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Gedanken zum 5. Buch Mose

 

C. H. Mackintosh

 

Einleitung

 

Das Buch, das wir jetzt betrachten wollen, hat ebenso seine Eigenart, wie die vorausgehenden Teile des Pentateuch. Sein Titel, Deuterono­mium, könnte zu der Annahme führen, es sei einfach eine Wiederho­lung dessen, was wir bereits in den ersten vier Büchern Mose gefunden haben. Aber im Wort Gottes gibt es keine bloßen Wiederholungen. Gott tut nicht zweimal dasselbe, weder in Seinem Worte, noch in der Schöpfung. Überall, wo wir den Spuren des Wirkens Gottes nachgehen, finden wir eine göttliche Fülle, Abwechslung und einen bestimmten Plan. Welch eine armselige Vorstellung von göttlicher Inspiration hat doch derjenige, der glaubt, das fünfte Buch Mose sei nur eine Wieder­holung des zweiten, dritten und vierten Buches. Wenn wir von einer menschlichen Arbeit etwas Derartiges nicht erwarten, wieviel weniger von der vollkommenen Offenbarung, die Gott uns in Seinem Wort gegeben hat! Nein, in dem ganzen Buch gibt es nicht einen Satz zuviel, nicht einen Ausspruch, der ohne Bedeutung wäre. Wer das nicht er­kennt, hat die Tragweite des Wortes: "Alle Schrift ist von Gott einge­geben" noch nicht erfaßt. Das Volk des Herrn muß fest gewurzelt sein in der Wahrheit von der göttlichen Eingebung der ganzen Heiligen Schrift. Die Entschiedenheit in bezug auf diesen wichtigen Punkt hat in der bekennenden Christenheit in erschreckender Weise abgenommen. Viele halten es für wissenschaftlich, scheinbare Fehler im Wort Gottes aufzuspüren. Der Mensch maßt sich an, die Bibel zu kritisieren wie eine Zusammenstellung menschlicher Gedanken. Er meint entscheiden zu können, was wirklich Gottes Wort ist und was nicht. In Wahrheit stellt sich damit der Mensch über Gott.

 

Das fünfte Buch Mose nimmt einen ganz bestimmten Platz ein. Gleich die ersten Zeilen des Buches zeigen das: "Dies sind die Worte, welche Mose zu ganz Israel geredet hat diesseits des Jordan, in der Wüste, in der Ebene, Suph gegenüber, zwischen Paran und Tophel und Laban und Hazeroth und Di‑Sahab".

 

Israel war bis an das östliche Ufer des Jordan gekommen und stand im Begriff, das Land der Verheißung zu betreten. Die Wüstenwanderung war nahezu beendet, wie aus Vers 3 zu ersehen ist, wo uns der Zeit­punkt ebenso genau genannt wird, wie in Vers 1 die geographische Lage: "Und es geschah im vierzigsten Jahre, im elften Monat, am ersten des Monats, da redete Mose zu den Kindern Israel nach allem, was der HERR ihm an sie geboten hatte".

 

Nicht nur Zeit und Ort werden genau beschrieben. Die zuletzt ange­führte Stelle zeigt auch, daß die Mitteilungen, die das Volk in Moab erhielt, nicht nur eine Wiederholung des früher Gesagten sind. Hierfür finden wir einen weiteren Beweis in Kap. 28, 69, wo es heißt: "Das sind die Worte des Bundes, welchen der HERR im Lande Moab dem Mose geboten hat, mit den Kindern Israel zu machen, außer dem Bunde, den er am Horeb mit ihnen gemacht hatte".

 

Hier ist von zwei verschiedenen Bündnissen die Rede: das eine wurde am Berg Horeb geschlossen und das andere im Land Moab. Wir werden im Laufe unserer Betrachtung weitere Beweise dafür finden.

 

Wie bereits gesagt, könnte der griechische Titel des Buches, Deuterono­mium, (d. h. ein zweites Gesetz, oder: das Gesetz zum zweiten Male) den Gedanken erwecken, als sei es tatsächlich nur eine Wiederholung des Vorhergegangenen. Doch das Buch hat seine besondere Aufgabe. Der Leitgedanke vom Anfang bis zum Ende ist G e h o r s a m, nicht ein blinder Gehorsam, sondern ein Gehorsam im Geiste der Liebe und Ehrfurcht, gegründet auf ein Vertrauensverhältnis.

 

Der betagte Gesetzgeber, der treue und geehrte Diener des Herrn, schickte sich an, Abschied vom Volk zu nehmen. Er war auf dem Weg zum Himmel. Israel war bereit, den Jordan zu durchqueren. Moses letzte Worte sind ernst und bewegend. Er wirft einen Rückblick auf die ganze Geschichte des Volkes während der Wanderung durch die Wüste. Er ruft ihnen die Szenen und Umstände der ereignisreichen vierzig Jahre ihres Wüstenlebens noch einmal ins Gedächtnis zurück, in einer Weise, die ihre Herzen bewegen mußte. Bei uns hinterlassen diese Worte einen bleibenden Eindruck durch die Situation, in der sie gesprochen wurden und wegen ihres erhabenen Inhalts. Sie reden zu uns nicht weniger eindringlich, als zu den Zuhörern damals. Die Aufforde­rungen und Ermahnungen haben solche Kraft, als seien sie direkt an uns gerichtet.

 

ist es nicht ebenso mit der ganzen Heiligen Schrift? Wie passend ist alles für unseren Zustand und für jeden Tag unseres Lebens! Das Wort redet zu uns mit einer Frische, als sei es ausdrücklich für uns und in diesem Augenblick geschrieben worden. Die Bibel ist kein veraltetes Schriftstück, das von untergegangenen Kultur‑ und Gesellschaftsformen berichtet. Die Bibel ist ein Buch für die Gegenwart. Sie ist das Buch Gottes, Seine vollkommene Offenbarung. Gott selbst redet darin zu jedem von uns. Die Bibel ist ein Buch für alle Zeiten, für alle Länder, für alle Menschen, ob hoch oder niedrig, reich oder arm, gebildet oder ungebildet, alt oder jung. Sie spricht eine so einfache Sprache, daß ein Kind sie verstehen kann, und doch so tiefgründig, daß der schärfste Verstand sie nicht zu erfassen vermag. Sie spricht unmittelbar zum Her­zen. Sie dringt vor bis zu den verborgenen Quellen unserer Gedanken und Gefühle und deckt die geheimsten Winkel unseres Seins auf. Sie richtet und beurteilt uns durch und durch. Kurz, das Wort Gottes ist, wie der Apostel sagt, "lebendig und wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert, und durchdringend bis zur Scheidung von Seele und Geist, sowohl der Gelenke als auch des Markes, und ein Beurteiler der Gedanken und Gesinnungen des Herzens" (Hebr. 4, 12).

 

Ruft es nicht unsere Bewunderung wach, wie allumfassend dieses Buch ist? Es behandelt die Gewohnheiten, Sitten und Grundsätze des zwan­zigsten Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung mit derselben Genauig­keit wie frühere Perioden menschlichen Daseins. Dieses Buch verrät eine völlige Kenntnis des Menschen in jedem Abschnitt seiner Geschichte. Wir sehen in diesem wunderbaren Buch, das Gott uns zu unserer Unterweisung gegeben hat, ein meisterhaftes Bild der Menschheit im Verlauf ihrer Geschichte.

 

Dieses Buch sagt dem Menschen die Wahrheit über sich selbst. Deshalb liebt der Mensch das Buch Gottes nicht und greift lieber zu anderer Lektüre. Das erklärt die fortgesetzte Anstrengung des Menschen, die Bibel von dem Platz zu stoßen, den sie behauptet. Es ist heute nicht anders als zu Zeiten der Apostel. So wie damals "etliche böse Männer vom Gassenpöbel" und "anbetende und vornehme Frauen und die Ersten der Stadt" ‑ zwei gesellschaftlich und sittlich sehr unterschied­liche Klassen ‑ in der Verwerfung des Wortes Gottes und seiner Verkündiger (Apg. 13, 50; 17, 5) übereinstimmten, so sind sich auch heute ganz unterschiedlich denkende Menschen plötzlich einig, wenn es um die Ablehnung der Bibel geht. Um andere Bücher kümmert man sich wenig. Niemand denkt daran, in Vergil, Livius, Homer und Herodot *) nach Fehlern und Widersprüchen zu suchen. Nur die Bibel kann der Mensch nicht in Ruhe lassen, weil sie ihm die Wahrheit sagt über sich selbst und die Welt, zu der er gehört.

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*) Dichter und Geschichtsschreiber der alten Römer und Griechen

 

Genau so widersprach man dem Sohn Gottes, dem Herrn Jesus selbst, als Er unter den Menschen wandelte. Sie haßten Ihn, weil Er ihnen die Wahrheit sagte. Alle anderen Menschen konnten ungehindert ihres Weges ziehen. Er aber wurde auf Schritt und Tritt bewacht und belau­ert. Die Führer und Obersten des Volkes "suchten ihn in seiner Rede zu fangen", suchten eine Gelegenheit, Ihn vor das Gericht zu bringen. So war es während Seines ganzen Lebens. Als es endlich dem Menschen in seinem Haß gelungen war, den Herrn der Herrlichkeit zu kreuzigen und zwischen zwei Mördern ans Fluchholz zu nageln, da schmähten die Vorübergehenden nicht etwa die Mörder, obwohl sie wegen ihrer Verbrechen Schimpf und Schande verdient hatten. Für sie gab es viel­leicht noch einen mitleidigen Blick oder ein Bedauern, zumindest dachten die Hohenpriester und Schriftgelehrten nicht daran, wegen der Mörder in grausamem Spott die Köpfe zu schütteln. Alle Beschimpfung, Spott und Hohn und alle Gefühllosigkeit galten dem, der an dem Kreuz in der Mitte hing, dem reinen, fleckenlosen Lamm Gottes.

 

Was ist eigentlich die Quelle alles dieses Widerspruchs gegen das Wort Gottes, gegen das fleischgewordene und auch das geschriebene Wort? Der Haß des Teufels! Er haßt das Wort Gottes und bedient sich der Gelehrtheit ungläubiger Männer, indem sie Bücher schreiben, die be­weisen sollen, daß die Bibel nicht Gottes Wort ist, weil es angeblich Irrtümer und Widersprüche in ihr gebe. Diese Gelehrten behaupten, daß wir im Alten Testament Gesetze und Verordnungen, Gewohnhei­ten und Gebräuche finden, die dem Charakter eines gnädigen und gütigen Gottes nicht entsprechen.

 

Alle diese ungläubigen Gelehrten verstehen nichts von der Sache, mö­gen sie auch noch so gelehrt und begabt sein und sich in der Weltliteratur auskennen.

 

Paulus schreibt in seinem Brief an die Korinther: "Der natürliche Mensch aber nimmt nicht an, was des Geistes Gottes ist, denn es ist ihm eine Torheit, und er kann es nicht erkennen, weil es geistlich beur­teilt wird" (l. Kor. 2, 14). Das ist entscheidend. Paulus spricht von Menschen in ihrem natürlichen Zustand, seien sie gelehrt oder ungebil­det. Es heißt einfach: Er kann nicht erkennen, was des Geistes Gottes ist. Wie kann ein solcher Mensch sich zutrauen, zu beurteilen, was Gott gesagt haben kann und was nicht? Seine Beweise sind unhaltbar und seine Meinungen wertlos. Alle Wissenschaft und menschliche Weisheit, so umfassend und tiefgründig sie auch sein mögen, befähigen einen Menschen nicht, über Gottes Wort zu urteilen. Ein Gelehrter kann die alten Handschriften der Bibel kritisch auf ihren Text hin prüfen und vergleichen und sich ein Urteil über eine richtige oder falsche Lesart einer bestimmten Stelle bilden. Doch die göttliche Offenbarung selbst zu beurteilen, ist etwas völlig anderes. Die heiligen Schriften können allein durch den Heiligen Geist verstanden werden, durch den Geist, der sie gegeben hat. Die Autorität des Wortes Gottes muß anerkannt werden. Könnte der Mensch das Wort mit seiner Vernunft beurteilen, so wäre es nicht Gottes Wort. Die Schrift beurteilt den Menschen, nicht aber der Mensch die Schrift.

 

Das Wort Gottes ist ein Fels, an dem die Wogen ungläubiger Meinun­gen und Lehren machtlos zerschellen. Sie vermögen seine göttliche Kraft und Gültigkeit nicht zu erschüttern. Das Wort Gottes kann durch nichts angetastet werden. "In Ewigkeit, HERR, steht dein Wort fest in den Himmeln". "Du hast dein Wort herrlich gemacht wie deinen Namen". Was bleibt uns nun zu tun übrig? Nur das eine: "Dein Wort habe ich verwahrt in meinem Herzen, auf daß ich nicht wider dich sün­dige". Darin liegt das Geheimnis des Friedens. Gott selbst macht uns durch Sein Wort mit Seinen Gedanken bekannt, und dadurch besitzen wir einen Frieden, den die Welt nicht geben, aber auch nicht nehmen kann. Was können alle Meinungen und Beweise der Ungläubigen be­wirken? Nichts. Für den, der durch die Gnade Gottes wirklich gelernt hat, dem Wort Gottes zu vertrauen und die Autorität der Heiligen Schrift anzuerkennen, sind alle Bücher von Ungläubigen völlig bedeutungslos. Sie beweisen nur die Unwissenheit und Anmaßung ihrer Schreiber. Das Wort Gottes bleibt, wo es immer war und in Ewigkeit sein wird, "festgesetzt in den Himmeln", so unerschütterlich wie der Thron Gottes selbst *). So wenig die Angriffe Ungläubiger den Thron Gottes zu erschüttern vermögen, ebenso wenig können sie Sein Wort erschüttern, und ebenso wenig vermögen sie den Frieden derer zu stö­ren, die auf diesen festen Grund gebaut haben. "Große Wohlfahrt haben die, die dein Gesetz lieben, und kein Fallen gibt es für sie" (Ps. 119, 165). "Das Wort unseres Gottes besteht in Ewigkeit" (Jes. 40, 8). Alles Fleisch ist wie Gras, und alle seine Herrlichkeit wie des Grases Blume. Das Gras ist verdorrt, und seine Blume ist abgefallen; aber das Wort des Herrn bleibt in Ewigkeit. Dies aber ist das Wort, welches euch verkündigt worden ist" (i. Petr. 1, 24. 25).

 

Oft wird die Frage gestellt: "Wie können wir wissen, ob das Buch, das wir die Bibel nennen, Gottes Wort ist?" Unsere Antwort lautet: Gott, der uns in Seiner Gnade dieses wunderbare Buch geschenkt hat, kann uns auch allein die Gewißheit geben, daß es von Ihm ist. Der Geist, der die verschiedenen Schreiber der Heiligen Schrift inspiriert hat, be­wirkt in uns die Erkenntnis, daß diese Schriften wirklich das Wort Gottes sind. Diese Erkenntnis kann nur der Heilige Geist vermitteln: "Der natürliche Mensch nimmt nicht an, was des Geistes Gottes ist, denn es ist ihm eine Torheit, und er kann es nicht erkennen, weil es geistlich beurteilt wird".

 

Wenn es in dieser Hinsicht auch nur den leisesten Zweifel gäbe, so würde das unseren Frieden und unsere Freude sehr in Frage stellen. Doch Gott gibt uns die Gewißheit und auch nur Er allein. Kein Mensch und keine Kirchenversammlung kann diese Gewißheit vermitteln. Würde unser Glaube auf einer derartigen Autorität beruhen, so wäre er wertlos.

 

Ist es nicht von grundlegender Bedeutung, Klarheit über diesen Punkt zu besitzen, um einerseits vor den Einflüssen des Unglaubens und anderseits vor den Verwirrungen des Aberglaubens bewahrt zu bleiben?

