägypter und aus der Hand des Pharao, der das Volk errettet hat unter der Hand der Ägypter hinweg! Nun weiß ich, daß der HERR größer ist als alle Götter; denn in der Sache, worin sie in Übermut handelten, war er über ihnen. Und Jethro, der Schwiegervater Moses, nahm ein Brandopfer und Schlachtopfer für Gott; und Aaron und alle Ältesten Israels kamen, um mit dem Schwiegervater Moses zu essen vor dem Angesicht Gottes" (V. 1‑12).

 

Das ist eine sehr interessante Szene. Ganz Israel ist im Triumph vor dem HERRN versammelt; der Heide bringt ein Opfer dar, und uni das Bild zu vervollständigen, erscheint die Frau des Befreiers samt den Kin­dern, die Gott ihm gegeben hat. Es ist bis in die Einzelheiten eine treffen­de Darstellung des zukünftigen Reiches. "Gnade und Herrlichkeit wird der HERR geben" (Ps. 84, 11). Im Laufe unserer Betrachtung sind wir schon unzähligen Wirkungen der Gnade begegnet; hier aber gibt uns der Heilige Geist einen Einblick in die künftige Herrlichkeit, indem Er uns die verschiedenen Bereiche, in denen sie geoffenbart werden wird, bild­lich vor Augen stellt.

 

"Juden, Griechen und die Versammlung Gottes" sind drei in der Heili­gen Schrift eindeutig unterschiedene Begriffe (vergl. ‑1. Kor. 10, 32), die man nicht miteinander verwechseln kann, ohne die vollkommene Ordnung der Wahrheit zu zerstören, die Gott in Seinem heiligen Wort ge­offenbart hat. Diese Unterschiede haben bestanden, seitdem das Ge­heimnis der Kirche durch den Dienst des Apostels Paulus ans Licht ge­stellt worden ist; und auch während des Tausendjährigen Reiches wer­den sie fortbestehen. jeder, der in geistlicher Weise die Schriften unter­sucht, wird ihnen daher auch gebührend Rechnung tragen.

 

Der Apostel belehrt uns in seinem Brief an die Epheser ausdrücklich, daß das Geheimnis der Kirche den Söhnen der Menschen in anderen Geschlechtern nicht kundgetan worden sei, wie es jetzt ihm geoffenbart war (Eph. 3; vergl. Kol. 1, 25‑28). Obwohl es nicht unmittelbar ge­offenbart war, fand dieses Geheimnis doch in der einen oder anderen Weise eine bildliche Darstellung, z. B. in dem Verhältnis zwischen Adam und Eva, in der Ehe Josephs mit einer Ägypterin und in der Verbindung Moses mit einer äthiopischen Frau. Das Bild oder der Schatten einer Wahrheit ist aber etwas ganz anderes als ihre unmittelbare und be­stimmte Offenbarung. Das Geheimnis der Kirche war verborgen, bis Christus es in himmlischer Herrlichkeit dem Saulus von Tarsus offen­barte. Wer also die vollständige Entfaltung dieses Geheimnisses in dem Gesetz, den Propheten oder den Psalmen sucht, ist auf einem falschen Weg; wenn er aber die Unterweisung des Epheserbriefes verstanden hat, wird er die bildlichen Ergänzungen im Alten Testament mit Interesse und Gewinn verfolgen.

 

Das Kapitel beginnt also mit einem Bild vom Tausendjährigen Reich. Die ganze Herrlichkeit ist vor unseren Blicken aufgetan. Wir sehen "den Juden" vor uns als den großen irdischen Zeugen der Treue, der Gnade und der Macht des HERRN (siehe Jes. 43, 10‑12. 21). Er war dies in vergangenen Zeitaltern, er ist es jetzt und wird es in Ewigkeit sein. "Der Heide" liest in dem Buch der Wege Gottes mit Israel; er verfolgt die wunderbare Geschichte dieses auserwählten und abgeson­derten Volkes, "dieses Volkes, wunderbar seitdem es ist und hinfort" (Jes. IS, 2; vergl. 2. Mose 33, 16; 5. Mose 4, 6‑8). Er sieht Throne und Reiche umgestürzt und Nationen bis in ihr Innerstes erschüttert; er sieht, wie alles der Herrschaft dieses Volkes Platz machen muß, das der HERR zum Gegenstand Seiner Liebe auserwählt hat. "Nun weiß ich", sagt Jethro, "daß der HERR größer ist als alle Götter; denn in der Sache, worin sie in Übermut handelten, war er über ihnen" (V. 11). So lautet das Bekenntnis "des Heiden", wenn die jüdische Geschichte vor ihm aufgerollt wird.

 

Die "Kirche Gottes" schließlich, die in ihrer Gesamtheit durch Zippora, und in ihren Gliedern durch die Kinder Zipporas dargestellt wird, zeigt sich hier in enger Verbindung mit dem Befreier. Vielleicht wird man uns fragen, mit welchem Recht wir diese Szene so deuten. Wir antwor­ten mit 1. Kor. 10, 15: "ich rede als zu Verständigen; beurteilt ihr, was ich sage". Man kann niemals eine Lehre auf eine bildliche Darstellung gründen; aber wenn die Lehre geoffenbart ist, kann man ihr Abbild deutlich erkennen und es mit Gewinn erforschen. In jedem Fall braucht man, sowohl um eine Lehre als auch um ein Abbild zu verstehen, geist­liches Unterscheidungsvermögen. "Der natürliche Mensch aber nimmt nicht an, was des Geistes Gottes ist, denn es ist ihm eine Torheit, und er kann es nicht erkennen, weil es geistlich beurteilt wird" (1. Kor. 2, 14).

 

Von Vers 13 bis zum Schluß des Kapitels finden wir die Ernennung der Häupter, die Mose in der Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten unterstützen sollten. Diese Ernennung geschah auf den Rat Jethros, der fürchtete, daß Mose unter der Last seiner Arbeiten ermatten würde. Es ist vielleicht nützlich, in Verbindung hiermit einen Blick auf die siebzig Ältesten zu werfen, die in 4. Mose 11 erwähnt werden. Dort sehen wir nämlich, wie Mose unter der schweren Verantwortung, die auf ihm lastete, niedergedrückt war und in der Angst seines Herzens sagte: "Warum hast du an deinem Knechte übel getan, und warum habe ich nicht Gnade gefunden in deinen Augen, daß du die Last dieses ganzen Volkes auf mich legst? Bin ich mit diesem ganzen Volke schwanger ge­gangen, oder habe ich es geboren, daß du zu mir sprichst: Trage es in deinem Busen, gleichwie der Wärter den Säugling trägt, in das Land, das du ihren Vätern zugeschworen hast7 ... Ich allein vermag nicht dieses ganze Volk zu tragen, denn es ist mir zu schwer. Und wenn du also mit mir tust, so bringe mich doch um, wenn ich Gnade gefunden habe in deinen Augen, damit ich mein Unglück nicht ansehe" (V. 11‑15).

 

Mose wollte sich hier von einer ehrenvollen Aufgabe zurückziehen. Wenn es aber Gott wohlgefiel, ihn als einzigen Führer Seiner Versammlung zu benutzen, geschah es dann nicht, um ihn dadurch auch beson­ders zu ehren und zu segnen? Zweifellos hatte Mose eine sehr große Verantwortung zu tragen, aber durch Glauben hätte er erkennen kön­nen, daß die Gnade und Weisheit Gottes auch dafür völlig ausreichte. Doch obwohl er ein so gesegneter Diener war, verlor er hier den Mut und sagte: "Ich allein vermag nicht dieses ganze Volk zu tragen, denn es ist mir zu schwer". Hatte Gott ihn denn aufgefordert, es allein zu tragen? War Er nicht mit ihm? Für Gott war diese Last nicht zu schwer. Er war es, der sie trug; Mose war nur das Werkzeug. Er hätte ebensogut von seinem Stab sagen können, er trüge das Volk, denn was war Mose anders in der Hand Gottes' als ein Werkzeug, ebenso wie der Stab in seiner eigenen Hand? Hier ist der Stein, über den die Diener Christi so oft straucheln; und dieses Straucheln ist um so gefährlicher, weil es einen Schein von Demut trägt. Ein Zurückschrecken vor einer großen Verantwortung kann so leicht als Mißtrauen gegen sich selbst und als tiefe Demut gedeutet werden. Unsere einzige Aufgabe besteht jedoch darin, zu untersuchen, ob Gott uns diese Verantwortung auferlegt hat. ist das der Fall, dann wird Er uns auch sicher zur Seite stehen, um sie uns tragen zu helfen; und mit Ihm vermögen wir alles zu ertragen. Mit Ihm können wir Berge versetzen, während wir ohne Ihn schon von geringfügigen Dingen entmutigt werden. Wenn jemand in der Eitelkeit seines Herzens sich selbst in den Vordergrund stellt und eine Last auf sich nimmt, die Gott ihm nie auferlegt hat und wozu Er ihn deshalb auch nie befähigt hat, dann wird er sicher bald unter dieser Last zu­sammenbrechen; aber wenn Gott sie ihm auflegt, wird Er ihm auch ge­wiß die nötige Kraft und Fähigkeit schenken, um sie zu tragen.

 

Einen Platz zu verlassen, auf den Gott uns gestellt hat, ist nie ein Zeichen von Demut. Denn echte Demut zeigt sich darin, daß wir in einfältiger Abhängigkeit von Gott auf unserem Posten bleiben. Wir sind zweifellos mit uns selbst beschäftigt, wenn wir unter dem Vorwand unserer Unfähigkeit vor einem Dienst zurückweichen, den Gott uns auf­getragen hat. Nicht unsere, sondern Gottes Fähigkeit ist die Grundlage, auf der unsere Berufung erfolgt; und deshalb brauche ich nie einen Dienst oder ein Zeugnis für Gott wegen der damit verbundenen Ver­antwortung aufzugeben, es sei denn, daß ich zu sehr mit mir selbst beschäftigt oder von Mißtrauen gegen Gott erfüllt bin. Alle Macht ge­hört Gott; und es ist genau dasselbe, ob diese Macht durch eine oder durch siebzig Personen wirkt. Die Macht bleibt dieselbe; und wenn einer den ihm aufgetragenen Dienst verweigert, dann trägt nur er den Scha­den. Gott zwingt niemanden, ein ehrenvolles Amt auszufüllen, wenn ihm das Vertauen fehlt, daß Er ihn da erhalten könne. Der Weg steht ihm immer offen, seine hohe Stellung zu verlassen und einen Platz ein­zunehmen, den ihm sein Unglaube anweist.

 

So war es mit Mose. Er klagte über die Last, die er zu tragen hatte; und schnell wurde sie ihm abgenommen, aber mit ihr zugleich die Ehre, sie tragen zu dürfen. "Und der HERR sprach zu Mose: Versammle mir siebenzig Männer aus den Ältesten Israels, von denen du weißt, daß sie die Ältesten des Volkes und seine Vorsteher sind, und führe sie zu dem Zelte der Zusammenkunft, daß sie sich daselbst mit dir hinstellen. Und ich werde herniederkommen und daselbst mit dir reden, und ich werde von dem Geiste nehmen, der auf dir ist, und auf sie legen, daß sie mit dir an der Last des Volkes tragen, und du sie nicht allein tragest" (4. Mose 11, 16. 17). Keine neue Macht wurde eingeführt; es war der­selbe Geist, ob in einem oder in siebzig Menschen. Siebzig Menschen hatten an und für sich nicht mehr Wert oder Verdienst als ein einzelner Mann. "Der Geist ist es, der lebendig macht; das Fleisch nützt nichts" (Joh. 6, 63). Dieser Schritt brachte Mose keinen Gewinn an Kraft, wohl aber großen Verlust an Würde.

 

In dem eben zitierten Kapitel zeigt Mose sogar einen Unglauben, der ihm einen ernsten Tadel von Gott eintrug: "Ist die Hand des HERRN zu kurz? jetzt sollst du sehen, ob mein Wort dir eintrifft oder nicht" (V 23). Wenn man die Verse 11‑15 mit 21‑23 vergleicht, findet man eine bemerkenswerte und ernste Verbindung zwischen ihnen. Wer auf­grund seiner Schwachheit vor der Verantwortung zurückweicht, beginnt sehr leicht auch an der Hinlänglichkeit der Mittel und Wege Gottes zu zweifeln.

 

Dieser Abschnitt aus der Geschichte Moses enthält für einen Diener Christi, der sich in seinem Dienst allein oder überlastet fühlt, eine wich­tige Unterweisung. Möge er sich erinnern, daß da, wo der Heilige Geist wirkt, ein einziges Werkzeug ebenso gut und wirksam ist, wie siebzig; und daß da, wo Er nicht wirkt, siebzig keinen höheren Wert haben als ein einziges. Alles hängt von der Kraft und Wirksamkeit des Heiligen Geistes ab. Mit Ihm kann ein einzelner Mensch alles tun, alles er­tragen; ohne Ihn allerdings vermögen auch siebzig Menschen nichts. Möge jeder alleinstehende Diener zum Trost und zur Ermunterung sei­nes ermüdeten Herzens sich daran erinnern, daß, wenn die Macht des Heiligen Geistes mit ihm ist, er keine Ursache hat, über seine Bürde zu klagen, oder sich nach einer Verminderung seiner Arbeit zu sehnen. Möge jeder, den Gott dadurch ehrt, daß Er ihm viel zu tun gibt, sich darüber freuen und nicht darüber seufzen; denn wenn er unzufrieden ist, könnte er bald diese Ehre verlieren. Gott ist nicht in Verlegenheit um Werkzeuge. Er hätte dem Abraham aus Steinen Kinder erwecken können; und so kann Er auch aus Steinen die Arbeiter erwecken, die zur Erfüllung Seines Werkes erforderlich sind.

 

Möchten wir doch ein Herz zum Dienen haben, ein geduldiges, demüti­ges, von sich selbst befreites Herz! Ein Herz, das zu dienen bereit ist, sei es in Gemeinschaft mit anderen oder allein, und das so von der Liebe zu Christus durchdrungen ist daß es seine höchste Freude darin findet, Ihm zu dienen, mag der Wirkungskreis und Charakter dieses Dienstes sein, wie er will! Das ist es, was in den Tagen, in denen wir leben, so dringend nottut. Möchte der Heilige Geist in uns ein tieferes Gefühl von der Unübertrefflichkeit des Namens Jesu bewirken und uns fähig machen, Seine unveränderliche Liebe kräftiger und unge­trübter zu erwidern!

 

Kapitel 19

 

"AM FUSSE DES BERGES‑

 

Wir kommen jetzt zu einem sehr wichtigen Abschnitt in der Geschichte Israels. Wir sehen das Volk am Fuß des "Berges, der betastet werden konnte, und der mit Feuer brannte". Das Bild der tausendjährigen Herrlichkeit, das uns im vorigen Kapitel vor Augen gestellt wurde, ist verschwunden und hat einem anderen, düsteren Bild Platz gemacht: Israel, getrieben durch den Geist einer finsteren und gefühllosen Ge­setzlichkeit, verläßt den Bund der Gnade Gottes und tauscht dafür einen Bund menschlicher Werke ein. Welch ein entsetzlicher Schritt! Ein Schritt, der die traurigsten Folgen hervorbrachte. Bisher konnte, wie wir gesehen haben, kein Feind vor Israel bestehen; kein Hindernis konnte seinen Siegeszug aufhalten. Die Schärfe des Schwertes hatte Amalek und sein Volk getroffen; alles war Sieg, weil Gott dafür sorgte, daß die Verheißungen erfüllt wurden, die Er Abraham, Isaak und Jakob gegeben hatte.

 

In den ersten Versen des 19. Kapitels zählt nun der HERR alles auf, was Er für Israel getan hatte: "Und Mose stieg hinauf zu Gott; und der HERR rief ihm vom Berge zu und sprach: So sollst du zum Hause Jakob sprechen und den Kindern Israel kundtun: Ihr habt gesehen, was ich an den Ägyptern getan habe, wie ich euch getragen auf Adlers Flügeln und euch zu mir gebracht habe. Und nun, wenn ihr fleißig auf meine Stimme hören und meinen Bund halten werdet, so sollt ihr mein Eigentum sein aus allen Völkern; denn die ganze Erde ist meint und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und eine heilige Nation sein. Das sind die Worte, die du zu den Kindern Israel reden sollst', (V. 3‑6). Beachten wir, daß der HERR sagt: "meine Stimme" und "mein Bund". Wie hatte diese Stimme bis dahin geredet, und was hatte dieser Bund enthalten? Hatte der HERR geredet, um strenge und unerbittliche Vorschriften aufzustellen? Keineswegs. Er hatte gesprochen, um die Befreiung der Gefangenen zu fordern, um ihnen eine Zufluchtstätte vor dem Gericht des Würgengels zu bereiten, um für Seine Erkauften einen Weg zu ebnen, um Brot vom Himmel und Wasser aus dem Felsen her­vorkommen zu lassen. Das war der Inhalt der Worte Gottes gewesen bis zu dem Augenblick, da Israel an den "Fuß des Berges" trat.

 

Und hatte Gott nicht allein aus Gnade diesen Bund eingesetzt? Er stellte keine Bedingungen, forderte nichts und legte kein Joch auf Sein Volk. Als der "Gott der Herrlichkeit" dem Abraham zu Ur in Chaldäa er­schien (Apg. 7, 2), stellte Er keine Gebote und Verbote auf; das wäre nicht nach dem Herzen Gottes gewesen. Sein an Abraham gerichtetes Wort lautete: "Ich will geben". Das Land Kanaan konnte nicht durch menschliches Tun erworben werden; es sollte die freie Gabe der Gnade Gottes sein. Und im Anfang dieses Buches haben wir gesehen, wie Gott in Seiner Gnade Sein Volk aufsuchte, um die Verheißung zu erfüllen, die Er Abraham gegeben hatte. Der Zustand der Nachkommen Abra­hams hinderte Ihn nicht an der Erfüllung Seiner Gnadenabsichten, weil das Blut des Lammes Ihm einen vollkommen gerechten Grund gab, Seine Verheißung zu erfüllen. Gott hatte Abraham und seinen Nach­kommen das Land Kanaan nicht deshalb verheißen, weil Er bei ihnen einen Grund dafür fand; dann wäre es keine echte Verheißung, sondern eher ein Vertrag gewesen. Abraham aber wurde die Erbschaft "durch Verheißung" geschenkt (siehe Gal. 3).

 

Deshalb erinnert der HERR am Anfang des 19. Kapitels die Kinder Israel daran, daß Er bisher nur in Gnade gegen sie gehandelt hatte, und auch für die Zukunft versichert Er ihnen Seine Gunst, wenn sie Seiner Stimme gehorchen und in dem Bund der freien und unum­schränkten Gnade bleiben würden. "Ihr sollt mein Eigentum sein aus allen Völkern". Wie war das möglich? Etwa dadurch, daß sie die Leiter der eigenen Gerechtigkeit und Gesetzlichkeit hinaufstolperten? Machten die Flüche eines gebrochenen Gesetzes (das sie schon übertreten hatten, noch ehe sie es empfingen) sie zu einem Eigentum des HERRN? Ganz sicher nicht. Dieses herrliche Vorrecht war ihnen nur so lange vergönnt, wie sie in der Stellung blieben, in der Gott sie erblickte, als Er den habsüchtigen Propheten Bileam ausrufen ließ: "Wie schön sind deine Zelte, Jakob, deine Wohnungen, Israel! Gleich Tälern breiten sie sich aus, gleich Gärten am Strome, gleich Aloebäumen, die der HERR ge­pflanzt hat, gleich Zedern am Gewässer. Wasser wird fließen aus seinen Eimern, und sein Same wird in großen Wassern sein, und König wird höher sein als Agag, und sein Königreich wird erhaben sein, Gott hat ihn aus Ägypten herausgeführt; sein ist die Stärke des Büffels“ (4. Mose 24, 5‑8).

 

Aber leider war Israel nicht bereit, diese gesegnete Stellung einzunehmen. Anstatt sich über die Verheißung Gottes zu freuen, legten sie in ihrer Selbstsicherheit ein Gelübde ab, wie es wohl selten von Menschen ausgesprochen worden ist. "Da antwortete das ganze Volk insgesamt und sprach: Alles, was der HERR geredet hat, wollen wir tun! (V.8) Welch eine vermessene Sprache! Sie sagen nicht: "Wir hoffen, es zu tun, oder: "Wir wollen uns bemühen, es zu tun". Das hätte wenigstens noch ein gewisses Mißtrauen gegen sich selbst verraten. Aber nein, sie antworten mit großer Bestimmtheit: "Wir wollen es tun". Auch war dies nicht die Sprache einzelner, von sich selbst überzeugter Israeliten, sondern das ganze Volk antwortete insgesamt. Sie verließen einmütig "die heilige Verheißung", den "heiligen Bund".

 

Und was war die Folge? Sobald die Kinder Israel dies Gelübde gesprochen hatten, sobald sie selbst etwas tun wollten, nahmen die Dinge eine ganz andere Gestalt an. "Und der HERR sprach zu Mose: Siehe ich werde zu dir kommen im Dunkel des Gewölks ... Und mache eine Grenze um das Volk ringsum und sprich ‑ Hütet euch, auf den Berg zu steigen und sein Äußerstes anzurühren; alles was den Berg anrührt, soll gewißlich getötet werden" (V. 9‑12). Alles ist völlig verändert. Er, der soeben noch gesagt hatte: "Ich habe euch getragen auf Adlers Flügeln und euch zu mir gebracht", hüllt sich jetzt in eine dichte Wolke und, gebietet: Mache eine Grenze um das Volk ringsum". Er begegnet ihnen nicht mehr mit Worten der Gnade, sondern mit Donner und Blitzen (V. ‑16). Der Mensch hatte sich erkühnt, angesichts der herrlichen Gnade Gottes von seinen elenden Werken zu reden. Israel hatte gesagt: "wir wollen tun", und darum mußte eine Distanz geschaffen werden, damit es deutlich würde, was sie zu tun fähig waren. Gott selbst steht fern; und das Volk ist sogar damit einverstanden, denn Furcht und Schrecken haben es ergriffen. Und kein Wunder; denn "die Erscheinung war so furchtbar, daß Mose sagte: Ich bin voll Furcht und Zittern> (Hebr. 12, 21). Wer hätte den Anblick dieses "verzehrenden Feuers“ des Ausdrucks der göttlichen Heiligkeit, ertragen können? "Der HERR ist vom Sinai hergekommen und ist ihnen aufgegangen von Seir; er ist hervorgestrahlt von dem Berge Paran und ist gekommen von heiligen Myriaden. Aus seiner Rechten ging Gesetzesfeuer für sie hervor" (5.Mo 33/ 2). Der mit dem Gesetz verbundene Ausdruck "Feuer" ist bezeichnend für Seine Heiligkeit. "Unser Gott ist ein verzehrendes Feuer" (Hebr. 12, 29). Er kann das Böse nicht ertragen, weder in Ge­danken, noch in Worten, noch in Werken.

 

Die Kinder Israel machten daher einen verhängnisvollen Fehler, als sie sagten. "Wir wollen tun". Sie übernahmen damit eine Verpflichtung, der sie selbst beim besten Willen nicht nachkommen konnten; und wir kennen Ihn, der gesagt hat: "Besser, daß du nicht gelobst, als daß du gelobst und nicht bezahlst" (Pred. 5, 5). Das Wesen eines Gelübdes Mut die Fähigkeit voraus, es zu erfüllen; aber wo ist diese Fähigkeit bei den Menschen? Ein zahlungsunfähiger Kaufmann kann keinen Scheck ausstellen, und ebensowenig kann ein kraftloser Sünder ein Gelübde ablegen. Er ist ruiniert ‑ was kann er tun? Völlig ohne Kraft, kann er das Gute weder wollen noch tun. Hat Israel seine Gelübde erfüllt? Hat es alles getan, was der HERR gesagt hat"? Das goldene Kalb, die zerbrochenen Tafeln, der entheiligte Sabbath, die verachteten und vernachlässigten Gebote, die Steinigung der Propheten, die Ver­werfung und Kreuzigung Christi, der Widerstand gegen den Heiligen Geist, alles das legt ein beredtes Zeugnis dagegen ab. Nichts hat Israel erfüllt, nichts konnte es erfüllen. Und so wird es immer sein, wenn der gefallene Mensch sich zutraut, Gott gegenüber ein Gelübde abzulegen und einzuhalten.

 

jeder Gläubige kann sich darüber freuen, daß seine ewige Rettung nicht auf seinen eigenen kraftlosen Vorsätzen beruht, sondern auf dem »ein für allemal geschehenen Opfer des Leibes Jesu Christi" (Hebr. 10, 10). Das ist unsere Freude, die uns nie geraubt werden kann. Christus hat unsere Gelübde auf sich genommen und hat sie herrlich und für immer erfüllt. Sein Auferstehungsleben durchströmt die Glieder Seines Leibes und bringt in ihnen Wirkungen hervor, die kein Gelübde und keine gesetzliche Forderung je hätte hervorbringen können. Er ist unser Leben, und Er ist unsere Gerechtigkeit. Möge Sein Name uns kostbar sein! Möge Seine Sache unser ganzes Leben beherrschen und leiten! Möge es unsere Speise sein, in Seinem Dienst alles zu verwenden und selbst verwendet zu werden!

 

Ich kann dieses Kapitel nicht schließen, ohne an eine Stelle des 5. Bu­ches Mose zu erinnern, die manchem Leser Schwierigkeiten bereiten könnte. Sie hat unmittelbar auf den hier behandelten Gegenstand Bezug. "Und der HERR hörte die Stimme eurer Worte, als ihr zu mir redetet, ` und der HERR sprach zu mir: Ich habe die Stimme der Worte dieses Volkes gehört, die sie zu dir geredet haben; es ist alles gut, was sie geredet haben" (5. Mose 5, 28). Es könnte nach diesen Worten scheinen, als ob Gott jenes Gelübde Israels gebilligt habe; aber wenn man die ganze Stelle von Vers 24‑27 im Zusammenhang liest, dann wird deutlich, daß es sich hier keineswegs um das Gelübde selbst handelt, son­dern vielmehr um den Schrecken des Volkes angesichts der Folgen seines Gelübdes. Sie waren nicht fähig, die Gebote Gottes zu ertragen. "Wenn wir die Stimme des HERRN, unseres Gottes, noch weiter hören, so werden wir sterben. Denn wer ist von allem Fleische, der die Stimme des lebendigen Gottes mitten aus dem Feuer reden gehört hätte, wie wir, und wäre am Leben geblieben? Nahe du hinzu und höre alles, was der HERR, unser Gott, sagen wird; und wir wollen hören und es tun". Es war das Bekenntnis ihrer Unfähigkeit, Gott in jener erschreckenden Gestalt, die Er wegen ihrer stolzen Gesetzlichkeit angenommen hatte, zu begegnen. Gott kann es niemals billigen, wenn Seine freie und unver­änderliche Gnade aufgegeben und stattdessen der Boden von Gesetzes­werken betreten wird.

 

Kapitel 20

 

DIE ZEHN GEBOTE

 

Es ist von großer Wichtigkeit, den Charakter und die Absicht des Sitten­gesetzes zu verstehen, das uns in diesem Kapitel vorgestellt wird. Der Mensch ist nämlich immer geneigt, die Grundsätze des Gesetzes und die der Gnade durcheinanderzubringen, so daß weder das eine noch das andere richtig verstanden werden kann. Dadurch aber wird das Gesetz seiner strengen, unerbittlichen Majestät und die Gnade ihrer göttlichen Vollkommenheit beraubt. Die heiligen Forderungen Gottes bleiben un­beantwortet, und anderseits findet der Mensch keinen Ausweg aus der Not seiner Sünden. Gesetz und Gnade sind so verschieden voneinander, daß sie niemals in ein einziges System verwoben werden können. Das Gesetz ist der Ausdruck dessen, was der Mensch sein sollte, während die Gnade zeigt, was Gott ist. Deshalb ist es unmöglich für einen Sünder, teils durch Gesetz und teils durch Gnade errettet zu werden.

 

Das Gesetz ist gelegentlich der "Ausdruck der Gedanken Gottes" ge­nannt worden. Davon kann aber keine Rede sein. Es ist zwar der sittliche Maßstab Gottes für den Menschen, aber niemals der Inhalt aller Seiner Gedanken! Gibt es denn nichts anderes in den Gedanken Gottes, als ein „Du sollst und "du sollst nicht'? Findet sich in Ihm kein Er­barmen, keine Güte? Will Gott nicht offenbaren, was Er ist ‑ nämlich Liebe? Gibt es in Seinem Wesen nichts als Forderungen und Verbote? Wäre es so, dann müßte man sagen: "Gott ist Gesetz", und nicht: "Gott ist Liebe". Aber Gott sei Dank! ‑ in Seinem Herzen ist weit mehr, als was in den "zehn Geboten" je zum Ausdruck kommen könnte. Wenn ich Gott kennenlernen will, dann muß ich meine Blicke auf Christus richten; "denn in Ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig" (Kol. 2, 9). "Das Gesetz wurde durch Moses gegeben; die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesum Christum geworden" (Joh. 1, 17). Gewiß war das Gesetz ein Teil der Wahrheit. Es enthielt die Wahrheit über das, was der Mensch sein sollte. Wie alles, was von Gott kommt, war auch das Gesetz in seiner Weise vollkommen, nämlich im Hinblick auf den Zweck, um dessentwillen es gegeben wurde. Worin aber bestand dieser Zweck? Sollte darin das Wesen Gottes vor den Augen der Sünder enthüllt werden? Ganz sicher nicht, denn in dem Gesetz gab es weder Gnade noch Barmherzigkeit. Jemand, der das Gesetz Moses' verworfen hat, stirbt ohne Barmherzigkeit" (Hebr. 10, 28). "Der Mensch, der diese Dinge getan hat, wird durch sie leben" (Röm. 10, 5; 3. Mose 18, 5). "Verflucht sei, wer nicht aufrecht hält die Worte dieses Gesetzes, sie zu tun!" (5. Mose 27, 26; vergl. Gal. 3, 10). Das war keine Gnade. Der Berg Sinai war gewiß nicht der Ort, wo man Gnade finden konnte. Dort offenbarte sich der HERR in erschreckender Majestät, in Dunkel gehüllt und mit Sturm, Donner und Blitz. Das deutete nicht auf ein Handeln Gottes in Gnade und Barmherzigkeit hin; aber es entsprach völlig einem Handeln in Wahrheit und Gerechtigkeit; und genau das und nichts anderes war das Gesetz.