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*) Es ist eine traurige Tatsache, daß wir heute die gefährlichsten ungläubigen Autoren unter den Theologen finden. Wer früher das Wort "ungläubig" hörte, dachte z. B. an Voltaire. Heute aber sind es Professoren und Lehrer der bekennenden Kirche, die als Feinde des Wortes Gottes auftreten und seine göttliche Autorität leugnen.

 

Der Unglaube erdreistet sich zu sagen, Gott habe uns keine schriftliche Offenbarung Seiner Gedanken gegeben und leugnet überhaupt die Möglichkeit dazu. Der Aberglaube behauptet, Gott habe vielleicht eine solche Offenbarung gegeben, aber man könne dies ohne menschliche Autorisierung nicht wissen und die Offenbarung ohne menschliche Auslegung nicht verstehen. Es ist offensichtlich, daß beide uns in gleicher Weise die Gabe des Wortes rauben wollen. Das ist genau das Ziel, das Satan verfolgt. Er versucht das durch Unglauben und Aberglauben.

 

wir wollen daran festhalten, daß die Schriften "von Gott eingegeben" und deshalb vollkommen sind. Sie brauchen nicht durch eine mensch­liche Autorität beglaubigt zu werden. Sie sprechen für sich selbst und beglaubigen sich selbst. Wir brauchen nur zu glauben und zu gehor­chen. Gott hat gesprochen. Es geziemt uns, zu hören und uns Seinem Wort ganz zu unterwerfen.

 

Das ist der große Leitgedanke in dem ganzen fünften Buch Mose. Es hat kaum eine Zeit gegeben, in der es dringender war, mit allem Nach­druck den unbedingten Gehorsam zum Worte Gottes vorzustellen, als gerade heute. Leider wird das wenig empfunden. Der größte Teil der bekennenden Christen scheint es als Recht zu betrachten, den eigenen Gedanken, der eigenen Vernunft, dem eigenen Urteil oder dem eige­nen Gewissen zu folgen. Man glaubt nicht mehr, daß die Bibel ein göttliches Buch ist. Man folgt in vielen Dingen seiner eigenen Entschei­dung. Dadurch entstanden die zahllosen Sekten, Parteien, Glaubens­bekenntnisse und Richtungen. Wenn menschliche Meinungen schon anerkannt werden, dann hat selbstverständlich der eine so gut ein Recht, seiner Meinung zu folgen, wie der andere. So ist es gekommen, daß die bekennende Kirche wegen ihrer Zersplitterung zu einem Sprichwort geworden ist.

 

Was ist die einzig wirksame Medizin gegen diese allgemein verbreitete Krankheit? Es ist, wie schon oben gesagt, eine unbedingte und voll­ständige Unterwerfung unter die Autorität der ganzen Heiligen Schrift. Man darf nicht an das Wort Gottes herantreten, um seine Meinungen und Ansichten darin bestätigt zu finden, sondern sollte es mit der Ab­sicht lesen, die Gedanken Gottes über alle Dinge zu erfahren und sich vor dem Wort Gottes beugen. Das ist die dringende Notwendigkeit für unsere Tage. Ohne Zweifel gibt es große Unterschiede in dem Maße unseres geistlichen Verständnisses und in der Art und Weise, wie wir die Schriften erfassen und wertschätzen. Aber was wir allen Christen dringend ans Herz legen möchten, ist die Einstellung, die in dem Wort des Psalmisten zum Ausdruck kommt: "In meinem Herzen habe ich dein Wort verwahrt, auf daß ich nicht wider dich sündige" (Ps. 119, 11). Eine solche Haltung ist Gott angenehm. "Aber auf diesen will ich blik­ken: auf den Elenden und den, der zerschlagenen Geistes ist, und der da zittert vor meinem Worte" (Jes. 66, 2).

 

Hierin liegt auch das Geheimnis unserer Sicherheit in geistlicher Bezie­hung. Unsere Kenntnis der Schrift mag sehr gering sein, doch wenn wir die rechte Ehrfurcht vor dem Wort haben, werden wir dennoch vor allen Irrtümern bewahrt bleiben. Die Folge ist, daß wir in der Er­kenntnis Christi und des geschriebenen Wortes wachsen. Wir werden mit Freude aus den unergründlichen Tiefen des lebendigen Wortes schöpfen. Das Leben aus Gott wird auf diese Weise genährt und ge­kräftigt. Das Wort Gottes wird uns von Tag zu Tag wertvoller, und wir werden durch den Heiligen Geist immer mehr in die Tiefe, Fülle, Ma­jestät und Herrlichkeit der Heiligen Schrift eingeführt werden.

 

Kapitel 1

 

VOM HOREB NACH KADES

 

"Dies sind die Worte, welche Mose zu ganz Israel geredet hat diesseit des Jordan, in der Wüste, in der Ebene, Suph gegenüber, zwischen Paran und Tophel und Laban und Hazeroth und Di‑Sahab. Elf Tage­reisen sind vom Horeb, auf dem Wege des Gebirges Seir, bis Kades-­Barnea" (V. 1. 2).

 

Der Schreiber ist sorgfältig bemüht, uns genau die Lage des Ortes anzugeben, an dem die Worte dieses Buches zu dem Volk Israel ge­sprochen wurden. Israel hatte den Jordan noch nicht überschritten. Das Volk war an der östlichen Jordanseite angelangt, dem Roten Meere gegenüber, wo vor nahezu vierzig Jahren Gott Seine große Macht so herrlich bewiesen hatte. Diese genaue Beschreibung zeigt, wie sehr Gott die Belange Seines Volkes interessieren. Selbst die Lagerplätze werden erwähnt. Kein einziger, noch so unbedeutender Umstand in Verbindung mit Seinem Volk entging Ihm. Sein Auge ruhte beständig auf der ge­samten Gemeinde wie auch auf jedem einzelnen. Bei Tag und Nacht wachte Er über das Volk. Das Volk stand unter Seiner Führung.

 

So war es damals mit Israel in der Wüste, und so ist es auch heute mit der Kirche ‑ und zwar sowohl was ihre Gesamtheit, als auch was jeden einzelnen betrifft. Sein Auge ruht beständig auf uns, und Seine Arme umfassen uns bei Tag und Nacht. "Er zieht seine Augen nicht ab von dem Gerechten" (Hi. 36, 7). Er zählt die Haare unseres Hauptes und achtet auf alles, was uns betrifft. Er nimmt alle unsere Bedürfnisse und Anliegen auf sich. Er wünscht, daß wir alle unsere Sorgen auf Ihn werfen in der Gewißheit, daß Er für uns sorgt. Er fordert uns auf, mit allem zu Ihm zu kommen, mögen die Anliegen groß oder klein sein.

 

Das bewirkt in unseren Herzen wahren Trost und wahre Ruhe, was auch kommen mag. Doch sind unsere Herzen von dem Glauben daran ergriffen? Glauben wir wirklich, daß der allmächtige Schöpfer und Er­halter aller Dinge, Er, der die Säulen des Weltalls trägt, es sich zur Aufgabe gemacht hat, für uns zu sorgen auf der Reise durch diese Welt?

 

"Er, der doch seines eigenen Sohnes nicht geschont hat: wie wird er uns mit ihm nicht auch alles schenken?" (Röm. 8, 32). Was bedeuten diese Worte für uns? Wir unterhalten uns über diese Dinge und halten sie für wahr; dabei beweisen wir in unserem täglichen Leben, wie wenig wir sie verwirklichen. Wenn wir tatsächlich glaubten, daß unser Gott für alle unsere Bedürfnisse sorgt, wenn wir wirklich alle unsere Quellen in Ihm fänden, könnten wir dann noch auf die armseligen menschlichen Quellen blicken, die doch so bald versiegen und uns enttäuschen? Un­möglich Doch die Lehre von dem Leben aus Glauben zu kennen, ist etwas ganz anderes, als sie zu verwirklichen. Wir täuschen uns ständig selbst, wenn wir uns einbilden, aus Glauben zu leben und uns in Wirk­lichkeit nur auf eine menschliche Stütze lehnen, die früher oder später brechen muß.

 

Welch eine Zuversicht und Freude gibt es uns, zu wissen, daß der Schöpfer und Erhalter des Weltalls uns ewig und vollkommen liebt, daß sein Auge immer auf uns ruht, und daß Er selbst für uns sorgen will, seien es leibliche oder geistliche Bedürfnisse. In Christus besitzen wir alles; Er ist die Schatzkammer des Himmels und das Vorratshaus Gottes, und das alles ist Er für uns.

 

Wir wenden uns so leicht mit unseren Anliegen an Menschen. Warum gehen wir nicht gleich zu Jesus? Brauchen wir Mitgefühl? Wer kann so mit uns fühlen wie unser barmherziger Hoherpriester, der alle unsere Schwachheiten kennt? Brauchen wir Hilfe? Wer kann uns so helfen wie unser allmächtiger Freund, der Besitzer unermeßlicher Reichtümer? Brauchen wir einen Ratschlag oder eine Wegweisung? Wer kann uns das geben, wenn nicht unser Herr, der die Weisheit Gottes ist und der uns von Gott zur Weisheit gemacht worden ist (l. Kor. 1, 30)? Laßt uns Sein liebendes Herz nicht verwunden und Ihn nicht dadurch verun­ehren, daß wir uns von Ihm abwenden! Laßt uns recht nahe bei der Quelle bleiben! Dann werden wir uns sicher nicht über Mangel an Wasser zu beklagen haben. Mit einem Wort, laßt uns aus Glauben leben und auf diese Weise Gott vor unseren Mitmenschen verherr­lichen.

 

Der 2. Vers unseres Kapitels enthält eine sehr bemerkenswerte Mittei­lung. "Elf Tagereisen sind vom Horeb, auf dem Wege des Gebirges Seir, bis Kades‑Barnea". Elf Tage! Die Kinder Israel hatten vierzig lange Jahre dazu gebraucht! Wie kam das? Betrachten wir unser Leben!

 

,Auch wir kommen nur langsam vorwärts! Wieviele Windungen und Krümmungen hat auch unser Weg aufzuweisen? Oft müssen wir zu­rückgehen und wieder und immer wieder neu anfangen. Wir sind träge Wanderer, weil wir träge Schüler sind. Vielleicht wundern wir uns, daß die Kinder Israel zu einem Weg von elf Tagereisen vierzig Jahre gebraucht haben. Doch wir haben Grund genug, uns über uns selbst zu wundern. Gleich ihnen lassen wir uns aufhalten durch unseren Unglauben und die Trägheit unserer Herzen. Dabei haben wir weit weniger Entschuldigung als sie, weil unsere Vorrechte viel erhabener sind, als ihre es waren.

 

Viele von uns müssen wohl beschämt sein über die lange Zeit, die wir nötig haben, um zu lernen, was Gott uns lehren will. Die Worte des Apostels passen nur zu gut auf uns: "Denn da ihr der Zeit nach Lehrer sein solltet, bedürfet ihr wiederum, daß man euch lehre, welches die Elemente des Anfangs der Aussprüche Gottes sind; und ihr seid solche geworden, die der Milch bedürfen und nicht der festen Speise" (Hebr. 5, 12). Unser Gott ist nicht nur ein treuer und weiser Lehrmeister, son­dern Er ist auch gnädig und geduldig. Er erlaubt uns nicht, über unsere Aufgaben flüchtig hinwegzugehen. Wir meinen oft, etwas gut gelernt zu haben und versuchen dann, eine andere Aufgabe zu lösen. Doch unser Lehrer weiß besser, wann wir noch gründlicher lernen müssen. Er will uns nicht zu Theoretikern oder Halbwissern ausbilden. Er übt uns, wenn es nötig ist, jahrelang in der Tonleiter, bis wir singen können.

 

Es ist demütigend für uns, daß wir im Lernen so träge sind, aber zu­gleich machen wir Erfahrungen mit der Gnade unseres Gottes. Wir dürfen Ihm danken für die Methode Seiner Unterweisung und die Ge­duld, in der Er immer wieder dieselbe Aufgabe mit uns übt, bis wir sie uns gründlich eingeprägt haben. *)

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*) Die Reise der Kinder Israel vom Horeb bis Kades-Barnea ist ein treffendes Bild von der Geschichte vieler auf dem Weg zum Frieden. Viele Kinder Gottes leben jahrelang in Zweifel und Furcht, ohne die Freiheit zu kennen, mit der Christus Sein Volk freigemacht hat. Es ist betrübend für jeden, der wirklich um solche Menschen besorgt ist, den schlechten und krankhaften Zustand zu sehen, in dem so manche Gläubige ihr Leben lang bleiben. Es wird oft sogar als ein Zeichen echter Demut angesehen, ständig im Zweifel zu sein. Ein sicheres Wissen wird als Anmaßung verurteilt. Das Evangelium ist diesen Menschen unbekannt; sie stehen unter Gesetz, anstatt unter der Gnade. Sie werden ferngehalten und nicht aufgefordert, nahezukommen (s. Hebr. 10, 19‑22).

 

"Und es geschah im vierzigsten Jahre, im elften Monat, am ersten des Monats, da redete Mose zu den Kindern Israel nach allem, was der HERR ihm an sie geboten hatte" (V. 3). Diese wenigen Worte enthal­ten wichtige Unterweisungen für jeden Diener Gottes, für alle, die be­rufen sind, am Wort und an der Lehre zu dienen. Mose gab dem Volk gerade das, was er selbst von Gott empfangen hatte, nichts mehr und nichts weniger. Er brachte das Volk in direkte Berührung mit dem le­bendigen Wort des HERRN. Das ist der wichtige Grundsatz des Dien­stes, der für alle Zeiten gültig ist. Alles andere hat keinen Wert. Das Wort Gottes allein wird bestehen. In ihm ist göttliche Kraft und Auto­rität. Alle menschlichen Lehren vergehen und geben einem Menschen keinen Grund, auf dem er sicher ruhen kann.

 

Daher sollte es für alle, die in der Versammlung Gottes dienen, ein ernstes Anliegen sein, das Wort in aller Genauigkeit und Einfachheit zu predigen, es weiterzugeben, wie sie es von Gott empfangen haben, und so die Hörer dem wahrhaftigen Wort Gottes gegenüberstellen. Dann werden sie auch mit Kraft zu den Herzen und Gewissen ihrer Zuhörer reden. Die Zuhörer kommen durch das Wort mit Gott selbst in Verbindung. Das können menschliche Lehren niemals bewirken.

 

Hören wir, was der Apostel Paulus hierüber sagt: "Und ich, als ich zu euch kam, Brüder, kam nicht nach Vortrefflichkeit der Rede oder Weis­heit, euch das Zeugnis Gottes verkündigend. Denn ich hielt nicht dafür, etwas unter euch zu wissen, als nur Jesum Christum und ihn als ge­kreuzigt. Und ich war bei euch in Schwachheit und in Furcht und in vielem Zittern; und meine Rede und meine Predigt war nicht in über­redenden Worten der Weisheit, sondern in Erweisung des Geistes und der Kraft". Die Ursache dieser Furcht und dieses vielen Zitterns war der Wunsch des Apostels: "... auf daß euer Glaube nicht beruhe auf Men­schen‑Weisheit, sondern auf Gottes‑Kraft" (l. Kor. 2, 1‑5).

 

Dieser aufrichtige, treue Diener Christi suchte seine Zuhörer in unmit­telbare, persönliche Verbindung mit Gott selbst zu bringen. "Wer ist denn Apollos, und wer Paulus? Diener, durch welche ihr geglaubt habt". Jeder falsche Dienst bewirkt, daß die Menschen dem Diener anhängen. Auf diese Weise wird aus dem Diener etwas gemacht, Gott aber zu­rückgedrängt. jeder wahre Dienst hat dagegen den Zweck, wie wir das bei Mose und auch Paulus sehen, die Zuhörer in die Gegenwart Gottes zu bringen.