 

In dem Gesetz legt Gott fest, wie der Mensch sich verhalten sollte und spricht einen Fluch über ihn aus, wenn er diesen Anforderungen nicht entspricht. Nun aber findet der Mensch, wenn er sich im Licht des Gesetzes prüft, daß er gar nicht imstande ist, zu erfüllen, was das Gesetz fordert. Wie könnte er nun durch das Gesetz Leben erlangen? Das Gesetz verheißt ihm zwar Leben und Gerechtigkeit, wenn er die Gebote hält; aber es zeigt ihm schon vom ersten Augenblick an, daß er sich in einem Zustand des Todes und der Ungerechtigkeit befindet. Er ist also von Anfang an auf die Dinge angewiesen, die das Gesetz ihm als Ziele hinstellt. Wie kann er diese nun erreichen? Um so zu sein, wie es das Gesetz verlangt, muß er Leben und Gerechtigkeit haben; und wenn ihm beides fehlt, ist er "verflucht". Tatsächlich aber besitzt er weder Leben noch Gerechtigkeit. Was soll er tun? Das ist die Frage. Mögen die ihm Antwort geben, die "Gesetzlehrer sein wollen" (1. Tim. 1, 7); mögen sie in befriedigender Weise einem aufrichtigen Gewissen Rede stehen, das ohne Hoffnung ist angesichts der Heiligkeit und Unerbitt­lichkeit des Gesetzes und der unverbesserlichen rnenschlichen Natur.

 

Wozu dann aber das Gesetz? Es kam, wie der Apostel uns belehrt, "da­neben ein, auf daß die Übertretung überströmend würde" (Röm. 5, 20). Das zeigt uns sehr klar den wahren Zweck des Gesetzes. Es kam dane­ben ein, um die Sünde als Sünde erkennbar zu machen (Röm. 7, 13).

 

Es gleicht in gewissem Sinn einem vollkommenen Spiegel, der von Gott gegeben wurde, um dem Menschen sein moralisches Verderben zu zeigen. Wenn ich mich mit unordentlichen, zerrissenen Kleidern vor einen Spiegel stelle, zeigte er mir zwar die Unordnung, hilft aber dem übel nicht ab. Wenn ich mit einem guten Senkblei eine unebene Mauer untersuche, zeigt es mir wohl die häßliche Ausbuchtung, beseitigt sie aber nicht. Wenn ich in dunkler Nacht mit einer Laterne ausgehe, läßt sie mich wohl alle Hindernisse und Schwierigkeiten meines Weges er­kennen, räumt sie aber nicht weg. Natürlich bringen weder der Spiegel, noch das Senkblei, noch die Lampe die Übel hervor, die durch sie ans Licht gebracht werden. Sie schaffen weder die Übel, noch beseitigen sie diese; sie offenbaren sie nur. Genauso ist es mit dem Gesetz; es kann das Böse im Herzen des Menschen weder hervorbringen, noch beseitigen, aber es offenbart es mit untrüglicher Genauigkeit.

 

"Was sollen wir nun sagen? Ist das Gesetz Sünde? Das sei ferne! Aber die Sünde hätte ich nicht erkannt, als nur durch Gesetz. Denn auch von der Lust hätte ich nichts gewußt, wenn nicht das Gesetz gesagt hätte: Laß dich nicht gelüsten" (Röm. 7, 7). Der Apostel sagt nicht, daß der Mensch keine Lust gehabt, sondern daß er nichts davon gewußt habe. Die Lust war in ihm; aber er war in völliger Unwissenheit über sie, bis die "Leuchte" des Allmächtigen (Hiob 29, 3) sein Herz erhellte und ihm das dort verborgene Böse offenbarte. So kann jemand in einem dunk­len Zimmer von Staub und Unordnung umgeben sein, ohne es zu mer­ken; sobald aber ein Sonnenstrahl ins Zimmer fällt, kann er alles unter­scheiden. Haben die Sonnenstrahlen den Staub hervorgebracht? Natür­lich nicht. Der Staub war vorhanden, und die Sonnenstrahlen bewirkten nur, daß er gesehen wurde. Das ist eine einfache Erklärung der Wirkung des Gesetzes. Es beurteilt den Charakter und den Zustand des Men­schen. Es beweist ihm, daß er ein Sünder ist und stellt ihn unter den Fluch. Es beurteilt den Menschen und verflucht ihn, wenn er seinen Forderungen nicht völlig entspricht.

 

Niemals also kann ein Mensch durch das Gesetz Leben und Gerechtig­keit erlangen, weil das Gesetz ihn nur verurteilt; und solange nicht der Zustand des Sünders oder der Charakter des Gesetzes gänzlich verändert wird, kann das Gesetz nicht anders, als den Sünder verfluchen. Es er­laubt keine Schwachheiten und Gebrechen und begnügt sich nicht mit einem unvollkommenen, wenn auch aufrichtigen Gehorsam. Sonst wäre es nicht mehr "heilig und gerecht und gut" (Röm. 7, 12). Gerade weil das Gesetz aber diesen Charakter trägt, kann der Sünder kein Leben daraus erlangen. Würde er es erlangen können, so wäre das Gesetz nicht vollkommen oder der Mensch kein Sünder. "Darum, aus Gesetzes­werken wird kein Fleisch vor ihm gerechtfertigt werden; denn durch Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde" (Röm. 3, 20). Der Apostel sagt nicht. "Durch Gesetz kommt die Sünde sondern die "Erkenntnis der Sünde". "Denn bis zu dem Gesetz war Sünde in der Welt; Sünde aber wird nicht zugerechnet, wenn kein Gesetz ist" (Röm. 5, 13). Die Sünde war vorhanden, und es bedurfte nur des Gesetzes, um sie als "Über­tretung" zu enthüllen. Wenn ich zu meinem Kind sage: "Du darfst dieses Messer nicht anrühren", dann wird gerade dieses Verbot die Nei­gung des Kindes, seinen eigenen Willen zu tun, ans Licht bringen. Er bewirkt die Neigung nicht, sondern offenbart sie nur.

 

Der Apostel Johannes sagt: "Die Sünde ist die Gesetzlosigkeit" (1. Joh. 3, 4). Der Begriff "Übertretung" würde den Gedanken des Heiligen Geistes in dieser Stelle nicht richtig wiedergeben, denn um ein "Übertreter" sein zu können, muß ich zunächst eine eindeutig festgelegte Regel oder Richtschnur haben. "Übertretung bedeutet das Überschrei­ten einer verbotenen Linie, und eine solche Linie finde ich im Gesetz. Es sagt: "Du sollst nicht töten", Au sollst nicht ehebrechen", Au sollst nicht stehlen" usw. Damit wird eine Regel oder eine Richtschnur vor mich gestellt, aber nun entdecke ich in mir selbst gerade jene Neigun­gen, gegen die die Verbote des Gesetzes gerichtet sind. Allein die Tat­sache, daß mir geboten wird, nicht zu töten, zeigt, daß Mordlust in meiner Natur vorhanden ist (vergl. Röm. 3, 15). Es wäre sinnlos, nur eine Sache zu verbieten, wenn ich gar keine Neigung hätte, sie zu tun. Die Offenbarung des Willens Gottes verrät also die Neigung meines Willens, das zu sein, was ich nicht sein sollte. Das ist einfach und klar und entspricht vollkommen der apostolischen Belehrung über diese Sache.

 

Allerdings gibt es viele, die zwar wissen, daß es unmöglich ist, durch Leben zu erlangen, die aber dennoch das Gesetz zu ihrer Lebensregel machen. Der Apostel sagt aber ausdrücklich: So viele aus Gesetzes Werken sind, sind unter dem Fluche" (Gal. 3, 10). Ihr per­sönlicher Zustand kommt hierbei gar nicht in Betracht. Stellen sie, sich auf den Boden des Gesetzes, so sind sie unter Fluch. Vielleicht wird je­mand sagen: "Ich bin wiedergeboren und darum nicht dem Fluch aus­gesetzt". Aber wenn die Wiedergeburt den Menschen nicht vom Boden des Gesetzes entfernt, kann sie ihn auch nicht vor dem Fluch bewahren. Was hat aber das Gesetz Überhaupt mit der Wiedergeburt zu tun? Fin­den wir in dem vorliegenden Kapitel irgendeine Spur davon? Das Ge­setz hat nur eine, und zwar eine kurze, ernste und bestimmte Frage an den Menschen: "Bist du das, was du sein solltest?" Wenn diese Frage verneint werden muß, so kann es dem Menschen nur seine schrecklichen Flüche entgegenhalten und ihn töten. Und wer wird so be­reitwillig wie der wirklich wiedergeborene Mensch anerkennen, daß er in sich selbst alles andere ist als das, was er sein sollte? Wenn er daher unter dem Gesetz ist, dann ist er auch unausweichlich dem Fluch unter­worfen. Die Forderungen des Gesetzes können niemals verringert wer­den ‑ auch durch die Gnade nicht. Der Mensch aber, der seine Unzu­länglichkeit vor dem Gesetz erkennt, versucht immer, das Gesetz in sei­nem Anspruch zu erniedrigen. Solche Anstrengungen sind jedoch ver­geblich. Das Gesetz bleibt in seiner ganzen Reinheit, Majestät und Strenge bestehen und wird von seiner Forderung eines vollkommenen Gehorsams auch nicht um Haaresbreite ablassen. Wo aber ist der Mensch, wiedergeboren oder nicht wiedergeboren, der eine solche For­derung jemals erfüllen könnte? Man wird vielleicht sagen, daß wir in Christus die Vollkommenheit besitzen. Allerdings. Aber wodurch haben wir sie erlangt? Nicht durch Gesetz, sondern allein durch Gnade. Wir dürfen diese beiden Grundsätze auf keinen Fall durcheinanderbringen. Die Heilige Schrift belehrt uns ausführlich und deutlich, daß wir weder durch das Gesetz gerechtfertigt sind, noch daß es die Richtschnur unse­res Lebens ist. Das, was nur verfluchen kann, kann niemals rechtferti­gen, und das, was nur zu töten vermag, kann niemals eine Lebensregel sein.

 

Ein Blick in das 15. Kapitel der Apostelgeschichte zeigt uns, wie ent­schieden der Heilige Geist dem Versuch entgegentritt, nichtjüdische Gläu­bige unter das Gesetz als Richtschnur ihres Lebens zu stellen. "Etliche aber derer von der Sekte der Pharisäer, welche glaubten, traten auf und sagten ‑ Man muß sie beschneiden und ihnen gebieten, das Gesetz Moses zu halten" (V. 5). Der traurige Rat jener Gesetzesmänner der ersten Zeit war nichts anderes als das Zischen der alten Schlange. Der Heilige Geist aber hat durch die einmütige Stimme der zwölf Apostel und der ganzen Kirche diese Zumutung zurückgewiesen: "Als aber viel Wort­wechsel entstanden war, stand Petrus auf und sprach zu ihnen: Brüder, ihr wisset, daß Gott vor längerer Zeit mich unter euch auserwählt hat, daß die Nationen durch meinen Mund das Wort des Evangeliums hören und glauben sollten" (V. 7). Was sollten sie hören? Etwa die Forderun­gen und Flüche des Gesetzes Moses? Das war, Gott sei Dank! nicht die Botschaft für hilflose Sünder. Was aber sollten sie hören und glauben? Das Wort des Evangeliums! Das allein war dem Wesen Gottes ange­messen, und die Pharisäer, die sich gegen Paulus und Barnabas erhoben, waren weit davon entfernt, Seine Boten zu sein. Sie hatten keine gute Botschaft und keinen Frieden zu verkündigen, und darum war ihre Predigt auch nicht im Sinne Gottes, der nur an Barmherzigkeit Gefallen findet (vergl. Röm. 10, 15).

 

"Nun denn", fährt der Apostel fort, "was versuchet ihr Gott, ein Joch auf den Hals der jünger zu legen, das weder unsere Väter noch wir zu tragen vermochten?" (V. 10). Das war ein deutliche, ernste Sprache. Gott wollte nicht "ein Joch auf den Hals" derer legen, die durch das Evangelium des Friedens befreit worden waren. Er wollte sie lieber ermahnen, festzustehen in der Freiheit Christi und sich "nicht wiederum unter einem Joche der Knechtschaft" halten zu lassen (Gal. 5, 1). Er wollte nicht, daß erlöste Sünder, denen Er einen Platz an Seinem Herzen gegeben hatte, durch das Dunkel und die Finsternis und den Sturm des Berges Sinai wieder entmutigt würden (Hebr. 12). Wie könnten wir dem Gedanken Raum geben, daß Gott sie, nachdem Er sie in Gnaden angenommen hatte, wieder unter die Herrschaft des Gesetzes bringen wollte? "Wir glauben", sagt Petrus, „durch die Gnade des Herrn Jesus in derselben Weise, wie auch jene, errettet zu werden" (Apg. 15, 11). Sowohl die Juden, die das Gesetz empfangen hatten, als auch die Heiden, die ohne Gesetz waren, sollten hinfort alle "durch Gnade" errettet wer­den, ja, nicht nur "errettet" werden durch Gnade, sondern auch in der Gnade "stehen" (Röm. 5, 2; Gal. 5, 1) und in ihr "wachsen" (2. Petr. 3, 18). Wer anders lehrt, "versucht Gott" (Apg. 15, 10). jene Pharisäer tasteten die Grundlagen des christlichen Glaubens an, und dasselbe tut jeder, der die Gläubigen unter das Gesetz zu stellen versucht. Es gibt in den Augen des Herrn kein schrecklicheres Übel, keinen verwerfliche­ren Irrtum als die Gesetzlichkeit. Man höre nur die scharfe Sprache, die Ausdrücke des Unwillens, die der Heilige Geist in bezug auf jene Ge­setzlehrer benutzt: "Ich wollte, daß sie sich auch abschnitten, die euch aufwiegeln!" (Gal. 5, 12).

 

Und haben sich die Gedanken des Heiligen Geistes im Hinblick auf diese Frage etwa geändert? Heißt es heute nicht mehr "Gott versuchen", wenn man einem Sünder das Joch des Gesetzes auferlegt? Ist es etwa jetzt in Übereinstimmung mit Seiner Gnade, einem Sünder das Gesetz zu predigen? Diese Frage ist im Lichte des 15. Kapitels der Apostelge­schichte und des Galaterbriefes leicht zu beantworten. Selbst wenn keine anderen vorhanden wären, würden diese Schriftstellen zur Genüge be­weisen, daß es niemals in der Absicht Gottes lag, die Nationen unter das Gesetz zu stellen. Sonst hätte Er sicher jemanden auserwählt, um es ihnen zu verkünden. Als Gott Sein Gesetz gab, redete Er nur in einer einzigen Sprache. Als Er aber die frohe Botschaft des Heils durch das Blut des Lammes verkündigte, redete Er in der Sprache "jeder Nation derer, die unter dem Himmel sind". Er redete in einer Weise, daß jeder in seiner eigenen Mundart, in der er geboren war, die frohe Botschaft der Gnade vernehmen konnte (Apg. 2, 1‑11).

 

Und weiter, als Gott vom Berge Sinai aus die harten Forderungen des Bündnisses der Werke vernehmen ließ, richtete Er sich ausschließlich an ein einziges Volk. Nur die Juden sollten Seine Stimme hören. Aber als der auferstandene Christus Seine Heilsboten aussandte, geschah es mit dem Auftrag: "Gehet hin in die ganze Welt und predigt das Evan­gelium der ganzen Schöpfung" (Mark. 16, 15; vergl. Luk. 3, 6). Die unendliche Gnade Gottes, deren Schleusen durch das Blut des Lammes geöffnet worden waren, sollte durch die wirksame Kraft des Heiligen Geistes über die engen Grenzen des Judentums hinaus der ganzen sün­denbeladenen Welt zugute kommen. Alle Völker sollten die Botschaft des Friedens, das Wort des Evangeliums durch das Blut des Kreuzes in ihrer eigenen Sprache hören.

 

Die Grundlage des Lebens für den Sünder und die Richtschnur des Lebens für den Gläubigen ist also nicht im Gesetz zu finden, sondern nur in Christus. Er ist unser Leben, und Er ist die Richtschnur unseres Lebens. Das Gesetz kann nur verfluchen und töten. Christus ist unser Leben und unsere Gerechtigkeit. Er ist ein Fluch für uns geworden, als Er am Kreuz hing. Er stieg hinab bis zu dem Platz, wo der Sünder lag ‑ zu dem Ort des Todes und des Gerichts, und nachdem Er uns durch Seinen Tod von allem befreit hat, was gegen uns war und gegen uns sein konnte, ist Er für alle, die an Seinen Namen glauben, in der Auf­erstehung die Quelle des Lebens und die Grundlage der Gerechtigkeit geworden. Und indem wir auf diese Weise Leben und Gerechtigkeit in Ihm besitzen, sind wir berufen, nicht nach den Vorschriften des Gesetzes zu leben, sondern "zu wandeln, wie er gewandelt hat" (1. Joh. 2, 6). Selbstverständlich sind Töten, Ehebrechen und Stehlen Handlungen, die mit der christlichen Ethik in Widerspruch stehen. Aber wenn ein Christ seinen Weg nach diesen Vorschriften oder nach den zehn Geboten über­haupt einrichten wollte, würde er dadurch wohl die wunderbaren Früchte hervorbringen, von denen der Brief an die Epheser redet? Würden die zehn Gebote wohl je einen Dieb dahin bringen, nicht mehr zu stehlen, sondern zu arbeiten, um auch anderen etwas geben zu können? Würden sie je einen Dieb in einen arbeitsamen, freigebigen Menschen umwandeln können? Das Gesetz sagt: "Du sollst nicht steh­len; aber sagt es etwa auch: "Gib dem Dürftigen, segne deinen Feind, und tue auch dem Gutes, der nur darauf aus ist, dir zu schaden? Wenn ich als Christ unter dem Gesetz als einer Lebensregel stände, könnte es mich nur verfluchen und töten. Aber wie ist das mög­lich, da doch die Forderungen im Neuen Testament noch viel weiter gehen? Nun, einfach deshalb, weil ich schwach bin und das Gesetz mir weder Kraft gibt noch Barmherzigkeit erweist. Das Gesetz fordert Kraft von dem, der kraftlos ist, und verflucht ihn, wenn er keine Kraft offen­baren kann. Das Evangelium gibt Kraft dem, der keine besitzt, und segnet ihn, wenn er sie offenbart. Das Gesetz stellt das Leben als das Ziel des Gehorsams hin. Das Evangelium gibt das Leben als die einzig wahre Grundlage des Gehorsams.

 

Aber um nicht länger mit Beweisführungen zu ermüden, möchte ich fragen: wenn wirklich das Gesetz eine Lebensregel für den Gläubigen darstellt, wo finden wir dann einen Hinweis darauf im Neuen Testa­ment? Offenbar hatte der Apostel diesen Gedanken nicht, als er an die Galater schrieb: "Denn weder Beschneidung noch Vorhaut ist etwas, sondern eine neue Schöpfung. Und so viele nach dieser Richtschnur wan­deln werden ‑ Friede über sie und Barmherzigkeit, und über den Israel Gottes!" (Kap. 6, 15. ‑16). Welche Richtschnur meint er hier? Das Ge­setz? Nein, sondern die "neue Schöpfung". Finden wir etwas derglei­chen in 2. Mose 20? Redet das Gesetz ein einziges Wort über die "neue Schöpfung"? Im Gegenteil. Es richtet sich an den Menschen in seinem natürlichen Zustand gemäß der alten Schöpfung und stellt ihn auf die Probe, um seine Fähigkeiten zu untersuchen. Wenn nun das Gesetz der Grundsatz wäre, nach dem die Gläubigen leben sollten, warum spricht dann der Apostel einen Segen über die aus, die nach einem ganz anderen Grundsatz wandeln? Warum sagt er nicht. "So viele nach dem Grundsatz der zehn Gebote wandeln"? Ist es nicht aufgrund dieser ein­zigen Stelle offensichtlich, daß die Kirche Gottes einen erhabeneren Grundsatz hat, nach dem sie wandeln soll? Obwohl die zehn Gebote zweifellos zu dem inspirierten Wort gehören, können sie doch niemals die Lebensregel eines Menschen sein, der durch die unendliche Gnade Gottes in eine neue Schöpfung eingeführt ist und neues Leben in Chri­stus empfangen hat.

 

Aber ist das Gesetz nicht vollkommen? Und wenn es vollkommen ist, was will man dann mehr? Das Gesetz ist göttlich vollkommen. ja, gerade wegen seiner Vollkommenheit verflucht und tötet es jeden, der meint, vor ihm bestehen zu können und doch nicht vollkommen ist. "Denn wir wissen, daß das Gesetz geistlich ist, ich aber bin fleischlich" (Röm. 7, 14). Es ist unmöglich, sich von der Vollkommenheit und Geist­lichkeit des Gesetzes eine angemessene Vorstellung zu machen. Aber sobald dieses vollkommene Gesetz mit der gefallenen Menschheit in Be­rührung kommt, sobald dieses geistliche Gesetz der "Gesinnung des Fleisches" begegnet, kann es nur Zorn bewirken und die Feindschaft des Menschen ans Licht bringen (Röm. 4, 15; 8, 7). Warum? Etwa des­halb, weil das Gesetz nicht vollkommen ist? Nein, sondern weil es voll­kommen ist und weil der Mensch ein Sünder ist. Wenn der Mensch voll­kommen wäre, würde er das Gesetz in all seiner geistlichen Vollkom­menheit erfüllen; und der Apostel Paulus belehrt uns, daß selbst in den wahren Gläubigen, obwohl sie noch eine sündige Natur in sich tragen, "das Recht des Gesetzes erfüllt" wird ‑in denen nämlich, "die nicht nach dem Fleische, sondern nach dem Geiste wandeln" (Röm. 8, 4). "Wer den anderen liebt, hat das Gesetz erfüllt ... Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe die Summe des Gesetzes" (Röm. 13, 8‑10; vergl. Gal. 5, 14. 22. 23). Wenn ich jemanden liebe, werde ich ihm wohl nichts stehlen, vielmehr werde ich ihm Gutes tun, soviel ich kann. Dies alles ist für einen geistlich gesinnten Christen leicht verständlich, aber es läßt die Frage des Gesetzes, sei es als Grundlage des Lebens für den Sünder oder als Lebensregel für den Gläubigen, völlig unberührt.

 

Wenn wir das Gesetz in seinen zwei Hauptgedanken betrachten, dann sehen wir, daß es dem Menschen gebietet, Gott zu lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzer Kraft, und seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst. Das ist die Summe des Gesetzes. Das und nichts Geringeres fordert das Gesetz. Aber wer von den gefallenen Nachkommen Adams hat je dieser Forderung des Gesetzes entsprochen? Wo ist der Mensch, der sagen könnte, er habe Gott und seinen Nächsten in dieser Weise geliebt? ‑.. weil die Gesinnung des Fleisches (d. i. die Gesinnung, die wir von Natur haben) Feindschaft ist gegen Gott, denn sie ist dem Gesetz Gottes nicht untertan, denn sie vermag es auch nicht" (Röm. 8, 7). Der Mensch haßt Gott und die Wege Gottes. Gott ist in der Person Christi auf die Erde gekommen und hat sich dem Menschen geoffenbart, und zwar nicht in dem überwältigenden Glanz Seiner Majestät, sondern in unendlicher Gnade und Herablassung. Und das Ergebnis war, daß der Mensch Gott haßte. "jetzt aber haben sie ge­sehen und gehaßt sowohl mich als auch meinen Vater" (Joh. 15, 24). Aber man wird sagen: "Der Mensch sollte Gott lieben". Ganz recht, und wenn er Ihn nicht liebt, verdient er den Tod und die ewige Verdamm­nis. Kann aber das Gesetz diese Liebe im Herzen des Menschen hervorru­fen? War das der Zweck des Gesetzes? Nein. "Denn das Gesetz bewirkt Zorn" ; "es wurde der Übertretungen wegen hinzugefügt; "durch Ge­setz kommt Erkenntnis der Sünde" (Röm. 4, 15; Gal. 3, 19; Röm. 3, 20). Das Gesetz sieht den Menschen in einem Zustand der Feindschaft gegen Gott, und ohne diesen Zustand irgendwie zu verändern, gebietet es ihm, Gott von ganzem Herzen zu lieben, und es verflucht ihn, wenn er es nicht tut. Das Gesetz war nicht dazu bestimmt, die Natur des Menschen zu verändern oder zu verbessern, noch vermochte es irgend­wie Kraft darzureichen, damit der Mensch seinen gerechten Forderun­gen nachkommen könnte. Das Gesetz sagte: "Tue dies, und du wirst leben". Es gebot dem Menschen, Gott zu lieben. Es offenbarte nicht, was Gott für den Menschen, selbst für den schuldigen und verderbten Menschen war, sondern es sagte dem Menschen, was er für Gott sein sollte. Das war keine Entfaltung der wunderbaren Wesenszüge Gottes, die in dem Menschen wahre Buße, ungeheuchelte Liebe und echte An­betung Gottes bewirken, sondern es war ein unumstößliches Gebot, Gott zu lieben; und anstatt diese Liebe wachzurufen, bewirkte es Zorn ‑ nicht weil Gott nicht geliebt werden sollte, sondern weil der Mensch ein Sünder war.

 

Der zweite Grundsatz: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" ist für den natürlichen Menschen ebenso unerfüllbar. Liebt er seinen Nächsten wie sich selbst? Ist das der Grundsatz, der sich in der Politik oder im Wirtschaftsleben dieser Welt offenbart? Nein, der Mensch liebt seinen Nächsten nicht, wie er sich selbst liebt. Zweifellos sollte er es tun, und er würde es tun, wenn sein Zustand gut wäre. Aber sein Zustand ist durch und durch böse, und wenn er nicht durch das Wort und durch den Geist Gottes von neuem geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes eingehen (Joh. 3, 3‑5). Das Gesetz kann diese neue Geburt nicht bewirken. Es tötet den "alten Menschen", aber es ruft keinen "neuen Menschen" ins Leben. Wir wissen, daß der Herr Jesus Gott ist, aber in Seinem Leben auf der Erde war Er zugleich auch unser Nächster; Er war Gott, geoffenbart im Fleische (l. Tim. 3, 16). Und wie haben die Menschen Ihn behandelt? Liebten sie Ihn von gan­zem Herzen' wie sich selbst? Genau das Gegenteil war der Fall. Sie kreuzigten Ihn zwischen zwei Räubern, nachdem sie vorher einen Dieb und Mörder Ihm vorgezogen hatten. Und das, obwohl Er ihnen nur Gutes getan hatte, obwohl Er vom Vaterhaus, wo nur Licht und Liebe herrschen, auf die Erde gekommen war, um diese Liebe und dieses Licht in sich selbst darzustellen. Sie haben den getötet, der nur von tiefem Mitgefühl für ihre Not erfüllt war, und der immer bereit war, Sünden zu vergeben und Leidenden zu helfen. Wenn wir so das Kreuz Christi betrachten, sehen wir in ihm einen sicheren Beweis dafür, daß es der menschlichen Natur unmöglich ist, das Gesetz zu halten.

 

Nach allem, was wir betrachtet haben, muß es für einen geistlich ge­sinnten Gläubigen eine Freude sein, den Schluß dieses Kapitels zu lesen. "Und der HERR sprach zu Mose: Also sollst du zu den Kindern Israel sprechen: ... Einen Altar von Erde sollst du mir machen und darauf opfern deine Brandopfer und deine Friedensopfer, dein Kleinvieh und deine Rinder; an jedem Orte, wo ich meines Namens werde ge­denken lassen, werde ich zu dir kommen und dich segnen. Und wenn du mir einen Altar von Steinen machst, so sollst du ihn nicht von be­hauenen Steinen bauen; denn hast du deinen Meißel darüber ge­schwungen, so hast du ihn entweiht. Und du sollst nicht auf Stufen zu meinem Altar hinaufsteigen, damit nicht deine Blöße an ihm aufge­deckt werde" (V. 22‑26).

 

Der Gläubige vollbringt hier keine Werke mehr, sondern er betet an; und dies am Ende von 2. Mose 20! Wie klar belehrt uns diese Tatsache, daß Gott nicht die Absicht hat, den Sünder mit dem Geist des Sinai zu konfrontieren, und daß überhaupt der Sinai nicht der Ort ist, an dem Gott und Mensch einander begegnen können. "An jedem Orte, wo ich meines Namens werde gedenken lassen, werde ich zu dir kommen und dich segnen". Wie sehr unterscheidet sich dieser Ort, wo der HERR das Gedächtnis Seines Namens stiften, wo Er Sein anbetendes Volk segnen will, von den Schrecken des rauchenden Berges!