 

Der Apostel beschäftigt sich an anderer Stelle noch eingehender damit: Ich tue euch aber kund, Brüder, das Evangelium, das ich euch verkündigt habe, das ihr auch angenommen habt, in welchem ihr auch stehet, durch welches ihr auch errettet werdet. Denn ich habe euch zuerst überliefert, was ich auch empfangen habe", ‑ nichts mehr und nichts weniger, nichts anderes als das "daß Christus für unsere Sünden gestorben ist, nach den Schriften; und daß er begraben wurde, und daß er auferweckt worden ist am dritten Tage, nach den Schriften" (‑i. Kor. 15,1‑4).

 

Welch klares und ernstes Wort für diejenigen, die wirksame Diener Christi sein wollen! Der Apostel war sorgfältig bemüht, den lauteren Strom aus der Quelle des Herzens Gottes in die Seelen der Christen fließen zu lassen. Er wußte, daß alles andere keinen Wert hatte. Hätte er seine Zuhörer an sich zu binden gesucht, so hätte er seinen Meister verunehrt und ihnen schweres Unrecht zugefügt. Er selbst hätte am Tage Christi Schaden gelitten.

 

Wir kommen jetzt zu den Worten Moses: "Der HERR, unser Gott, redete zu uns am Horeb und sprach: Lange genug seid ihr an diesem Berge geblieben ‑ wendet euch und brechet auf und ziehet nach dem Gebirge der Amoriter und zu allen ihren Anwohnern in der Ebene, auf dem Gebirge und in der Niederung und im Süden und am Ufer des Meeres, in das Land der Kanaaniter und zum Libanon, bis zu dem großen Strome, dem Strome Phrat" (V. 6. 7).

 

Wir werden in dem ganzen fünften Buch Mose finden, daß der Herr viel unmittelbarer mit dem Volk verkehrt als in den vorhergehenden Büchern. In der obigen Stelle wird weder die Wolke noch die Trompete erwähnt. "Der HERR, unser Gott, redete zu uns". Aus dem vierten Buch wissen wir, daß das Volk durch die Wolke geführt wurde und den Schall der Trompete hörte. Hier fehlt beides. Die Worte klingen vertraulicher ‑ "Der HERR, unser Gott, redete zu uns am Horeb und sprach: Lange genug seid ihr an diesem Berge geblieben".

 

Das ist wohltuend. Es erinnert an die Patriarchenzeit, als der HERR mit den Vätern redete, wie ein Mensch mit seinem Freunde redet. Er kam ihnen so nahe, daß weder Vermittlung noch eine Zeremonie nötig war. Er besuchte sie, setzte sich mit ihnen nieder und nahm ihre Gastfreund­schaft an wie bei einer persönlichen Freundschaft. Und gerade diese Einfachheit ist es, die den Erzählungen des ersten Buches Moses einen ihrer besonderen Reize verleiht.

 

Im zweiten, dritten und vierten Buch Mose finden wir etwas ganz an­deres. Dort wird uns ein umfassendes System von Vorbildern und Schatten, Gebräuchen und Verordnungen vorgestellt, das dem Volk für jene Zeit auferlegt wurde und dessen Bedeutung von dem Apostel im Hebräerbrief entfaltet wird (vgl. Hebr. 9, 8‑10).

 

Unter diesem System befanden sich die Israeliten in einer bestimmten Entfernung von Gott. Es war nicht mehr so, wie es einst bei den Vätern gewesen war. Knechtschaft, Dunkelheit und Entfernung waren charak­teristisch für das levitische System, was die Gesamtheit des Volkes betrifft. Anderseits weisen die Vorbilder auf das große Opfer hin, das die Grundlage aller Ratschlüsse und Vorsätze Gottes ist und durch das Er in Übereinstimmung mit Seiner vollkommenen Gerechtigkeit und Seiner ganzen Liebe für alle Ewigkeit ein Volk in Seiner Nähe haben kann, zum Preise der Herrlichkeit Seiner Gnade.

 

Wir finden also im fünften Buch Mose verhältnismäßig wenig von Gebräuchen und Zeremonien. Der Herr erscheint mehr in engerer Ver­bindung mit Seinem Volk. Selbst die Priester in ihrem Dienst werden selten erwähnt. Das ist ein bemerkenswerter Charakterzug dieses schö­nen Buches und zeigt, daß es durchaus eigenständig ist und nicht eine bloße Wiederholung.

 

"Der HERR, unser Gott, redete zu uns am Horeb und sprach: Lange genug seid ihr an diesem Berge geblieben; wendet euch und brechet auf und ziehet nach dem Gebirge der Amoriter." Welch ein Vorrecht dieses Volkes, einen solchen Herrn zu haben und Sein Interesse an allen ihren Angelegenheiten zu sehen. Er bestimmte, wie lange sie an einem Ort bleiben und wohin sie dann ihre Schritte lenken sollten. Sie brauchten sich über die Dauer und das Ziel ihrer Reise nicht den Kopf zu zerbrechen, noch sich um irgend etwas anderes zu sorgen. Er sorgte für sie. Das war genug.

 

Was blieb ihnen denn zu tun übrig? Einfach zu gehorchen. Sie durften in der Liebe des HERRN, ihres Bundes‑Gottes, ruhen und Seinen Ge­boten gehorchen. Darin war ihr Friede, ihr Glück und ihre Sicherheit begründet. Ihre Tagereisen waren genau abgemessen, denn Gott kannte

 

den Weg vom Horeb bis nach Kades‑Barnea. Sie brauchen nur in Ab­hängigkeit von Ihm Tag für Tag weiterzugehen. Doch der Herr führt nur, wenn Unterwürfigkeit vorhanden ist. Hätten sie, nachdem der HERR gesagt hatte: "Lange genug seid ihr an diesem Berge geblieben", daran gedacht, ein wenig länger zu bleiben, so wäre dies ohne Ihn geschehen. Mit Seiner Gemeinschaft, Seinem Rat und Seiner Hilfe konnten sie nur dann rechnen, wenn sie gehorsam waren.

 

So war es mit Israel in der Wüste, und so ist es mit uns. Der Bundesgott Israels ist unser Vater! Er beschäftigt sich noch heute bei uns mit allen Einzelheiten des Lebens wie damals bei dem Volk Israel.

 

Sein Wort an uns lautet: "Seid um nichts besorgt, sondern in allem lasset durch Gebet und Flehen mit Danksagung eure Anliegen vor Gott kundwerden". Was dann? "Der Friede Gottes, der allen Verstand übersteigt, wird eure Herzen und euren Sinn bewahren in Christo Jesu" (Phil. 4, 6‑7).

 

Wie aber leitet Gott Sein Volk jetzt? Nicht mehr durch eine Stimme, die sich an unser Ohr wendet und nicht durch eine Wolke, die sich erhebt und den Weg weist. Wir werden geleitet durch etwas weit Besseres, durch das Wort, durch den Heiligen Geist und die göttliche Natur. Diese drei sind immer einstimmig. Laßt uns doch stets daran denken und alle unsere Beweggründe aufrichtig anhand des Wortes Gottes prüfen! Auf diese Weise bleiben wir vor Irrtum und Selbst­betrug bewahrt. Menschliche Gefühle können uns täuschen, und wir müssen sie stets aufrichtig prüfen, wenn sie uns nicht zu verhängnisvollen und verkehrten Handlungen verleiten sollen. Auf das Wort Gottes können wir dagegen vertrauen, ohne zu zweifeln und werden finden, daß ein Mensch, der sich von dem Heiligen Geist oder der göttlichen Natur leiten läßt, nie im Widerspruch zu dem Wort Gottes handeln wird.

 

Doch es gibt im Blick auf die göttliche Führung noch einen anderen Gesichtspunkt, der unsere Beachtung verdient. Man hört nicht selten, daß von dem „Finger der göttlichen Vorsehung" gesprochen wird als einer Sache, von der man sich leiten lassen müsse. Das ist im Grunde nichts anderes, als sich in seinem Handeln durch Umstände bestimmen zu lassen. Man braucht kaum zu sagen, daß diese Art, sich leiten zu lassen, zu einem Christen nicht paßt.

 

Ohne Zweifel kann und wird uns der Herr manchmal Seine Absichten durch Vorsehung zu erkennen geben und unseren Weg dadurch be­stimmen. Aber wenn wir nahe bei Ihm sind, um Seine Wege richtig zu verstehen, werden wir die Erfahrung machen, daß wir etwas für einen "Ausweg der Vorsehung" hielten, was in Wirklichkeit eine Tür war, durch die wir den Weg des Gehorsams verließen. Jona mag es als eindeutige Fügung der Vorsehung betrachtet haben, ein Schiff zu finden, das nach Tarsis fuhr. Wäre er jedoch in Gemeinschaft mit Gott gewesen, so hätte er kein Schiff benötigt. Kurz, das Wort Gottes ist der einzige zuverlässige Maßstab und der vollkommene Prüfstein für uns. Wir müssen uns in dem durchdringenden Licht des Wortes prüfen. Das bringt jedem Kind Gottes Sicherheit, Frieden und Segen.

 

Können wir denn für alle Kleinigkeiten des täglichen Lebens eine An­weisung in der Bibel finden? Vielleicht nicht. Aber in der Heiligen Schrift sind Grundsätze niedergelegt, die uns bei richtiger Anwendung gottgemäß leiten, selbst wenn wir keine besonderen Bibelstellen für unsere Umstände finden. Daneben aber haben wir die feste Zusage, daß Gott Seine Kinder in allen Dingen leiten wird. "Von dem HERRN werden befestigt des Mannes Schritte“ (Ps. 37, 23). "Er leitet die Sanftmütigen im Recht und lehrt die Sanftmütigen seinen Weg" (Ps. 25, 9). "Mein Auge auf dich richtend, will ich dir raten" (Ps. 32, 8). Gott will uns Seine Gedanken im Blick auf jedes Vorhaben mitteilen. Sollen wir uns durch die wechselvollen Umstände treiben lassen? Sollen wir uns dem blinden Zufall oder unserem eigenen Willen überlassen?

 

Gott sei Dank, daß es nicht so sein muß. Gott kann uns in Seiner eigenen Weise in jedem Fall Gewißheit über Seine Gedanken geben. Wir sollten nie ohne diese Gewißheit etwas beginnen. "Was soll ich tun? Ich bin in Verlegenheit, welchen Weg ich einschlagen soll!", sagte jemand zu seinem Freund. "Dann tu überhaupt nichts", lautete die Antwort.

 

"Er leitet die Sanftmütigen im Recht und lehrt die Sanftmütigen seinen Weg". Das sollten wir nie vergessen. Wenn wir demütig sind und nicht auf uns selbst vertrauen und in Einfalt und Aufrichtigkeit auf Gott warten, wird Er uns leiten. Gott um Rat in einer Sache zu bitten, die wir schon entschieden haben, ist zwecklos. Wir täuschen uns dann in verhängnisvoller Weise. Die Geschichte Josaphats liefert uns da ein treffendes Beispiel. Wir lesen in 1. Kön. 22: "Und es geschah im dritten Jahre, da kam Josaphat, der König von Juda, zu dem König von Israel herab". Das war von vornherein ein großer Fehler. "Und der König von Israel sprach zu seinen Knechten: Wisset ihr nicht, daß Ramoth‑Gilead unser ist? Und wir bleiben still und nehmen es nicht aus der Hand des Königs von Syrien? Und er sprach zu Josaphat: Willst du mit mir nach Ramoth‑Gilead in den Streit ziehen? Und Josaphat sprach zu dem König von Israel: Ich will sein wie du, mein Volk wie dein Volk, meine Rosse wie deine Rosse", und nach 2. Chron. 18, 3. "Ich will mit dir in den Streit ziehen".

 

Josaphat hatte also seinen Entschluß schon gefaßt, ehe er Gott um Rat fragte. Doch dann sagte er zudem König von Israel: "Befrage doch heute das Wort des HERRN!" Aber was konnte das nützen, nachdem er sich bereits verpflichtet hatte! Welch eine Torheit ist es, zuerst einen Entschluß zu fassen und dann einen Rat einzuholen! jetzt war es völlig zwecklos, noch den HERRN zu fragen. Josaphat war hier in einem schlechten Zustand.

 

Das Wort Gottes paßt sich nie unseren Gedanken an, sondern richtet den Menschen. Es steht im Widerspruch zu seinem eigenen Willen und tritt seinen Plänen entgegen. Daher verwirft der Mensch das Wort. Ein ungebrochener Wille und eine blinde Vernunft bringen uns in Finsternis und Elend. Jona wollte nach Tarsis gehen, obwohl der Herr ihn nach Ninive gesandt hatte. Die Folge war, daß er sich in dem ,Schoße des Scheols" wiederfand und daß „das Meergras sich um sein Haupt schlang". Josaphat wollte nach Ramoth gehen, obwohl er in Jerusalem hätte bleiben sollen, und die Folge war, daß er sich umringt sah von den Schwertern der Syrer.

 

So ist es stets. Der Eigenwille führt uns ins Unglück. Im Gehorsam dagegen erfahren wir Frieden, Licht und Segen. Göttliche Gnade wird uns zuteil. Der Weg des Gehorsams mag schmal, rauh und einsam erscheinen, aber es ist der Weg des Lebens, des Friedens und der Sicherheit. "Der Pfad der Gerechten ist wie das glänzende Morgen­licht, das stets heller leuchtet bis zur Tageshöhe" (Spr. 4, 18). Ein gesegneter Weg!

 

Bevor wir diesen wichtigen Punkt der göttlichen Führung und des Gehorsams verlassen, möchte ich den Leser noch auf eine Stelle in Lukas 11 aufmerksam machen. Die Stelle enthält eine sehr wertvolle Unter­weisung: "Die Lampe des Leibes ist dein Auge; wenn dein Auge ein­fältig ist, so ist auch dein ganzer Leib licht; wenn es aber böse ist, so ist auch dein Leib finster. Siehe nun zu, daß das Licht, welches in dir ist, nicht Finsternis ist. Wenn nun dein ganzer Leib licht ist und keinen finsteren Teil hat, so wird er ganz licht sein, wie wenn die Lampe mit ihrem Strahle dich erleuchtete" (V. 34‑36).

 

Können wir das treffender ausdrücken? Zunächst sehen wir, daß ein "einfältiges Auge" zum Gehorsam nötig ist. Es deutet auf einen völlig ergebenen Willen hin, und auf ein Herz, das in Aufrichtigkeit den Willen Gottes tun will.

 

Ist ein Mensch in diesem Zustand, so strömt göttliches Licht in ihn hinein und erfüllt den ganzen Leib. Wenn der Leib nicht licht ist, so ist auch das Auge nicht einfältig. Es sind dann unlautere Beweggründe vorhanden; der Eigenwille ist am Werk und wir sind nicht aufrichtig vor Gott. In diesem Falle ist das Licht, das wir zu haben vorgeben, nichts als Finsternis. Keine Finsternis kann so dicht und schrecklich sein wie diese, die als Gericht über einen Menschen kommt, der vom Eigenwillen beherrscht wird, während er zur gleichen Zeit bekennt, göttliches Licht zu besitzen. "Wenn nun das Licht, das in dir ist, Finster­nis ist, wie groß die Finsternis!" Anderseits wird ein schwaches Licht, wenn es aufrichtig benutzt wird, sicherlich zunehmen, denn wer da hat, dem wird gegeben werden", und "der Pfad der Gerechten ist wie das glänzende Morgenlicht, das stets heller leuchtet bis zur Tageshöhe".

 

"Wenn nun dein ganzer Leib licht ist und keinen finsteren Teil hat", wenn kein Winkel den göttlichen Strahlen verschlossen, kein unreiner Beweggrund vorhanden ist, und wenn das ganze Verhalten von dem göttlichen Licht durchleuchtet werden kann, dann "wird er ganz licht sein, wie wenn die Lampe mit ihrem Strahle dich erleuchtete". Mit einem Wort, wer gehorsam ist, hat nicht nur Licht für seinen Weg, sondern sein Licht leuchtet auch für andere wie eine helle Lampe. Also „lasset euer Licht leuchten vor den Menschen, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater, der in den Himmeln ist, verherrlichen" (Mt. 5, 16).