 

Gott will dem Sünder an einem Altar begegnen, der aus unbehauenen Steinen erbaut ist und keine Stufen hat, also an einem Ort der Anbe­tung, dessen Herrichtung keine menschliche Tätigkeit voraussetzt und der dem Menschen ohne irgendwelche Anstrengung zugänglich ist. Das Erste würde nur den Altar entweihen und das Zweite nur die Nacktheit des Menschen enthüllen. Welch ein bewundernswertes Bild von der Per­son und dem Werk Jesu Christi! Das ist der geistliche Ort, an dem Gott jetzt dem Sünder begegnet, an dem alle Fragen des Gesetzes, der Gerechtigkeit und des Gewissens vollkommen beantwortet sind! Zu allen Zeiten und unter allen Verhältnissen hat der Mensch die Neigung verraten, bei der Aufrichtung seines Altars nach eigenem Werkzeug zu greifen und Ihm auf selbstgebauten Stufen zu nahen, aber Verunehrung und Nacktheit waren immer das Ergebnis solcher Versuche. "Wir alle­samt sind dem Unreinen gleich geworden, und alle unsere Gerechtigkei­ten gleich einem unflätigen Kleide; und wir verwelken allesamt wie ein Blatt, und unsere Missetaten rafften uns dahin wie der Wind" (Jes. 64, 6). Wer würde es wagen, Gott in einem "unflätigen" Kleid zu be­gegnen oder in seiner Nacktheit Ihn anzubeten? Genau das aber tut jeder Sünder, der sich durch eigene Anstrengung einen Weg zu Gott bahnen will. Solche Anstrengungen sind nutzlos, weil sie die Unreinig­keit und Nacktheit des Menschen nicht beseitigen können. Gott ist dem in den Tiefen seines Verderbens liegenden Sünder so weit entgegenge­kommen, daß weder Gesetzlichkeit noch eigene Gerechtigkeit den Sün­der noch näher zu Gott bringen kann.

 

Das sind die Grundsätze, mit denen der Heilige Geist diesen Teil des göttlichen Buches schließt. Es sind Grundsätze, die jeder Christ kennen muß, um den wichtigen Unterschied zwischen Gesetz und Gnade klar zu verstehen!

 

Kapitel 21‑23

 

RECHTE UND SATZUNGEN

 

Der nun vor uns liegende Teil des zweiten Buches Mose zeigt uns be­sonders die Weisheit und unendliche Güte Gottes. Anhand der Kapitel 21 bis 23 können wir uns eine Vorstellung von einem Königreich machen, das durch von Gott angeordnete Gesetze verwaltet wird. Zu­gleich sehen wir die bewundernswerte Herablassung des großen Gottes des Himmels und der Erde, dem es nicht zu gering ist, eine Rechtssache wie den Tod eines Ochsen (Kap. 22, 10), einen zum Pfand genommenen Mantel (V. 26) oder den Verlust des Zahnes eines Sklaven (Kap. 21, 27) durch ein Gesetz zu regeln. Wer ist dem Herrn, unserem Gott gleich? Er regiert das Weltall und kann zugleich um die Ernährung und Beklei­dung irgendeines Seiner Geschöpfe besorgt sein. Er leitet den Flug des Adlers und nimmt Notiz von einem kriechenden Wurm. Er lenkt die Himmelskörper in ihrer Bahn durch den unermeßlichen Weltraum, und es ist Ihm doch nicht zu gering, auf das Fallen eines Sperlings achtzu­haben.

 

Die in Kapitel 21 aufgezählten Rechte und Gesetze enthalten eine zwei­fache Belehrung. Sie reden von Gott und von dem Menschen.

 

Zunächst sehen wir Gott, und zwar als einen strengen, unparteiischen, vollkommenen Richter. "Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brandmal um Brandmal, Wunde um Wunde, Strieme um Strieme" (V. 24. 25). Das war der Charakter der Vorschrif­ten und Rechte, durch die Gott Sein irdisches Königreich Israel regierte. Für alles war gesorgt. Jedes Interesse wurde gewahrt, und jeder Forde­rung geschah Genüge. Hier gab es keine Parteilichkeit, hier galt kein Ansehen der Person, hier wurde kein Unterschied gemacht zwischen reich und arm. Es herrschte eine vollkommene Gerechtigkeit, so daß sich niemand über die Entscheidung beklagen konnte. Diese Gerechtig­keit konnte nicht durch Bestechung oder Parteilichkeit beeinträchtigt werden. Gott selbst war der treu sorgende Gesetzgeber und zugleich der unerbittliche Vollstrecker. Nur der Schuldige wurde gestraft; wer aber gehorsam war, konnte sicher sein, daß alle seine Rechte geschützt wurden.

 

Zum anderen aber wird in diesem Kapitel auch die schreckliche Verdor­benheit des Menschen enthüllt. Gott hätte nämlich keine Gesetze gegen gewisse Verbrechen anordnen müssen, wenn der Mensch nicht auch imstande wäre, solche Verbrechen zu begehen. Angesichts der in diesem Kapitel genannten Greuel möchte vielleicht jemand wie einst Hasael sagen: "Was ist dein Knecht, der Hund, daß er diese große Sache tun sollte?" (2. Kön. 8, 13). Wer aber so spricht, hat ganz sicher noch nicht in den Abgrund seines Herzens hineingeblickt. Denn obwohl hier Ver­brechen genannt werden, die den Menschen unter einen Hund zu er­niedrigen scheinen, beweisen doch gerade diese Vorschriften, daß selbst der edelste und gebildetste Mensch den Keim der finsteren und ab­scheulichsten Greuel in sich trägt. Denn nur für den Menschen wurden diese Gesetze angeordnet. Der Mensch ist zu allen Dingen fähig; er ist so tief gesunken, daß er nicht tiefer sinken kann. Seine Natur ist gänz­lich verderbt, und von Kopf bis Fug ist nichts Gesundes an ihm (Jes. 1; Röm. 3, 9‑18).

 

Wie kann ein solches Geschöpf ohne Furcht im vollen Licht des Thrones Gottes stehen? Wie kann es im Innern des Heiligtums oder am gläser­nen Meer stehen (Offbg. 4, 6)? Wie kann es durch die Perlentore ein­treten und durch die goldenen Straßen des heiligen Jerusalem gehen (Offbg. 2,1, 21)? Die Antwort auf diese Fragen entfaltet vor uns die bewundernswerten Tiefen der erlösenden Liebe und die ewige Gültigkeit des Blutes des Lammes. Wie groß auch das Verderben des Menschen sein mag, die Liebe Gottes ist größer. Wie schwer seine Schuld auch ist, das Blut Jesu vermag sie völlig zu tilgen. Wie weit die Kluft auch ist, die den Menschen von Gott trennt, das Kreuz hat sie überbrückt. Gott ist bis zu dem Sünder hinabgestiegen, um ihn in einen Bereich unendlicher Gunst, in ewige Gemeinschaft mit Seinem eingeborenen Sohn zu erhe­ben. "Sehet, welch eine Liebe uns der Vater gegeben hat, daß wir Kin­der Gottes heißen sollen" (1. Joh. 3, 1). Nur die Liebe Gottes konnte das Elend des Menschen ermessen, und nur das Blut Christi vermochte seine Schuld zu begleichen. Aber gerade durch die Tiefe des menschli­chen Verderbens wird die Liebe Gottes verherrlicht, so wie die Größe der Schuld das Blut verherrlicht, das sie voll und ganz hinwegzutun vermag. Der größte Sünder kann, wenn er an Jesus glaubt, sich der Ge­wißheit erfreuen, daß Gott ihn für "ganz rein" erklärt (Joh. 13, 10).

 

je genauer wir diese Gesetze und Vorschriften im einzelnen untersuchen, um so mehr entdecken wir ihre Vollkommenheit. Nehmen wir zum Bei­spiel die allererste dieser Vorschriften, die über den hebräischen Knecht:

 

„Und dies sind die Rechte, die du ihnen vorlegen sollst: So du einen he­bräischen Knecht kaufst, soll er sechs Jahre dienen, und im siebenten soll er frei ausgehen, umsonst. Wenn er allein gekommen ist, soll er allein ausgehen; wenn er eines Weibes Mann war, soll sein Weib mit ihm ausgehen. Wenn sein Herr ihm ein Weib gegeben und sie ihm Söhne oder Töchter geboren hat, so sollen das Weib und ihre Kinder ihrem Herrn gehören, und er soll allein ausgehen. Wenn aber der Knecht etwa sagt: Ich liebe meinen Herrn, mein Weib und meine Kinder, ich will nicht frei ausgehen, so soll ihn sein Herr vor die Richter bringen und ihn an die Tür oder den Pfosten stellen, und sein Herr soll ihm das Ohr mit einer Pfrieme durchbohren; und er soll ihm dienen auf ewig" (Kap. 21, 1‑6). Der Knecht persönlich war völlig frei; er hatte jeder Forderung genügt und konnte daher in Freiheit und nach Belieben fort­gehen; aber es konnte sein, daß er aus Liebe zu seinem Herrn, zu seinem Weibe und seinen Kindern sich freiwillig zu einem fortdauernden Dienst verpflichtete und sogar bereit war, an seinem Leibe ein bleibendes Kennzeichen dieses Dienstes zu tragen.

 

In diesen Anordnungen sehen wir einen deutlichen Hinweis auf den Herrn Jesus. Er war vor Grundlegung der Welt die Wonne des Vaters, und Er hätte durch alle Ewigkeiten hindurch diesen Ihm persönlich ge­bührenden Platz im Schoß des Vaters behalten können (Spr. 8, 22‑31). Nicht eine Verpflichtung, sondern allein Seine unaussprechliche Liebe ließ Ihn diesen Platz verlassen. Er liebte Seinen Vater, um dessen Rat­schlüsse es hier ging; Er liebte die Kirche insgesamt und jedes einzelne Glied der Kirche so sehr, daß Er freiwillig auf die Erde kam, sich selbst zu nichts machte, Knechtsgestalt annahm und die Zeichen eines bestän­digen Dienstes an sich trug. In Ps. 40, 6 finden wir wohl eine Anspie­lung auf diese Zeichen in den Worten: "Ohren hast du mir bereitet". Dieser Psalm ist der Ausdruck der vollkommenen Hingabe Christi an Gott. Wir lesen in V. 7 und 8: "Da sprach ich: Siehe, ich komme; in der Rolle des Buches steht von mir geschrieben. Dein Wohlgefallen zu tun, mein Gott, ist meine Lust; und dein Gesetz ist im Innern meines Herzens. Er kam, um den Willen Gottes zu tun, worin dieser auch bestehen mochte. Er folgte niemals Seinem eigenen Willen, selbst nicht bei der Annahme und Errettung von Sündern, obwohl Ihn mit Sicher­heit Seine Liebe zu diesem Werk drängte. Nur als Diener der Ratschlüsse des Vaters nahm Er sich der Sünder an und errettete sie. "Alles was mir der Vater gibt, wird zu mir kommen, und wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinauswerfen; denn ich bin vom Himmel herniederge­kommen, nicht auf daß ich meinen Willen tue, sondern den Willen des­sen, der mich gesandt hat. Dies aber ist der Wille dessen, der mich ge­sandt hat, daß ich von allem, was er mir gegeben hat, nichts verliere, sondern es auferwecke am letzten Tage (Joh. 6, 37‑39; vergl. Matth. 20,23).

 

Wir sehen hier den Herrn Jesus in Seinem Charakter als Diener Gottes. In vollkommener Gnade fühlt Er sich dafür verantwortlich, alle, die der Vater Ihm zuführt, nicht nur aufzunehmen, sondern sie auch in allen Prüfungen und Schwierigkeiten des Lebens, selbst in der Stunde des Todes, zu bewahren und sie am letzten Tage aufzuerwecken. Auch das schwächste Glied der Kirche Gottes befindet sich in völliger Sicherheit! Auch auf den schwächsten Gläubigen beziehen sich die Ratschlüsse Got­tes, für deren Ausführung sich Jesus verbürgt hat. Jesus liebt den Vater; und die Stärke dieser Liebe ist das Maß der Sicherheit für jeden einzel­nen in der erlösten Familie Gottes. Die Errettung des Sünders, der an den Namen des Sohnes Gottes glaubt, ist in einer Hinsicht nur der Aus­druck der Liebe Christi zum Vater. Wenn einer von denen, die an den Namen des Sohnes Gottes glauben, wegen irgendeiner Ursache verloren gehen könnte, dann wäre das der Beweis dafür, daß der Herr Jesus nicht den Willen Gottes erfüllt hat, und das wäre nichts anderes als eine Lästerung Seines heiligen Namens, dem Ehre und Majestät ge­bührt in Ewigkeit!

 

Wir sehen also in dem hebräischen Knecht ein Bild von Christus in Seiner vollkommenen Hingabe an den Vater. Aber das ist noch nicht alles. Der Knecht sagt: "Ich liebe mein Weib und meine Kinder". ,' . . gleichwie auch der Christus die Versammlung geliebt und sich selbst für sie hingegeben hat, auf daß er sie heiligte, sie reinigend durch die Waschung mit Wasser durch das Wort, auf daß er die Versammlung sich selbst verherrlicht darstellte, die nicht Flecken oder Runzel oder etwas dergleichen habe, sondern daß sie heilig und tadellos sei" (Eph. 5, 25‑27). Es gibt noch verschiedene andere Schriftstellen, die uns Chri­stus als Gegenbild des hebräischen Knechtes zeigen, sowohl in Seiner Liebe zur Kirche insgesamt, als auch zu jedem Gläubigen persönlich. Matth. 13, Joh. 10 und 13 und in Hebr. 2 finden wir weitere Ausführungen über diesen Punkt.

 

Wenn uns das Verständnis über diese Liebe Jesu aufgeht, wird in uns ein starkes Verlangen wachgerufen, uns Ihm hinzugeben, der allein fähig war, eine so reine, vollkommene und uneigennützige Liebe zu offen­baren. Hätten etwa die Frau und die Kinder des hebräischen Knechtes dem ihre Liebe versagen können, der freiwillig und für immer auf seine Freiheit verzichtete, weil er bei ihnen bleiben wollte? Und ist die Liebe des Knechtes nicht schwach im Vergleich zu der Liebe Christi? Eph. 3, 19 sagt uns, daß die Liebe des Christus die Erkenntnis übersteigt. Sie leitete Ihn, vor Grundlegung der Welt an uns zu denken, in der Fülle der Zeit uns aufzusuchen, aus freien Stücken sozusagen an den Türpfosten zu treten und am Kreuz für uns zu leiden, damit Er uns zu Seinen Genossen in Seinem Reich und Seiner ewigen Herrlichkeit erheben konnte.

 

Eine vollständige Erläuterung der übrigen Verordnungen und Rechte, die in diesen Kapiteln enthalten sind, würde jedoch jetzt zu weit führen.*) Zum Schlug sei noch bemerkt, daß diese Kapitel, die von der tiefen Weisheit, der vollkommenen Gerechtigkeit und der zärtlichen Sorgfalt Gottes reden, den Gläubigen mit Lob und Anbetung erfüllen. Sie lassen in der Seele die tiefe Überzeugung zurück, daß der, der hier redet, der "allein wahre", der "allein weise" und der unendlich barm­herzige Gott ist.

 

Denn dazu hat Gott uns Sein ewiges Wort gegeben, damit wir uns in aufrichtiger Anbetung vor Ihm niederbeugen, dessen vollkommene Wege und herrliche Eigenschaften uns aus diesem Wort entgegenstrah­len, zur Belebung und Auferbauung Seines erlösten Volkes!

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*) Da die in Kap. 23, 14‑19 erwähnten Feste und die in Kap. 29 genannten Opfer im 3. Buch Mose genau beschrieben sind, wollen wir es der Betrachtung von 3. Mose vorbehalten, näher hierauf einzugehen.

 

Kapitel 24

 

MOSE AUF DEM BERG

 

Dieses Kapitel beginnt mit einer Aussage, die in beachtenswerter Weise die ganze mosaische Haushaltung kennzeichnet. "Und er sprach zu Mose. Steige zu dem HERRN herauf, du und Aaron, Nadab und Abihu und siebenzig von den Ältesten Israels, und betet an von ferne. Und Mose allein nahe sich zu dem HERRN; sie aber sollen sich nicht nahen, und das Volk soll nicht mit ihm heraufsteigen" (V. 1. 2). In keiner Vor­schrift des Gesetzes finden wir eine Aufforderung an das Volk, Gott zu nahen. Solche Worte waren mit dem Gesetz vom Sinai nicht vereinbar. Sie sind erst durch den Tod und die Auferstehung Jesu möglich gewor­den. Die Worte "von ferne" sind ebenso charakteristisch für das Gesetz wie die Aufforderung, Gott zu nahen für das Evangelium. Unter dem Gesetz ist nie ein Werk vollbracht worden, das dem Sünder die Freiheit gab, vor Gott zu erscheinen. Der Mensch hatte sein Versprechen, zu gehorchen, nicht gehalten, und das Blut von Stieren und Böcken konnte weder seine Sünden wegnehmen noch seinem Gewissen Frieden geben. Darum mußte er "von ferne" anbeten. Er hatte sein Gelübde gebrochen, und seine Sünden waren nicht abgewaschen ‑ wie hätte er vor Gott hin­treten können? Das Blut von zehntausend Stieren vermochte keinen einzigen Flecken von seinem Gewissen wegzuwischen, noch konnte es ihm das sichere Bewußtsein geben, als ein versöhnter Sünder Gott nahe gebracht zu sein.

 

Dennoch wird hier der "erste Bund" mit Blut eingeweiht. Am Fuß des Berges wird ein Altar mit zwölf Denksteinen, nach den zwölf Stämmen Israels errichtet( V. 4; vergl. Jos. 4 und 1. Kön. 18, 31). "Und er sandte Jünglinge der Kinder Israel hin, und sie opferten Brandopfer und schlachteten Friedensopfer von Farren dem HERRN. Und Mose nahm die Hälfte des Blutes und tat es in Schalen, und die Hälfte des Blutes sprengte er an den Altar. Und er nahm das Buch des Bundes und las es vor den Ohren des Volkes; und sie sprachen: Alles was der HERR geredet hat, wollen wir tun und gehorchen. Und Mose nahm das Blut und sprengte es auf das Volk und sprach: Siehe, das Blut des Bundes, den der HERR mit euch gemacht hat über alle diese Worte" (V. 5‑8). Obwohl, wie der Apostel uns belehrt, Blut von Stieren und Böcken un­möglich Sünden hinwegnehmen konnte (Hebr. 10, 4), heiligte es den­noch zur Reinigkeit des Fleisches (Hebr. 9, 13); und als Schatten der zukünftigen Güter" reichte es aus, die Beziehungen des Volkes zum HERRN aufrecht zu erhalten.

 

"Und es stiegen hinauf Mose und Aaron, Nadab und Abihu und siebenzig von den Ältesten Israels; und sie sahen den Gott Israels; und unter seinen Füßen war es wie ein Werk von Saphirplatten und wie der Himmel selbst an Klarheit. Und er streckte seine Hand nicht aus gegen die Edlen der Kinder Israel; und sie schauten Gott und aßen und tran­ken" (V. 9‑11). Das war die Offenbarung des Gottes Israels in Licht und Reinheit, in Majestät und Heiligkeit. Es war nicht die Entfaltung der Liebe des Vaters, die dem Herzen Frieden und Vertrauen gibt. Die "Saphirplatten" offenbarten die Heiligkeit Gottes, das unzugängliche Licht, und geboten dem Sünder, Abstand zu halten. Dennoch "schauten sie Gott und aßen und tranken" ‑ ein Beweis für die Nachsicht und Barmherzigkeit Gottes und die Kraft des Blutes!

 

Wenn wir uns diese ganze Szene bildlich vorstellen, erkennen wir einige Besonderheiten, die für den Gläubigen von Bedeutung sind. Da ist das verunreinigte Lager unten im Tal und der durchsichtige Saphir oben; aber der Altar am Fuß des Berges redet zu uns von dem Weg, auf dem der Sünder der Unreinheit seines Zustandes entfliehen und in die Gegenwart Gottes hinaufsteigen kann, um dort ein Fest zu feiern und in vollkommenem Frieden anzubeten. Nur das Blut auf dem Altar konnte dem Menschen ein Recht geben, in die Gegenwart der Herrlich­keit Gottes zu treten, deren Ansehen war "wie ein verzehrendes Feuer ... vor den Augen der Kinder Israel" (V. 17).

 

"Und Mose ging mitten in die Wolke hinein und stieg auf den Berg; und Mose war auf dem Berge vierzig Tage und vierzig Nächte" (V. 18). Das war in der Tat eine erhabene und heilige Stellung für Mose. Er wurde weggerufen von der Erde und ihren Dingen. Getrennt von allen natürlichen Einflüssen, ist er allein mit Gott, um von Ihm die tiefen Geheimnisse der Person und des Werkes Christi zu erfahren; denn diese Geheimnisse sind es, die uns in der Stiftshütte und ihrer Ein­richtung, den "Abbildern der Dinge in den Himmeln" (Hebr. 9, 23), vor­gestellt werden. Gott wußte sehr wohl, was das Ende dieses Bündnisses der Werke sein würde; aber Er zeigt Mose in Bildern und Schatten Seine eigenen wunderbaren Gedanken der Liebe und Seine Gnaden­Ratschlüsse, die in Christus geoffenbart und durch Ihn für ewig ge­sichert worden sind.

 

Wie können wir Gott danken, daß Er uns nicht unter dem ersten Bund der Werke gelassen hat, sondern daß Er durch das Blut des ewigen Bun­des (Hebr. 13,20) den Donner des Gesetzes zum Schweigen gebracht, das Feuer des Berges Sinai ausgelöscht und uns einen Frieden geschenkt hat, den keine Macht der Erde und der Hölle zu erschüttern vermag! "Dem, der uns liebt und uns von unseren Sünden gewaschen hat in seinem Blute, und uns gemacht hat zu einem Königtum, zu Priestern seinem Gott und Vater: ihm sei die Herrlichkeit und die Macht von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen" (Offbg. 1, 5. 6).

 

Kapitel 25

 

DIE GERÄTE DES HEILIGTUMS

 

Mit diesem Kapitel beginnt einer der unerschöpflichsten Abschnitte der Heiligen Schrift. Auf Schritt und Tritt finden wir hier wertvolle Schätze, wenn wir mit dem richtigen Handwerkszeug an die Arbeit gehen, d. h. wenn wir den Dienst des Heiligen Geistes dafür in Anspruch nehmen. Mit unserer eigenen Vernunft können wir hier nichts ausrichten. Wir müssen alle unsere eigenen Vorstellungen beiseite lassen, müssen nüch­tern, einfältig und geistlich gesinnt sein, um die Anordnung und die Einrichtungen des Hauses des HERRN richtig verstehen zu können. "Die Abbilder der Dinge in den Himmeln" (Hebr. 9, 23) lassen sich nicht durch den natürlichen Verstand erklären, und sei er noch so scharf­sinnig. Ihre Bedeutung läßt sich durch kein irdisches Licht erhellen. Nur der HERR selbst, der die Bilder gegeben hat, kann sie uns erklären.

 

Nach menschlichem Urteil besteht keine erkennbare Ordnung in der Art und Weise, wie der Heilige Geist die Einrichtung der Stiftshütte dar­stellt, aber in Wirklichkeit herrscht auch hierin vollkommene Ordnung und Genauigkeit. Die Kapitel 25‑3o bilden einen besonderen, deutlich abgegrenzten Abschnitt des 2. Buches Mose. Er ist in zwei Teile ge­gliedert; der erste Teil endet mit Kapitel 27, 19 und der zweite mit dem letzten Vers des 30. Kapitels. Der erste beginnt mit der Beschreibung der Bundeslade innerhalb des Vorhangs und schließt mit der Beschrei­bung des ehernen Altars und des Hofes, in dem sich dieser Altar befand; mit anderen Worten, wir sehen zunächst den Richterstuhl des Herrn der ganzen Erde und werden dann zu der Stätte geführt, wo der HERR in der Kraft und dem Wert der vollbrachten Erlösung dem Sünder be­gegnet. Im zweiten Teil finden wir dann die Art und Weise, wie der Mensch Gott nahen konnte, die Aufgaben und die damit verbundene erhabene Stellung der Priester, denen es gestattet war, in der Gegen­wart Gottes ihren Dienst zu tun und Ihn anzubeten.

 

So ist also auch die Darstellung der Dinge in diesem Schriftabschnitt göttlich ‑ und darum vollkommen ‑ angeordnet. Die Bundeslade und der eherne Altar bilden sozusagen die beiden äußeren Endpunkte. Die Bundeslade stellt den Thron Gottes dar, der auf Gerechtigkeit und Ge­richt (Ps. 89,14) gegründet ist; der Altar andererseits war die Stätte, wo der Sünder Gott nahen konnte und wo Seine Gnade und Wahrheit" sicht­bar wurden. Der Mensch an sich durfte der Bundeslade nicht nahen, um dort Gott zu begegnen, denn der Weg zum Heiligtum war noch nicht geoffenbart (Hebr. 9, s). Aber Gott konnte dem ehernen Altar nahen, um dort dem sündigen Menschen zu begegnen. Aufgrund Seiner Ge­rechtigkeit und Heiligkeit konnte Gott keinem Sünder den Zutritt zum Heiligtum gestatten, aber aufgrund Seiner Gnade konnte Er aus dem Heiligtum hervortreten, und zwar nicht in der überwältigenden Majestät, in der Er über den geheimnisvollen Trägern Seines Thrones, den "Cherubim der Herrlichkeit", zu erscheinen pflegte, sondern eben als der barmherzige Gott, dessen Gnade in den Geräten und der Einrichtung der Stiftshütte versinnbildlicht ist.

 

Dies alles erinnert uns an den Weg Jesu, denn Er ist die Wirklichkeit, auf die alle Bilder und Schatten des Alten Testaments hinweisen. Er verließ den ewigen Thron Gottes in den Himmeln und erniedrigte sich bis zu Seinem Tod auf Golgatha. Er kam aus der Herrlichkeit des Him­mels und nahm die Schande des Kreuzes auf sich, um Sein erlöstes und in Gnade angenommenes Volk tadellos vor dem Thron Gottes dar­zustellen, den Er um dieses Volkes willen verlassen hatte. Der gewaltige Abgrund zwischen dem Thron Gottes auf der einen und dem Staub des Todes auf der andern Seite ist durch unseren Herrn und Sein Werk überbrückt worden. In Ihm hat Gott sich in vollkommener Gnade dem Sünder zugewandt, und in Ihm ist der Sünder in vollkommener Gerech­tigkeit zu Gott geführt worden. Der ganze Weg von der Bundeslade bis zum ehernen Altar zeigte die Liebe Gottes, und der ganze Weg vom ehernen Altar bis zur Bundeslade war besprengt mit dem Blut der Ver­söhnung (siehe 3. Mose 1, 5; 3~ 2; 4, 6. 7. 16‑18. 30. 34 usw.; 16, 14‑19; Hebr. 9, 6‑12). Und indem der gereinigte Anbeter diesen Weg geht, sieht er das Bild Jesu in allem, was seinen Blicken begegnet.

 

Wenn wir jetzt die Kapitel in ihrer Reihenfolge betrachten, sehen wir, daß der Herr Seinem Knecht Mose vor allem anderen die Gnadenabsicht mitteilt, sich inmitten Seines Volkes eine heilige Wohnstätte zu berei­ten; und zwar sollte dieses Heiligtum aus solchen Materialien gebaut werden, die in ihrer Bedeutung unmittelbar auf Christus, auf Seine Person, Sein Werk und auf das herrliche Ergebnis dieses Werkes hin­weisen. Außerdem waren diese Baustoffe freiwillige Opfer aus dem Volk und als solche eine Frucht der Gnade Gottes. Der HERR, dessen Majestät die Himmel und der Himmel Himmel nicht fassen können (l. Kön. 8, 27), fand Wohlgefallen daran, in einem von Menschen ge­bauten Zelt zu wohnen ‑ von Menschen, die den tiefen Wunsch hatten, daß ihr Gott in ihrer Mitte wohnte. Dieses Zelt oder diese Hütte kann von zwei Gesichtspunkten aus betrachtet werden, nämlich einerseits als ein Muster der Dinge in den Himmeln, des wahrhaftigen Heiligtums (Hebr. 9, 24), und anderseits als ein bedeutungsvolles Bild vom Leibe Christi. Die verschiedenen Stoffe, aus denen die Hütte gebaut war, werden uns später beschäftigen. Richten wir zunächst unsere Auf­merksamkeit auf die drei wichtigsten Gegenstände, deren Anferti­gung im 25. Kapitel angeordnet wird, nämlich auf die Bundeslade, den Tisch und den Leuchter.

 

Die Lade des Zeugnisses" nimmt in den Mitteilungen Gottes an Mose die erste Stelle ein, auch hatte Sie einen hervorragenden Platz in der Stiftshütte. Eingeschlossen innerhalb des Vorhangs, im Allerheiligsten' bildete sie die Grundlage des Thrones des HERRN. Schon ihr Name deutet auf ihre Wichtigkeit hin. Eine Lade ist dazu bestimmt, das, was man hineinlegt, unversehrt zu erhalten. Ein Lade oder Arche war es, die Noah und seine Familie mit allen Tierarten der Schöpfung vor den Fluten des Gerichts in Sicherheit brachte. Eine solche Lade war auch das "Kästlein von Schilfrohr", das, wie wir im zweiten Kapitel dieses Buches gesehen haben, als das Gefäß des Glaubens den Knaben Mose über den Wassern des Todes am Leben erhielt. Wenn daher von der "Lade des Bundes" (4. Mose 10, 33; 5. Mose 31, 26; Jer. 3, 16; Hebr. 9, 4) die Rede ist, denken wir daran, daß diese Lade von Gott dazu be­stimmt war, Seinen Bund inmitten eines irrenden Volkes unversehrt zu bewahren. In dieser Lade wurde das zweite Paar der Gesetzestafeln zur Aufbewahrung niedergelegt. Das erste Paar wurde am Fuß des Berges zerschmettert (2. Mose 32, 19) ‑ zum Zeichen dafür, daß der Bund des Menschen völlig gebrochen war, und daß menschliche Werke niemals die Grundlage des Thrones der Regierung des HERRN bil­den konnten. "Gerechtigkeit und Gericht sind deines Thrones Grund­feste" (Ps. 89, 14), sowohl in irdischer als auch in himmlischer Bezie­hung. Die Lade konnte in ihrem geweihten Raum keine zerbrochenen Tafeln aufnehmen. Der Mensch mochte die Erfüllung seiner aus eigenem Antrieb abgelegten Gelübde gänzlich versäumen, aber Gottes Gesetz mußte in seiner Reinheit und Vollkommenheit bewahrt bleiben. Wenn Gott Seinen Thron inmitten Seines Volkes aufrichten wollte, dann mußte dabei Seiner Heiligkeit Rechnung getragen werden. Der Maßstab Seines Gerichts und Seiner Regierung muß vollkommen sein.