 

Im weiteren Verlauf dieses Kapitels berichtet Mose die Dinge, die mit der Erwählung der siebzig Richter und der Sendung der Kundschafter in Verbindung standen. Die Erwählung der Richter schreibt Mose seiner eigenen Anregung, die Aussendung der Kundschafter der des Volkes zu. Der würdige Knecht Gottes fühlte, daß die Last der Ver­sammlung zu schwer für ihn war, und sie war es sicherlich. Doch wir wissen, daß die Gnade Gottes für alle Bedürfnisse vollkommen aus­gereicht hätte, und daß sie durch einen Mann ebensoviel ausrichten konnte wie durch siebzig.

 

Wir können die Schwierigkeiten verstehen, die der sanftmütigste unter allen Menschen auf dem Erdboden (4. Mose '12, 3) wegen der Verant­wortung eines derartig schwierigen Amtes gefühlt hat. Die Art und Weise, wie er diese Schwierigkeiten beschreibt, ist ergreifend.

 

,Und ich sprach zu euch in selbiger Zeit und sagte: Ich allein kann euch nicht tragen" ‑ gewiß nicht; welcher Mensch hätte das gekonnt! Aber Gott war da, der immer bereit war, zu helfen. "Der HERR, euer Gott, hat euch gemehrt, und siehe, ihr seid heute wie die Sterne des Himmels an Menge. Der HERR, der Gott eurer Väter, füge zu euch, so viele ihr seid, tausendmal hinzu und segne euch, wie er zu euch geredet hat!" ‑ Eine schöne Einfügung. "Wie könnte ich allein eure Bürde und eure Last und euren Hader tragen?" (V. 9‑12).

 

Der Hader war die Ursache, weshalb die Bürde und die Last so groß waren. Das Volk war sich nicht einig. Es gab Streitfragen und Zwistig­keiten in ihrer Mitte; und wer war diesen Dingen gewachsen? Wie ganz anders hätte es sein können, wenn sie in Frieden miteinander ge­zogen wären. Hätte jeder einzelne das Wohlergehen des anderen ge­sucht, so wäre kein Streit entstanden. Es hätte keine Last, keine Bürde und keinen Hader gegeben.

 

Ist es nicht noch viel demütigender, daß es in der Kirche Gottes genauso aussieht, obwohl unsere Vorrechte viel größer sind? Kaum war die Versammlung durch das Herniederkommen des Heiligen Geistes gebildet, da wurden schon Stimmen des Murrens und der Un­zufriedenheit laut. Und worüber? Über eine "Vernachlässigung“ (vgl. Apg. 6, 1‑6). Mochte sie nun wirklich so sein oder auch nur den An­schein haben, jedenfalls wirkte das 1 c h dabei mit. Entweder mußten die Hellenisten oder die Hebräer getadelt werden. In der Regel gibt es in solchen Fällen Fehler auf beiden Seiten. Der einzige Weg, Streit, Zwist und alle Unzufriedenheit zu vermeiden, ist, sich selbst zu ver­leugnen und ernstlich das Beste des anderen zu suchen. Hätten sich die Christen von Anfang an so verhalten, dann hätten sich die christlichen Geschichtsschreiber mit erquicklicheren Themen beschäftigen können. Doch sehen wir, daß die Geschichte der bekennenden Kirche von An­fang an durch Spaltungen gekennzeichnet ist. Selbst in der Gegenwart des Herrn, dessen ganzes Leben eine einzigartige Selbsterniedrigung war, stritten sich die Jünger darüber, wer der Größte unter ihnen sei. Ein solcher Streit wäre nie entstanden, wenn jeder darauf bedacht gewe­sen wäre, sich selbst zu vergessen und das des anderen zu suchen. Wer etwas von dem sittlichen Wert der Selbsterniedrigung kennt, wird nie­mals für sich das Beste oder einen bevorzugten Platz beanspruchen. Wer wirklich demütig ist, hat genug an der Nähe Christi, so daß Ehren, Auszeichnungen und Belohnungen wenig oder gar keinen Wert für ihn haben. Wo aber das eigene Ich wirkt, da werden sich immer Neid und Streit, Verwirrung und jede böse Tat finden. jedes Blatt der Geschichte der Kirche beweist die Behauptung, daß das Ich mit seinen bösen Wir­kungen von jeher die Ursache des Streites und aller Spaltung gewesen ist. Von den Tagen der Apostel bis heute ist das ungerichtete Ich stets die Quelle all dieser traurigen Erscheinungen gewesen.

 

"Wie könnte ich allein eure Bürde und eure Last und euren Hader tra­gen? Nehmet euch weise und verständige und bekannte Männer, nach euren Stämmen, daß ich sie zu Häuptern über euch setze. Und ihr ant­wortetet mir und sprachet: Gut ist die Sache, die du zu tun gesagt hast. Und ich nahm die Häupter eurer Stämme, weise und bekannte Män­ner", ‑ von Gott befähigte Männer, die das Vertrauen des Volkes besaßen, ‑ "und setzte sie als Häupter über euch, als Oberste über tausend und Oberste über hundert und Oberste über fünfzig und Ober­ste über zehn, und als Vorsteher eurer Stämme" (V. 12‑15).

 

Wirklich eine erstaunliche Anordnung! Sofern sie wirklich nötig war, gab es keine bessere Ordnung als diese Abstufung der Autorität, ange­fangen mit dem Obersten über zehn bis hinauf zu dem Obersten über tausend und schließlich Mose selbst als Haupt über alle in unmittelbarer Verbindung mit dem Herrn, dem Gott Israels.

 

Wir finden hier keine Andeutung, daß die Wahl dieser Richter auf den Rat Jethros, des Schwiegervaters Moses, erfolgte (2. Mose 18). Wir hören auch nichts von dem, was uns in 4. Mose 11 mitgeteilt wird. Das ist ein weiterer Beweis dafür, daß das 5. Buch Mose keine Wiederholung der vorausgehenden Teile des Pentateuch ist. Es war die Absicht des Knechtes Gottes, oder besser gesagt, des in ihm wirkenden Heiligen Geistes, im Volk Gehorsam zu bewirken. Das ist der Gegenstand dieses Buches.

Wenn wir das fünfte Buch Mose verstehen wollen, ist es gut, daran zu denken. Ungläubige und Zweifler mögen behaupten, es gebe Widersprüche in den verschiedenen Erzählungen, wie sie uns in den einzel­nen Büchern mitgeteilt werden. Solche Überlegungen kommen von dem Vater der Lüge, dem Feind der Offenbarung Gottes. Den Ungläubigen Beweise zu liefern, ist nutzlos, weil sie gar nicht imstande sind, das zu verstehen. Ihr Urteil über die Inspiration des Wortes ist deshalb völlig wertlos. Das Wort Gottes steht hoch erhaben über ihnen. Es ist so voll­kommen. wie Gott selbst und so unerschütterlich wie Sein Thron; doch seine Schönheit, seine Tiefe und Vollkommenheit sind nur für den Glauben sichtbar. "Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, daß du dies vor Weisen und Verständigen verborgen hast, und hast es Unmündigen geoffenbart. Ja, Vater, denn also war es wohlge­fällig vor dir“ (Mt. 11, 25. 26).

 

,Und ich gebot euren Richtern in selbiger Zeit und sprach: Höret die Streitsachen zwischen euren Brüdern und richtet in Gerechtigkeit zwi­schen einem Manne und dem Fremdling bei ihm. Ihr sollt nicht die Person ansehen im Gericht; den Kleinen wie den Großen sollt ihr hören; ihr sollt euch vor niemandem fürchten, denn das Gericht ist Gottes. Die Sache aber, die zu schwierig für euch ist, sollt ihr vor mich bringen, daß ich sie höre" (V. 16. 17).

 

Welch eine unparteiische Gerechtigkeit! In jedem einzelnen Streitfall sollten auf beiden Seiten alle Tatsachen geduldig angehört und bedacht werden. Vorurteile oder persönliche Gefühle durften den Richter nicht beeinflussen. Ein Urteil sollte nicht auf bloße Eindrücke hin, sondern nur aufgrund unleugbarer Tatsachen gefällt werden. Jede Sache mußte so entschieden werden, wie sie es verdiente, ohne Rücksicht auf Stellung oder persönlichen Einfluß der einen oder anderen streitenden Partei. "Den Kleinen wie den Großen sollt ihr hören". Der Arme hatte das­selbe Recht wie der Reiche, der Fremdling wie der im Land Geborene. Es durfte kein Unterschied gemacht werden.

 

Welche Belehrung ist darin für uns enthalten! Wir sind nicht alle zu Richtern, Ältesten und Führern berufen; aber auch uns begegnen täglich

 

Situationen, auf die wir diese Grundsätze anwenden können. Unser Urteil muß immer auf Tatsachen beruhen, und zwar auf allen Tatsachen von beiden Seiten. Wir dürfen uns nicht von Eindrücken leiten lassen, die uns täuschen können. Wir bekommen sehr schnell einen falschen Eindruck. Ein Urteil, das nur auf Eindrücken beruht, ist wertlos. Wir dürfen uns nur auf klar erwiesene Tatsachen stützen, die durch zweier oder dreier Zeugen Mund festgestellt sind. Das schärft uns das Wort Gottes wiederholt ein (vgl. 5. Mose 17, 6; 2. Kor. 13, 1; 1. Tim. 5, 19).

 

Ebensowenig sollten wir uns in unserem Urteil durch eine parteiische Darstellung der Tatsachen beeinflussen lassen. Jeder steht in Gefahr, seiner Darstellung, wenn auch in der besten Absicht, eine gewisse Fär­bung zu geben. Vielleicht läßt man bewußt oder unbewußt eine Tat­sache aus, und gerade sie kann unter Umständen alle übrigen Tatsachen in ein ganz anderes Licht stellen. "Audiatur et altera pars" ("man höre auch den anderen Teil“) ist ein alter, stets beachtenswerter Grund­satz. ja, um wirklich ein richtiges Urteil bilden zu können, müssen wir die Tatsachen auf beiden Seiten hören. Deshalb heißt es: "Höret die Streitsachen zwischen euren Brüdern und richtet in Gerechtigkeit zwi­schen einem Manne und seinem Bruder und dem Fremdling bei ihm".

 

Wie wichtig ist die Warnung im 17. Vers: "Ihr sollt nicht die Person ansehen im Gericht; den Kleinen wie den Großen sollt ihr hören; ihr sollt euch vor niemandem fürchten". Wir sind sehr geneigt, die Person anzusehen, uns von persönlichen Einflüssen leiten lassen, Wert zu legen auf Stellung und Reichtum und uns vor Menschen zu fürchten.

 

Was ist das Heilmittel gegen alle diese übel? Es ist die Furcht Gottes. Wenn wir allezeit auf den Herrn sehen, werden wir frei von partei­ischem Denken, von Vorurteilen und Menschenfurcht. Wir werden in allem, was uns begegnen mag, geduldig auf die Weisungen des Herrn warten und so davor bewahrt bleiben, uns ein übereiltes und einseitiges Urteil über Personen und menschliche Beziehungen zu bilden. Wieviel Unheil ist schon durch vorschnelles und liebloses Urteilen unter dem Volke Gottes angerichtet worden!

 

Wir wollen nun betrachten, wie Mose die Gemeinde an die Sendung der Kundschafter erinnert: "Und ich gebot euch zu selbiger Zeit alle die Sachen, die ihr tun solltet". Der Weg lag klar vor ihnen. Sie brauch­ten ihn nur gehorsam zu gehen. Sie brauchten nicht über die Folgen zu grübeln und sich Gedanken zu machen über das Ende des Weges. Alles das konnten sie Gott überlassen und mit festem Vorsatz vorangehen.

 

"Und wir brachen auf vom Horeb und zogen durch diese ganze große und schreckliche Wüste, die ihr gesehen habt, des Weges nach dem Gebirge der Amoriter, so wie der HERR, unser Gott, uns geboten hatte; und wir kamen bis Kades‑Barnea. Und ich sprach zu euch: Ihr seid ge­kommen bis zu dem Gebirge der Amoriter, das der HERR, unser Gott, uns gibt. Siehe, der HERR, dein Gott, hat das Land vor dich gestellt; ziehe hinauf, nimm in Besitz, so wie der HERR, der Gott deiner Väter, zu dir geredet hat; fürchte dich nicht und verzage nicht!" (Vers 19‑21).

 

Das war ihre Garantie, daß sie ihren Besitz sofort antreten konnten. Der HERR, Ihr Gott, hatte ihnen das Land gegeben. Es war ein Ge­schenk Seiner großen Gnade aufgrund des Bundes, den Er mit ihren Vätern gemacht hatte. Es war Sein Wille, das Land Kanaan dem Samen Abrahams, Seines Freundes zu geben. Das hätte das Volk beruhigen sollen bezüglich der Art des Landes und seiner Einnahme. Die Kund­schafter hätten nicht ausgesandt zu werden brauchen. Der Glaube kund­schaftet nicht aus, was Gott gegeben hat. Der Glaube sagt: "Was Gott gibt, muß wertvoll genug sein, und Er ist auch in der Lage, in das ein­zuführen, was Seine Gnade für mich bereitet hat". Israel hätte wissen können: Derselbe Gott, der uns durch die "große und schreckliche Wüste" geleitet hat, kann uns auch in unser verheißenes Erbe bringen.

 

Diesen Schluß hätte der Glaube gezogen, denn er beurteilt die Um­stände immer von Gott aus, nie aber beurteilt er Gott nach den Um­ständen. "Wenn Gott für uns ist, wer wider uns?" "Der Herr ist mein Helfer, und ich will mich nicht fürchten; was wird mir ein Mensch tun?" Wenn ich im Glauben auf Gott blicke, so beschäftige ich mich wenig mit den Schwierigkeiten. Sie werden entweder gar nicht gesehen, oder nur als eine Gelegenheit zur Entfaltung der Macht Gottes betrachtet.

 

Doch das Volk glaubte bei dieser Gelegenheit nicht, sondern nahm Zuflucht zu den Kundschaftern. Hieran erinnert sie Mose: "Und ihr tratet alle zu mir und sprachet: Laßt uns Männer vor uns hersenden, daß sie uns das Land erforschen und uns Bescheid bringen über den Weg, auf dem wir hinaufziehen, und über die Städte, zu denen wir kommen sollen" (V. 22).

 

Hätten sie nicht Gott vertrauen können? Gott hatte sie aus Ägypten herausgeführt, einen Weg für sie durch das Meer gebahnt und sie durch die dürre, schreckliche Wüste geführt. War Er nicht imstande, sie nun auch in das Land zu bringen? Aber nein, sie wollten Kund­schafter aussenden, weil ihre Herzen Gott nicht vertrauten.

 

Im vierten Buch Mose hatte der HERR selbst Mose den Auftrag gege­ben, Kundschafter auszusenden. Doch warum tat Mose das? Wegen des niedrigen Zustandes des Volkes. Von neuem sehen wir den charak­teristischen Unterschied und doch auch die Übereinstimmung in den beiden Büchern. Das vierte Buch teilt uns die allgemeine Geschichte mit, das fünfte Buch dagegen die verborgene Ursache der Sendung der Kundschafter. Ein Bericht ergänzt den anderen. Wir würden die Be­gebenheiten nicht so gut verstehen können, wenn wir nur einen Bericht hätten.