 

"Und mache Stangen von Akazienholz und überziehe sie mit Gold. Und bringe die Stangen in die Ringe an den Seiten der Lade, um die Lade mit denselben zu tragen" (V. 13. 14). Die Bundeslade sollte das Volk auf allen seinen Wanderungen begleiten. Sie ruhte nie, solange die Israeliten ein wanderndes und kämpfendes Volk waren. Sie wurde in der Wüste von Ort zu Ort getragen. Sie ging vor dem Volke her in die Mitte des Jordan, sie war der Sammelplatz Israels in allen Kriegen Kanaans, und überall war sie der sichere und zuverlässige Bürge der Macht Gottes. Der mächtigste Feind vermochte nicht zu bestehen ange­sichts dieses Zeichens der Macht und Gegenwart Gottes. Auch die Stangen und Ringe an der Lade waren ein Ausdruck ihres Pilgercharakters.

 

Jedoch sollte die Bundeslade nicht für immer auf der Pilgerschaft sein. Die Mühsal Davids (Ps. 132, 1) und die Kriege Israels sollten einmal ein Ende nehmen. Das Gebet: "Stehe auf, HERR, zu deiner Ruhe, du und die Lade deiner Stärke!" (Ps. 132, 8) sollte Erhörung finden. Diese erhabene Bitte fand in den Tagen Salomos eine teilweise Erfüllung. Wir lesen: "Und die Priester brachten die Lade des Bundes des HERRN an ihren Ort, in den Sprachort des Hauses, in das Allerheiligste' unter die Flügel der Cherubim; denn die Cherubim breiteten die Flügel aus über den Ort der Lade, und die Cherubim bedeckten die Lade und ihre Stangen von oben her. Und die Stangen waren so lang, daß die Spitzen der Stangen vom Heiligen aus an der Vorderseite des Sprachortes ge­sehen wurden; aber auswärts wurden sie nicht gesehen. Und sie sind daselbst bis auf diesen Tag" (l. Kön. 8, 6‑8). Die Pilgerschaft der Bundeslade hatte damals ihr Ende erreicht, und "kein Widersacher und kein schlimmes Begebnis" (l. Kön. 5, 4) waren mehr vorhanden.

 

Das ist aber nicht der einzige Unterschied zwischen der Bundeslade in der Stiftshütte und der Bundeslade im Tempel. Wenn der Apostel von der Lade in der Wüste redet, beschreibt er sie als "die Lade des Bundes, überall mit Gold überdeckt, in welcher der goldene Krug war, der. das Manna enthielt, und der Stab Aarons, der gesproßt hatte, und die Tafeln des Bundes" (Hebr. 9, 4). Das waren die Dinge, die die Bundeslade während ihrer Wüstenreise enthielt. der Krug mit Manna, das Denkmal der Treue des HERRN hinsichtlich der Versorgung Seiner Erlösten in der Wüste, und der Stab Aarons, "ein Zeichen für die Widerspensti­gen", damit ihrem Murren ein Ende gemacht werde (vergl. 2. Mose 16, 32‑34 und 4. Mose 17, 10). Aber als die Wanderungen und Kriege Israels aufgehört hatten, als das Haus "überaus groß" (l. Chron. 22, 5) und vollendet war und die Herrlichkeit Israels ebenso wie die Pracht der Regierung Salomos ihren Höhepunkt erreicht hatte, da verschwanden diese Dinge, die das Volk an seine Bedürfnisse und Fehler in der Wüste erinnerten. Da blieb nur das zurück, was die ewige Grundlage des Thrones des Gottes Israels und der ganzen Erde bildete. "Nichts war in der Lade, als nur die beiden steinernen Tafeln, welche Mose am Horeb hineinlegte" (l. Kön. 8, 9).

 

Aber leider wurde diese Herrlichkeit schon bald durch die Untreue des Menschen und das dadurch hervorgerufene Mißfallen Gottes getrübt. Sogar die Ruinen dieser herrlichen Wohnung sollten noch von unbe­schnittenen Heiden zertreten werden, und ihre geschwundene Herrlich­keit sollte nach nicht allzulanger Zeit nur die Verachtung der Vorüber­gehenden wachrufen (1. Kön. 9, 8). Allerdings ist dies jetzt nicht Ge­genstand der Betrachtung, und ich beschränke mich auf einen Hinweis auf die letzte Bemerkung, die wir im Worte Gottes über die Bundeslade finden ‑ eine Bemerkung, die uns in jene Zeit versetzt, in der die Sünde und die Torheit des Menschen die Ruhe dieser Lade nicht mehr stören werden. Sie wird dann nicht mehr in einer aus Decken und Vorhängen bestehenden Hütte und auch nicht mehr in einem mit Händen gemach­ten Tempel eingeschlossen sein. "Und der siebente Engel posaunte; und es geschahen laute Stimmen in dem Himmel, welche sprachen: Das Reich der Welt unseres Herrn und seines Christus ist gekommen, und er wird herrschen von Ewigkeit zu Ewigkeit. Und die vierundzwanzig Ältesten, die vor Gott auf ihren Thronen sitzen, fielen auf ihre Angesichter und beteten Gott an und sprachen: Wir danken dir, Herr, Gott, Allmächtiger, der da ist und der da war, daß du angenommen hast deine große Macht und angetreten deine Herrschaft! Und die Nationen sind zornig ge­wesen, und dein Zorn ist gekommen und die Zeit der Toten, um ge­richtet zu werden, und den Lohn zu geben deinen Knechten, den Pro­pheten, und den Heiligen und denen, die deinen Namen fürchten, den Kleinen und den Großen, und die zu verderben, welche die Erde ver­derben. Und der Tempel Gottes im Himmel wurde geöffnet, und die Lade seines Bundes wurde in seinem Tempel gesehen; und es ge­schahen Blitze und Stimmen und Donner und ein Erdbeben und ein großer Hagel" (Offbg. 11, ‑15‑19).

 

Betrachten wir jetzt den "Sühnmittel. ‑ "Und mache einen Deckel von reinem Golde: zwei und eine halbe Elle seine Länge, und eine und eine halbe Elle seiner Breite. Und mache zwei Cherubim von Gold; in getriebener Arbeit sollst du sie machen an beiden Enden des Deck und mache einen Cherub an dem Ende der einen Seite und einen Cherub an dem Ende der anderen Seite; aus dem Deckel sollt ihr die Cherubim machen an seinen beiden Enden. Und die Cherubim sollen die Flügel nach oben ausbreiten, den Deckel mit ihren Flügeln überdeckend, und ihre Angesichter einander gegenüber; die Angesichter der Cherubim sollen gegen den Deckel gerichtet sein. Und lege den Deckel oben über die Lade; und in die Lade sollst du das Zeugnis legen, das ich dir geben werde. Und daselbst werde ich mit dir zusammenkommen und von dem Deckel herab, zwischen den zwei Cherubim hervor, die auf der Lade des Zeugnisses sind, alles zu dir reden, was ich dir an die Kinder Israel gebieten werde" (V. 17‑22).

 

Der HERR offenbart hier Seine Absicht von dem feurigen Berg herab­zusteigen, um Seinen Platz auf dem Sühnmittel einzunehmen. Er konnte dies tun, weil einerseits die Tafeln des Zeugnisses unversehrt in der Lade bewahrt wurden und dadurch der Heiligkeit Gottes Rech­nung, getragen wurde, andererseits aber auch die Symbole Seiner Macht (sowohl in der Schöpfung als auch in der Vorsehung) als unzertrennliche Begleiter zu beiden Seiten des Thrones standen, auf dem der HERR sich niederlassen wollte. Hier zeigte sich die Herrlichkeit des Gottes Israels in ihrem vollen Glanz. Von hier aus erließ Er Seine Befehle und diese Befehle wurden erträglich, ja sogar angenehm gemacht, weil die Gnade Gottes ihre Quelle war und auch den Weg bereitete, auf dem sie zu den Menschen gelangten. "Seine Gebote sind nicht schwer" (1. Joh. 5, 3), wenn sie von einem "Sühnmittel" her empfangen werden ‑wenn uns bewußt wird, daß allein die Fähigkeit, sie zu hören, schon Gnade ist, und daß nur die Gnade uns Kraft geben kann, zu gehorchen.

 

Die Lade und der Sühnmittel, als ein Ganzes betrachtet, sind ein deutliches Bild von der Person Christi und Seines Werkes. Nachdem Er in Seinem Leben das Gesetz verherrlicht hatte, wurde Er durch Seinen Tod zu einer Sühnung oder zu einem Sühnmittel für jeden Glaubenden (Röm. 3, 25). Gottes Barmherzigkeit konnte nur auf einer Grundlage vollkommener Gerechtigkeit verwirklicht werden. "Die Gnade herrscht durch Gerechtigkeit zu ewigem Leben durch Jesum Christum, unseren Herrn" (Röm. 5, 21). Der einzige Platz, wo Gott und der Mensch zusammentreffen können, ist dort, wo Gnade und Gerechtigkeit sich begegnen und sich in vollkommenem Einklang miteinander befin­den. Nur eine vollkommene Gerechtigkeit kann Gott genügen, und nur eine vollkommene Gnade dem Menschen. Aber wo konnten diese beiden Dinge zusammentreffen? Nur am Kreuz. Dort sind "Güte und Wahr­heit sich begegnet, dort haben "Gerechtigkeit und Friede sich geküßt" (PS. 85, 10), und dort findet jetzt der glaubende Sünder Frieden für seine Seele. Er sieht, daß Gottes Gerechtigkeit und seine eigene Recht­fertigung auf demselben Boden ruhen, nämlich auf dem vollbrachten Werk Christi. Wenn der Mensch unter der mächtigen Wirkung der Wahrheit Gottes den ihm geziemenden Platz als Sünder einnimmt, so kann Gott in der Ausübung der Gnade Seinen Platz als Erretter ein­nehmen, und dann ist jede Frage gelöst. Denn da das Kreuz allen For­derungen der göttlichen Gerechtigkeit genügt hat, kann nun auch Gottes Gnade ungehindert ausströmen. Wenn der gerechte Gott und ein ver­lorener Sünder auf dem Boden der Blutbesprengung zusammentreffen, dann ist alles für immer in Ordnung gebracht, und zwar in einer Weise, die Gott vollkommen verherrlicht und den Sünder für alle Ewigkeit rettet. Gott muß wahrhaftig sein, mag auch jeder Mensch als Lügner erfunden werden, und wenn der Mensch einmal seinen Zustand vor Gott erkennt und den Platz einnimmt, den die Wahrheit Gottes ihm anweist, dann lernt er verstehen, daß Gott sich als ein gerechter Recht­fertiger eines solchen Menschen geoffenbart hat, und dies gibt ihm nicht nur einen unerschütterlichen Frieden des Gewissens, sondern auch die Fähigkeit, mit Gott Gemeinschaft zu haben. Und in der Erkenntnis dieses wunderbaren Verhältnisses, in das die Gnade Gottes ihn ge­bracht hat, kann er auch Seinem heiligen Wort gehorchen.

 

Das "Allerheiligste" gibt uns daher einen Einblick in die Ratschlüsse der Liebe und Weisheit Gottes. Die Lade, der Sühnmittel, die Cherubim, die Herrlichkeit ‑ welch ein Anblick für den Hohenpriester, wenn er einmal des Jahres hineinging innerhalb des Vorhangs!

 

Weiter empfängt Mose Unterweisung über den "Tisch der Schaubrote". Auf diesem Tisch lag die Speise für die Priester Gottes. Sieben Tage lang wurden die zwölf Schaubrote von "Feinmehl mit reinem Weihrauch" vor Gott zur Schau hingelegt, und nachdem sie durch andere ersetzt worden waren, dienten sie den Priestern zur Speise an heiliger Stätte (siehe 3. Mose 24, 5‑9). Es ist offensichtlich, daß diese zwölf Brote den "Menschen Christus Jesus" darstellen. Das Feinmehl, aus dem sie gebacken wurden, kennzeichnet die vollkommene Menschheit des Hei­landes, während in dem reinen Weihrauch zum Ausdruck kommt, wie völlig sich dieser Mensch Gott geweiht hat. Wenn Gott Seine Priester hat, die Ihm im Heiligtum dienen, dann hat Er auch einen wohlge­deckten Tisch für sie. Christus ist der Tisch, und Er ist zugleich das Brot auf dem Tisch. Der reine Tisch und die zwölf Brote zeigen Ihn als den, der beständig und in der ganzen Vortrefflichkeit Seines Menschseins vor Gott steht und der priesterlichen Familie zur Speise dargeboten ist. Die sieben Tage zeigen uns, wie vollkommen das Wohlgefallen Gottes an Christus ist, und die zwölf Brote bringen zum Ausdruck, daß dieser Christus den Menschen als vollkommene Nahrung verordnet ist. Viel­leicht weisen sie auch auf die Verbindung Christ! mit den zwölf Stäm­men Israels und den zwölf Aposteln des Lammes hin.

 

Als nächstes folgt der "Leuchter von reinem Gold", denn die Priester Gottes brauchen nicht nur Nahrung, sondern auch Licht; und beides finden sie in Christus. An diesem Leuchter gab es nichts anderes als reines Gold. Der ganze Leuchter eine getriebene Arbeit, von reinem Golde" (V. 36). Daß es gerade sieben Lampen sind, die vor dem Leuch­ter ihr Licht verbreiten sollten, ist ein Ausdruck der Vollkommenheit des Lichts und der Energie des Geistes, gegründet auf die vollkommene Wirksamkeit des Werkes Christi. Das Werk des Heiligen Geistes darf niemals von dem Werk Christi getrennt werden. Das wird uns im Bilde des goldenen Leuchters auf zweifache Art deutlich gemacht. Die Verbin­dung der sieben Lampen mit dem Schaft aus getriebenem Gold weist uns darauf hin, daß das vollbrachte Werk Christi die einzige Grundlage ist, auf der die Offenbarung des Geistes in der Kirche ruht. Der Heilige Geist wurde nicht gesandt, bevor Jesus verherrlicht war (vergl. Joh. 7, 39 mit Apg. 19, 2‑6). Im dritten Kapitel der Offenbarung wird Christus der Versammlung zu Sardes als derjenige vorgestellt, "der die sieben Geister Gottes hat." Erst nachdem Er zur Rechten Gottes er­höht war, goß der Herr Jesus den Heiligen Geist über die Kirche aus (Apg. 2, 33); und aufgrund dessen ist nun für die Kirche das Heiligtum der angemessene Bereich ihrer Wirksamkeit und Anbetung, wo sie ‑ der Vollkommenheit dieser Stellung gemäß ‑ ihr Licht verbreiten kann.

 

Es war eine der besonderen Aufgaben Aarons, die sieben Lampen anzu­zünden und zuzurichten. "Und der HERR redete zu Mose und sprach: Gebiete den Kindern Israel, daß sie dir reines, zerstoßenes Olivenöl bringen zum Licht, um die Lampen anzuzünden beständig. Außerhalb des Vorhangs des Zeugnisses, im Zelte der Zusammenkunft, soll Aaron sie zurichten, vom Abend bis zum Morgen, vor dem HERRN beständig: eine ewige Satzung bei euren Geschlechtern. Auf dem reinen Leuchter soll er die Lampen beständig vor dem HERRN zurichten" (3. Mose 24, 1‑4). Wir sehen auf diese Weise, wie das Werk des Heiligen Geistes in der Kirche mit dem Werk Christi auf Erden und auch mit Seinem Werk im Himmel verbunden ist. Wenn auch die sieben Lampen vor­handen waren, war doch darüber hinaus der Dienst und die Umsicht des Priesters notwendig, um sie zuzurichten und brennend zu erhalten. Der Priester mußte ständig die Lichtschneuzen und Löschnäpfe gebrauchen, um alles zu entfernen, was die Kanäle des reinen, zerstoßenen Öls verstopfen konnte. Diese Lichtschneuzen und Löschnäpfe waren gleich­falls aus getriebenem Gold. Denn die ganze Sache war das unmittelbare Ergebnis der Wirksamkeit Gottes. Wenn die Kirche ihr Licht leuchten lä.9t, so tut sie es nur durch die Kraft des Geistes, und diese Kraft ist gegründet auf Christus, der nach dem ewigen Ratschluß Gottes in Sei­nem Opfer und Priesterdienst in allen Dingen die Quelle und Kraft für Seine Kirche geworden ist. Alles ist von Gott. Ob wir daher hinter den geheimnisvollen Vorhang schauen und dort die Lade mit ihrem Deckel und ihren zwei Cherubim betrachten, oder ob wir außerhalb des Vor­hangs den reinen Tisch und den reinen Leuchter mit ihren verschiedenen Gefäßen und Geräten sehen ‑ alles redet zu uns von Gott, als geoffen­bart in Verbindung mit dem Sohn oder dem Heiligen Geist.

 

Wenn du an den Herrn Jesus als deinen Erretter glaubst, dann bist du dadurch zugleich mit allen diesen herrlichen Wahrheiten verbunden. Dein Platz ist nicht nur inmitten der "Abbilder der Dinge in den Him­meln" (Hebr. 9, 23), sondern inmitten der "himmlischen Dinge selbst". Du hast "Freimütigkeit ... zum Eintritt in das Heiligtum durch das Blut Jesu" (Hebr. 10, 19). Du bist ein Priester für Gott. Die Schaubrote ge­hören dir. Dein Platz ist an dem reinen Tisch, um im Licht des Heiligen Geistes die priesterliche Speise zu genießen. Nichts kann dir diese gött­lichen Vorrechte rauben. Sie sind dein für immer. Sei daher wachsam gegen alles, was dir ihren Genuß rauben könnte. Hüte dich vor allen Leidenschaften, vor allen unheiligen Gefühlen und Gedanken! Halte deine alte Natur unter deinen Füßen, halte die Welt draußen, halte Satan fern! Möge der Heilige Geist deine ganze Seele mit Christus er­füllen! Dann wirst du praktisch heilig und immer glücklich sein. Du wirst Frucht tragen, der Vater wird verherrlicht werden, und deine Freude wird völlig sein (Joh. 15, 11).

 

Kapitel 26

 

DIE STIFTSHÜTTE

 

Es folgt nun ein lehrreicher Abschnitt, der eine Beschreibung der Teppiche und Decken der Stiftshütte enthält und uns in diesen Bildern verschiedene Züge des Charakters Christi erkennen läßt. "Und die Woh­nung sollst du aus zehn Teppichen machen; von gezwirntem Byssus und blauem und rotem Purpur und Karmesin, mit Cherubim in Kunst­weberarbeit sollst du sie machen" (V. 1). Hier haben wir den Menschen Christus Jesus, von verschiedenen Seiten aus betrachtet. Der gezwirnte Byssus stellt die fleckenlose Reinheit Seines Wandels und Charakters dar, während der blaue und rote Purpur und das Karmesin Ihn uns als den Herrn vom Himmel zeigen. Dieser Herr sollte nach dem Ratschluß Gottes zwar herrschen, aber Sein Königtum sollte das Ergebnis Seiner Leiden sein. Wir sehen hier also einen fleckenlosen, himmlischen, könig­lichen und leidenden Menschen. Die hier genannten Stoffe sollten nicht nur für die Teppiche der Wohnung verwendet werden, sondern auch für den Vorhang (V. 31), für den Vorhang am Eingang des Zeltes (V. 36), für den Vorhang am Tor des Vorhofs (Kap. 27, 16), und für die Dienst­kleider und die heiligen Kleider Aarons (Kap. 39, 1). In allem war Christus und Christus allein.*)

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*) Der Ausdruck "glänzend und rein" in Offbg. ig, 8 gibt dem Bild, das der Heilige Geist uns in den gezwirnten Byssus vor Augen stellt, besondere Kraft und Schönheit. Es könnte in der Tat kein besser geeignetes Sinnbild der reinen und fleckenlosen Menschheit Jesu geben.

 

Der gezwirnte Byssus, als Bild der reinen und fleckenlosen Menschheit Christi, gibt uns Anlaß zu einigen wichtigen Gedanken. Die Tatsache der wahren Menschheit Christi muß mit aller Konsequenz und geist­licher Kraft anerkannt, verteidigt und bekannt werden. Irren wir in diesem Punkt, so irren wir in allem. Sie ist eine Fundamentalwahrheit, und wenn sie nicht in der Weise aufgenommen, bewahrt und bekannt wird, wie Gott sie in Seinem heiligen Wort geoffenbart hat, dann wird das ganze darauf ruhende Gebäude baufällig.

 

Als der Engel der Jungfrau Maria die frohe Botschaft von der Geburt des Heilandes verkündete, fragte sie: "Wie wird dies sein, dieweil ich keinen Mann kenne?" (Luk. 1, 34) Ihr schwaches Verständnis war un­fähig, das wunderbare Geheimnis: "Gott geoffenbart im Fleische" (l. Tim. 3, 16) zu fassen, geschweige denn zu ergründen. Beachten wir die Antwort des Engels an Maria, die zwar unwissend war, aber nicht zweifelte. "Der Heilige Geist wird über dich kommen, und Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum wird auch das Heilige, das geboren werden wird, Sohn Gottes genannt werden" (V. 35). Maria dachte ohne Zweifel, daß diese Geburt nach den gewöhnlichen Grund­sätzen der Natur geschehen sollte. Der Engel aber berichtigt ihren Irr­tum, und indem er das tut, offenbart er eine der größten Wahrheiten. Er erklärte ihr, daß Gott im Begriff war, einen wirklichen Menschen, den zweiten Menschen, den Herrn vorn Himmel (l. Kor. 15, 47), zu bilden ‑ einen Menschen, der von Natur göttlich rein und unfähig war, sich selbst oder andere zu verunreinigen. Dieses heilige Wesen wurde gebildet "in Gleichgestalt des Fleisches der Sünde" (Röm. 8, 3), aber ohne Sünde im Fleische. Er nahm wirklich Fleisch und Blut an, jedoch ohne irgendwie mit dem Bösen in Verbindung zu kommen, das der ganzen Schöpfung anhaftete.

 

Dies ist, wie schon gesagt, eine Wahrheit, die wir unbedingt genau ver­stehen und festhalten müssen. Die Fleischwerdung des Sohnes, der zweiten Person in der ewigen Dreieinheit, Sein geheimnisvoller Eintritt in ein reines und fleckenloses Fleisch, gebildet in einer Jungfrau durch die Kraft des Allerhöchsten ‑ das ist die Grundlage des großen Geheim­nisses der Gottseligkeit (1. Tim. 3, 16), dessen Vollendung der verherr­lichte Mensch im Himmel ist, das Haupt, der Vertreter und das Vorbild der erlösten Kirche Gottes. Die Reinheit des Menschen Jesus entsprach vollkommen den Forderungen Gottes und ebenso den Bedürfnissen des Menschen. Er war ein Mensch; denn nur ein Mensch vermochte dem Verderben des Menschen zu begegnen, aber Er war ein Mensch, der allen Forderungen der Herrlichkeit Gottes genügen konnte. Er war ein wahrhaftiger Mensch, aber rein und fleckenlos, ein Mensch, in dem Gott Seine vollkommene Wonne finden und auf den sich der Mensch vorbehaltlos stützen konnte.

 

Es wird kaum nötig sein, daran zu erinnern, daß alles dieses nutzlos für uns wäre, sobald man es von dem Tod und der Auferstehung tren­nen wollte. Wir brauchen nicht nur einen menschgewordenen, sondern auch einen gekreuzigten und auferstandenen Christus. Allerdings mußte Er ein Mensch sein, um gekreuzigt werden zu können, aber nur Sein Tod und Seine Auferstehung machen Seine Fleischwerdung wirksam für uns. Die Annahme, daß Christus schon durch Seine Fleischwerdung den sündigen Menschen mit sich vereinigt habe, ist nichts als eine schreckliche Irrlehre. Das war unmöglich. Er selbst lehrt gerade das Gegenteil. "Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht" (Joh. 12, 24). Es konnte keine Vereinigung geben zwischen sündigen, dem Tod verfallenen Menschen und dem sündlosen Menschen Jesus, über den der Tod keine Macht besaß, so daß Er Sein Leben lassen und es wiedernehmen konnte (vergl. Joh. 10, 18; 14, 30). Der Tod, den Er freiwillig erduldete, ist die einzige Grundlage der Ein­heit zwischen Christus und Seinen erwählten Gliedern. Wir sind "mit ihm einsgemacht worden in der Gleichheit seines Todes". Unser alter Mensch ist mitgekreuzigt worden, "auf daß der Leib der Sünde abgetan sei" (Röm. 6, 5. 6). "In welchem ihr auch beschnitten worden seid mit einer nicht mit Händen geschehenen Beschneidung, in dem Ausziehen des Leibes des Fleisches, in der Beschneidung des Christus, mit ihm begraben in der Taufe, in welcher ihr auch mitauferweckt worden seid durch den Glauben an die wirksame Kraft Gottes, der ihn aus den Toten auferweckt hat" (Kol. 2, 11. 12). In den beiden hier angeführten Kapi­teln finden wir eine ausführliche Darstellung der Wahrheit zu diesem wichtigen Thema. Nur als gestorben und auferstanden konnten Chri­stus und die Seinigen "eins" werden (vergl. auch Eph. 1, 2o bis 2, 8). Das wahre Weizenkorn mußte in die Erde fallen und sterben, bevor es Frucht für den Himmel hervorbringen konnte.

 

So klar wie diese Wahrheit in der Heiligen Schrift ans Licht gestellt ist, ebenso klar ist es auch, daß die Grundlage für das Erlösungswerk die Tatsache ist, daß der Sohn Gottes als sündloser Mensch auf die Erde kam; und die Teppiche von gezwirntem Byssus stellten die Reinheit dieses Menschen Christus Jesus bildlich dar. Wir haben gesehen, wie Er empfangen und geboren wurde (Luk. 1, 26‑38), und wenn wir den ganzen Lauf Seines Lebens verfolgen, begegnen wir immer und überall in Ihm derselben fleckenlosen Reinheit. Er wurde vierzig Tage lang in der Wüste vom Teufel versucht, aber in Seiner reinen Natur gab es nichts, was den listigen Vorschlägen des Versuchers entsprochen hätte. Er konnte einen Aussätzigen oder die Bahre eines Toten anrühren, ohne selbst verunreinigt oder mit dem Geruch des Todes behaftet zu werden. Er lebte in einer Welt tiefsten Verderbens und blieb doch ohne Sünde (Hebr. 4, 15) ‑ ebenso wie ein Sonnenstrahl, der aus der Quelle des Lichts hervorkommt und durch das schmutzigste Fenster dringen kann, ohne selbst verunreinigt zu werden. Er war ganz und gar einzigartig in bezug auf Seine Natur und Seinen Charakter. Keiner außer Ihm hat je sagen können: "Du wirst nicht zugeben, daß dein Frommer die Verwesung sehe" (Ps. 16, 10). Diese Aussage bezieht sich auf Sein Leben als Mensch, das so vollkommen heilig und rein war, daß Er aufgrund dessen fähig war, die Sünde anderer zu tragen. "Wel­cher selbst unsere Sünden an seinem Leibe auf dem Holze getragen hat" (l. Petr. 2, 24). Am Kreuz war Christus der Träger unserer Sünden, und nur dort. "Den, der Sünde nicht kannte, hat er für uns zur Sünde ge­macht, auf daß wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm" (2. Kor. 5, 21).

 

Blau ist die Farbe des Himmels. Der "blaue Purpur" deutet daher an, daß Christus, obwohl Er wirklich Mensch war und, die Sünde ausge­nommen, alle Bedingungen des menschlichen Lebens kannte, dennoch stets der Herr vom Himmel (i. Kor. 15, 47) blieb. Obwohl Er ein wahrer Mensch war, lebte Er doch in dem ununterbrochenen Bewußtsein Seiner Würde als ein Fremdling vom Himmel. Nicht einen Augenblick vergaß Er, woher Er gekommen war, wo Er sich befand und wohin Er ging. Die Quelle Seiner Freude war im Himmel. Die Erde konnte Ihn weder reicher noch ärmer machen. Sie war für Ihn ein dürres Land ohne Wasser, und deshalb konnte Seine Seele nur im Himmel Erquickung finden. "Niemand ist hinaufgestiegen in den Himmel, als nur der aus dem Himmel herabgestiegen ist, der Sohn des Menschen, der im Him­mel ist" (Joh. 3, 13).

 

Der "rote Purpur" ist das Zeichen der Königswürde und zeigt uns Ihn als den König der Juden. Als solcher hat Er sich dem jüdischen Volk dargestellt und wurde Er verworfen (Joh. 19, 3); auch vor Pilatus nannte Er sich selbst einen König, als man äußerlich nicht eine Spur königlicher Würde an Ihm zu entdecken vermochte. "Du sagst es, daß ich ein König bin" (Joh. 18, 37). "Und ihr werdet den Sohn des Menschen sitzen sehen zur Rechten der Macht und kommen mit den Wolken des Him­mels" (Mark. 14, 62; vgl. Dan. 7, 13). Die Überschrift auf dem Kreuz endlich in hebräischen, griechischen und römischen Buchstaben, d. h. in der Sprache der Religion, der Wissenschaft und der Regierung, ver­kündigte der ganzen Welt, daß "Jesus, der Nazaräer, der König der Juden" sei. Die Erde leugnete zu ihrem Unglück Seine Rechte, aber nicht der Himmel. Hier wurden die Rechte Christi völlig anerkannt. Hier, in den ewigen Wohnungen des Lichts, wurde Er als Sieger empfangen, und, gekrönt mit Herrlichkeit und Ehre, hat Er sich unter dem Jubel himm­lischer Heerscharen auf den Thron der Majestät in der Höhe gesetzt, fortan wartend, bis Seine Feinde zum Schemel Seiner Füße gelegt sind (vgl. Ps. 2; 110, 1).

 

"Karmesin" oder "Scharlach", die Farbe des Blutes, weist auf Christus hin, der "für uns im Fleische gelitten hat" (‑1. Petr. 4, 1). Ohne den Tod wäre alles nutzlos gewesen. Wir mögen den "blauen und roten Purpur" mit Bewunderung betrachten, aber ohne den "Scharlach" hätte in der Stiftshütte einer der wichtigsten Aspekte gefehlt. Nur durch den Tod zerstörte Christus den, der die Macht des Todes hatte. Niemals hätte der Heilige Geist uns mit der Stiftshütte ein so treffendes Bild von Christus vor Augen stellen und dabei einen so wichtigen Gedanken übergehen können; denn der Tod Christi ist die Voraussetzung für Seine Vereinigung mit Seinem Leibe, der Kirche, und die Grundlage Seines Anspruchs auf den Thron Davids und auf Seine Herrschaft über die ganze Schöpfung. So zeigt uns der Heilige Geist symbolisch in den Teppichen der Stiftshütte den Herrn Jesus nicht nur als den sündlosen und königlichen Menschen, sondern auch als den Leidenden, der durch den Tod Seine Ansprüche auf alles das geltend machte, wozu Er nach den Ratschlüssen Gottes als Mensch berechtigt war.

 

Die Teppiche der Stiftshütte sind aber nicht nur der Ausdruck der Voll­kommenheit der Wesenszüge Christi, sondern sie stellen auch die Einheit und Beständigkeit dieser Wesenszüge da. jeder Zug wird in seiner eigenen Vollkommenheit entfaltet; keiner wird durch den anderen beeinträchtigt. Alles war in vollkommenem Einklang vor den Augen Gottes und wurde so dargestellt in dem Muster, das Mose auf dem Berg gezeigt wurde (Kap. 25, 40; Hebr. 8, 5; Apg. 7, 44), sowie in der Nachbildung dieses Musters in der Wüste. "Ein Maß für alle Teppiche. Fünf Teppiche sollen zusammengefügt werden, einer an den anderen, und wieder fünf Teppiche zusammenge­fügt, einer an den anderen" (V. 2. 3). Wir erkennen hierin das richtige Verhältnis und die Übereinstimmung in allen Wegen Christi. In wel­chen Umständen oder in welchem Verhältnis wir Ihn auch betrachten, Er wandelte stets als ein vollkommener Mensch auf dieser Erde. Wenn in Seinem Handeln irgendeiner dieser Wesenszüge zum Ausdruck kam, geschah es niemals auf Kosten der göttlichen Vollkommenheit des anderen. Er war zu jeder Zeit, an jedem Ort und in allen Umständen der vollkommene Mensch. In allen Seinen Wegen gab es nichts, was dieser vollkommenen Ausgewogenheit nicht entsprochen hätte. Es gab nur "Ein Maß für alle Teppiche".

 

Die Zusammenfügung von zweimal je fünf Teppichen versinnbildlicht vielleicht die beiden Seiten des Charakters Christi, nämlich Sein Handeln Gott und den Menschen gegenüber. Wir finden dieselben beiden Seiten im Gesetz: das, was sich Gott gegenüber geziemt, und das, was man den Menschen schuldig ist. In Christus ist alles vollkommen. Blicken wir in Sein Inneres, so entdecken wir: "Dein Gesetz ist im Innern meines Herzens" (Ps. 40, 8); betrachten wir Seinen äußeren Charakter und Wandel, finden wir beide Elemente vollkommen und untrennbar mitein­ander verbunden durch die in Ihm wohnende himmlische Gnade und göttliche Kraft.

 

"Und mache Schleifen von blauem Purpur an den Saum des einen Tep­pichs am Ende, bei der Zusammenfügung; und also sollst du es ma­chen an dem Saume des äußersten Teppichs bei der anderen Zusammen­fügung ... Und mache fünfzig Klammern von Gold, und füge die Teppiche mit den Klammern zusammen, einen an den anderen, so daß die Wohnung ein Ganzes sei" (V. 4‑6). In den "Schleifen von blauem Purpur" und "Klammern von Gold" finden wir eine Darstellung der himmlischen Gnade und göttlichen Kraft in Christus, die Ihn befähig­ten, die Forderungen Gottes und des Menschen zu verbinden und in Einklang zu bringen; beiden entsprach Er völlig, ohne daß für einen Augenblick die Einheit Seines Charakters beeinträchtigt wurde. Wenn listige und heuchlerische Menschen Ihn durch die Frage versuchten "Ist es erlaubt, dem Kaiser Steuer zu geben, oder nicht?", so lautete Seine weise Antwort: "Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist"( Matth. 22, 17. 21). Und so entsprach Er nicht nur allen Pflichten gegenüber dem Kaiser, sondern auch gegenüber den Menschen in jeder Hinsicht. So wie Er in Seiner vollkommenen Person die Natur Gottes und des Menschen vereinigte, so begegnete Er auch in Seinen voll­kommenen Wegen den Anforderungen Gottes und des Menschen.

 

Die Teppiche, mit denen wir uns bisher beschäftigten, wurden von anderen "Teppichen aus Ziegenhaar" überdeckt (V. 7‑14). Die Schön­heit der inneren Teppiche wurde durch die Rauheit und Strenge der äußeren verborgen. Im Innern sah man die Decke aus Ziegenhaar nicht. Alle, die das Vorrecht hatten, in das Innere des Heiligtums einzutreten, erblickten nur den blauen und roten Purpur, das Karmesin und den gezwirnten Byssus, diese verschiedenen und dennoch vereinigten Bilder der Herrlichkeiten jener göttlichen Hütte, in der Gott innerhalb des Vor­hangs wohnte, d. h. der Person Christi, durch dessen Fleisch hindurch Seine göttliche Natur in so angenehmer Weise sichtbar wurde, daß der Sünder sie anschauen konnte, ohne durch ihren Glanz geblendet zu werden.

 

Als der Herr Jesus diese Welt durchschritt, wie wenige erkannten Ihn da wirklich! Wie wenige hatten erleuchtete Augen, um das tiefe Ge­heimnis Seines Charakters durchdringen und schätzen zu können! Wie wenige erblickten den blauen und roten Purpur, das Karmesin und den gezwirnten Byssus! Nur wenn der Glaube einen Menschen in Seine Gegenwart brachte, ließ Er Seine Herrlichkeit hervorstrahlen. Dem na­türlichen Auge erschien Er von einer Zurückhaltung und Strenge zu sein, die in den "Teppichen von Ziegenhaar" treffend vorgebildet wur­den. Dieser Eindruck war die Folge Seiner gänzlichen Absonderung und Zurückhaltung, nicht etwa von den Sündern persönlich, sondern von den Gedanken und Grundsätzen der Menschen. Er hatte mit dem Men­schen als solchem nichts gemein. Auch war der Mensch von Natur aus gar nicht in der Lage, Ihn zu verstehen oder sich Seiner zu erfreuen.

 

"Niemand", sagte Er, "kann zu mir kommen, es sei denn, daß der Vater, der mich gesandt hat, ihn ziehe" (Joh. 6, 44). Und wenn einer von denen, die gezogen wurden, Seinen Namen bekannte, so erklärte Er: "Fleisch und Blut haben es dir nicht geoffenbart, sondern mein Vater, der in den Himmeln ist" (Matth. 16, 17). Er war wie ein "Wur­zelsproß aus dürrem Erdreich", der "keine Gestalt und keine Pracht" hatte (Jes. 53, 2), um das Auge des Menschen auf sich zu ziehen oder sein Herz zu befriedigen. Die Volksgunst war nicht auf Seiner Seite, während Er diese eitle Welt durchschritt, in eine "Decke von Ziegen­haar" gehüllt. Jesus war kein volkstümlicher Mann. Die Menge mochte Ihm für einen Augenblick folgen, weil sie durch Seinen Dienst mit "Broten und Fischen" versorgt wurde, aber sie war ebenso bereit, zu schreien: "Hinweg, hinweg! Kreuzige Ihn!" (Joh. ig, 15) wie: "Ho­sanna dem Sohne Davids!" (Matth. 21, 9). Wie wichtig ist es, daß die Christen, die Diener Christi und alle Prediger des Evangeliums diese Dinge im Bewußtsein behalten!

 

Wenn nun aber die Ziegenfelle die Strenge der Absonderung Christi von der Welt andeuteten, so stellten die "rotgefärbten Widderfelle" (V. 14) Seine gänzliche Weihung und Hingabe für Gott dar, worin Er bis zum Tode ausharrte. Er war der einzige vollkommene Diener, der sich je in dem Weinberg Gottes befand. Er kannte nur ein Ziel, das Er von der Krippe bis zum Kreuz ohne Unterbrechung verfolgte, und dieses Ziel war die Verherrlichung des Vaters und die Vollendung des Werkes, das Er Ihm aufgetragen hatte. Schon als Kind sagte Er: "Wußtet ihr nicht, daß ich in dem sein muß, was meines Vaters ist?" (Luk. 2, 49). Seine Speise war, den Willen dessen zu tun, der Ihn ge­sandt hatte, und Sein Werk zu erfüllen (Joh. 4, 34). Die "rotgefärbten Widderfelle" kennzeichneten, wenn wir so sagen dürfen, ebenso deut­lich Sein Verhalten wie die "Teppiche von Ziegenhaar". Seine vollkom­mene Hingabe an Gott trennte Ihn von den Gewohnheiten der Men­schen.

 

Die "Dachsfelle" (V. 14) scheinen mir die Wachsamkeit zu bezeichnen, mit der der Herr Jesus jede Annäherung des Feindes beobachtete, der Ihn von der Verwirklichung Seines Lebensziels abbringen wollte. Er nahm Seine Stellung für Gott ein und behauptete sie mit einer Beharr­lichkeit, die durch keine Einflüsse der Menschen oder der Teufel, der Erde oder der Hölle überwältigt werden konnte. Die Dachsfelldecke hing über der Decke von Widderfellen, und daraus erkennen wir, daß der hervorragendste Zug im Charakter des Menschen Christus Jesus der unerschütterliche Entschluß war, ein Zeuge für Gott auf Erden zu sein. Er war der wahre Naboth, der eher Sein Leben hingab, als daß Er die Wahrheit Gottes verleugnete oder das aufgab, wofür Er in diese Welt gekommen war.

 

Die Ziege, der Widder und der Dachs müssen als Symbole gewisser na­türlicher Züge, aber auch moralischer Eigenschaften betrachtet werden; und es ist nötig, bei der Anwendung dieser Bilder auf den Charakter Jesu beiden Seiten Rechnung zu tragen. Die Menschen vermochten nur die natürlichen Züge zu erkennen und entdeckten nichts von der inneren Gnade, Schönheit und Würde, die hinter der äußeren Erscheinung des verachteten und demütigen Jesus von Nazareth verborgen waren. Wenn Er in Seinen Reden Seine himmlische Weisheit zu erkennen gab, so fragte man: "Ist dieser nicht der Zimmermann?" (Mark. 6, 3) oder: "Wie besitzt dieser Gelehrsamkeit, da er doch nicht gelernt hat?" (Joh. 7, 15). Und wenn Er Seine ewige Sohnschaft und Gottheit behauptete, so hieß es: "Du bist noch nicht fünfzig Jahre alt!" oder "sie hoben Steine auf, damit sie auf ihn würfen" (Joh. 8, 57. 59). Mit einem Wort, das Bekenntnis der Pharisäer: „von diesem wissen wir nicht, woher er ist" (Joh. 9, 29) traf auch auf die Menschen im allgemeinen zu.

 

Es ist im Rahmen dieses Buches nicht möglich, die Offenbarung der Charakterzüge Jesu in den Evangelien weiter zu verfolgen. Das bereits Gesagte möge hier genügen, um den Leser zu weiterem Nachdenken anzuregen und ihm eine schwache Vorstellung von dem Reichtum zu geben, der in den Teppichen und Vorhängen der Stiftshütte enthalten ist. Das verborgene Wesen Christ!, Seine inneren Beweggründe und Seine Vollkommenheit, Seine äußere, den Menschen nicht anziehende Gestalt, das, was Er in sich selbst, was Er für Gott und für die Men­schen war, was der natürliche Mensch und was der Glaube von Ihm hielt ‑ alles das wird dem Auge, das zu sehen vermag, in den Teppi­chen von blauem und rotem Purpur, Karmesin und gezwirnten Byssus, sowie in den Decken von Fellen in lieblicher und doch eindringlicher Weise gezeigt.

 

Die Bretter zu der Wohnung" (V. 15) bestanden aus demselben Holz, aus dem die Bundeslade gemacht war, und ruhten außerdem auf Füßen, die ebenso wie ihre "Haken und Köpfe" aus Silber verfertigt waren, das von Sühnung sprach (vgl. sorgfältig Kap. 30, 11‑16 mit Kap. 38, 25‑28). Das ganze Zimmerwerk der Stiftshütte ruhte also auf einem Material, das von Sühnung und Lösegeld redete, während die "Haken und Köpfe" denselben Gedanken fortsetzten. Die Füge standen in dem Sand der Wüste, die Haken und Köpfe waren oben. Ob wir also in die Tiefe oder in die Höhe sehen ‑ überall begegnen wir der ewigen und herrlichen Wahrheit: "Ich habe eine Sühnung gefunden" (Hiob 33, 24). Gott sei gepriesen! wir sind erlöst, "nicht mit verweslichen Dingen, mit Silber oder Gold ... sondern mit dem kostbaren Blute Christi, als eines Lammes ohne Fehl und ohne Flecken" (l. Petr. 1, 18. 19).

 

Die Stiftshütte war in drei verschiedene Teile gegliedert, nämlich in das "Allerheiligste", das "Heilige" und den "Vorhof". Der Eingang zu jedem dieser Teile bestand aus denselben Stoffen: aus "blauem und rotem Purpur und Karmesin und gezwirntem Byssus" (vgl. Kap. 26, 31. 36 mit Kap. 27, 16). Die Erklärung dieser Einrichtung ist einfach: Christus ist die einzige Tür, durch die man eintreten kann in die verschiedenen Bereiche der Herrlichkeit, die auf der Erde, im Himmel oder in den Himmeln der Himmel noch geoffenbart werden soll. "jede Familie in den Himmeln und auf Erden" (Eph. 3, 15) wird unter die Autorität Christi gestellt werden, und Menschen aus allen Geschlechtern der Erde werden aufgrund Seines vollbrachten Versöhnungswerkes in ewige Glückseligkeit und Herrlichkeit eingehen. Das ist klar und kann leicht verstanden werden. Wenn wir die Wahrheit kennen, dann ist ihre bild­liche Darstellung leicht zu erfassen. Wenn nur unsere Herzen mit Chri­stus erfüllt sind, werden wir bei der Erklärung der Stiftshütte und ihrer Geräte nicht so leicht auf Irrwege geraten. Weder vieles Wissen noch ein scharfer, kritischer Verstand sind hier in erster Linie von Nutzen, sondern ein mit Liebe zu Christus erfülltes Herz und ein Gewissen, das in dem Blut des Kreuzes Frieden gefunden hat.

 

Kapitel 27

 

DER VORHOF UND DER EHERNE ALTAR

 

Wir kommen nun zum Ende dieses Abschnittes (Kap. 25, 1 bis 27, 19), in dem die Einrichtung und Anordnung des Heiligtums beschrieben wird. Wenn man die Reihenfolge der Darstellung, die der Heilige Geist in diesem Abschnitt gewählt hat, vergleicht mit Kap. 35, '15, Kap. 37, 25 und Kap. 40, 26, so findet man, daß in allen diesen Stellen der goldene Räucheraltar zwischen dem Leuchter und dem ehernen Altar erwähnt wird, während hier der eherne Altar unmittelbar nach dem Leuchter und den Teppichen kommt. Da es nun eine Ursache für diese Verschiedenheit geben muß, so ist es für jeden denkenden Leser des Wortes gewiß der Mühe wert, nach dieser Ursache zu forschen.

 

Warum also läßt Gott, wenn Er Seine Anweisungen über die Geräte des Heiligtums gibt, den Räucheraltar zunächst außer Betracht und geht unmittelbar zu dem ehernen Altar über, der vor der Tür der Wohnung stand? Die Ursache ist nach meiner Meinung folgende: Er beschreibt zu­nächst die Weise, in der Er sich dem Menschen offenbaren wollte, und dann belehrt Er uns über die Weise, in der der Mensch Ihm nahen soll. Er nahm als "Herr der ganzen Erde" (los. 3, 11) Seinen Platz ein auf dem Thron im Allerheiligsten. Seine Herrlichkeit war hinter dem Vor­hang, dem Bild des Fleisches Christi (Hebr. 10, 20), verborgen, aber schon der Tisch mit den Schaubroten kündigte die Offenbarung Seiner selbst an, in Verbindung mit dem Menschen und durch das Licht und die Kraft des Heiligen Geistes, bildlich dargestellt in dem goldenen Leuchter. Dann folgt, vorgebildet in den Vorhängen und Teppichen, der geoffenbarte Charakter Christi, der als Mensch auf die Erde kommen sollte. Und schließlich erblicken wir in dem ehernen Altar sinnbildlich den Platz, wo der heilige Gott und der sündige Mensch sich begegnen konnten. Wir haben auf diese Weise sozusagen den äußersten Punkt erreicht, von dem aus wir uns, in Begleitung Aarons und seiner Söhne, zum Heiligtum zurückwenden, wo der goldene Räucheraltar stand, und wo sie als Priester ihren alltäglichen Platz hatten. Diese Reihenfolge ist beachtenswert. Von dem goldenen Altar ist nicht eher die Rede, als bis ein Priester da ist, um den Weihrauch auf ihm anzuzünden, denn der HERR zeigte Mose die Abbilder der Dinge in den Himmeln in der Reihenfolge, in der sie durch den Glauben erfaßt werden sollen. Wenn aber Mose der Gemeinde Anweisungen erteilt (Kap. 35), wenn er die Arbeiten des "Bezaleel" und des "Oholiab" (Kap. 37 und 38) bezeichnet, oder wenn er die Wohnung aufrichtet (Kap. 40), so folgt er einfach der Ordnung, in der die Geräte wirklich aufgestellt wurden.

 

Betrachten wir jetzt den ehernen Altar etwas näher. Dieser Altar war der Platz, wo der Sünder in der Kraft und Wirkung des Blutes der Ver­söhnung Gott nahte. Er stand "an dem Eingang der Wohnung des Zeltes der Zusammenkunft", und auf ihm wurde alles Blut der Opfer vergossen. Er bestand aus Akazienholz und Erz. Das Holz war also das gleiche wie bei dem goldenen Räucheraltar, das Metall aber war verschieden. Die Ursache dieser Verschiedenheit ist einleuchtend. Der eherne Altar war der Ort, wo die Frage der Sünde behandelt wurde, und zwar nach dem Urteil, das Gott über sie fällte. Der goldene Räu­cheraltar hingegen war der Ort, wo der Wohlgeruch der Vortrefflichkeit Christi zum Thron Gottes emporstieg. Das "Akazienholz", als das Bild der Menschheit Christi, mußte in jedem Fall gleich sein. Aber in dem ehernen Altar erblicken wir Christus, wie Er dem Feuer der göttlichen Gerechtigkeit begegnet, während in dem goldenen Altar das vollkom­mene Wohlgefallen Gottes an Ihm zum Ausdruck kommt. Auf dem einen wurde das Feuer des Zornes Gottes ausgelöscht, auf dem anderen das Feuer des priesterlichen Gottesdienstes angezündet. Zwar kann der Gläubige in dem einen wie in dem anderen Christus sehen, aber der eherne Altar entspricht den Bedürfnissen eines schuldigen Gewissens, und das ist es, was ein kraftloser, überführter Sünder zu allererst nötig hat. Man kann keinen beständigen Frieden des Gewissens haben, so­lange man nicht im Glauben auf Christus, als dem Gegenbild des ehernen Altars, ruht. Ich muß meine Sünde durch das Feuer des Gerichts zu Asche verbrannt sehen, bevor ich wahre Ruhe des Gewissens in der Gegenwart Gottes genießen kann. Wenn ich durch den Glauben an das Zeugnis Gottes weiß, daß Gott selbst meine Sünde in der Person Christi, dem ehernen Altar, gerichtet, daß Er selbst allen Seinen gerechten For­derungen Genüge geleistet, und daß Er meine Sünde aus Seiner heiligen Gegenwart für immer entfernt hat, erst dann, und nur dann kann ich mich eines göttlichen und ewigen Friedens erfreuen.

 

Es mag an dieser Stelle noch ein Hinweis auf die Bedeutung des Goldes und des Erzes an den Geräten der Wohnung von Nutzen sein. "Gold" ist das Symbol der göttlichen Gerechtigkeit oder der göttlichen Natur in dein Menschen Christus Jesus. "Erz" ist das Symbol der Gerechtigkeit, die das Gericht über die Sünde fordert, wie in dem ehernen Altar, und das Gericht über die Unreinigkeit, wie in dem ehernen Becken (Kap. 30, 18). Deshalb mußte im Inneren der Wohnung alles von Gold sein: die Lade, der Sühnmittel, der Tisch, der Leuchter und der Räucher­altar. Alle diese Dinge waren ausnahmslos Bilder der göttlichen Natur, der inneren persönlichen Vollkommenheit des Herrn Jesus. Anderseits war außerhalb des Zeltes der Wohnung alles von Erz: der Altar und seine Geräte, das Becken und sein Gestell. Die Forderungen der Ge­rechtigkeit Gottes in bezug auf Sünde und Ungerechtigkeit müssen er­füllt sein, bevor die Geheimnisse der Person Christi, wie sie im Innern des Heiligtums Gottes entfaltet sind, irgendwie genossen werden kön­nen. Erst dann, wenn ich jede Sünde vollkommen gerichtet und abge­waschen sehe, kann ich als Priester ins Heiligtum eintreten und dort anbeten ‑ angesichts der Offenbarung der Schönheit und Vollkom­menheit des Menschen Christus Jesus, der zugleich der Sohn Gottes ist.

 

Es wird für den Leser von Nutzen sein, diesen Gedanken nicht nur bei der Betrachtung der Stiftshütte und des Tempels, sondern auch in ver­schiedenen Stellen des Wortes weiter zu verfolgen. So z. B. sehen wir Christus im ersten Kapitel der Offenbarung "an der Brust umgürtet mit einem goldenen Gürtel" und "seine Füße gleich glänzendem Kupfer, als glühten sie im Ofen". Der goldene Gürtel ist das Symbol Seiner persönlichen Gerechtigkeit, während die "Füße gleich glänzendem Kup­fer" auf die göttliche Gerechtigkeit in ihrem unerbittlichen Gericht über das Böse hinweisen. Gott kann das Böse nicht dulden, Er muß es mit Seinen Füßen zertreten.

 

Das ist der Christus, mit dem wir es zu tun haben. Er richtet die Sünde, aber Er rettet den Sünder. Der Glaube sieht auf dem ehernen Altar die Sünde zu Asche verbrannt; er sieht in dem ehernen Becken alle Unrei­nigkeit hinweggewaschen, und endlich genießt er durch das Licht und die Macht des Heiligen Geistes Christus, so wie Er geoffenbart ist, in der geheimnisvollen Stille der Gegenwart Gottes. Er findet Ihn in dem goldenen Altar in dem ganzen Wert Seiner Fürsprache. Er nährt sich von Ihm an dem goldenen Tisch. Er erkennt in der Lade und in dem Sühnmittel den, der alle Forderungen des gerechten Gottes befriedigt und zugleich allen Bedürfnissen des Menschen entsprochen hat. Er sieht Ihn in den Teppichen und Vorhängen mit ihren geheimnisvollen Bildern. Er liest überall Seinen wunderbaren Namen. 0 möchten wir Herzen haben, um einen so unvergleichlichen, herrlichen Christus zu preisen und zu würdigen!

 

Es ist außerordentlich wichtig, über die bildliche Bedeutung des ehernen Altars und über die Lehre, die der Heilige Geist uns in ihm gibt, ein klares Verständnis zu haben. Der Mangel an Klarheit in dieser Sache ist der Grund dafür, daß so viele Kinder Gottes ihres Lebens nicht froh werden. Die Frage ihrer Schuld ist für sie niemals völlig in Ordnung gebracht worden. Sie haben noch nie durch den Glauben wirklich er­kannt, daß Gott selbst diese Frage auf dem Kreuz für immer geordnet hat. Sie suchen Frieden für ihr beunruhigtes Gewissen in den Beweisen ihrer Wiedergeburt, in den Früchten des Geistes, in ihren Neigungen, Gefühlen und Erfahrungen ‑ kurz, in Dingen, die an und für sich sehr schätzenswert sind, die aber nie die Grundlage des Friedens bilden kön­nen. Nur die Erkenntnis dessen, was Gott an dem ehernen Altar getan hat, kann der Seele vollkommenen Frieden geben. Die Asche auf dem Altar verkündigt mir die glückselige Botschaft, daß alles vollbracht ist. Die Sünden des Gläubigen sind alle durch Gott selbst in Seiner erlösen­den Liebe ausgelöscht worden. "Den, der Sünde nicht kannte, hat er für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm" (2. Kor. 5, 21). Jede Sünde muß gerichtet werden, aber die Sünden des Gläubigen sind bereits auf dem Kreuz gerichtet worden. Deshalb steht er vollkommen gerechtfertigt da. Die Annahme, daß noch irgend­etwas gegen den schwächsten Gläubigen sein könnte, wäre eine Ver­leugnung des ganzen Werkes am Kreuz. Der Tod des fleckenlosen Lammes hat alle Sünden und Vergehungen des Gläubigen für immer hinweggetan.

 

Kapitel 28 und 29

 

DAS PRIESTERTUM

 

Diese beiden Kapitel stellen uns ein neues interessantes Thema vor Augen: den Dienst und den Wert des Priestertums.

 

Mit dem Priestertum Aarons hatte Gott Vorsorge für das Volk getrof­fen, das in sich selbst fern von Ihm stand und jemanden brauchte, der seinetwegen beständig in der Gegenwart Gottes erschien. In Hebr. 7 werden wir belehrt, daß diese Ordnung des Priestertums mit dem "Gesetz eines fleischlichen Gebots" (V. 16) in Verbindung stand, daß es viele solcher Priester gab, weil "sie durch den Tod verhindert waren zu bleiben" (V. 23), und daß diese Priester selbst Schwachheiten hatten (V. 28). Dieses Priestertum konnte daher nicht zur Vollkommenheit füh­ren, und wir haben deshalb Ursache, Gott zu danken, daß es "ohne Eidschwur" (V. 20) eingeführt worden ist. Der Eidschwur Gottes konnte nur mit einer Sache in Verbindung stehen, die für immer bleiben sollte: mit dem vollkommenen, unvergänglichen, unübertragbaren Priestertum unseres großen und herrlichen Melchisedek, der sowohl Seinem Opfer als auch Seinem Priestertum den ganzen Wert, die ganze Würde und Herrlichkeit Seiner unvergleichlichen Person verleiht. Dieser Gedanke, daß wir ein solches Opfer und einen solchen Hohenpriester haben, muß in unseren Herzen tiefe Dankbarkeit wachrufen.

 

In Kapitel 28 ist von Kleidern und in Kapitel 29 von Opfern die Rede. Die ersteren stehen mehr mit den Bedürfnissen des Volkes, die letzte­ren mit den Ansprüchen Gottes in Verbindung. Die Kleider weisen auf die Aufgaben und besonderen Merkmale des priesterlichen Dienstes hin. Das "Ephod" war das Hauptstück der priesterlichen Bekleidung. Es war mit den beiden Schulterstücken und dem Brustschild untrennbar ver­bunden. Dies lehrt uns deutlich, daß die Stärke der Schulter des Priesters und die Zuneigung seines Herzens ganz und gar den Interessen derer gewidmet waren, die er vertrat und derentwegen er das Ephod trug. Und was hier in Aaron bildlich dargestellt wird, ist in Christus verwirklicht. Seine Allmacht und Seine unendliche Liebe sind unser ewiges, un­bestreitbares Teil. Die Schulter, die das ganze Weltall trägt, hält auch das schwächste und unwissendste Glied der mit Blut erkauften Gemeinde aufrecht. Das Herz Jesu schlägt mit unveränderlicher Zuneigung und mit ewiger, unermüdlicher Liebe für das am wenigsten geachtete Glied der erlösten Gemeinde. Welch ein unendlich tröstlicher Gedanke für jeden von uns!

 

Die Namen der zwölf Stämme wurden, eingegraben in kostbare Steine, sowohl auf den Schultern als auch auf der Brust des Hohenpriesters ge­tragen (siehe V. 9‑12, 15‑29). Der Glanz eines Edelsteines tritt um so stärker hervor, je heller das Licht ist, das auf ihn fällt. Die zwölf Stämme, die kleinsten wie die größten, wurden beständig auf der Brust und den Schultern Aarons vor dem Herrn getragen. In der Gegenwart Gottes wurde jeder einzelne Stamm in dem ungetrübten Glanz und der unwandelbaren Schönheit erhalten, die der Stellung geziemten, in die die vollkommene Gnade des Gottes Israels ihn versetzt hatte. Das Volk wurde durch den Hohenpriester vor Gott vertreten. Was auch immer die Schwachheiten, die Irrtümer oder Fehler der Kinder Israel sein mochten, ihre Namen glänzten allezeit auf dem Brustschild in unvergänglichem Glanz. Der HERR hatte ihnen diesen Platz angewiesen. Wer hätte sie von dort vertreiben können? Wer hätte in das Heiligtum dringen kön­nen, um den Namen eines der Stämme Israels von der Brust Aarons zu entfernen? Wer hätte den Glanz beeinträchtigen können, der diese Namen da, wo Gott sie hingesetzt hatte, umgab? Kein Feind konnte sie dort angreifen, nichts Böses sie beeinflussen.