 

Vielleicht fragt jemand, wie es denn unrecht sein konnte, die Kund­schafter auszusenden, wo doch der Herr es befohlen hatte. Das Un­recht bestand nicht in der Sendung der Männer, nachdem der Herr einmal den Auftrag dazu gegeben hatte, sondern in dem Wunsch des Volkes, sie überhaupt zu senden. Dieser Wunsch war eine Frucht des Unglaubens, und der Befehl erfolgte nur wegen dieses Unglaubens. Etwas ähnliches finden wir in Mt. 19, wo der Herr mit den Pharisäern über die Bestimmungen des Gesetzes bezüglich der Ehescheidung spricht (V. 3‑8).

 

Eine Ehescheidung ist nicht in Übereinstimmung mit den Gedanken Gottes. Ein Mann sollte seine Frau nicht entlassen. Doch war die Ehe­scheidung gestattet worden wegen der Herzenshärtigkeit des Menschen. Ähnlich war es bei der Begebenheit mit den Kundschaftern. Israel hätte nicht nötig gehabt, die Kundschafter auszusenden. Ein einfältiger Glaube hätte nie daran gedacht. Aber der Herr sah, wie die Dinge lagen und gab dann entsprechende Anordnungen. So gebot Er auch später Samuel, dem Volk einen König zu geben, als Er sah, daß das Volk einen König begehrte (i. Sam. 8, 7‑9).

 

Die Erfüllung eines Wunsches ist kein Beweis dafür, daß er auch den Gedanken Gottes entspricht.

 

Die Aussendung der Kundschafter war ein vollständiger Fehlschlag und brachte nur Enttäuschungen. Es konnte nicht anders sein, da ihre Sendung eine Folge des Unglaubens war. Allerdings sagte Mose, indem er sich zu dem niedrigen Zustand des Volkes herabließ und dem Plan zustimmte: "Und die Sache war gut in meinen Augen; und ich nahm aus euch zwölf Männer, je einen Mann für den Stamm". Aber dies beweist durchaus nicht, daß der Plan auch den Gedanken Gottes ent­sprach Gott kann uns in unserem Unglauben entgegenkommen, selbst wenn Er dadurch betrübt und verunehrt wird. Aber Er hat Seine Freude nur an einem ungekünstelten Glauben. Solch ein Glaube räumt Gott den Platz ein, der Ihm gebührt. Wenn daher Mose zu dem Volk sagt: "Siehe, der HERR, dein Gott, hat das Land vor dich gestellt; ziehe hinauf, nimm in Besitz, so wie der HERR, der Gott deiner Väter, zu dir geredet hat; fürchte dich nicht und verzage nicht!" ‑ so hätten sie besser beantworten sollen: "Hier sind wir, führe uns, allmächtiger Herr! Führe uns zum Siege! Du bist genug. Haben wir Dich zum Führer, so folgen wir mit freudigem Vertrauen. Schwierigkeiten sind kein Hindernis für Dich, und darum auch nicht für uns. Wir brauchen allein Dein Wort und Deine Gegenwart."

 

Das wäre die Sprache des Glaubens gewesen. Aber Israel sprach an­ders. Gott war nicht genug für sie. Sie waren nicht zufrieden mit dem, was Er ihnen von dem Land gesagt hatte. Sie wollten Kundschafter senden. Der Mensch versucht alles andere, bevor er auf den leben­digen Gott vertraut. Und doch ist nichts gesegneter als ein Leben des Glaubens. Der Glaube muß Wirklichkeit sein und nicht ein totes Be­kenntnis. Es ist zwecklos, von einem Leben aus Glauben zu reden, wenn man im geheimen auf menschlichen Stützen ruht. Der Gläubige hat es ausschließlich mit Gott zu tun. In Ihm findet er alle seine Quellen. Das heißt nicht, daß er die Werkzeuge, die Gott nach Seinem Ermessen gebraucht, gering achtet. Er schätzt sie als die Mittel, die Gott zu seiner Hilfe und zum Segen für andere benutzt. Aber er stellt sie nicht an den Platz, der allein Gott zukommt. Seine Sprache ist: "Nur auf Gott vertraut still meine Seele, von ihm kommt meine Rettung" (Ps. 62, ‑1).

 

Es liegt eine besondere Kraft in dem Wörtchen "nur". Es erforscht das Herz von Grund auf. Wenn wir etwas von einem Geschöpf erwarten, so haben wir uns schon von dem Leben aus Glauben entfernt. Außer­dem bringt es Enttäuschungen aller Art mit sich. Menschliche Stützen zerbrechen, und menschliche Hilfsmittel versagen. Wer aber auf den Herrn vertraut, wird nie beschämt und nie zu kurz kommen. Hätte Israel auf den Herrn vertraut, statt Kundschafter auszusenden, so hätte die Sache eine andere Wendung genommen. Aber sie wollten Kund­schafter aussenden, und alles endete für sie in einem erniedrigenden Fehlschlag.

 

"Und sie wandten sich und zogen ins Gebirge hinauf, und kamen bis zum Tale Eskol und kundschafteten es aus. Und sie nahmen von der Frucht des Landes in ihre Hand und brachten sie zu uns herab. Und sie brachten uns Bescheid und sprachen: Das Land ist gut, das der HERR, unser Gott, uns gibt" (V. 24. 25). Konnte es anders als gut sein, wenn Gott es ihnen geben wollte? Waren Kundschafter nötig, um ihnen zu berichten, daß die Gabe Gottes gut ist?

 

Es ist interessant zu sehen, wie Mose weiter von den Kundschaftern spricht. Er beschränkt sich auf den wahren Teil ihres Berichtes. Er erwähnt hier nicht die zehn ungläubigen Kundschafter. Das steht wieder völlig im Einklang mit dem Charakter dieses Buches. Mose will einen Einfluß auf das Gewissen der Versammlung nehmen. Er erinnert die Israeliten daran, daß sie selbst den Vorschlag zur Sendung der Kund­schafter gemacht hatten, dann aber sich weigerten, hinaufzuziehen, ob­wohl die Kundschafter die Früchte des Landes mitbrachten und Gutes berichteten. "Aber ihr wolltet nicht hinaufziehen und waret wider­spenstig gegen den Befehl des HERRN, eures Gottes." Hierauf konnten sie nichts erwidern, denn sie waren nicht nur ungläubig, sondern auf­rührerisch gegen Gott gewesen. Die Sendung der Kundschafter hatte das deutlich bewiesen.

 

"Und ihr murrtet in euren Zelten und sprachet: Weil der HERR uns haßte," ‑ welch eine schreckliche Lüge angesichts der Tatsachen! ‑"hat er uns aus dem Lande Ägypten herausgeführt, um uns in die Hand der Amoriter zu geben, daß sie uns vertilgen" (V. 27). Wieso war das ein Beweis des Hasses? Wie unsinnig sind doch die Argu­mente des Unglaubens! Hätte der HERR sie gehaßt, so wäre es leicht gewesen, sie in Ägypten sterben zu lassen unter den grausamen Geißel­hieben der Arbeitsvögte des Pharao. Warum gab Er sich dann so viel Mühe mit ihnen? Warum verhinderte Er, daß die Wasser des Roten Meeres sie zusammen mit den Feinden verschlangen? Warum befreite Er sie von dem Schwerte der Amalekiter? Mit einem Worte, wozu alle diese herrlichen Siege Seiner Gnade, wenn Er sie gehaßt hätte? Doch ein finsterer Unglaube beherrschte sie, und deshalb zogen sie die falschen Schlüsse. Es gibt nichts Törichteres unter der Sonne als den Unglauben. Und es gibt nichts, was so klar und vernünftig ist, wie die einfachen Argumente eines kindlichen Glaubens.

 

"Und ihr murrtet in euren Zelten." Der Unglaube ist nicht nur blind und unvernünftig in seinen Urteilen, sondern er führt den Menschen auch zu finsterem und verdrießlichem Murren. Er kann eine Sache nicht von ihrer richtigen und guten Seite auffassen. Er tappt stets in Fin­sternis auf dem verkehrten Wege umher, und nur darum, weil er Gott ausschließt und auf die Umstände blickt. "Wohin sollen wir hinauf­ziehen?", fragten die Israeliten, "unsere Brüder haben unser Herz ver­zagt gemacht, indem sie sagten: Ein Volk, größer und höher als wir", ‑ war es denn auch größer als der HERR? ‑"Städte, groß und befestigt bis an den Himmel", ‑ welche Übertreibung! ‑ "und auch die Kinder der Enakim haben wir dort gesehen!" (V. 28).

 

Der Glaube hätte einfach erwidert: "Was macht's, wenn auch die Städte bis zum Himmel befestigt sind? Unser Gott ist über ihnen, Er ist im Himmel. Was sind große und hohe Mauern vor Ihm, der das Weltall bildete und es erhält durch das Wort Seiner Macht? Was sind Enaks­kinder gegenüber dem allmächtigen Gott?"

 

Aber Israel glaubte nicht. In Hebr. 3 wird gesagt: "sie konnten nicht eingehen wegen des Unglaubens". Das war die große Schwierigkeit. Über die befestigten Städte und die schrecklichen Riesen hätte Israel schnell triumphiert, wenn es Gott vertraut hätte. Wie steht der Un­glaube unseren Segnungen doch immer im Wege! Er hindert die Strah­len der Herrlichkeit Gottes.

 

Gott beschämt nie einen Menschen, der auf Ihn vertraut. Es ist Seine Freude, die höchsten Schecks einzulösen, die der Glaube in den himm­lischen Schatzkammern vorlegt. Zu allen Zeiten gilt das Wort: „fürchte dich nicht, glaube nur!" und: "Dir geschehe nach deinem Glauben". Laßt uns die Kraft dieser Worte mehr erkennen und verwirklichen!

 

Warum konnte Israel bei dieser Begebenheit die Herrlichkeit Gottes nicht sehen? Das Volk glaubte nicht. Die Sendung der Kundschafter war ein grober Fehler. Sie endete deshalb, wie sie begonnen hatte, nämlich im Unglauben. Gott war ausgeschlossen. Sie sahen nur noch Schwierigkeiten.

 

"Sie konnten nicht eingehen". Sie konnten die Herrlichkeit Gottes nicht sehen. Es ist wohltuend, die weiteren Worte Moses zu lesen. "Da sprach ich zu euch. Erschrecket nicht und fürchtet euch nicht vor ihnen! Der HERR, euer Gott, der vor euch herzieht, er wird für euch streiten." Welch ein Gedanke! Gott streitet für Sein Volk und zieht als ein Kriegsmann vor ihnen her! ‑ "Er wird für euch streiten, nach allem, was er in Ägypten vor euren Augen für euch getan hat, und in der Wüste, wo du gesehen hast, daß der HERR, dein Gott, dich getragen hat, wie ein Mann seinen Sohn trägt, auf dem ganzen Wege, den ihr gezogen seid, bis ihr an diesen Ort kamet. Aber in dieser Sache glaubtet ihr nicht dem HERRN, eurem Gott, der auf dem Wege vor euch herzog, um euch einen Ort zu erkunden, daß ihr euch lagern konntet: des Nachts im Feuer, daß ihr auf dem Wege sehen konntet, auf welchem ihr zoget, und des Tages in der Wolke" (V. 29‑33).

 

Welche eindringlichen und ergreifenden Worte! Sie beweisen wiederum, daß unser Buch nicht eine Wiederholung bekannter Tatsachen ist. Wenn der Gesetzgeber im zweiten und vierten Buch Begebenheiten der Wüstenreise berichtet, so gibt er ihnen hier Erläuterungen. Die Weise, in der der HERR mit Seinem Volk gehandelt hatte, wird uns lebendig und frisch vor Augen gemalt. "Wie ein Mann seinen Sohn trägt" ‑ welch ein schönes Bild! Diese wenigen Worte schildern tref­fend, wie Gott sich des Volkes angenommen hat. Sie zeigen uns die Art und Weise, in der Gott etwas tut, um Sein Herz zu offenbaren. So wie die Kraft der Hand oder die Klugheit des Geistes in einer Hand­lung sichtbar werden, so offenbart sich die Liebe des Herzens in der Art und Weise, wie sie ausgeführt wird.

 

Doch Israel hatte kein Vertrauen zu Gott. Ungeachtet der Offenbarung Seiner Macht, Seiner Treue, Seiner Güte und Gnade auf dem Weg von Ägypten bis an die Grenzen des Landes Kanaan, glaubten sie nicht. Trotz zahlreicher Beweise, die jeden hätten überzeugen müssen, zwei­felten sie. " Und der HERR hörte die Stimme eurer Reden und ward zornig und schwur und sprach: Wenn ein Mann unter diesen Männern, diesem bösen Geschlecht, das gute Land sehen wird, das ich geschwo­ren habe, euren Vätern zu geben, außer Kaleb, dem Sohne Jephunnes!

 

Er soll es sehen, und ihm und seinen Söhnen werde ich das Land geben, auf welches er getreten, darum, daß er dem HERRN völlig nach­gefolgt ist" (V. 34‑36).

 

„Habe ich dir nicht gesagt, wenn du glauben würdest, so würdest du die Herrlichkeit Gottes sehen?" (Joh. 11, 40). Das ist die göttliche Reihenfolge. Der Mensch will sehen und dann glauben; aber im Reich Gottes wird geglaubt und dann gesehen. Woher kam es, daß nicht ein Mann von diesem bösen Geschlecht würdig war, das gute Land zu sehen? Weil sie nicht an den Herrn, ihren Gott glaubten. Der Un­glaube ist immer das Hindernis, das uns abhält, die Herrlichkeit Gottes zu sehen. "Und er tat daselbst nicht viele Wunderwerke wegen ihres Unglaubens" (Mt. 13, 58). Hätte Israel geglaubt und dem Herrn, Seiner Liebe und Seiner Kraft vertraut, so hätte Er sie sicherlich in das Land, zu ihrem Erbteil gebracht.

 

Genauso ist es noch heutzutage bei dem Volk des Herrn. Würden wir völliger auf den Herrn vertrauen, so wären unsere Segnungen ohne Grenzen. "Dem Glaubenden ist alles möglich" (Mark. 9, 23). Unser Gott wird nie sagen: "Ihr habt mir einen zu hohen Scheck gegeben. Ihr erwartet zuviel von mir". Es ist Seine Freude, den kühnsten Erwar­tungen des Glaubens zu entsprechen.

 

Laßt uns daher reichlich nehmen! "Tue deinen Mund weit auf, und ich will ihn füllen" (Ps. 81, 1o). Die Schatzkammern des Himmels sind dem Glauben stets geöffnet. "Alles, was irgend ihr im Gebet glaubend be­gehret, werdet ihr empfangen" (Mt. 21, 22). "Wenn aber jemandem von euch Weisheit mangelt, so bitte er von Gott, der allen willig gibt und nichts vorwirft" (Jak. 1, 5). Der Glaube ist das Geheimnis der ganzen Sache, er ist die Quelle und der Antrieb des christlichen Lebens von Anfang bis Ende. Der Glaube schwankt oder zweifelt nie. Der Unglaube dagegen zweifelt immer und kann deshalb nie die Herrlich­keit Gottes sehen. Er ist taub für Gottes Stimme und blind für Sein Handeln. Er wirkt deprimierend, schwächt die Tatkraft und lähmt den Willen. Er verdunkelt den Weg und hindert jeden Fortschritt. Wegen des Unglaubens konnte Israel vierzig Jahre lang nicht in das Land der Verheißung einziehen. Wer kann abschätzen, wieviel wir entbehren durch seinen verderblichen Einfluß auf uns? Wirkte der Glaube in uns, so würde es ganz anders bei uns aussehen. Der Glaube reinigt das Herz; er wirkt durch die Liebe, er überwindet die Welt, kurz, er ver­bindet uns mit Gott selbst. Kein Wunder, daß Petrus ihn den "kost­baren" Glauben nennt, denn er ist kostbar über alle menschlichen Begriffe.