 

Wie ermutigend und tröstlich ist für die geprüften, versuchten, umher­geworfenen und oft so schwachen Kinder Gottes der Gedanke, daß Gott sie nur auf dem Herzen Jesu sieht! Vor Seinen Augen erscheinen sie beständig in der Vortrefflichkeit Christi. Die Welt kann sie natürlich so nicht sehen, aber Gott sieht sie so, und darin liegt der ganze Unter­schied. Wenn die Menschen die Kinder Gottes betrachten, dann sehen sie ihre Mängel und Schwachheiten. Sie sind unfähig, weiter zu sehen, und darum ist ihr Urteil immer einseitig und damit falsch. Sie können die kostbaren Steine nicht sehen, in die Gott in Seiner unveränderlichen Liebe die Namen der Erlösten eingegraben hat. Allerdings müssen die Christen äußerst wachsam sein, um der Welt keinen gerechten Anlaß

 

zum Tadeln zu geben, sie sollten versuchen, "durch Gutestun die Unwissenheit der unverständigen Menschen zum Schweigen" zu bringen (l. Petr. 2, 15). Würden sie nur durch die Kraft des Heiligen Geistes die wunderbare Stellung erfassen, in der sie ununterbrochen vor den Augen Gottes stehen, dann würden sie sicher auch vor den Augen der Menschen ein Leben in praktischer Heiligkeit, moralischer Reinheit und Erhabenheit führen. Je mehr wir durch den Glauben die Wahrheit und unsere Stellung in Christus erkennen, um so intensiver wird unsere praktische Lebensführung sein, und um so stärker wird unser Charak­ter davon geprägt werden.

 

Aber, Gott sei Dank! wir haben es nicht mit dem Urteil der Menschen, sondern mit dem Urteil Gottes zu tun, und in Seiner Barmherzigkeit zeigt Er uns unseren großen Hohenpriester, der beständig unser Gericht vor Gott auf seinem Herzen trägt (V. 30). Das verleiht uns einen tiefen, dauernden Frieden, der durch nichts erschüttert werden kann. Unsere Mängel und Versäumnisse mögen uns beständig vor Augen sein und wir mögen darüber manchmal so betrübt sein, daß wir kaum den Glanz der kostbaren Steine erkennen, in die unsere Namen eingegraben sind. Aber trotzdem sind sie da; Gott sieht sie, und das ist genug. Er wird verherrlicht durch ihren Glanz, der allerdings nicht von uns herrührt, sondern von Gott selbst geschenkt ist. In uns war nichts als Finsternis, Unreinigkeit und Häßlichkeit. Gott hat uns Licht, Glanz und Schönheit gegeben und Ihm allein gebührt Dank und Lob in Ewigkeit!

 

Der "Gürtel" ist das bekannte Symbol des Dienens, und Christus ist der vollkommene Diener geworden, indem Er die Ratschlüsse der Liebe Gottes und ebenso die tiefen und vielfältigen Bedürfnisse Seines Volkes erfüllt hat. In völliger Ergebenheit, die durch nichts beeinträchtigt wer­den konnte, hat Er sich für Sein Werk gegürtet, und wenn der Gläubige den Sohn Gottes so gegürtet sieht, dann erkennt er, daß für Ihn keine Schwierigkeit zu groß sein kann. Außerdem sehen wir in diesem Bilde, daß alle Tugenden und Herrlichkeiten Christi, die Er als Gott und als Mensch hat, voll und ganz auch in Seinem Charakter als Diener zum Ausdruck kommen. "Und der gewirkte Gürtel, womit es angebunden wird, der darüber ist, soll von gleicher Arbeit mit ihm sein, von glei­chem Stoffe: von Gold, blauem und rotem Purpur und Karmesin und gezwirntem Byssus" (V. 8). Das muß allen unseren Bedürfnissen und Wünschen genügen. Nicht nur erblicken wir Christus als das geschlach­tete Opfer an dem ehernen Altar, sondern auch als den gegürteten Hohenpriester über das Haus Gottes. Der Apostel mag daher wohl sagen: "Laßt uns hinzutreten" ‑ "laßt uns festhalten" ‑ laßt uns auf einander acht haben" (Hebr. 10, 19‑24)!

 

„Und lege in das Brustschild des Gerichts die Urim und die Thummim, daß sie auf dem Herzen Aarons seien, wenn er vor dem HERRN hin­eingeht; und Aaron soll das Gericht der Kinder Israel auf seinem Herzen tragen vor dem HERRN beständig (V. 30). Aus verschiedenen Stellen des Wortes Gottes wissen wir, daß die Urim bei der Erkundung der Gedanken Gottes über verschiedene Probleme, die sich im Laufe der Geschichte Israels ergaben, eine wichtige Rolle spielten. So lesen wir z. B. bei der Ernennung Josuas zum Führer des Volkes die Worte: "Und er soll vor Eleasar, den Priester, treten, und der soll für ihn das Urteil der Urim vor dem HERRN befragen" (4. Mose 27, 21). Auch sprach Mose zu Levi: "Deine Thummim und deine Urim (deine Vollkommen­heiten und deine Lichter), sind für deinen Frommen ... Sie werden Ja­kob lehren deine Rechte, und Israel dein Gesetz" (5. Mose 33, 8‑10). "Und Saul befragte den HERRN; aber der HERR antwortete ihm nicht, weder durch Träume, noch durch die Urim, noch durch die Propheten" (1. Sam. 28, 6). "Und der Tirsatha sprach zu ihnen, daß sie von dem Hochheiligen nicht essen dürften, bis ein Priester für die Urim und die Thummim aufstände" (Esra 2, 63). Wir finden also, daß der Hohe­priester nicht nur das Gericht der Versammlung vor dem HERRN trug, sondern daß er auch das Urteil des HERRN der Versammlung mitteilte. Das war ein sehr wichtiger und feierlicher Dienst. Alles das aber be­sitzen wir in göttlicher Vollkommenheit in unserem "großen Hohen­priester .... der durch die Himmel gegangen ist" (Hebr. 4, 14). Er trägt das Gericht Seines Volkes beständig auf Seinem Herzen, und Er teilt uns durch den Heiligen Geist die Gedanken Gottes über die kleinsten Fragen unseres täglichen Lebens mit. Wir sind nicht auf Träume oder Gesichte angewiesen; wenn wir uns nur durch den Geist Gottes leiten lassen, dann wird unser großer Hoherpriester uns die gleiche praktische Gewißheit geben, die Er den Israeliten durch die Urim gab.

 

"Und mache das Oberkleid des Ephods ganz von blauem Purpur ... Und an seinen Saum mache Granatäpfel von blauem und rotem Purpur und Karmesin, an seinen Saum ringsum, und Schellen von Gold zwi­schen ihnen ringsum: eine Schelle von Gold und einen Granatapfel, eine Schelle von Gold und einen Granatapfel an den Saum des Ober­kleides ringsum. Und Aaron soll es anhaben, um den Dienst zu ver­richten, daß sein Klang gehört werde, wenn er ins Heiligtum hineingeht vor dem HERRN, und wenn er hinausgeht, daß er nicht sterbe­(V. 31‑35). Das blaue Oberkleid ist das Sinnbild des ganz und gar himmlischen Charakters unseres großen Hohenpriesters. Er ist in die Himmel eingegangen und für Menschen nicht wahrnehmbar. Aber durch die Kraft des Heiligen Geistes gibt es ein göttliches Zeugnis von dieser Tatsache, daß Er in der Gegenwart Gottes lebt ‑ und nicht nur ein Zeugnis, sondern auch Frucht: "eine Schelle von Gold und ein Granat­apfel, eine Schelle von Gold und ein Granatapfel". Das ist eine wunder­bare Ordnung: ein treues Zeugnis für die große Wahrheit, daß Jesus allezeit lebt um sich für uns zu verwenden, wird immer auch mit Fruchtbarkeit in Seinem Dienst verbunden sein.

 

"Und mache ein Blech von reinem Golde und stich darauf mit Siegel­stecherei: Heiligkeit dem HERRN! Und tue es an eine Schnur von blauem Purpur; und es soll an dem Kopfbunde sein, an der Vorderseite des Kopfbundes soll es sein. Und es soll auf der Stirn Aarons sein, und Aaron soll die Ungerechtigkeit der heiligen Dinge tragen, welche die Kinder Israel heiligen werden, bei allen Gaben ihrer heiligen Dinge; und es soll beständig an seiner Stirn sein, zum Wohlgefallen für sie vor dem HERRN" (V. 36‑38). Hier haben wir einen weiteren wichtigen Ge­danken. Das goldene Blech an der Stirn Aarons war ein Bild der Heilig­keit des Herrn Jesus. "Es soll beständig an seiner Stirn sein, zum Wohl­gefallen für sie vor dem HERRN". Welch eine Ruhe gibt das dem Her­zen mitten in all der Unbeständigkeit unserer eigenen Erfahrung! Unser großer Hoherpriester ist "beständig" in der Gegenwart Gottes für uns. Wir werden durch Ihn vertreten und sind in Ihm angenehm ge­macht. Seine Heiligkeit ist die unsrige. je klarer wir unsere persönliche Unreinigkeit und Schwachheit erkennen, je gründlicher wir die demüti­gende Erfahrung machen, daß in uns nichts Gutes wohnt, um so mehr werden wir mit Anbetung erfüllt und den Gott aller Gnade für die tröstende Wahrheit preisen, die in den Worten enthalten ist: "Es soll beständig an seiner Stirn sein, zum Wohlgefallen für sie vor dem HERRN".

 

Manche Gläubige sind so sehr mit ihren eigenen Fehlern, mit ihrer Gleichgültigkeit und Unzufriedenheit beschäftigt, daß sie durch Zweifel und ständige Schwankungen in ihrem geistlichen Zustand beunruhigt werden. Sollte einer der Leser zu diesen Gläubigen gehören, so möge er immer an die wunderbare Wahrheit denken, daß sein großer Hoher­priester ihn vor dem Thron Gottes vertritt.

 

„Und den Söhnen Aarons sollst du Leibröcke machen und sollst ihnen Gürtel machen, und hohe Mützen sollst du ihnen machen zur Herrlich­keit und zum Schmuck ... Und mache ihnen Beinkleider von Linnen, um das Fleisch der Blöße zu bedecken ... Und Aaron und seine Söhne sollen sie anhaben, wenn sie in das Zelt der Zusammenkunft hineingehen, oder wenn sie dem Altar nahen' um den Dienst im Heiligtum zu verrichten, daß sie nicht eine Ungerechtigkeit tragen und sterben" (V. 40. 42. 43). Hier sehen wir in Aaron und seinen Söhnen Christus und die Kirche ‑bekleidet mit derselben göttlichen und ewigen Gerechtigkeit. Die Prie­sterkleider Aarons sind der Ausdruck der persönlichen und ewigen Eigenschaften Christi, während die Leibröcke und Mützen der Söhne Aarons die erhabene Stellung andeuten, in die die Kirche aufgrund ihrer Verbindung mit dem Haupt der priesterlichen Familie versetzt ist.

 

So sehen wir in allen Einzelheiten dieses Kapitels, mit welcher Sorgfalt Gott den Bedürfnissen Seiner Erlösten entgegenkommt. Er stellt ihnen Christus als den Hohenpriester vor Augen, der bereit war, vor Gott für sie einzutreten ‑ und zwar entsprechend ihrem wirklichen Zustand in den Augen Gottes, wie er in den verschiedenen Gewändern zum Aus­druck kommt. Das Volk konnte den Hohenpriester von Kopf bis Fuß betrachten und sich überzeugen, ob alles dem auf dem Berge ge­zeigten Muster entsprach; und dann konnte es sicher sein, daß sowohl den eigenen Bedürfnissen, als auch den Ansprüchen Gottes völlig genügt wurde.

 

Es mag hier noch ein anderer Gesichtspunkt erwähnt werden, der zwar erst in Kapitel 39 näher entwickelt wird, der aber doch bei der Betrach­tung der Priesterkleidung bedeutsam ist: die Verwendung des Goldes bei der Anfertigung der Gewänder Aarons. "Und sie plätteten Gold­bleche, und man zerschnitt sie zu Fäden, zum Verarbeiten unter den blauen und unter den roten Purpur und unter den Karmesin und unter den Byssus, in Kunstweberarbeit" (Kap. 39, 3). Wir haben gesehen, daß der blaue und rote Purpur, das Karmesin und der gezwirnte Byssus die verschiedenen Seiten der Menschheit Christi darstellen, während das Gold Seine göttliche Natur andeutet. Die Fäden von Gold wurden so kunstvoll unter die übrigen Stoffe gewirkt, daß sie untrennbar mit ihnen verbunden, aber doch nach wie vor völlig verschieden von ihnen waren. Dieses Bild wirft wieder ein neues Licht auf den Charakter des Herrn Jesus. Bei verschiedenen Begebenheiten, von denen die Evangelisten berichten, tritt uns diese wunderbare Verbindung der Menschheit und Gottheit Christi und zugleich ihre geheimnisvolle Verschiedenheit entgegen.

 

Betrachten wir z. B. Christus auf dem See Genezareth. Mitten im Sturm war Er auf einem Kopfkissen eingeschlafen (Mark. 4, 38). Daran er­kennen wir, daß Er als Mensch allen menschlichen Bedürfnissen unter­worfen war. Aber einen Augenblick später offenbart Er sich als der unumschränkte Beherrscher des Weltalls, indem Er den Wind und den See beruhigt. Da ist keine Anstrengung, kein Hasten, keine Vorberei­tung bei Ihm zu bemerken. Sein Ruhen als Mensch ist nicht natürlicher als Seine Tätigkeit als Gott. Beides offenbart Er in vollkommener Weise.

 

Oder betrachten wir Ihn in Matth. 17, wo die Einnehmer der Tempel­steuer sich mit der Frage an Petrus wenden: "Zahlt euer Lehrer nicht die Doppeldrachmen?" Als Gott der Höchste, der Himmel und Erde be­sitzt (l. Mose 14, 22), beansprucht Er die Schätze des Ozeans als Sein Eigentum (Ps. 50, 12; 24, 1; Hiob 41, 2); und nachdem Er bewiesen hat, daß das Meer Sein ist, und daß Er es gemacht hat (Ps. 95, 5), wen­det Er sich um und zeigt wiederum Seine vollkommene Menschheit, indem Er sich mit Seinem armen Diener verbindet: "Den nimm und gib ihnen für mich und dich" (Matth. 17, 27). Gnadenreiche Worte ‑ be­sonders, wenn man sie in Verbindung mit dem Wunder betrachtet, das in so eindrucksvoller Weise die Gottheit dessen offenbarte, der sich so tief zu einem armen, schwachen Menschen herabließ. Werfen wir ferner einen Blick auf unseren Herrn am Grab des Lazarus (Joh. 11). Er seufzt und weint, und diese Seufzer und Tränen sind der Ausdruck eines voll­kommenen menschlichen Herzens, das wie kein anderes diese Erde als eine Wüste empfand, in der die Sünde so schreckliche Früchte hervor­gebracht hatte. Dann aber ruft Er als der Allmächtige, der "die Schlüssel des Todes und des Hades" hat (Offbg. 1, 18), und der selbst die Auf­erstehung und das Leben ist: "Lazarus, komm heraus!" Und der Tod muß diese Autorität anerkennen und seinen Gefangenen herausgeben (Joh. 11, 43).

 

Der Leser wird sich ohne Mühe noch an andere Beispiele aus den Evan­gelien erinnern, in denen diese Verbindung der goldenen Fäden mit dem blauen und roten Purpur, dem Karmesin und dem gezwirnten Byssus, d. h. die Verbindung der Gottheit mit der Menschheit in der ge­heimnisvollen Person des Sohnes Gottes hervortritt. Dieser Gedanke ist nicht neu und ist schon mehrfach von einsichtsvollen Erforschern der Schriften des Alten Testaments hervorgehoben worden. Es ist aber von Nutzen, sich dieser Tatsache immer wieder bewußt zu werden, daß der Herr Jesus wahrhaftiger Gott und wahrhaftiger Mensch war. Der Heilige Geist hat "in Kunstweberarbeit" die Gottheit und Menschheit miteinan­der vereinigt und sie dem erneuerten Geist des Gläubigen vorgestellt.

 

Werfen wir jetzt, bevor wir diesen Abschnitt verlassen, noch einen Blick auf Kapitel 29. Wir haben bereits gesehen, daß Aaron und seine Söhne Christus und die Kirche darstellen; aber in den ersten Versen dieses Kapitels erhält Aaron den Vorrang. "Und Aaron und seine Söhne sollst du herzunahen lassen an den Eingang des Zeltes der Zusammenkunft und sie mit Wasser waschen" (V. 4). Die Waschung mit Wasser be­wirkte, daß Aaron im Bilde das wurde, was Christus in sich selbst ist, nämlich heilig. Die Kirche ist heilig durch ihre Verbindung mit Christus in dem Auferstehungsleben. Christus ist der vollständige Ausdruck des­sen, was die Kirche in den Augen Gottes ist. Das Waschen mit Wasser stellt die Wirkung des Wortes Gottes dar (siehe Eph. 5, 26).

 

"Und nimm das Salböl und gieße es auf sein Haupt und salbe ihn" (V. 7). Hier haben wir ein Bild des Heiligen Geistes. Aber wir müssen beachten, daß Aaron gesalbt wurde, bevor das Blut vergossen war, weil er hier als ein Bild von Christus vor uns steht, der aufgrund dessen, was Er in sich selbst war, durch den Heiligen Geist gesalbt wurde, lange bevor das Werk des Kreuzes vollbracht war. Bei den Söhnen Aarons hingegen fand die Salbung erst statt, nachdem das Blut geflossen war. .Und du sollst den Widder schlachten und von seinem Blute nehmen und es tun auf das rechte Ohrläppchen Aarons und auf das rechte Ohr­läppchen seiner Söhne und auf den Daumen ihrer rechten Hand und auf die große Zehe ihres rechten Fußes; und du sollst das Blut an den Altar sprengen ringsum.*) Und nimm von dem Blut, das auf dem Altar ist, und von dem Salböl, und sprenge es auf Aaron und auf seine Kleider, und auf seine Söhne und auf die Kleider seiner Söhne mit ihm; und er wird heilig sein und seine Kleider, und seine Söhne und die Kleider seiner Söhne mit ihm" (V. 20. 21). In bezug auf die Kirche ist das Blut des Kreuzes die Grundlage von allem. Sie konnte nicht mit dem Heiligen Geist gesalbt werden, bevor ihr auferstandenes Haupt in den Himmel

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*) Das Ohr, die Hand und der Fuß werden Gott geweiht, nachdem die Versöhnung vollbracht ist; dies kann nur in der Kraft des Heiligen Geistes ge­schehen (= Salböl).

 

aufgenommen war und auf dem Thron Gottes das Zeugnis des durch Ihn vollbrachten Opfers niedergelegt hatte. "Diesen Jesus hat Gott auf­erweckt, wovon wir alle Zeugen sind. Nachdem er nun durch die Rechte Gottes erhöht worden ist und die Verheißung des Heiligen Geistes vorn Vater empfangen hat, hat er dieses ausgegossen, was ihr sehet und höret" (Apg. 2, 32. 33; vgl. Joh. 7, 39; Apg. 19, 1‑6). Von den Tagen Abels an bis jetzt hat es Seelen gegeben, die durch den Heiligen Geist erneuert waren, in denen Er wirkte und die Er zum Dienst befähigte; aber die Kirche konnte nicht eher mit dem Heiligen Geist gesalbt werden, bis ihr siegreicher Herr in den Himmel eingegangen war und für sie die Verheißung des Vaters empfangen hatte. Diese Lehre ist im ganzen Neuen Testament deutlich erkennbar, und ihre Unverletzlichkeit wird in dem alttestamentlichen Bild durch die Tatsache hervorgehoben, daß Aaron zwar vor der Blutvergießung gesalbt wurde (V. 7), seine Söhne aber erst gesalbt werden konnten, nach dem das Blut geflossen war (V. 21).

 

Aber die hier in der Salbung beobachtete Ordnung zeigt uns nicht nur die Wahrheit über das Werk des Geistes und die Stellung der Kirche. Auch der persönliche Vorrang des Sohnes wird uns hier vor Augen ge­stellt. "Gerechtigkeit hast du geliebt und Gesetzlosigkeit gehaßt: darum hat Gott, dein Gott, dich gesalbt mit Freudenöl, mehr als deine Genos­sen" (Ps. 45, 7; Hebr. 1, 9). Diesen Gedanken müssen wir festhalten. Freilich hat sich die unendliche Gnade Gottes darin geoffenbart, daß schuldige und verdammungswürdige Sünder gewürdigt werden, "Ge­nossen" des Sohnes Gottes zu heißen; aber vergessen wir nie den Aus­druck. "mehr als deine Genossen". Wie innig unsere Verbindung mit Christus auch sein mag, ‑ und sie ist so innig, wie die ewigen Rat­schlüsse Gottes sie zu machen vermochten, ‑ so muß Er doch "in allen Dingen den Vorrang" haben (Kol. 1, 18). Es kann unmöglich anders sein. Er ist das Haupt über alles, das Haupt der Kirche, das Haupt der Schöpfung, das Haupt der Engel, der Herr des Weltalls. Es gibt keinen einzigen Himmelskörper, der Ihm nicht gehörte und dessen Bewegun­gen Er nicht leitete. Kein einziger Wurm kriecht durch die Erde, den Er nicht im Auge behielte. Er ist "Gott über alles" (Röm. 9, 5), „der Erstgeborene aus den Toten" (Kol. ‑1, 18; Offbg. 1, 5). "der Erstgebore­ne aller Schöpfung" (Kol. 1, 15), "der Anfang der Schöpfung Gottes ' (Offbg. 3, 14). "jede Familie in den Himmeln und auf Erden" (Eph. 3, 15) muß sich Ihm unterordnen. jeder geistlich gesinnte Christ wird diese Wahrheit dankbar anerkennen. Wer durch den Heiligen Geist geleitet wird, freut sich über jede neue Entfaltung der Herrlichkeiten Christi und kann nicht dulden, daß sie durch irgendetwas beeinträchtigt werden. Mag die Kirche auch zur höchsten Herrlichkeit erhoben werden, sie wird sich immer mit Freuden vor Dem niederbeugen, der sich herab­ließ, um sich für sie zu opfern, damit Er sie zu sich selbst erheben konnte. Er hat nicht nur dem Anspruch der Gerechtigkeit Gottes ent­sprochen, sondern auch der Liebe Gottes, indem Er der Kirche an Seiner eigenen Herrlichkeit Anteil gegeben und sie unzertrennlich mit sich ver­bunden hat. Er schämt sich nicht, sie Brüder zu nennen.

 

Ich gehe absichtlich nicht näher auf die Opfer in Kapitel 29 ein, weil uns diese im einzelnen bei der Betrachtung des 3. Buches Mose beschäfti­gen werden, wenn der Herr Gnade dazu schenkt.

 

Kapital 30

 

DIE GERÄTE DES HEILIGTUMS

 

Nachdem in den beiden vorhergehenden Kapiteln das Priestertum ein­gesetzt worden ist, werden wir hier mit dem wahren priesterlichen Gottesdienst und mit wahrer Gemeinschaft bekannt gemacht. Dabei ist die Reihenfolge beachtenswert; sie stimmt mit der praktischen Erfahrung des Gläubigen überein. Am ehernen Altar sieht der Gläubige seine Sün­den in Asche verwandelt, dann erkennt er, wie er mit Christus verbun­den worden ist, der in sich selbst so rein und fleckenlos war, daß Er ohne Blut gesalbt werden konnte; und schließlich erblickt er in dem goldenen Altar die Vortrefflichkeit Christi, in der Gott für alle Ewigkeit Sein vollkommenes Wohlgefallen findet.

 

So ist es immer. Es muß ein eherner Altar und ein Priester vorhanden sein, bevor es einen goldenen Altar und Weihrauch geben kann. Viele Kinder Gottes sind nie über den ehernen Altar hinausgekommen. Sie haben noch nie durch den Geist die Kraft und Wirklichkeit eines wahren priesterlichen Gottesdienstes erfahren. Sie haben kein klares Bewußtsein der Vergebung und Rechtfertigung. Sie haben niemals den goldenen Altar erreicht. Sie hoffen ihn einmal zu erreichen, wenn sie sterben, während es doch ihr Vorrecht ist, schon jetzt dort zu stehen. Das Werk des Kreuzes hat alles aus dem Weg geräumt, was einen freien und ein­sichtsvollen Gottesdienst verhindern konnte. Die gegenwärtige Stellung aller wahren Gläubigen ist an dem goldenen Räucheraltar. Dort erfahren wir die Wirklichkeit und die Wirksamkeit der Fürbitte Christi. Nachdem unser eigenes Ich in dem Tod Christi für immer ein Ende gefunden hat und wir deshalb nichts Gutes mehr von uns selbst erwarten, sind wir berufen, uns mit dem erhöhten Christus zu beschäftigen, so wie Gott Ihn sieht. Das eigene Ich wirkt nur verunreinigend, sobald es sich offen­bart. Es ist daher im Gericht Gottes verurteilt und beiseitegesetzt worden, und nicht ein Stäubchen davon ist in dem geläuterten Weihrauch und in dem Feuer auf dem Altar von reinem Gold zurückgeblieben. Das Blut Jesu hat uns die Tür ins Heiligtum geöffnet und uns zu der Stätte priesterlichen Dienstes und priesterlicher Anbetung gebracht, wo keine Spur von Sünde mehr zu entdecken ist. Dort sehen wir den reinen Tisch, den reinen Leuchter und den reinen Altar, dort gibt es nichts, was uns an das Ich und sein Verderben erinnern könnte. Wenn noch irgendetwas von unserem Ich dort vorhanden wäre, so würde das unserer Anbetung den Todesstoß geben, unsere priesterliche Speise verderben und unser Licht verdunkeln. Die alte Natur kann keinen Platz im Heiligtum Gottes haben. Sie ist mit allem, was zu ihr gehört, zu Asche verbrannt worden, und jetzt sind wir berufen, das zu Gott emporsteigende, duftende Räu­cherwerk, d. h. Christus zu genießen. Das ist es, woran Gott Wohlge­fallen findet. Alles, was die Herrlichkeit der Person Christi darstellt, ist lieblich und angenehm vor Gott. Selbst die schwächste Darstellung Christi im Leben oder in der Anbetung eines Heiligen ist ein duftender Wohlgeruch, Gott angenehm und wohlgefällig.

 

Nur zu oft haben wir uns leider mit unseren Mängeln und Schwächen zu beschäftigen. Haben wir irgendwie der in uns wohnenden Sünde ge­stattet, sich zu offenbaren, so müssen wir dies vor Gott bekennen, denn Er kann Sünde nicht dulden. Er kann sie vergeben und uns von ihr reinigen, Er kann unsere Seelen wiederherstellen durch den Dienst unseres großen und barmherzigen Hohenpriesters, aber Er kann nicht mit einem einzigen sündhaften Gedanken in Gemeinschaft sein. Ein leichtfertiger und törichter Gedanke genügt ebenso wie ein böser Wunsch oder ein unreiner Gedanke, um unsere Gemeinschaft zu unter­brechen und unsere Anbetung zu stören. Sobald ein solcher Gedanke in uns aufsteigt, muß er bekannt und verurteilt werden, denn es ist unmöglich, die Gemeinschaft mit Gott im Heiligtum zu genießen und gleichzeitig irgendwelchen bösen Gedanken nachzugehen. Wenn wir uns in dem geziemenden priesterlichen Zustand befinden, so ist es, als ob die alte Natur nicht mehr bestehe, und dann können wir das göttliche Glück erfahren, von uns selbst befreit und nur mit Christus erfüllt zu sein.

 

Alles das kann nur durch die Macht des Geistes hervorgebracht werden. Die äußeren Mittel einer menschlichen Religion können wohl andächtige Gefühle erzeugen, sie kommen aber aus dem Fleisch. Es muß reines Feuer und reiner Weihrauch vorhanden sein. jede Anstrengung, Gott mit den unheiligen Kräften der menschlichen Natur anzubeten, gehört zu dem Begriff des "fremden Feuers" (vgl. 3. Mose 10, 1 mit 3. Mose 16,‑12). Gott ist der Gegenstand, Christus die Grundlage und der Inhalt, und der Heilige Geist die Kraft der Anbetung.

 

Wie wir denn, genau gesprochen, in dem ehernen Altar Christus in dem Wert Seines Opfers erblicken, so sehen wir in dem goldenen Altar den Wert Seiner Fürbitte. Diese Tatsache macht auch verständlich, warum der priesterliche Dienst gleichsam zwischen den Altären steht. Es be­steht natürlich eine enge Verbindung zwischen diesen Altären, denn die Fürbitte Christi ist auf Sein Opfer gegründet. "Und Aaron soll einmal im Jahre für dessen Hörner Sühnung tun mit dem Blute des Sündopfers der Versöhnung; einmal im Jahr soll er Sühnung für ihn tun bei euren Geschlechtern: hochheilig ist er dem HERRN" (V. 10). Alles ruht auf der unbeweglichen Grundlage des vergossenen Blutes. "Und fast alle Dinge werden mit Blut gereinigt nach dem Gesetz, und ohne Blutver­gießung ist keine Vergebung. Es war nun nötig, daß die Abbilder der Dinge in den Himmeln hierdurch gereinigt wurden, die himmlischen Dinge selbst aber durch bessere Schlachtopfer als diese. Denn der Chri­stus ist nicht eingegangen in das mit Händen gemachte Heiligtum, ein Gegenbild des wahrhaftigen, sondern in den Himmel selbst, um jetzt vor dem Angesicht Gottes für uns zu erscheinen" (Hebr. 9, 22‑24).