 

Diesen Glauben hatte Kaleb. Hier erfüllte sich bereits, was der Herr fünfzehnhundert Jahre später sagte: "Dir geschehe, wie du geglaubt hast". Er glaubte, daß Gott mächtig genug war, das Volk in das Land zu bringen, und daß alle Hindernisse und Schwierigkeiten zuletzt eine Stärkung für den Glauben sind. Und Gott belohnte seinen Glauben (vgl. Jos. 14, 6‑12).

 

Die Schlußverse unseres Kapitels enthalten noch wichtige Belehrungen für uns. Es wird uns gezeigt, wie Gott in Seiner Regierung handelt. Mose spricht von der Ursache, warum er nicht in das Land der Verhei­ßung eintreten durfte: "Auch wider mich erzürnte der HERR eurethal­ben und sprach: Auch du sollst nicht hineinkommen" (V. 37).

 

Beachten wir das Wort "eurethalben"! Die Gemeinde mußte daran er­innert werden, daß sie die Schuld trug, wenn Mose, dieser geehrte Diener Gottes, den Jordan nicht überschreiten und das gelobte Land nicht betreten durfte. Allerdings hatte er "unbedacht" geredet, als das Volk seinen Geist gereizt hatte (Ps. '106, 33). Sie hatten sich selbst durch den Unglauben des Vorrechts beraubt, in das Land zu kommen, und waren auch verantwortlich für seinen Ausschluß, obwohl Mose so sehr danach verlangte, "dieses gute Gebirge und den Libanon" zu sehen (Kap. 3, 25).

 

Die göttliche Regierung ist eine ernste Wirklichkeit. Der Mensch mag sich wundern, wie einige unbedachte Worte, eine übereilte Äußerung die Ursache sein konnten, daß der treue Knecht Gottes das Land nicht sehen durfte. Doch es geziemt uns, in Anbetung und Ehrfurcht uns zu beugen, nicht aber uns zu erheben und zu verurteilen. "Sollte der Richter der ganzen Erde nicht Recht üben?" (i. Mose 18, 25). Er kann keinen Fehler machen. "Groß und wunderbar sind deine Werke, Herr, Gott, Allmächtiger“ (Offb. 15, 3). "Gott ist gar schrecklich in der Ver­sammlung der Heiligen, und furchtbar über alle, die rings um ihn her sind" (Ps. 89, 7). "Unser Gott ist ein verzehrendes Feuer"; und "es ist furchtbar, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen (Hebr. 10, 31; 12, 29). '

 

Steht denn nicht die Gnade, in deren Wirkungsbereich wir uns als Christen befinden, im Widerspruch zu der göttlichen Regierung? Nein, es gilt auch heute noch: "Was irgend ein Mensch sät, das wird er auch ernten" (Gal. 6, 7). Es ist ein Irrtum, wenn jemand glaubt, dieser Grundsatz habe sich geändert. Gnade und Regierung sind zwei ver­schiedene Begriffe und dürfen nicht durcheinandergebracht werden. Die Gnade vergab die Sünde Adams; und doch trieb Gott ihn aus dem Gar­ten Eden hinaus, damit er sein Brot esse im Schweiße seines Angesichts, inmitten der Dornen und Disteln einer verfluchten Erde. Die Gnade ver­gab die Sünde Davids, aber das Schwert hing über seinem Hause bis an sein Ende. Bathseba wurde die Mutter Salomos, aber Absalom rebellier­te gegen seinen Vater.

 

50 war es auch mit Mose. Durch Gottes Gnade durfte er vom Gipfel des Pisga aus das ganze Land sehen, und doch verbot Gott seinen Eintritt ins Land. Diese Wahrheit läßt den Grundsatz völlig unberührt, daß Mose in seiner amtlichen Eigenschaft, als Vertreter des gesetzlichen Systems, das Volk ohnehin nicht in das Land bringen konnte. Weder im 20* Kapitel des vierten noch im 1. Kapitel des fünften Buches Mose finden wir auch nur eine Andeutung über Moses amtliche Stellung. Hier steht er persönlich vor uns, und ihm wird nicht gestattet, in das Land einzugehen, weil er unbedachtsam mit seinen Lippen geredet hatte.

 

Laßt uns diese ernste Wahrheit in der Gegenwart Gottes gründlich durchdenken. Wir werden die Gnade Gottes um so mehr erkennen, wie wir den Ernst der göttlichen Regierung und ihre gerechten Wege ver­stehen, sonst laufen wir Gefahr, die Lehre von der Gnade in einer leichtfertigen und oberflächlichen Weise aufzunehmen und dabei Herz und Leben nicht unter den heiligenden Einfluß dieser Lehre zu bringen. Es ist sehr verderblich, nur oberflächlich mit der Lehre von der Gnade bekannt zu sein. Dadurch wird aller Art von Zügellosigkeit die Tür ge­öffnet. Wir können daher dem Leser die Wahrheit von der Regierung Gottes nicht ernst genug vorstellen, vor allem in der heutigen Zeit, wo die Neigung vorhanden ist, die Gnade unseres Gottes in Ausschweifung zu verkehren (Judas 4).

 

Aus den letzten Versen unseres Kapitels ersehen wir jedoch, daß das Volk keineswegs bereit war, sich der Regierung Gottes zu unterwerfen. Sie wollten weder Gnade noch Regierung anerkennen. Sie konnten der Gegenwart und Macht Gottes sicher sein, und doch zögerten sie und weigerten sich hinaufzuziehen. Vergeblich riefen ihnen Kaleb und Josua ermunternde Worte zu, vergeblich malten sie ihnen die reichen und guten Früchte des Landes vor Augen, umsonst suchte Mose sie zu bewegen. Sie wollten nicht hinaufziehen. Und was war die Folge? Es geschah ihnen nach ihrem Unglauben. "Und eure Kindlein, von denen ihr sagtet: sie werden zur Beute werden! und eure Söhne, die heute weder Gutes noch Böses kennen, sie sollen hineinkommen, und ihnen werde ich es geben, und sie sollen es in Besitz nehmen. Ihr aber, wen­det euch und brechet auf nach der Wüste, des Weges zum Schilfmeere!" (V. 39. 40).

 

Wie traurig! Doch wie konnte es anders sein? Wenn sie nicht im Glau­ben in das Land ziehen wollten, so blieb ihnen nichts anderes übrig, als in die Wüste zurückzukehren. Aber auch diesem Befehl wollten sie nicht gehorchen. Sie wollten weder den Segen der Gnade in Anspruch nehmen, noch sich unter die Anordnung Gottes stellen. "Da antwortet ihr und sprachet zu mir: Wir haben wider den HERRN gesündigt; wir wollen hinaufziehen und streiten, nach allem, was der HERR, unser Gott, uns geboten hat. Und ihr gürtetet ein jeder sein Kriegsgerät um und zoget leichtfertig in das Gebirge hinauf" (V. 41).

 

Dies sah aus wie Betrübnis und Selbstgericht, aber das war es nicht. Es ist sehr leicht zu sagen: "Wir haben gesündigt". Saul sagte dies auch, ohne daß er ein echtes Empfinden darüber hatte, was er sagte. Was seine Worte wert waren, geht aus der sogleich folgenden Bitte an Samuel hervor: "Nun ehre mich doch vor den Ältesten meines Volkes". Welch ein Widerspruch! "Ich habe gesündigt", doch "ehre mich"! Er würde anders gesprochen haben, wenn er seine Sünde empfunden hätte! Es war alles nur Schein, nur Heuchelei. Denken wir uns einen stolzen, von sich selbst erfüllten Mann, der ohne jedes Gefühl so e Worte ausspricht und dann, um Ehre für sich selbst zu suchen, in leerer Form Gott anbeten will! Welch eine Beleidigung Gottes, der Seine Freude hat an "der Wahrheit im Innern" (Ps. 51, 6) und der solche sucht, die Ihn in Geist und Wahrheit anbeten (Joh. 4, 23)! Der schwäch­ste Seufzer eines zerschlagenen und zerknirschten Herzens ist wohlge­fällig vor Gott; aber wie beleidigend sind für Ihn die leeren Formen einer äußerlichen Religiosität, die nur den Menschen in seinen eigenen Augen und in den Augen seiner Mitmenschen erhebt! Wie wertlos ist ein bloßes Lippenbekenntnis, wobei das Herz nichts empfindet! Es ist nicht schwer zu sagen: "Ich habe gesündigt". Aber wie oft ist gerade solch ein eiliges Bekenntnis der Beweis, daß die Sünde nicht wirklich empfunden wird, sondern daß das Herz hart und ungebrochen ist! Das Gewissen merkt, daß ein klares Sündenbekenntnis notwendig ist, aber es gibt kaum etwas, das einen Menschen mehr verhärtet, als die Gewohnheit, Sünde zu bekennen, ohne sie im Inneren zu empfinden. Ich glaube, daß das unaufhörliche Bekennen von Sünden, die Gewohnheit, eine bloße Bekenntnisformel vor Gott herzusagen, von jeher einer der gefährlichsten Fallstricke für die Christenheit gewesen ist. Leider gibt es auch unter den wahren Christen Formwesen genug. Ohne sich vor­gegebener Formeln zu bedienen, bildet sich das Herz so gerne seine eigenen. Wir alle werden das mehr oder weniger erfahren haben.

 

So war es denn auch mit Israel bei Kades. Ihr Bekenntnis war wertlos, weil die Aufrichtigkeit mangelte. Hätten sie ein Empfinden darüber gehabt, was sie sagten, so hätten sie sich unter das Gericht Gottes ,gebeugt und demütig die Folgen ihrer Sünde auf sich genommen. Wirk­liche Zerknirschung zeigt sich in demütiger Unterwerfung unter das Handeln Gottes in Seinen Regierungswegen. Betrachten wir Mose. Er beugte sein Haupt unter die göttliche Zucht. "Auch wider mich", sagte er, "erzürnte der HERR eurethalben und sprach: Auch du sollst nicht hineinkommen! Josua, der Sohn Nuns, der vor dir steht, er soll hinein­kommen; ihn stärke, denn er soll es Israel als Erbe austeilen".

 

Obwohl Mose das Volk erinnert, daß es daran schuld war, daß er nicht in das Land kommen durfte, hören wir von ihm nicht ein einziges unzu­friedenes Wort. Mose anerkennt Gottes Urteil. Nicht nur zufrieden damit, zurückgesetzt zu werden, ernennt und ermuntert er auch seinen Nachfolger, ohne jede Spur von Eifersucht und Neid. Es war genug für ihn, wenn Gott verherrlicht und das Volk gesegnet wurde. Es ging ihm nicht um sich und seine Interessen, sondern um die Verherrlichung Gottes.

 

Das Volk offenbarte eine völlig andere Gesinnung. "Wir wollen hin­aufziehen und streiten", sagten sie. Welch ein törichtes Vorhaben! Als Gott ihnen befohlen hatte, das Land in Besitz zu nehmen, fragten sie: „Wohin sollen wir hinaufziehen?" Und als ihnen befohlen wurde, in die Wüste zurückzukehren, erwiderten sie: "Wir wollen hinaufziehen 1 und streiten".

 

»Und der HERR sprach zu mir: Sprich zu ihnen: Ziehet nicht hinauf und streitet nicht, denn ich bin nicht in eurer Mitte; daß, ihr nicht von euren Feinden geschlagen werdet! Und ich redete zu euch, aber ihr hörtet nicht; und ihr waret widerspenstig gegen den Befehl des HERRN, 4 und handeltet vermessen und zoget in das Gebirge hinauf. Und die Amoriter, die auf selbigem Gebirge wohnten, zogen aus, euch entgegen, und verfolgten euch, wie die Bienen tun, und zersprengten euch in Seir bis Horma" (V. 42‑44).

 

Der HERR konnte sie auf den Wegen des Eigenwillens und der Empö­rung nicht begleiten. Ohne die Gegenwart Gottes konnte sich Israel mit den Amoritern nicht messen. Wenn Gott mit und für uns ist, dann sind wir in allem Überwinder. Aber wir können nie auf Gott rechnen, wenn wir ungehorsam sind. Es ist Torheit zu glauben, Gott sei mit uns, wenn wir verkehrte Wege gehen. "Der Name des HERRN ist ein starker Turm; der Gerechte läuft dahin und ist in Sicherheit" (Spr. 18, 10). Leben wir aber nicht in praktischer Gerechtigkeit, so ist es gottlos, zu sagen, daß wir Gott zu unserem starken Turm haben.

 

Gott kann und will uns in unserer Schwachheit helfen, wenn nur ein aufrichtiges Bekenntnis unseres wirklichen Zustandes vorhanden ist. "Vertraue auf den HERRN, und tue Gutes" (Ps. 37, 3). Das ist die göttliche Ordnung. Aber von Vertrauen auf Gott reden, während wir Böses tun, heißt die Gnade unseres Gottes in Ausschweifung verkehren und liefert uns Satan aus, der uns zu verderben sucht. "Denn des HERRN Augen durchlaufen die ganze Erde, um sich mächtig zu erwei­sen an denen, deren Herz ungeteilt auf ihn gerichtet ist" (2. Chron. 16, 9). Wenn wir ein gutes Gewissen haben, so können wir getrost durch alle Schwierigkeiten hindurchgehen; aber mit einem schlechten Gewissen den Weg des Glaubens betreten zu wollen, ist ein vergeb­liches Beginnen. Wir können nur dann den Schild des Glaubens hoch­halten, wenn unsere Lenden mit dem Gurt der Wahrheit umgürtet sind und die Brust mit dem Brustharnisch der Gerechtigkeit bedeckt ist (vgl. Eph. 6, 14‑16).

 

Laßt uns der praktischen Gerechtigkeit nachstreben. "Darum übe ich mich auch, allezeit ein Gewissen ohne Anstoß zu haben vor Gott und den Menschen" (Apg. 24, 16). Der Apostel Paulus suchte immer den Brustharnisch zu tragen und in die weiße Leinwand gekleidet zu sein, die die Gerechtigkeit der Heiligen ist. Auch wir wollen danach trachten, Tag für Tag gehorsam zu sein. Auf diesem Weg können wir mit Ge­wißheit auf das Wohlgefallen und die Hilfe Gottes rechnen, uns auf Ihn stützen und in Ihm alle unsere Quellen finden. Das gibt unseren Herzen Frieden und führt uns zur Anbetung Gottes auf dem Weg zur himmlischen Heimat.

 

Wir können aber auch in unserer Schwachheit und in unseren Fehlern, auch wenn wir gesündigt haben, zu Gott emporblicken. Sein Ohr ist immer offen für unser Rufen. "Wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, daß er uns die Sünden vergibt und uns reinigt von aller Ungerechtigkeit" (i. Joh. 1, 9). Die göttliche Vergebung ist unbegrenzt, wie das Versöhnungswerk. Christus, der Sohn Gottes, hat Sein Blut vergossen, und Er ist auch unser Sachwalter, unser großer Hoherpriester/ der "völlig zu erretten vermag, die durch ihn Gott nahen".

 

Das sind Wahrheiten, die in der Heiligen Schrift ausdrücklich gelehrt werden. Wir dürfen allerdings das Bekennen der Sünde und die darauf folgende Vergebung nicht mit der praktischen Gerechtigkeit vermengen. Es gibt zwei verschiedene Voraussetzungen, unter denen wir Gott anru­fen können: Wir können Ihn anrufen in tiefer Betrübnis oder mit einem guten Gewissen und einem Herzen, das uns nicht verurteilt. In beiden Fällen werden wir erhört. Diese beiden Voraussetzungen sind sehr verschieden voneinander. Sie stehen aber beide im Gegensatz zu einer Gleichgültigkeit und Härte des Herzens. Solche Gleichgültigkeit ist schrecklich in den Augen des Herrn und führt Seine ernsten Gerichte herbei. Praktische Gerechtigkeit erkennt Gott an, und Sünde kann Er frei und völlig vergeben, wenn sie aufrichtig bekannt wird. Aber sich einzubilden, man setze sein Vertrauen auf Gott, während die Füße auf dem Weg der Ungerechtigkeit wandeln, ist Gottlosigkeit (vgl. Jer. 7,4‑10).