 

In den Versen 11‑16 ist von dem Sühngeld für die Versammlung die Rede. jeder Israelit hatte die Hälfte eines Sekels zu bezahlen. "Der Reiche soll nicht mehr geben, und der Arme nicht weniger als die Hälfte eines Sekels, wenn ihr das Hebopfer des HERRN gebet, um Sühnung zu tun für eure Seelen". Wenn es um Versöhnung geht, stehen alle auf demselben Boden. In dem Maß der Erkenntnis, der Erfahrung, der Fähigkeiten, des Eifers und der Hingabe mag es große Unterschiede geben; aber die Grundlage der Versöhnung ist für alle dieselbe. Der große Apostel der Heiden und das schwächste Lamm der Herde Christi stehen hinsichtlich der Versöhnung auf dem gleichen Boden. Das ist ein sehr einfacher, aber auch ein beruhigender Gedanke. Es ist nicht bei allen die gleiche Treue und die gleiche Frucht ihrer Arbeit für den Herrn, aber allein das "kostbare Blut Christi" (l. Petr. 1, 19) und nichts ande­res kann die Grundlage für die ewige Ruhe des Gläubigen sein. je mehr wir in die Wahrheit und Kraft dieser Dinge eindringen, um so mehr Früchte werden wir tragen.

 

Im letzten Kapitel des 3. Buches Mose finden wir eine andere Wertung. Wenn jemand ein besonderes Gelübde tat (3. Mose 27, 2), so schätzte Mose ihn nach seinem Alter. Mit anderen Worten, wenn jemand sich irgendeine Fähigkeit zutraute, so schätzte ihn Mose, als der Vertreter der Forderungen Gottes, nach dem "Sekel des Heiligtums". War ein solcher aber "ärmer" als Mose ihn schätzte, so mußte er vor den Prie­ster als den Vertreter der Gnade Gottes gestellt werden (V. 8), der ihn schätzte nach dem Maße dessen, "was die Hand des Gelobenden auf­bringen" konnte.

 

Wir wissen ‑ Gott sei Dank! ‑ daß allen Seinen Forderungen Rechnung getragen ist und daß alle unsere Gelübde durch Christus erfüllt worden sind, der sowohl der Vertreter der Rechte Gottes als auch der Ausdruck Seiner Gnade war. Die Erkenntnis dieser Dinge gibt uns Ruhe für Herz und Gewissen. Die Versöhnung ist die erste Sache, die wir erfassen, und nie dürfen wir sie aus den Augen verlieren. Wie tief auch unser Ver­ständnis, wie reich unsere Erfahrung und wie groß unsere Hingabe sein mag ‑ wir müssen doch immer wieder zu der einfachen und unveränder­lichen Lehre von dem Blut zurückkehren. Die begabtesten und einsichts­vollsten Diener Christi haben sich immer wieder mit Verlangen dieser Quelle der Freude zugewandt, aus der sie zum ersten Mal den Durst ihrer Seele stillten, als sie ihren Herrn kennenlernten. ja, selbst der ewige Gesang der Kirche in der Herrlichkeit wird Dem ertönen, „der uns liebt und uns von unseren Sünden gewaschen hat in seinem Blut" (Offbg. 1, 5).

 

In den Versen 17‑21 finden wir das "Becken von Erz und sein Gestell von Erz" oder das Waschgefäß mit seinem Fuß. Becken und Gestell werden immer zusammen genannt (siehe Kap. 30, 28; 38, 8; 40, 11). In diesem Becken wuschen die Priester ihre Hände und Füße und be­wahrten so die Reinheit, die zur Ausübung ihres Dienstes erforderlich war; eine erneute Anwendung des Blutes war dazu auf keinen Fall nötig. "Wenn sie in das Zelt der Zusammenkunft hineingehen, sollen sie sich mit Wasser waschen, daß sie nicht sterben, oder wenn sie dem Altar nahen zum Dienst, um dem HERRN ein Feueropfer zu räuchern. Und sie sollen ihre Hände und ihre Füße waschen, daß sie nicht sterben" (V. 20. 21).

 

Von einer wahren Gemeinschaft mit Gott kann nur dann die Rede sein, wenn die persönliche Heiligkeit mit Sorgfalt aufrecht erhalten wird.

 

"Wenn wir sagen, daß wir Gemeinschaft mit ihm haben, und wandeln in der Finsternis, so lügen wir und tun nicht die Wahrheit (1. Joh. 1, 6). Diese persönliche Heiligkeit kann nur die Wirkung des Wortes Gottes auf unsere Worte und Handlungen sein. "Durch das Wort deiner Lippen habe ich mich bewahrt vor den Wegen des Gewalttätigen (Ps. 17, 4). Unsere Unvollkommenheit in der Ausübung unseres priesterli­chen Dienstes hat darin ihren Grund, daß wir den Gebrauch des eher­nen Waschbeckens" vernachlässigen. Wenn wir uns der reinigenden Wirkung des Wortes Gottes nicht unterwerfen, wenn wir fortfahren, ein Ziel zu verfolgen oder eine Sache zu tun, die nach dem Zeugnis unse­res eigenen Gewissens nicht mit dem Worte Gottes im Einklang steht, so wird unser priesterlicher Charakter immer kraftloser. Wissentliches Verharren im Bösen und wahre priesterliche Anbetung sind unvereinbar.

 

"Heilige sie durch die Wahrheit: dein Wort ist Wahrheit,' (Joh. 17, 17). Solange irgendeine Unreinigkeit an uns ist, können wir uns unmöglich der Gegenwart Gottes erfreuen. Gerade die Gegenwart Gottes würde uns nämlich überführen. Aber wenn wir unsere Wege der Heiligkeit Gottes gemäß gereinigt haben, dann sind wir auch imstande, Seine Ge­genwart zu genießen. Wie notwendig ist es doch, daß alle Gläubigen, die ‑ bildlich gesprochen ‑ in priesterlichen Kleidern das Heiligtum betreten und in Anbetung dem Altar Gottes nahen, ihre Hände und Füße rein erhalten durch den Gebrauch des wahren ehernen Beckens!

 

Mit der durchdringenden und reinigenden Wirkung des Wortes Gottes ist der priesterliche Dienst Christi eng verbunden. "Denn das Wort Gottes ist lebendig und wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert, und durchdringend bis zur Scheidung von Seele und Geist, so­wohl der Gelenke als auch des Markes, und ein Beurteiler der Gedanken und Gesinnungen des Herzens; und kein Geschöpf ist vor ihm unsicht­bar, sondern alles bloß und aufgedeckt vor den Augen dessen, mit dem wir es zu tun haben". Und dann fügt der Apostel unmittelbar hinzu: "Da wir nun einen großen Hohenpriester haben, der durch die Himmel gegangen ist, Jesum, den Sohn Gottes, so laßt uns das Bekenntnis fest­halten; denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht Mitleid zu haben vermag mit unseren Schwachheiten, sondern der in allem ver­sucht worden ist in gleicher Weise wie wir, ausgenommen die Sünde. Laßt uns nun mit Freimütigkeit hinzutreten zu dem Thron der Gnade, auf daß wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zur recht­zeitigen Hilfe" (Hebr. 4, 12‑16).

 

je deutlicher wir die Schärfe des Wortes Gottes fühlen, um so höher schätzen wir den barmherzigen und gnadenreichen Dienst unseres Ho­henpriesters. Diese beiden Dinge hängen zusammen. Sie sind die un­trennbaren Wegbegleiter des christlichen Lebens. Der große Hohepriester hat Mitgefühl mit den Schwachheiten, die das Wort ans Licht bringt. Er ist sowohl ein "treuer" als auch ein "barmherziger" Hoherpriester. Wir können also nur dann dem Altar nahen, wenn wir von dem Wasch­becken Gebrauch gemacht haben. Anbetung kann nur in der Kraft prak­tischer Heiligkeit dargebracht werden. Wir müssen alles Natürlich­menschliche aus dem Auge verlieren und ganz mit Christus, so wie Er im Worte dargestellt ist, beschäftigt sein. Nur so werden die "Hände und Füße", d. h. die Werke und die Wege, gereinigt sein, und zwar gemäß der Reinigung des Heiligtums.

 

In den Versen 22 bis 33 finden wir das "heilige Salböl", mit dem die Priester und die Stiftshütte samt ihren Geräten gesalbt wurden. In dieser Salbung erkennen wir ein Bild der vielfältigen Gnadengaben des Heili­gen Geistes, die sich alle in ihrer göttlichen Fülle in Christus finden. "Myrrhen und Aloe, Kassia sind alle deine Kleider; aus Palästen von Elfenbein erfreut dich Saitenspiel" (Ps. 45, 8). Gott hat Jesus von Na­zareth mit Heiligem Geist und mit Kraft gesalbt (Apg. 10, 38). Alle Gnadengaben des Heiligen Geistes, in all ihrer Vollkommenheit, haben ihre Darstellung und ihren Ursprung in Christus. Bei Seiner Mensch­werdung wurde Er von dem Heiligen Geist gezeugt. Bevor Er Seinen öffentlichen Dienst antrat, wurde Er mit dem Heiligen Geist gesalbt, und nachdem Er Seinen Platz im Himmel eingenommen hatte, teilte Er, zum Zeichen der vollbrachten Erlösung, die Gaben des Heiligen Geistes an Seinen Leib, die Kirche, aus (s. Matth. 1, 20; 3, 16. '17; Luk. 4, 18. 19; Apg. 2, 33; 10, 45. 46; Eph. 4, 8‑13).

 

Als solche, die mit diesem hocherhobenen Christus in Verbindung stehen, haben die Gläubigen teil an den Gaben und Gnaden des Heiligen Geistes. Aber nur wenn es ihre Gewohnheit ist, Gemeinschaft mit Ihm zu haben, können sie sich dieser Gaben auch praktisch erfreuen und sie nach außen wirksam werden lassen. Ein nicht wiedergeborener Mensch kennt nichts von diesen Dingen. "Auf keines Menschen Fleisch soll man es gießen" (V. 32). Die Gnadengaben des Heiligen Geistes können nicht mit dem natürlichen Fleisch des Menschen in Verbindung gebracht wer­den, denn der Heilige Geist kann diese Natur nicht anerkennen. Nicht eine Frucht des Geistes ist je auf dem dürren Boden der Natur hervorgebracht worden. "Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde" (Joh. 3, 3). Nur der neue Mensch kann, als ein Teil der neuen Schöpfung, etwas von den Früchten des Heiligen Geistes wissen. Es ist sinnlos, diese Früchte und Gnadengaben nachahmen zu wollen. Die schönsten Früchte, die auf dem Boden der Natur gewachsen sind, und die liebenswertesten Züge, die die Natur zeigen mag, können im Heilig­tum Gottes in keiner Weise anerkannt werden. "Auf keines Menschen Fleisch soll man es gießen, und nach dem Verhältnis seiner Bestandteile sollt ihr keines desgleichen machen; es ist heilig, heilig soll es euch sein. Wer desgleichen mischt, und wer davon auf einen Fremden tut, der soll ausgerottet werden aus seinen Völkern" (V. 32. 33). Gott will keine Nachahmung des Werkes des Heiligen Geistes, alles muß ausschließlich von dem Geist sein. Auch darf das, was von dem Geist herrührt, nicht dem Menschen zugeschrieben werden. "Der natürliche Mensch nimmt nicht an, was des Geistes Gottes ist, denn es ist ihm eine Torheit, und er kann es nicht erkennen, weil es geistlich beurteilt wird" (‑1. Kor. 2,14).

 

Der letzte Abschnitt dieses lehrreichen Kapitels lenkt unseren Blick auf das "Räucherwerk..., ein Werk des Salbenmischers, gesalzen, rein, heilig" (V. 35). Auch dieses unvergleichliche Räucherwerk stellt uns die Vollkommenheiten Christi dar. Gott schrieb kein bestimmtes Maß für die einzelnen Zutaten für dieses Räucherwerk vor, weil die Tugenden und Vortrefflichkeiten der Person Christi ohne Grenzen sind. "In ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig" (Kol. 2, 9). Nur Gott selbst vermag diese Fülle zu erfassen, und sie wird in Ewigkeit Gegen­stand der Anbetung aller Heiligen und Engel sein.

 

Wenn nun aber für die einzelnen Teile des Räucherwerks kein Maß be­stimmt wurde, so gebot Gott doch, von allem "zu gleichen Teilen" zu nehmen. Alle die hervorragenden Eigenschaften waren bei Christus an ihrem wahren Platz und im richtigen Verhältnis. Keine wurde durch eine andere verdrängt oder auch nur beeinträchtigt. Alles war Würzwerk, ... gesalzen, rein, heilig", und verbreitete einen duftenden Wohlgeruch, den nur Gott richtig zu schätzen vermochte.

 

"Und zerstoße davon zu Pulver, und lege davon vor das Zeugnis in das Zelt der Zusammenkunft, woselbst ich mit dir zusammenkommen wer­de; hochheilig soll es euch sein" (V. 36). Welch eine ungewöhnliche Tiefe und Kraft liegt in den Worten: "Zerstoße davon zu Pulver"! Sie lehren uns, daß jede noch so unbedeutende Handlung im Leben Jesu, jedes Wort und jeder Blick Gott vollkommen wohlgefällig war, weil in allem das gleichmäßige Verhältnis Seiner Charakterzüge zum Aus­druck kam. je feiner das Räucherwerk zerstoßen wurde, um so deutlicher trat seine vortreffliche und kostbare Mischung zu Tage.

 

"Und das Räucherwerk, das du machen sollst, nach dem Verhältnis sei­ner Bestandteile sollt ihr es euch nicht machen; heilig dem HERRN soll es dir sein. Wer desgleichen macht, um daran zu riechen, der soll aus­gerottet werden aus seinen Völkern" (V. 37. 38). Dieser duftende Wohl­geruch war ausschließlich für Gott bestimmt; sein Platz war "vor dem Zeugnis". Es gibt in Jesus etwas, was nur Gott zu würdigen vermag. Allerdings kann jeder Gläubige Seine unvergleichliche Person betrachten und von Bewunderung erfüllt werden; aber dennoch ‑ über alles hin­aus, was die Erlösten Gottes und sogar die Engel von Seiner Herrlich­keit zu begreifen fähig sind ‑ gibt es etwas in der Person Jesu, das nur Gott ergründen kann und nur Ihm Freude bereitet (vergl. Matth. 11, 27). Das Auge eines Menschen oder Engels kann niemals alles un­terscheiden, was in diesem zu Pulver zerstoßenen Räucherwerk enthalten ist und was mit irdischen Maßstäben gar nicht zu erfassen ist.

 

Wir haben hiermit das Ende eines klar unterschiedenen Teils des 2. Bu­ches Mose erreicht. Wir begannen bei der Lade des Zeugnisses und gingen weiter bis zum ehernen Altar; von dort wandten wir uns wieder zurück und sind nun bei dem heiligen Räucherwerk angelangt. Welch ein Weg, wenn er nicht mit menschlicher Einbildungskraft, sondern in dem Licht des Heiligen Geistes zurückgelegt wird, der uns in allen diesen Dingen die persönliche Herrlichkeit des Sohnes Gottes zeigt! Hat der Leser diesen Weg so zurückgelegt, dann wird seine Zuneigung sich mehr als vorher Christus zugewandt haben. Er wird eine Vorstellung bekommen haben von Seiner Herrlichkeit und von Seiner Fähigkeit, einen zerbrochenen Geist zu heilen und das Verlangen eines ermüdeten Herzens zu befriedigen; er wird seine Augen und Ohren fester als vor­her für die lockenden Verheißungen der Erde verschließen, und er wird auch eher bereit sein, sein Amen zu den Worten des Apostels zu spre­chen: "Wenn jemand den Herrn Jesus Christus nicht lieb hat, der sei Anathema; Maranatha!" (l. Kor. 16,22).

 

Kapitel 31

 

BEZALEEL UND OHOLIAB. NOCHMALS DER SABBATH

 

Dieses Kapitel beginnt mit der Mitteilung Gottes, daß Er zwei Männer berufen und ausgerüstet habe, um die Arbeit an dem Zelt der Zusam­menkunft auszuführen. "Und der HERR redete zu Mose und sprach: Siehe, ich habe Bezaleel, den Sohn Uris, des Sohnes Hurs, vom Stamme Juda, mit Namen berufen und habe ihn mit dem Geiste Gottes erfüllt, in Weisheit und in Verstand und in Kenntnis und in jeglichem Werk... Und ich, siehe, ich habe ihm Oholiab, den Sohn Achisamaks, vom Stamme Dan, beigegeben; und in das Herz eines jeden, der weisen Her­zens ist, habe ich Weisheit gelegt, daß sie alles machen, was ich dir geboten habe" (V. 1. 2. 3. 6). Sei es die Arbeit an dem Zelt der Zu­sammenkunft jener Tage oder sei es die Arbeit für den Herrn in unse­rer Zeit ‑ in jedem Fall steht Gott allein die Auswahl, Berufung und Befähigung Seiner Diener zu; Menschen haben dabei kein Mitsprache­recht. Dieser Grundsatz galt damals und er gilt ebenso für das Werk des Herrn heute. Auch kann sich niemand selbst dazu berufen, alles muß ganz und gar von Gott kommen. Man mag aus eigenem Antrieb gehen oder sich von irgendeinem Verein aussenden las5en ‑ sicher ist, daß alle, die ausgehen, ohne von Gott gesandt zu sein, eines Tages beschämt dastehen werden. Das ist die einfache und heilsame Lehre, die uns in den Worten gegeben wird: "Ich habe berufen", "ich habe erfüllt", "ich habe gegeben", "ich habe genommen, "ich habe geboten. Die Worte Johannes des Täufers: "Ein Mensch kann nichts empfangen, es sei ihm denn aus dem Himmel gegeben" (Joh. 3, 27), werden immer wahr blei­ben. Wie wenig Ursache hat also der Mensch, sich selbst zu rühmen oder auf einen Mitmenschen eifersüchtig zu sein!

 

mit 1. Mose 4. Tubalkain war ein "Hämmerer von allerlei Schneidewerk­zeug aus Erz und Eisen" (V. 22). Die Nachkommen Kains versuchten mit ihren eigenen, menschlichen Fähigkeiten ‑ unabhängig von Gott ‑die verfluchte und seufzende Erde in einen angenehmen Ort umzuwan­deln. Bezaleel und Oholiab hingegen hatten von Gott Fähigkeiten emp­fangen, um ein Heiligtum zu schmücken, das durch die Gegenwart und die Herrlichkeit des Gottes Israels geheiligt und gesegnet werden sollte.

 

Hier möchte ich den Leser bitten, einen Augenblick nachzudenken und sich ernstlich zu fragen: Widme ich meine Fähigkeiten und Kräfte den Interessen der Kirche, die Gottes Wohnung ist, oder der Verschönerung einer gottlosen Welt, die Christus verworfen hat? Denke nicht: Ich bin weder von Gott berufen noch befähigt, um für Ihn zu arbeiten. Wie damals, so ist auch heute für alle die Tür geöffnet, um an dem Dienst teilnehmen zu können. Jeder hat einen Platz auszufüllen und arbeitet entweder für die Interessen des Hauses Gottes, des Leibes Christi, der Kirche, oder er fördert die Pläne einer gottlosen Welt, die noch befleckt ist mit dem Blute Jesu Christi und mit dem Blut all Seiner ermordeten Zeugen.

 

Das Kapitel endet mit einem besonderen Hinweis auf die Einsetzung des Sabbaths. Er wurde bereits in Kap. 16 erwähnt, und zwar dort in Verbindung mit dem Manna. Dann, in Kap. 20, als das Volk formell unter das Gesetz gestellt wurde, finden wir seine ausdrückliche Anord­nung. Hier begegnen wir ihm wieder in Verbindung mit der Aufrich­tung der Stiftshütte. Jedesmal, wenn das Volk Israel in irgendeiner be­sonderen Stellung oder unter einer besonderen Verantwortung gesehen wird, dann wird auch der Sabbath erwähnt. "Beobachtet den Sabbath, denn heilig ist er euch; wer ihn entweiht, soll gewißlich getötet werden; denn wer irgend an ihm eine Arbeit tut, selbige Seele soll ausgerottet werden aus der Mitte ihrer Völker. Sechs Tage soll man Arbeit tun, aber am siebenten Tage ist der Sabbath der Ruhe, heilig dem HERRN; wer irgend am Tage des Sabbaths eine Arbeit tut, soll gewißlich ge­tötet werden" (V. 14. 15). Der "siebente Tag", und kein anderer, wird bestimmt, und an diesem Tage ist bei Todesstrafe jede Arbeit verboten. Diese Anordnung ist deutlich und unmißverständlich. Und erinnern wir uns wohl, daß es in der Heiligen Schrift keine einzige Zeile gibt, die die weitverbreitete Meinung rechtfertigt, als sei der Sabbath ver­ändert worden oder als habe Gott Seine strengen Grundsätze auch nur im geringsten gemildert!

 

Aber halten denn die bekennenden Christen den Sabbath Gottes an dem von Ihm bestimmten Tag und so, wie Er es geboten hat? Gewiß nicht, obwohl doch die Folgen der geringsten Übertretung des Sabbaths "Ausrottung" und "Tod" sind!

 

Aber wir sind "nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade" (Röm. 6. 14). Gott sei Dank, daß Er uns diese Gewißheit gegeben hat! Ständen wir unter dem Gesetz, dann gäbe es keinen einzigen Christen, den nicht schon längst wegen dieses einen Punktes, der Sabbath‑Entweihung, das Gericht Gottes getroffen hätte.

 

Weil wir aber unter Gnade stehen, gehört uns nun "der erste Tag der Woche", "der Tag des Herrn". Das ist der Tag der Kirche, der Auf­erstehungstag Jesu, der, nachdem Er den Sabbath im Grabe zugebracht hatte, triumphierend über alle Mächte der Finsternis wieder auferstand. Damit hat Er Sein Volk aus der alten Schöpfung und aus allem, was mit ihr zusammenhing, heraus und in die neue Schöpfung eingeführt, deren Haupt Er ist und deren Ausdruck wir in dem ersten Tag der neuen Woche sehen.

 

Der Unterschied zwischen diesen beiden Tagen ist ernster Beachtung wert. Allein ein bestimmter Name ist in der Bibel oft schon von großer Tragweite, und das ist gerade hier der Fall. Der erste Tag der Woche nimmt im Wort Gottes einen Platz ein, den kein anderer Tag hat. Kein anderer Tag trägt den erhabenen Namen: "Tag des Herrn". Allerdings behaupten einige, das Offbg. 1, 10 sich nicht auf den ersten Tag der Woche bezieht, aber ich bin völlig überzeugt, daß eine gründliche Unter­suchung und eine gesunde Auslegung es gestatten, ja, sogar fordern, diese Stelle nicht auf den Tag der Wiederkunft Christi in Herrlichkeit, sondern auf den Tag Seiner Auferstehung aus den Toten anzuwenden.

 

Sicher aber wird der Tag des Herrn nicht ein einziges Mal "Sabbath" genannt. Vielmehr werden die beiden Tage immer wieder in der Schrift deutlich unterschieden. Man muß sich daher vor zwei entgegengesetzten Klippen hüten. Einerseits wird man jene Gesetzlichkeit vermeiden müs­sen, die sich oft in Verbindung mit dem Wort "Sabbath" vorfindet, und anderseits muß man entschieden die Gewohnheit ablehnen, den Tag des Herrn zu verunehren oder ihn wie einen gewöhnlichen Tag anzu­sehen. Der Gläubige ist von der Beobachtung der "Tage und Monate und Zeiten und Jahre" freigemacht (Gal. 4, 10). Seine Vereinigung mit einem auferstandenen Christus hat ihn von allen solchen abergläubi­schen Gebräuchen befreit (Kol. 2, 16‑20). Aber wie wahr dies auch ist, so sehen wir doch, daß der "erste Tag der Woche" im Neuen Testament einen besonderen Platz einnimmt. Es ist deshalb ganz natürlich, wenn er auch im Leben eines Christen eine besondere Bedeutung erhält.

 

Wir haben dieses Thema schon in früheren Abschnitten dieses Buches ausführlicher besprochen. Ich beschränke mich deshalb darauf, in einigen Punkten den Gegensatz zwischen dem "Sabbath" und dem "Tag des Herrn" aufzuzeigen:

 

1.             Der Sabbath war der siebente Tag, während der Tag des Herrn der erste Tag der Woche ist.

 

2.             Der Sabbath war ein Prüfstein für den Zustand Israels; der Tag des Herrn ist für die Kirche der Beweis, daß sie ohne jede Be­dingung von Gott angenommen ist.

 

3              Der Sabbath gehörte der alten Schöpfung an, während der Tag des Herrn der neuen angehört.

 

 

4              Der Sabbath war ein Tag der leiblichen Ruhe für den Juden­ der Tag des Herrn dagegen ist ein Tag der geistlichen Ruhe für den Christen.

 

5.             Wenn der Jude am Sabbath arbeitete, mußte er getötet werden; wenn der Christ nicht am Tag des Herrn arbeitet, d. h. wenn er nicht zum Segen der Menschen, zur Verherrlichung Christi und zur Ausbreitung der Wahrheit wirkt, gibt er einen sehr schwachen Beweis von Leben. Tatsächlich ist ein treuer Christ, wenn er irgendeine Gabe besitzt, im allgemeinen am Ende des Tages des Herrn mehr ermüdet als am Ende jedes anderen Wochentags; denn wie könnte er ruhen, während um ihn her Seelen zugrunde gehen?

 

6.             Dem Juden war durch das Gesetz geboten, während des Sab­baths in seinem Zelt zu bleiben; der Christ aber wird durch den Geist des Evangeliums geleitet auszugehen, sei es um an einer öffentlichen Versammlung teilzunehmen oder um verlore­nen Sündern die Botschaft des Heils zu verkünden.

 

Möge der Herr uns allen geben, mit mehr Einfalt in dem Namen des Herrn Jesus Christus zu ruhen und mit mehr Eifer für diesen Namen zu wirken! Wir sollen ruhen in der Gesinnung eines Kindes und arbei­ten mit der Kraft eines Mannes.

 

Kapitel 32

 

DAS GEGOSSENE KALB

 

Wir kommen jetzt zu einem Ereignis, das ganz und gar verschieden ist von dem, was uns bisher beschäftigt hat. Die "Bilder der Dinge in den Himmeln" (Hebr. 9, 23) sind an uns vorübergezogen. Wir sahen Chri­stus in Seiner herrlichen Person und in Seinem vollkommenen Werk, wie Er in der Stiftshütte und ihren Geräten dargestellt war. Wir hörten auf dem Berge die Worte Gottes und die Ratschlüsse, von denen Jesus das "Alpha und das Omega", der Anfang und das Ende ist.

 

jetzt aber müssen wir auf die Erde zurückblicken, um dort die traurigen Trümmer zu sehen, in die der Mensch alles verwandelt, was ihm an­vertraut wird. "Und als das Volk sah, daß Mose verzog, von dem Berge herabzukommen, da versammelte sich das Volk zu Aaron, und sie spra­chen zu ihm: Auf! mache uns einen Gott, der vor uns hergehe! denn dieser Mose, der Mann, der uns aus dem Lande Ägypten heraufgeführt hat, ‑ wir wissen nicht, was ihm geschehen ist" (V. 1). Welch ein niedri­ger Zustand offenbart sich hier! "Mache uns einen Gott!" Israel sagte sich von seinem HERRN los und unterwarf sich der Führung eines von Menschenhänden gemachten Gottes. Der Berg war von undurchdring­lichen Wolken verhüllt, und die Israeliten waren müde geworden, auf Mose zu warten und auf einen unsichtbaren, aber starken Gott zu ver­trauen. Sie bildeten sich ein, daß ein mit einem Meißel gemachter, sicht­barer Gott besser sei als der unsichtbare, aber allgegenwärtige HERR.

 

In der Geschichte der Menschen ist dies leider eine bekannte Erschei­nung. Der Mensch liebt etwas, was er wahrnehmen kann, was seinen Sinnen entspricht und sie befriedigt. Nur der Glaube vermag standhaft zu bleiben, "als sähe er den Unsichtbaren" (Hebr. 11, 27). Daher hat der Mensch zu allen Zeiten die Neigung offenbart, menschliche Nachbil­dungen göttlicher Wirklichkeiten aufzustellen und auf sie zu vertrauen. Auch heute gibt es zahlreiche solcher Nachbildungen. Viele Dinge, die wir aufgrund des Wortes Gottes als göttliche und himmlische Wirklich­keiten kennen, hat die bekennende Kirche sichtbar nachzubilden ver­sucht. Müde geworden, sich auf einen unsichtbaren Gott zu stützen oder auf ein unsichtbares Opfer zu vertrauen, bei einem unsichtbaren Hohenpriester Hilfe zu suchen oder sich der Leitung eines unsichtbaren Führers anzuvertrauen, hat sie sich daran gemacht, diese Dinge selbst zu "bilden, und so ist sie von Jahrhundert zu Jahrhundert eifrig beschäf­tigt gewesen, mit dem Meißel in der Hand ein Ding nach dem anderen nachzubilden, so daß wir jetzt zwischen einem großen Teil dessen, was wir um uns her sehen, und dem, was wir im Wort Gottes lesen, nicht viel mehr Ähnlichkeit entdecken als zwischen einem gegossenen Kalb und dem Gott Israels.