 

Gott wünscht "Wahrheit im Innern" (Ps. 51, 6). Wenn die Menschen in ihrer Ungerechtigkeit auch noch behaupten, die Wahrheit zu besitzen, so müssen sie mit Gottes gerechtem Gericht rechnen. Die Schrift­stelle aus dem Propheten Jeremia an die Männer von Juda und die Bewohner von Jerusalem kann auch auf die Christenheit angewendet werden. In 2. Tim. 3 hören wir, daß all die Greuel des Heidentums, wie sie am Ende von Röm. 1 beschrieben werden, in den letzten Tagen unter dem Gewand eines christlichen Bekenntnisses und in Verbindung mit einer „Form der Gottseligkeit" erscheinen. Dieser Zustand bewirkt den Zorn Gottes. Die schwersten Gerichte werden das christliche Abend­land treffen. Der Herr kommt bald, um Sein geliebtes, durch Sein Blut erkauftes Volk aus dieser finsteren und sündigen, obgleich "christ­lich" genannten Welt wegzunehmen und es immer bei sich zu haben, in der Heimat der Liebe, die Er im Hause des Vaters bereitet hat. Dann sendet Gott eine "wirksame Kraft des Irrtums" (2. Thess. 2, 11) über die ganze Christenheit, über die Länder, in denen das Evangelium ver­breitet worden ist.

 

Und was dann? Was folgt auf diese "wirksame Kraft des Irrtums"? Irgendein neues Zeugnis der langmütigen Gnade Gottes? Aber nicht an die Christenheit, die die Gnade Gottes verworfen hat. Die Heiden wer­den das "ewige Evangelium" hören und "das Evangelium des Reiches", aber für die abgefallene Christenheit, "den Weinstock der Erde", bleibt nichts anderes übrig als die Kelter des Zornes des Allmächtigen, nichts als die ewige Finsternis und der See, der mit Feuer und Schwefel brennt!

 

Kapitel 2

 

DURCH EDOM, MOAB UND AMMON NACH HESBON

 

Die Schlußverse des vorigen Kapitels zeigen uns das Volk, wie es vor dem Herrn weint. "Und ihr kehrtet zurück und weintet vor dem HERRN; aber der HERR hörte nicht auf eure Stimme und neigte sein Ohr nicht zu euch. ‑ Und ihr bliebet in Kades viele Tage, nach den Tagen, die ihr bliebet" (V. 45. 46).

 

Ihre Tränen hatten ebensowenig Wert wie ihre Worte. Ihrem Weinen war ebensowenig Vertrauen zu schenken wie ihrem Bekenntnis. Man kann in der Gegenwart Gottes bekennen und Tränen vergießen, ohne ein wirkliches Empfinden über die Sünde zu haben. Im Grunde ist das nichts anderes als eine Verspottung Gottes. Gott hat Wohlgefallen an einem Herzen, das in Wahrheit gebrochen ist. In einem solchen Herzen will Er wohnen. "Die Opfer Gottes sind ein zerbrochener Geist; ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verachten" (PS. 51, 17). Die aus einem bußfertigen Herzen kommenden Tränen sind Gott wohlgefällig, weil sie beweisen, daß in einem solchen Herzen Raum für Ihn ist. Das ist es, was Er sucht. Er möchte in unseren Herzen woh­nen und uns mit der tiefen, unaussprechlichen Freude Seiner gesegneten Gegenwart erfüllen.

 

Israels Bekenntnis und seine Tränen in Kades waren nicht aufrichtig, und deshalb konnte der Herr sie nicht annehmen. So blieb dem Volk Israel nichts anderes übrig, als in die Wüste zurückzukehren und vierzig Jahre lang dort herumzuwandern. Es mußte die Folgen seines Unglau­bens tragen. Wollte es nicht in das Land hinaufziehen, so mußte es in der Wüste fallen. Wie ernst ist das, was der Heilige Geist im Brief an die Hebräer hierüber sagt! Mit welcher Eindringlichkeit wenden diese Worte sich auch an uns! "Deshalb, wie der Heilige Geist spricht: Heute, wenn ihr seine Stimme höret, verhärtet eure Herzen nicht, wie in der Erbitterung, an dem Tage der Versuchung in der Wüste, wo eure Väter mich versuchten, indem sie mich prüften, und sie sahen doch meine Werke vierzig Jahre. Deshalb zürnte ich diesem Geschlecht und sprach: Allezeit gehen sie irre mit dem Herzen; aber sie haben meine Wege nicht erkannt. So schwur ich in meinem Zorn: Wenn sie in meine Ruhe eingehen werden! Sehet zu, Brüder, daß nicht etwa in jemand von euch ein böses Herz des Unglaubens sei in dem Abfallen vom leben­digen Gott ... Und wir sehen, daß sie nicht eingehen konnten wegen des Unglaubens ... Auch uns ist eine gute Botschaft verkündigt wor­den, gleichwie auch jenen; aber das Wort der Verkündigung nützte jenen nicht, weil es bei denen, die es hörten, nicht mit dem Glauben vermischt war" (Hebr. 3, 7‑4, 2).

 

Hier, wie überall in der Heiligen Schrift, sehen wir, daß es vor allem der Unglaube ist, der Gott betrübt und Seinen Namen verunehrt. Da­neben beraubt der Unglaube uns auch der Segnungen und Vorrechte, die Gott uns geben will. Wir verstehen oft wenig, wieviel wir in jeder Beziehung durch unseren Unglauben verlieren. Der Unglaube macht uns unbrauchbar, während wir stark und nützlich für Gott sein könnten. Das Werk des Herrn wird gehindert. Wir lesen in den Evangelien, daß der Herr an einem Ort nicht viele Wunder tun konnte wegen ihres Un­glaubens. Ist das keine Mahnung für uns?

 

Laßt uns einen Blick auf die ergreifende Szene in Markus 2 werfen. Hier sehen wir die Macht des Glaubens in Verbindung mit dem Werk des Herrn. Der Glaube dieser vier Männer erquickte den Herrn. Der Kranke fand Heilung und Vergebung. Das war eine Gelegenheit zur Entfaltung der Macht Gottes und der erhabenen Wahrheit, daß Gott in der Person Jesu von Nazareth auf der Erde war, Krankheiten heilte und Sünden vergab.

 

Die ganze Schrift bestätigt, daß der Unglaube uns den Segen raubt, unsere Nützlichkeit hindert und uns das Vorrecht nimmt, Gottes Werk­zeuge bei der Ausführung Seines herrlichen Werkes zu sein. Wir können dann auch nicht das Wirken des Geistes erkennen. Der Glaube zieht Kraft und Segen auf uns und andere um uns her herab. Er ver­herrlicht und erfreut Gott, indem er das Geschöpf an seinen Platz stellt und so Raum schafft für die Entfaltung der Macht Gottes. Unbegrenzt sind die Segnungen die wir aus der Hand Gottes empfangen, wenn  Herzen beherrscht werden von dem einfachen Glauben, der immer       mit Gott rechnet. Gott ehrt einen solchen Glauben. "Dir ge­schehe nach deinem Glauben". Ermutigen diese Worte uns nicht, tiefer in dem unausforschlichen Reichtum zu graben, den wir in Gott haben? Es erfreut Ihn, wenn wir das tun. Wir können nie zuviel von dem Gott aller Gnade erwarten, der uns Seinen eigenen Sohn gegeben hat und uns mit Ihm alles schenken will. (Röm 8, 32).

 

Doch Israel traute es Gott nicht zu, daß Er sie in das verheißene Land bringen würde. Das Volk versuchte in eigener Kraft hinaufzuziehen. Die Folge dieser Vermessenheit war, daß es vor seinen Feinden fliehen mußte. Vermessenheit und Glaube sind einander völlig entgegengesetzt. Während die Vermessenheit nur in Niederlage und Unglück enden kann, führt der Glaube stets zum Sieg.

 

"Und wir wandten uns und brachen auf nach der Wüste, des Weges zum Schilfmeere, wie der HERR zu mir geredet hatte; und wir um­zogen das Gebirge Seir viele Tage" (V. »1). In dem kleinen Wort "wir" kommt sehr schön zum Ausdruck, wie Mose sich ganz mit dem Volk einsmacht. Sowohl Mose, als auch Kaleb und Josua mußten zusammen mit der ungläubigen Gemeinde in die Wüste zurückkehren. Das mag unserem natürlichen Urteil hart erscheinen, aber sicher war es so gut. Beugen wir uns unter den Willen Gottes, so folgen daraus große Seg­nungen, auch wenn wir nicht immer wissen, warum Gott so handelt. Wir hören kein unzufriedenes Wort dieser Diener Gottes, daß auch sie vierzig Jahre in die Wüste zurückkehren mußten, obwohl sie den Glauben hatten, in das Land einzuziehen. Sie kehrten ebenfalls zurück. Sie konnten das ohne zu klagen, weil der HERR ebenfalls zurück­kehrte und sich der Wüste zuwandte.

 

Wenn wir uns unter die Hand Gottes beugen, gewinnen wir mit Gewiß­heit aus Übungen einen großen Segen. Wir nehmen dann wirklich das Joch Christi auf. Das ist das wahre Geheimnis der Ruhe (vgl. Matth. 11,28‑30).

 

Worin bestand dieses Joch? In der unbedingten und vollständigen Un­terwerfung unter den Willen des Vaters. Diese Unterwerfung sehen wir in dem ganzen Leben unseres Herrn und Heilandes. Er konnte sagen: Aa, Vater, denn also war es wohlgefällig vor dir". Es war Sein einziges Anliegen, das Wohlgefallen Seines Vaters zu besitzen. Sein Zeugnis wurde zwar verworfen, Er schien umsonst zu arbeiten und "seine Kraft vergeblich und für nichts zu verzehren", dennoch sagte Er: "Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde". Was dem Vater wohlgefiel, das gefiel auch Ihm. Er hatte keinen Gedanken oder Wunsch, der nicht vollkommen mit dem Willen des Vaters überein­stimmte. Daher erfreute Er sich als Mensch beständig einer vollkom­menen Ruhe. Er ruhte in den Ratschlüssen und Vorsätzen Gottes : Ein ungestörter Friede erfüllte Ihn vom Beginn Seines Weges bis zu Seinem Ende.

 

Das war das Joch Christi, und Er lädt uns ein, es auf uns zu nehmen, damit wir Ruhe finden für unsere Seelen. Laßt uns die Worte beachten: "Ihr werdet Ruhe finden". Wir dürfen die Ruhe, die Er gibt, nicht ver­wechseln mit der Ruhe, die wir finden. Wenn ein schuldbewußter Sünder in schlichtem Glauben zu Jesu kommt, so gibt Er ihm Ruhe, die gegründet ist auf die Überzeugung, daß der Herr Jesus alles, was nötig war, getan hat. Er hat die Sünden für immer hinweggetan, eine voll­kommene Gerechtigkeit hergestellt und uns zugerechnet. Er hat Gott verherrlicht, Satan zum Schweigen gebracht und das Gewissen beruhigt.

 

Das ist die Ruhe, die Jesus uns gibt, wenn wir zu Ihm kommen. Aber dann erleben wir die wechselnden Szenen und Umstände des täglichen Lebens. Da gibt es Versuchungen, Schwierigkeiten, übungen, Kämpfe, getäuschte Erwartungen und Widerwärtigkeiten aller Art. Zwar können alle diese Dinge die Ruhe, die Jesus gibt, nicht stören, wohl aber können sie die Ruhe beeinträchtigen, die wir suchen. Sie beunruhigen nicht das Gewissen, wohl aber das Herz. Sie können uns ruhelos, verdrießlich und ungeduldig machen. Ich beabsichtige zum Beispiel, irgendwo das Evangelium zu verkündigen. Ich habe mich bereits dort angemeldet und werde erwartet. Plötzlich werde ich krank und muß zu Hause bleiben. Das beunruhigt zwar mein Gewissen nicht, kann aber sehr wohl mein Herz beunruhigen. Ich bin enttäuscht und weiß nicht, was ich tun soll und werde vielleicht ganz verdrießlich.

 

Wie kann ich nun einen solchen Zustand überwinden? Wie kommen Herz und Gemüt zur Ruhe? Was brauche ich in diesem Zustand? Ich muß Ruhe finden. Doch ich kann sie nur finden, indem ich mich darein schicke und das Joch Christi auf mich nehme, das Joch, das Er selbst als Mensch getragen hat, das Joch der vollständigen Unterwerfung unter den Willen des Vaters. Es geht darum, bedingungslos aus der Tiefe meines Herzens sagen zu können: "Dein Wille, o Herr, geschehe!" ich benötige ein Empfinden für Seine unendliche Liebe und Seine uner­gründliche Weisheit, die in allem, was Er tut, zu Tage tritt. Dann wünsche ich nicht mehr, die Umstände zu ändern, selbst wenn es in meiner Macht läge.

 

Die Ruhe des Herzens in allen Lagen und Umständen des Lebens er­fahre ich also, wenn ich Gott für alles Geschehen danken kann, sei es auch meinen eigenen Plänen noch so entgegengesetzt. Dieses Geheimnis der Ruhe beschränkt sich nicht auf die Anerkennung der Wahrheit, daß ,denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten mitwirken, denen, die nach Vorsatz berufen sind" (Röm. 8, 28), sondern setzt die 19berzeu­gung voraus, daß alles, was Gott tut, und so, wie Er es tut, am besten für mich ist. Ich ruhe völlig in der Liebe, Weisheit und Treue Jesu, Der es übernommen hat, für alles, was mich in Zeit und Ewigkeit be­trifft, Sorge zu tragen. Wir wissen, daß die Liebe für einen geliebten Menschen nur das Beste zu tun sucht. Was muß es sein, wenn Gott Sein Bestes für uns tut! Welches Kind Gottes könnte unzufrieden sein mit dem Besten Gottes?

 

Abschließend zu diesem Thema möchte ich noch bemerken, daß Gläubige dreierlei verschiedene Haltungen im Blick auf die Handlungsweise Gottes einnehmen können: Unterwerfung, Ergebung oder Freudigkeit. Wenn der eigene Wille zu Ende gekommen ist, so zeigt sich Unterwerfung. Ist der Verstand erleuchtet über Gottes Absichten, so zeigt sich Ergebung. Und ist im Herzen des Gläubigen wirkliche Zuneigung zu Gott selbst, so ist echte Freude vorhanden. Daher lesen wir in Lukas 10, 21: "In selbiger Stunde frohlockte Jesus im Geiste und sprach: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, daß du dies vor Weisen und Verständigen verborgen hast, und hast es Unmündigen geoffenbart. Ja, Vater, denn also war es wohlgefällig vor dir". Unser Herr fand Seine Wonne in dem ganzen Willen Gottes. Es war Seine Speise und Sein Trank, den Willen Gottes um jeden Preis zu tun. Im Dienst oder im Leiden, im Leben oder im Sterben leitete Ihn kein anderer Beweg­grund als der Wille des Vaters. Er konnte sagen: "Ich tue allezeit das ihm Wohlgefällige“.

 

"Und der HERR redete zu mir und sprach: Lange genug habt ihr dieses Gebirge umzogen; wendet euch gegen Norden". Das Wort des Herrn regelte alles. Er bestimmte, wie lange das Volk an einem Ort bleiben sollte und gab mit derselben Genauigkeit an, welche Richtung es dann einschlagen sollte. Das Volk brauchte nur zu gehorchen. Ist das Herz in der richtigen Stellung, so kann es für ein Kind Gottes nichts Schöne­res geben als das Bewußtsein, in allem durch das Wort Gottes geleitet zu werden. Es wird bewahrt vor Angst und Unruhe. Für Israel, das berufen war, durch die "große und schreckliche" Wüste zu wandern, wo es keinen Weg gab, war es eine große Gnade, daß ihnen jeder Schritt und jeder Rastplatz von Gott angewiesen wurde. Der HERR regelte alles für sie. Sie brauchten nur auf Seine Führung zu warten und zu tun, was Er ihnen sagte. Gingen sie ihren eigenen Weg, so er­wartete sie Hunger, Verwüstung und Finsternis. Das Wasser aus dem geschlagenen Felsen und das Manna aus dem Himmel waren nur auf dem Weg des Gehorsams zu finden.