 

"Mache uns einen Gott!" Welch ein Gedanke! Ein Mensch wird aufge­fordert, einen Gott zu machen, und ein Volk erklärt sich bereit, ihm sein Vertrauen zu schenken! Es ist sicher aufschlußreich, in uns hinein und um uns her zu blicken, ob wir da nicht Ähnliches entdecken. Wir lesen in bezug auf die Geschichte Israels in 1. Kor. 10, 11: "Alle diese Dinge aber widerfuhren jenen als Vorbilder und sind geschrieben wor­den zu unserer Ermahnung, auf welche das Ende der Zeitalter gekom­men ist". Sehen wir daher zu, daß wir uns dieser Ermahnung nicht ent­ziehen. Zwar haben wir wohl nicht gerade die Absicht, ein gegossenes Kalb zu machen, um uns vor ihm niederzuwerfen, dennoch ist die Sünde Israels ein "Vorbild" von etwas, das auch für uns eine große Gefahr sein kann. Sobald wir aufhören, wegen unseres Heils oder wegen unserer praktischen Bedürfnisse ausschließlich auf Gott zu vertrauen, sagen wir im Prinzip schon: "Auf! mache uns einen Gott“ Es ist un­nötig zu sagen, daß wir in uns selbst um nichts besser sind als Aaron und die Kinder Israel. Während sie anstelle des HERRN ein Kalb ver­ehrten, sind wir in Gefahr, nach demselben Grundsatz zu handeln und denselben Geist zu offenbaren. Unser einziges Bewahrungsmittel ist, viel in der Gegenwart Gottes zu sein. Mose wußte, daß das gegossene Kalb nicht der HERR war, und deshalb erkannte er es nicht an. Aber wenn wir die Gegenwart Gottes verlassen, können wir zu unzählbaren groben Irrtümern und Sünden fortgerissen werden.

 

Wir sind berufen, durch Glauben zu leben. Unsere leiblichen Augen können uns dabei nicht helfen. Jesus ist jetzt im Himmel, und wir haben die Weisung, mit Geduld auf Seine Erscheinung zu warten. Das Wort Gottes, angewandt auf das Herz in der Kraft des Heiligen Geistes, ist die Grundlage des Vertrauens in allen Dingen ‑ seien sie zeitlich oder geistlich, gegenwärtig oder zukünftig. Der Heilige Geist redet zu uns von dem vollkommenen Opfer Christi. Wir glauben es durch die Gnade, stellen unsere Seelen unter die Wirksamkeit dieses Opfers und wissen, daß wir nie und nimmer beschämt werden können. Er redet zu uns von einem großen, durch die Himmel gegangenen Hohenpriester, von Jesus, dem Sohn Gottes, dessen Fürbitte allmächtig ist. Wir glauben es durch die Gnade, ruhen im Vertrauen auf Seine Macht und wissen, daß wir völlig gerettet werden. Er redet zu uns von dem lebendigen Haupt, mit dem wir durch das Auferstehungsleben verbunden sind und von dem uns kein Einfluß der Engel, der Menschen oder der Teufel je zu trennen vermag. Wir glauben es durch die Gnade, klammern uns in einfältigem Glauben an dieses Haupt und wissen, daß wir nie zuschanden werden. Er redet zu uns von der herrlichen Erscheinung des Sohnes vom Himmel. Wir glauben es durch die Gnade, versuchen die reinigende und befreien­de Kraft dieser wunderbaren Hoffnung auf uns wirken zu lassen und wissen, daß wir nie enttäuscht werden können. Er redet zu uns von einem unverweslichen und unbefleckten und unverwelkten Erbteil, welches in den Himmeln aufbewahrt ist" für uns, die wir "durch Gottes Macht durch Glauben bewahrt werden (1. Petr. 1, 4), ‑ von einem Erb­teil, das wir zu Seiner Zeit in Besitz nehmen werden. Wir glauben es durch die Gnade und wissen, daß wir niemals beschämt werden können. Er sagt uns, daß alle Haare unseres Hauptes gezählt sind und daß uns nichts Gutes mangeln soll. Wir glauben es durch die Gnade und unsere Herzen können in jeder Hinsicht vollkommen ruhig sein. So ist es, oder wenigstens möchte unser Gott, daß es so sei. Aber der Feind ist immer auf dem Plan und will uns verleiten, diese göttlichen Wirklichkeiten zu verwerfen und den "Meißel" des Unglaubens zur Hand zu nehmen, um uns selbst einen Gott zu machen. Laßt uns vor ihm auf der Hut sein! Wappnen wir uns gegen ihn durch anhaltendes Gebet! Leisten wir ihm Widerstand in Wort und Tat! Auf diese Weise wird seine Absicht ver­eitelt, Gott wird verherrlicht, und wir selbst werden reich gesegnet.

 

Israel hat in dieser Hinsicht seinen HERRN vollständig verworfen. "Und Aaron sprach zu ihnen: Reißet die goldenen Ringe ab, die in den Ohren eurer Weiber, eurer Söhne und eurer Töchter sind, und bringet sie zu mir ... Und er nahm es aus ihrer Hand und bildete es mit einem Meißel und machte ein gegossenes Kalb daraus. Und sie sprachen: Das ist dein Gott, Israel, der dich aus dem Lande Ägypten heraufgeführt hat. Und als Aaron es sah, baute er einen Altar vor ihm; und Aaron rief aus und sprach: Ein Fest dem HERRN ist morgen!" (V. 2‑5) Damit wurde Gott gänzlich beiseitegesetzt und ein Kalb an Seinen Platz gestellt. Wenn die Israeliten sagen konnten, ein Kalb habe sie aus Ägypten geführt, dann hatten sie offenbar jedes Bewußtsein von der Gegenwart und dem Cha­rakter des wahren Gottes verloren. Wie "schnell" mußten sie "von dem Wege abgewichen sein" (V. 8), um in einen so groben und entsetzlichen Fehler verfallen zu können! Und Aaron, der Bruder und Leidensgefährte Moses, war in dieser Sache ihr Leiter. Er konnte angesichts eines Kalbes sagen: "Ein Fest dem HERRN ist morgen!" Wie beschämend! Gott mußte einem Götzen Platz machen. Ein elendes Ding, von der Hand und nach dem Plan eines Menschen gebildet, wurde an die Stelle des "Herrn der ganzen Erde" gesetzt.

 

Die Israeliten haben mit vollem Bewußtsein das Verhältnis zu ihrem Gott gekündigt. Infolgedessen begegnete ihnen Gott nun auf dem Boden, auf den sie sich gestellt hatten. "Da sprach der HERR zu Mose: Gehe, steige hinab! denn dein Volk, das du aus dem Lande Ägypten heraufge­führt hast, hat sich verderbt. Sie sind schnell von dem Wege abgewichen, den ich ihnen geboten habe ... Ich habe dieses Volk gesehen, und siehe, es ist ein hartnäckiges Volk; und nun laß mich, daß mein Zorn wider sie entbrenne und ich sie vernichte; dich aber will ich zu einer großen Nation machen" (V. 7‑10). Mit diesen Worten wurde Mose eine weite Tür geöffnet, aber er zeigt hier eine ungewöhnliche Gnade und eine sehr ähnliche Gesinnung wie jener Prophet, gleich ihm, den der Herr in späteren Tagen erwecken wollte (5. Mose 18, 15). Er weigerte sich, etwas zu sein oder etwas zu empfangen ohne dieses Volk. Er verhandelt mit Gott auf dem Boden Seiner eigenen Herrlichkeit und wirft das Volk auf Ihn zurück mit den rührenden Worten: "Warum, HERR, sollte dein Zorn entbrennen wider dein Volk, das du aus dem Lande Ägypten her­ausgeführt hast mit großer Kraft und mit starker Hand? Warum sollten die Ägypter also sprechen: Zum Unglück hat er sie herausgeführt, um sie im Gebirge zu töten und sie von der Fläche des Erdbodens zu vernich­ten? Kehre um von der Glut deines Zornes und laß dich des Übels wider dein Volk gereuen. Gedenke Abrahams, Isaaks und Israels, deiner Knechte, denen du bei dir selbst geschworen hast, und hast zu ihnen ge­sagt: Mehren will ich euren Samen wie die Sterne des Himmels; und dieses ganze Land, von dem ich geredet habe, werde ich eurem Samen ge­ben, daß sie es als Erbteil besitzen ewiglich" (V. 11‑13). Das war eine gewaltige Verteidigung. Die Herrlichkeit Gottes, die Ehre Seines heiligen Namens, die Erfüllung Seines Eidschwurs ‑ das waren die Gründe' auf die Mose sich stützte, um den Zorn seines Herrn abzuwenden. In Israel konnte er nichts finden, worauf er seine Fürsprache hätte gründen kön­nen. Er fand alles in Gott selbst.

 

Der Herr hatte zu Mose gesagt. "Dein Volk, das du aus dem Lande Ägypten heraufgeführt hast", aber Mose antwortet dem Herrn: Dein Volk, das du herausgeführt hast". Trotz allem war und blieb Israel das Volk Gottes; Sein Name, Seine Herrlichkeit und Sein Eidschwur standen mit dem Schicksal Israels unmittelbar in Verbindung. Wenn Gott sich mit einem Volk einsmacht, dann ist Er in Seiner ganzen Herrlichkeit mit ihm verbunden, und auf dieser unerschütterlichen Grundlage ruht auch der Glaube. Mose verliert sich selbst ganz und gar aus dem Auge. Seine ganze Seele ist erfüllt mit der Herrlichkeit Gottes und mit dem Volk Gottes. Welch ein Diener! Wie wenige gleichen ihm! Und doch, wie unendlich weit war er selbst in diesem Dienst von unserem Herrn Jesus entfernt! Mose stieg vom Berge herab, und als er das Kalb und die Reigentänze sah, "da entbrannte sein Zorn, und er warf die Tafeln aus seinen Händen und zerbrach sie unten am Berge" (V. 19). Der Bund war gebrochen, die Zeugnisse davon lagen in Stücken am Boden, und dann, nachdem Mose in gerechtem Zorn das Gericht vollzogen hatte, sagte er zu dem Volk: "Ihr habt eine große Sünde begangen: und nun will ich zu dem HERRN hinaufsteigen, vielleicht möchte ich Sühnung tun für eure Sünde" (V. 30).

 

Etwas völlig anderes sehen wir bei Christus. Er war aus der Gegenwart des Vaters gekommen, nicht mit Gesetzestafeln in Seiner Hand, sondern mit dem Gesetz in Seinem Herzen. Er brauchte den Zustand des Volkes nicht erst kennenzulernen, sondern Er kam in vollkommener Kenntnis dieses Zustandes. Anstatt die Zeugnisse des Bundes zu zerstören und Gericht auszuüben, verherrlichte Er das Gesetz und ertrug am Kreuz an sich selbst das Gericht Seines Volkes; und nachdem alles vollbracht war, ging Er in den Himmel zurück, und zwar nicht mit einem: "Viel­leicht möchte ich Sühnung tun für eure Sünde", sondern um vor dem Thron Gottes Zeugnis davon zu geben, daß die Erlösung vollbracht ist. Das ist ein unermeßlicher und herrlicher Unterschied. Gott sei Dank! Wir haben nicht nötig, ängstliche Blicke auf unseren Mittler zu richten, um zu erfahren, ob Er Sühnung für uns tun und der beleidigten Gerech­tigkeit Gottes Genüge tun werde. Nein, Er hat alles vollbracht. Seine Gegenwart in den Himmeln ist für uns die Garantie, daß das ganze Werk vollendet ist.

 

Am Ende dieses Kapitels stellt Gott die Grundsätze fest, nach denen Er künftig das Volk regieren wird: "Wer gegen mich gesündigt hat, den werde ich aus meinem Buche auslöschen. Und nun gehe hin, führe das Volk, wohin ich dir gesagt habe. Siehe, mein Engel wird vor dir her­ziehen; und am Tage meiner Heimsuchung, da werde ich ihre Sünde an ihnen heimsuchen" (V. 33. 34). Hier sehen wir Gott in Seiner Regierung und nicht im Evangelium. Hier redete Er von dem Auslöschen des Sün­ders, während Er im Evangelium die Sünde auslöscht. Das ist ein großer Unterschied.

 

Das Volk sollte also unter der Mittlerschaft Moses durch einen Engel weitergeführt werden. Auf dem Weg von Ägypten bis zum Sinai war es noch ganz anders gewesen. Aber nun stand Israel auf dem Boden des Gesetzes und konnte daher keine Gnade mehr erwarten. Auch für Gott blieb nichts anderes übrig, als in Seiner Unumschränktheit zu sagen: ,Ich werde begnadigen, wen ich begnadigen werde, und werde mich er­barmen, wessen ich mich erbarmen werde" (Kap. 33, 19).

 

Kapitel 33 und 34

 

DAS "ZELT DER ZUSAMMENKUNFT". DIE FÜRBITTE MOSES UND DER NEUE NAME DES HERRN

 

Der HERR weigerte sich, das Volk in das Land der Verheißung zu ge­leiten. "Ich werde nicht in deiner Mitte hinaufziehen, denn du bist ein hartnäckiges Volk, daß ich dich nicht vernichte auf dem Wege" (V. 3). Am Anfang dieses Buches, als das Volk sich in der Sklaverei Ägyptens befand, hatte Er sagen können: "Gesehen habe ich das Elend meines Volkes, das in Ägypten ist, und sein Geschrei wegen seiner Treiber habe ich gehört; denn ich kenne seine Schmerzen" (Kap. 3, 7). Aber jetzt muß Er sagen: "Ich habe dieses Volk gesehen, und siehe, es ist ein hartnäckiges Volk". Solange das Volk bedrängt ist, wendet Er ihm Seine Gnade zu, aber wenn es hartnäckig geworden ist, muß es gede­mütigt werden.

 

"Ihr seid ein hartnäckiges Volk; zöge ich nur einen Augenblick in deiner Mitte hinauf, so würde ich dich vernichten. Und nun lege deinen Schmuck von dir, und ich werde wissen, was ich dir tun will" (V. 5). Nur wenn wir wirklich alle Vorzüge, die wir von Natur aus haben, ablegen, kann Gott sich uns zuwenden. Ein nackter Sünder kann beklei­det werden, aber wer sich seiner natürlichen Qualitäten rühmt, muß entblößt werden.

 

"Und die Kinder Israel rissen sich ihren Schmuck ab an dem Berge Horeb (V. 6). Da standen sie am Fuß dieses denkwürdigen Berges. Ihre Festgesänge hatten sich in Klagelieder verwandelt, ihr Schmuck war dahin, und die Tafeln des Zeugnisses lagen in Stücken am Boden. Das war ihr Zustand, und Mose beginnt augenblicklich, diesem Zustand gemäß zu handeln. Er konnte das Volk nicht mehr in seiner Gesamt­heit anerkennen. Die Gemeinde hatte sich ganz und gar verunreinigt, indem sie ein selbstgefertigtes Götzenbild an den Platz Gottes gestellt hatte. "Und Mose nahm das Zelt und schlug es sich auf außerhalb des Lagers, fern vom Lager, und nannte es: Zelt der Zusammenkunft" (V. 7). Das Lager wurde also nicht länger als die Stätte der Gegenwart Gottes anerkannt. Gott war nicht dort und konnte nicht dort sein. Er war durch eine menschliche Erfindung verdrängt worden. Demzufolge wurde ein neuer Versammlungspunkt gebildet. "Und es geschah, ein jeder, der den HERRN suchte, ging hinaus zu dem Zelte der Zusammen­kunft, das außerhalb des Lagers war" (V. 7).

 

Hier wird ein Grundsatz deutlich, den der geistlich gesinnte Christ leicht verstehen wird. Der Platz, den Christus jetzt einnimmt, liegt "außerhalb des Lagers" (Hebr. 13, 13). Es erfordert eine große Unterwürfigkeit unter das Wort Gottes, um genau unterscheiden zu können, was eigent­lich das Lager" ist, und es bedarf viel geistlicher Kraft, sich von diesem Lager zu trennen. Und noch größerer Kraft bedarf es für den, der sich schon getrennt hat, um sowohl in Heiligkeit als auch in Gnade denen zu begegnen, die noch im Lager sind. Denn es ist die Heiligkeit, die uns von dem verunreinigten Lager absondert, und die Gnade, die uns fähig macht, denen zu helfen, die noch darin sind.

 

"Und der HERR redete mit Mose von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mann mit seinem Freunde redet; und er kehrte zum Lager zurück. Sein Diener aber, Josua, der Sohn Nuns, ein Jüngling, wich nicht aus dem Innern des Zeltes" (V. 11). Mose legt hier mehr geistliche Tatkraft an den Tag als sein Diener Josua. Es ist viel leichter, eine Stellung der Ab­sonderung einzunehmen, als den richtigen Umgang mit denen zu finden, die noch im Lager sind.

 

"Und Mose sprach zu dem HERRN: Siehe, du sprichst zu mir: Führe dieses Volk hinauf, aber du hast mich nicht wissen lassen, wen du mit mir senden willst. Und du hast doch gesagt: Ich kenne dich mit Namen, und du hast auch Gnade gefunden in meinen Augen" (V. 12). Mose bit­tet, daß Gott ihn begleiten möge, zum Beweis dafür, daß er Gnade ge­funden habe in Seinen Augen. Wäre es nur nach der Gerechtigkeit Gottes gegangen, so hätte Er das Volk vernichten müssen, denn es war ein "hartnäckiges Volk". Aber nun ist der Mittler da, der gerade wegen dieser Hartnäckigkeit an die Gnade des HERRN appelliert. "Wenn ich doch Gnade gefunden habe in deinen Augen, Herr, so ziehe doch der Herr in unserer Mitte; denn es ist ein hartnäckiges Volk; und vergib unsere Ungerechtigkeit und unsere Sünde, und nimm uns an zum Ei­gentum" (Kap. 34, 9). Gerade ein hartnäckiges Volk brauchte die un­erschöpfliche Gnade und Geduld Gottes. Nur Er konnte ein solches Volk ertragen.

 

"Und er sprach: Mein Angesicht wird mitgehen, und ich werde dir Ruhe geben" (V. 14). Könnte uns noch irgendetwas fehlen? Gott ist mit uns während der ganzen Wanderung durch die Wüste, und am Ende gibt Er uns ewige Ruhe! Für die Gegenwart haben wir die Gnade Gottes und für die Zukunft Seine Herrlichkeit.

 

In Kap. 34 wird das zweite Paar der Gesetzestafeln gegeben, nicht um wie das erste zerbrochen, sondern um in die Bundeslade gelegt zu wer­den, über der Gott als der Herr der ganzen Erde Seinen Platz einnehmen wollte. "Und er hieb steinerne Tafeln aus wie die ersten; und Mose stand des Morgens früh auf und stieg auf den Berg Sinai, so wie der HERR ihm geboten hatte, und nahm die zwei steinernen Tafeln in seine Hand. Und der HERR stieg in der Wolke hernieder, und er stand da­selbst bei ihm und rief den Namen des HERRN aus. Und der HERR ging vor seinem Angesicht vorüber und rief: HERR, HERR, Gott, barmherzig und gnädig, langsam zum Zorn und groß an Güte und Wahrheit, der Güte bewahrt auf Tausende hin, der Ungerechtigkeit, Übertretung und Sünde vergibt, ‑ aber keineswegs hält er für schuldlos den Schuldigen' ‑ der die Ungerechtigkeit der Väter heimsucht an den Kindern und Kindeskindern, am dritten und am vierten Glied‑ (V. 4‑7). Denken wir daran, daß Gott sich hier als der Herr vorstellt, der die ganze Welt regiert, und nicht wie Er sich am Kreuz geoffenbart hat, nicht wie Er im Angesicht Jesu erscheint und nicht wie Er in dem Evangelium der Gnade angekündigt wird. Das Evangelium stellt uns Ihn in den Worten dar: "Alles aber von dem Gott, der uns mit sich selbst versöhnt hat durch Jesus Christus und hat uns den Dienst der Versöhnung gegeben: nämlich, daß Gott in Christus war, die Welt mit sich selbst versöhnend, ihnen ihre Übertretungen nicht zurechnend, und hat in uns das Wort der Versöhnung niedergelegt" (2. Kor. 5, 18. ig). Die Missetat "heim­suchen" und die Übertretungen "nicht zurechnen" sind zwei sehr ver­schiedene Dinge. Im ersten Fall sehen wir Gott in Seiner Regierung, im zweiten in dem Evangelium. In 2. Kor. 3 stellt der Apostel den Dienst nach 2. Mose 34 dem Dienst des Evangeliums gegenüber. Wer jenes Kapitel aufmerksam liest, der erkennt daraus, daß jeder, der den Cha­rakter Gottes, so wie er Mose auf dem Berg Horeb geoffenbart wurde, als eine Entfaltung des Evangeliums betrachtet, eine völlig verkehrte und mangelhafte Vorstellung von dem Evangelium haben muß. Weder in der Schöpfung noch in den Wegen der Regierung Gottes kann man jemals die tiefen Geheimnisse des Vaterherzens kennenlernen. Aber Gott hat sich im Angesicht Jesu geoffenbart (2. Kor. 4). Am Kreuz hat Er alle Seine Eigenschaften in göttlicher Harmonie ans Licht gestellt. "Güte und Wahrheit sind sich begegnet, Gerechtigkeit und Friede haben sich geküßt" (Ps. 85, 10). Die Sünde ist gänzlich beseitigt und der glaubende Sünder vollkommen gerechtfertigt "durch das Blut seines Kreuzes" (Kol. 1, 20).

 

Kapitel 35‑40

 

"DIE ARBEIT DER WOHNUNG DES ZELTES DER ZUSAMMENKUNFT"

 

Diese Kapitel enthalten eine kurze Wiederholung der verschiedenen Teile der Stiftshütte und ihrer Geräte. Die Bedeutung der wichtigsten Teile davon habe ich, soweit mein Verständnis darüber reicht, bereits erklärt, so daß es nutzlos wäre, noch einmal darauf zurückzukommen. Zwei Dinge aber finden wir in diesem Abschnitt, die uns eine nützliche Unterweisung geben, nämlich erstens die "freiwillige Widmung“ und zweitens der "unbedingte Gehorsam" des Volkes im Blick auf die Arbeit an der Stiftshütte. In bezug auf die freiwillige Widmung lesen wir: "Und die ganze Gemeinde der Kinder Israel ging von Mose hinweg. Und sie kamen, ein jeder, den sein Herz trieb; und ein jeder, der willigen Geistes war, brachte das Hebopfer des HERRN für das Werk des Zeltes der Zusammenkunft und all seine Arbeit und für die heiligen Kleider. Und die Männer kamen mit den Weibern; ein jeder, der willigen Herzens war, brachte Nasenringe und Ohrringe und Finger­ringe und Spangen, allerlei goldene Geräte; und jeder, der ein Web­opfer an Gold dem HERRN webte. Und ein jeder, bei dem sich blauer und roter Purpur fand und Karmesin und Byssus und Ziegenhaar und rotgefärbte Widderfelle und Dachsfelle brachte es. jeder, der ein Heb­opfer an Silber und Erz hob, brachte das Hebopfer des HERRN, und jeder, bei dem sich Akazienholz fand zu allerlei Werk der Arbeit, brachte es. Und alle Weiber, die weisen Herzens waren, spannen mit ihren Händen und brachten das Gespinst: den blauen und den roten Purpur, den Karmesin und den Byssus. Und alle verständigen Weiber, die ihr Herz trieb, spannen das Ziegenhaar. Und die Fürsten brachten Onyxsteine und Steine zum Einsetzen für das Ephod und für das Brust­schild, und das Gewürz und das öl zum Licht und zum Salböl und zum wohlriechenden Räucherwerk. Die Kinder Israel, alle Männer und Wei­ber, die willigen Herzens waren, um zu all dem Werke zu bringen, das der HERR durch Mose zu machen geboten hatte, brachten eine freiwilli­ge Gabe dem HERRN" (Kap. 35, 20‑29). ‑ Und weiter lesen wir: "Und es kamen alle weisen Männer, die alles Werk des Heiligtums machten, ein jeder von seinem Werke, das sie machten, und sprachen zu Mose und sagten: Das Volk bringt viel, mehr als genug für die Arbeit des Werkes, das der HERR zu machen geboten hat ... Und des Verfertig­ten war genug für das ganze Werk, um es zu machen; und es war übrig" (Kap. 36, 4‑7).

 

Hier zeigt sich aufrichtige Widmung für die Arbeit am Heiligtum! Es war keine besondere Aufforderung oder eindringliche Mahnung nötig, um das Volk zum Geben zu ermuntern. Nein, ihr eigenes Herz trieb sie, und das war der rechte Weg. Freiwillige Widmung kommt aus dem Innern hervor. Fürsten, Männer und Frauen ‑ alle betrachteten es als ein Vorrecht, dem Herrn geben zu dürfen, und sie gaben nicht aus einem engen Herzen oder mit karger Hand, sondern in so fürstlicher Weise, daß man am Ende sogar zu viel hatte.

 

In bezug auf ihren unbedingten Gehorsam lesen wir: "Nach allem was der HERR dem Mose geboten hatte, also hatten die Kinder Israel die ganze Arbeit gemacht. Und Mose sah das ganze Werk, und siehe, sie hatten es gemacht; so wie der HERR geboten hatte, also hatten sie es gemacht; und Mose segnete sie" (Kap. 39, 42. 43). Gott hatte genaueste Anweisungen für die ganze Arbeit an der Stiftshütte gegeben. Jeder Pflock, jede Schleife, jede Klammer, jeder Haken ‑ alles war genau vorgeschrieben. Für den Verstand oder die gewöhnliche Einsicht des Menschen war kein Spielraum gelassen. Gott hatte keinen allgemeinen Umriß gegeben, den der Mensch noch vervollständigen mußte. "Siehe zu, daß du sie nach ihrem Muster machest, welches dir auf dem Berge gezeigt worden ist" (Kap. 25, 40; 26, 30; Hebr. 8, 5). Dieses Gebot ließ dem menschlichen Erfindungsgeist keinen Spielraum. Wenn es dem Menschen überlassen worden wäre, nur einen einzigen Pflock zu machen, so wäre dieser Pflock nach dem Urteil Gottes sicher nicht an die richtige Stelle gekommen. In Kap. 32 können wir sehen, was der "Meißel" des Menschen hervorbringt. Gott sei Dank! Er fand keinen Raum in der Stiftshütte. Die Israeliten taten in dieser Sache genau das, was ihnen geboten worden war ‑ nichts mehr und nichts weniger. Das ist eine heilsame Lehre für die bekennende Kirche! Es gibt viele Dinge in der Geschichte Israels, die wir mit allem Ernst zu vermeiden suchen sollten, so z. B. ihr ungeduldiges Murren, ihre gesetzlichen Gelübde und ihre Abgötterei. Aber in der Widmung für den Herrn und in dem un­bedingten Gehorsam bei der Arbeit am Hause Gottes sollten wir ihre Nachahmer sein. Wir dürfen mit voller Gewißheit behaupten, daß, wenn nicht alles nach dem auf dem Berge gezeigten Muster gemacht worden wäre, wir nicht am Ende des Buches lesen würden: "Und die Wolke be­deckte das Zelt der Zusammenkunft, und die Herrlichkeit des HERRN erfüllte die Wohnung. Und Mose konnte nicht in das Zelt der Zusam­menkunft hineingehen; denn die Wolke ruhte darauf, und die Herrlich­keit des HERRN erfüllte die Wohnung" (Kap. 40, 34. 35). Die Woh­nung entsprach in jeder Beziehung dem göttlichen Muster, und darum konnte die göttliche Herrlichkeit sie erfüllen.

 

Dies alles enthält wertvolle Belehrungen für uns. Man ist im allgemei­nen geneigt, das Wort Gottes als unzureichend zu betrachten in bezug auf Einzelheiten, die mit der Anbetung Gottes und Seinem Dienst in Verbindung stehen. Das ist ein großer Irrtum, der in der bekennenden Kirche immer wieder zu Fehlern und Verirrungen geführt hat. Das Wort Gottes genügt für alles, mag es sich nun um unser persönliches Heil und unseren Wandel oder um die Ordnung und Leitung der Versammlung handeln. "Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nütze zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung in der Ge­rechtigkeit, auf daß der Mensch Gottes vollkommen sei, zu jedem guten Werke völlig geschickt" (2. Tim. 3, 16. 17). Wenn das Wort Gottes einen Menschen zu Jedem guten Werke völlig geschickt macht, so folgt notwendigerweise daraus, daß alles, was nicht in Einklang mit diesem Wort steht kein gutes Werk sein kann (vgl. Eph. 2, 10). Und vergessen wir es nie, daß sich die Herrlichkeit Gottes nicht mit etwas verbinden kann, was nicht dem göttlichen Muster entspricht!

 

Wir haben nun das Ende dieses wunderbaren Buches erreicht. Ich hoffe, daß wir es mit Gewinn betrachtet und manchen erfrischenden Gedan­ken über Christus und Sein Opfer dabei entdeckt haben. Freilich sind unsere erhabensten Gedanken, Vorstellungen und Begriffe im Blick auf die Offenbarungen Gottes in diesem Buch nur schwach und oberflächlich. Die Gnade Gottes aber hat uns auf den Weg zu jener Herrlichkeit ge­bracht, wo wir erkennen werden, wie wir erkannt sind und im vollen Lichte Dessen stehen werden, der der Anfang und das Ende aller Wege Gottes ist, sowohl in der Schöpfung als auch in der Vorsehung und in der Erlösung. Möchten Schreiber und Leser das unendliche Glück ken­nen, alles in Christus zu finden, und möchten wir nicht aufhören, mit Geduld auf Seine nahe Ankunft zu warten! Amen!