 

Wir können hieraus eine heilsame Lehre ziehen. Es ist unser Vorrecht, Tag für Tag den Weg zu gehen, den Gott uns vorzeichnet. Sind wir immer völlig davon überzeugt und lassen uns diesen reichen Segen nicht durch die kritisierenden Urteile der Ungläubigen rauben? Gott hat verheißen, uns zu führen. Seine Verheißungen sind Ja und Amen. Es liegt an uns, ob wir diese Verheißungen im Glauben annehmen. Israel kannte den Weg und die Zeit eines Aufenthaltes durch das Wort Gottes. Besitzen wir weniger? Im Gegenteil. Wir haben zu unserer Füh­rung das Wort und auch den Heiligen Geist, die uns die Fußstapfen des Sohnes Gottes zeigen, in denen wir gehen dürfen.

 

Das ist doch eine vollkommene Führung. Der Herr sagt uns: "Ich bin das Licht der Welt; wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis wandeln, sondern wird das Licht des Lebens haben" (Joh. 8, 12). Laßt uns die Worte beachten: Wer mir nachfolgt". Er hat uns "ein Beispiel hinterlassen, auf daß wir seinen Fußstapfen nachfolgen". Wie legte Jesus Seinen Weg zurück? Ohne Ausnahme nach dem Gebot Seines Vaters. Nie tat Er etwas oder sprach ein Wort ohne Weisung Seines Vaters.

 

Nun, wir sind aufgerufen, Ihm nachzufolgen, und wenn wir das tun, so haben wir Seine Zusicherung, daß wir nicht in Finsternis gehen, son­dern das Licht des Lebens haben werden. Wunderbare Worte: "das Licht des Lebens"! Wer ergründet ihre Tiefe? Wer schätzt ihren wahren Wert? "Die Finsternis vergeht, und das wahrhaftige Licht leuchtet schon“, und es liegt an uns, ob wir im vollen Schein dieses Lichts unseren Weg gehen. Da gibt es keine Ungewißheit, keine Unruhe und keinen Grund zu ­Bedenken irgendwelcher Art.

 

Wir möchten jetzt die Aufmerksamkeit des Lesers auf einen recht interessanten Gegenstand lenken, der in den Schriften des Alten Testa­ments einen bedeutenden Platz einnimmt und in unserem Kapitel eingehend erläutert wird, nämlich die Regierung Gottes über die Welt und Seine Wege mit den Völkern der Erde. Gott entgehen keinesfalls die Angelegenheiten der Völker und ihr gegenseitiges Verhalten zuein­ander.

 

Das alles steht in unmittelbarer Verbindung mit Israel und dem Land Palästina. Wir lesen in Kapitel 32, 8: "Als der Höchste den Nationen das Erbe austeilte, als er voneinander schied die Menschenkinder, da stellte er fest die Grenzen der Völker nach der Zahl der Kinder Israel". Israel war damals nach den Gedanken Gottes der Mittelpunkt dieser Erde und wird es auch zukünftig wieder sein. Von Anfang an bildete der Schöpfer und Beherrscher der Welt die Nationen und stellte ihre Grenzen fest nach Seinem eigenen unumschränkten Willen mit beson­derer Rücksicht auf die Nachkommen Abrahams und jenen Landstrich, den Israel aufgrund des ewigen Bundes mit den Vätern besitzen sollte.

 

Unser Kapitel zeigt, wie der HERR in Seiner Treue und Gerechtigkeit eingreift, um drei verschiedenen Völkern den Genug ihrer nationalen Rechte zu sichern, und zwar gegen die Eingriffe Seines eigenen auser­wählten Volkes. Er sagte zu Mose: "Gebiete dem Volke und sprich. Ihr werdet nun durch das Gebiet eurer Brüder, der Kinder Esau, ziehen, die in Seir wohnen, und sie werden sich vor euch fürchten; so habet wohl acht! Laßt euch nicht in Streit mit ihnen ein, denn ich werde euch von ihrem Lande auch nicht den Tritt einer Fußsohle geben; denn da Gebirge Seir habe ich dem Esau als Besitztum gegeben. Speise sollt ihr um Geld von ihnen kaufen, daß ihr esset, und auch Wasser 8011t ihr um Geld von ihnen kaufen, daß ihr trinket" (V. 4‑6).

 

Israel hatte vielleicht geglaubt, das Land der Edomiter einfach in Besitz nehmen zu können, aber es mußte lernen, daß der Höchste über die Nationen regiert (Dan. 4, 17), daß die ganze Erde Ihm gehört und Er Sie austeilt nach Seinem Willen. Die meisten Menschen denken sehr wenig an diese Tatsache. Herrscher und Staatsmänner nehmen wenig Rücksicht darauf. Sie vergessen, daß sich Gott selbst um die Politik der Völker kümmert, daß Er Königreiche, Provinzen und Länder austeilt, wie Er es für gut befindet. Sie handeln oft, als wenn alles nur eine Frage militärischer Eroberungen wäre und Gott nichts mit den Grenzen und Gebieten der Völker zu tun hätte. Das ist ein großer Irrtum. Sie verstehen nicht die Bedeutung des Ausspruchs: "Das Gebirge Seir habe ich dem Esau als Besitztum gegeben". Gott wird auch in dieser Hinsicht Seine Rechte nie aufgeben. Er erlaubte Israel nicht, von Esaus Eigentum das Geringste zu berühren. Sie mußten das, was sie benötigten, be­zahlen und dann weiterziehen. Der Grund dafür war: "Denn der HERR, dein Gott, hat dich gesegnet in allem Werke deiner Hand. Er kannte i dein Ziehen durch diese große Wüste: diese vierzig Jahre ist der HERR, dein Gott, mit dir gewesen; es hat dir an nichts gemangelt" (V. 7). Da konnte Israel Esau und seinen Besitz wohl unberührt lassen; denn es selbst war bevorzugt durch die besondere Fürsorge des HERRN. Er kannte jeden Schritt ihres beschwerlichen Weges durch die Wüste und sorgte in Seiner unendlichen Güte für alle ihre Bedürfnisse. Er war bereit, ihnen das Land Kanaan zu geben nach der Verheißung, die Er einst dem Abraham gegeben hatte. Doch derselbe Gott, der ihnen Kanaan geben wollte, hatte das Gebirge Seir dem Esau geschenkt.

 

Genau dasselbe sehen wir bei Moab und Ammon. "Und der HERR sprach zu mir: Befeinde Moab nicht und laß dich nicht in Streit mit ihnen ein, denn ich werde dir von seinem Land kein Besitztum geben; denn Ar habe ich den Kindern Lot als Besitztum gegeben." Und weiter: "Du wirst heute die Grenze von Moab, von Ar, überschreiten und dich nähern gegenüber den Kindern Ammon; du sollst sie nicht befeinden und dich nicht in Streit mit ihnen einlassen, denn ich werde dir von dem Land der Kinder Ammon kein Besitztum geben; denn ich habe es den Kindern Lot als Besitztum gegeben" (V. 9. 18. 19).

 

Die genannten Länder befanden sich früher in den Händen der Riesen. Da es aber die Absicht Gottes war, sie den Kindern Esau und Lot zu geben, so vernichtete Er jene Riesen; denn wer kann den göttlichen Ratschluß vereiteln? "Für ein Land der Riesen wird auch dieses gehal­ten; Riesen wohnten vordem darin ... ein großes und zahlreiches und hohes Volk, wie die Enakim; und der HERR vertilgte sie vor ihnen, und sie trieben sie aus und wohnten an ihrer Statt; so wie er für die Kinder Esau getan hat, die in Seir wohnen, vor welchen er die Horiter vertilgte; und sie trieben sie aus und wohnten an ihrer Statt bis auf diesen Tag" (V. 20‑22).

 

Es' wurde Israel also nicht erlaubt, die Besitzungen der Edomiter, Ammoniter und Moabiter anzugreifen. Aber schon im nächsten Vers erhält Israel in bezug auf die Ammoniter den Befehl: "Machet euch auf, brechet auf und ziehet über den Fluß Arnon. Siehe, ich habe Sihon, den König von Hesbon, den Amoriter, und sein Land in deine Hand ge­geben; beginne, nimm in Besitz und bekriege ihn!" (V. 24). Gott gab Seinem Volk Anweisung. Israel brauchte nicht zu untersuchen, warum es Esaus und Lots Besitzungen unberührt lassen und diejenigen Sihons einnehmen sollte. Es hatte nur zu tun, was Gott ihm sagte. Gott ist unumschränkt in Seinem Tun. Seine Augen überblicken alles. Der Mensch mag denken, Gott habe die Erde vergessen; aber das ist nicht so. Er ist, wie der Apostel in seiner Unterredung mit den Athenern sagt, ,der Herr des Himmels und der Erde", und "er hat aus einem Blute jede Nation der Menschen gemacht, um auf dem ganzen Erdboden zu wohnen, indem er Zeiten verordnete und die Grenzen ihrer Wohnungen bestimmt hat". Und weiterhin: "Er hat einen Tag gesetzt, an welchem er den Erdkreis richten wird in Gerechtigkeit durch einen Mann, den er dazu bestimmt hat, und hat allen den Beweis davon gegeben, indem er ihn auferweckt hat aus den Toten" (Apg. 17, 24‑31).

 

Das ist eine grundlegende Wahrheit. Gott ist der unumschränkte Ge­bieter der Welt. Er gibt über das, was Er tut, niemandem Rechenschaft. Er setzt den einen ab und erhöht den anderen. Königreiche, Throne, Herrschaften und Gewalten ‑ alles steht in Seiner Hand. Er ordnet die menschlichen Angelegenheiten nach Seinem Willen. Und zugleich betrachtet Er die Menschen als verantwortlich für ihr Tun in den ver­schiedenen Stellungen, in die Er sie gesetzt hat. Ob König oder Unter­tan, ob Herrscher oder Beherrschter, alle werden Gott Rechenschaft geben müssen. Jeder einzelne wird vor dem Richterstuhl Christi sein ganzes Leben von Anfang bis zu Ende wiederfinden. Jede Handlung, jedes Wort, jeder geheime Gedanke wird da offenbar werden in unan­tastbarer Wahrheit. Niemand wird sich verbergen oder unter der Menge verlieren können. Das Wort Gottes sagt klar und deutlich, daß alle gerichtet werden, "ein jeder nach seinen Werken".

 

Kapitel 3

 

VERNICHTUNG VON BASAN. MOSE SOLL DAS GUTE LAND SEHEN, ABER NICHT HINEINKOMMEN

 

Die Anweisungen Gottes über den König von Basan waren denen über den König der Amoriter ganz ähnlich (V. 1‑7). Um beide verstehen zu können, müssen wir sie im Licht der Regierung Gottes betrachten ‑ein wichtiger, wenn auch wenig verstandener Gegenstand. Wir müssen zwischen Gnade und der Regierung Gottes deutlich unterscheiden. Wenn wir die Regierungswege Gottes betrachten, so sehen wir, wie Er in Gerechtigkeit Seine Macht entfaltet. Er bestraft die, die Böses tun, gießt Seinen Zorn aus über Seine Feinde, stürzt Reiche und errichtet neue Machtbereiche, zerstört Städte und vertilgt Nationen, Völker und Stämme. Er befiehlt Seinem Volke, Männer, Frauen und Kindlein mit der Schärfe des Schwertes zu erschlagen, ihre Häuser zu verbrennen und ihre Städte zu verwüsten.

 

Anderseits hören wir aus Seinem Mund die merkwürdigen Worte: ,Menschensohn, Nebukadrezar, der König von Babel, hat sein Heer eine schwere Arbeit tun lassen gegen Tyrus. Jedes Haupt ist kahl geworden, und jede Schulter ist abgerieben; und von Tyrus ist ihm und seinem Heere kein Lohn geworden für die Arbeit, welche er wider dasselbe getan hat. Darum, so spricht der Herr, HERR: Siehe, ich gebe Nebukadrezar, dem König von Babel, das Land Ägypten, und er wird seinen Reichtum wegtragen und seinen Raub rauben und Beute erbeuten, und das wird der Lohn sein für sein Heer. Als seine Belohnung, um welche er gearbeitet hat, habe ich ihm das Land Ägypten gegeben, weil sie für mich gearbeitet haben, spricht der Herr, HERR (Hes. 29, 18‑20).

 

Diese Schriftstelle zeigt sehr klar die Regierung Gottes, die sich in allen Schriften des Alten Testaments wiederfinden läßt. Ob wir uns zu den fünf Büchern Mose oder zu den geschichtlichen Büchern, den Psalmen oder zu den Propheten wenden, überall finden wir, wie der Heilige Geist Einzelheiten des Handelns Gottes in Seiner Regierung aufzeichnet. In den Tagen Noahs zerstörte die Sintflut die ganze Erde und alle ihre Bewohner; mit Ausnahme von acht Menschen kamen alle um. Männer, Frauen, Kinder, Vieh, Vögel und Gewürm ‑ alles wurde nach Gottes gerechtem Gericht unter den Wellen und Wogen begraben.

 

In den Tagen Lots zerstörte Gott die Städte des Tales Siddim und die Männer, Frauen und Kinder starben in wenigen Stunden. Die Hand des allmächtigen Gottes ließ alles in den Wassern des Toten Meeres untergehen. Gott selbst war es, der jene schuldigen Städte, Sodom und Gomorra, "einäscherte und zur Zerstörung verurteilte, indem er sie denen, welche gottlos leben würden, als Beispiel hinstellte" (2. Petr. 2,6).

 

Wenn wir weiter im Wort Gottes forschen, finden wir die sieben Völker Kanaans ‑ Männer, Frauen und Kinder ‑ den Händen der Kinder Israel ausgeliefert; sie sollten schonungslos Gericht an ihnen ausüben. Wieviele Menschen kamen dort um!

 

Die Zeit fehlt uns, wenn wir alle Stellen vom ersten Buch Mose an­fangend bis zur Offenbarung anführen wollen, die uns die ernsten Wege und Handlungen der Regierung Gottes vor Augen stellen. Sie beginnen mit der Sintflut und enden mit dem Verbrennen des gegen­wärtigen Weltsystems. Die Frage ist nun: Sind wir in der Lage, die Regierungswege Gottes zu erklären oder berechtigt, sie zu kritisieren? Können wir die tiefgründigen und erhabenen Geheimnisse der Ab­sichten Gottes enträtseln? Sind wir imstande und auch dazu berufen, zu begründen, warum hilflose Kindlein in das Gericht ihrer schuldigen Eltern miteingeschlossen wurden? Der Unglaube verurteilt das und nimmt Anstoß daran, aber der Gläubige, der mit Ehrerbietung die Heilige Schrift liest und sich vor dem Wort beugt, antwortet einfach: „Sollte der Richter der ganzen Erde nicht Recht üben?" (i. Mose 18, 25).

 

Das ist die einzig richtige Antwort auf solche Fragen, wenn Menschen im Blick auf die Regierungswege Gottes entscheiden wollen, was Gott zu tun und zu lassen hat. Solche Menschen haben keinen Begriff von Gott, und der Teufel hat gewonnenes Spiel. Denn er wünscht das Herz von Gott abzuziehen, und deshalb verführt er den Menschen, über Fragen und Dinge nachzudenken, die weit außer dem Bereich seiner Erkenntnismöglichkeit liegen. Können wir Gott begreifen? Wenn wir es könnten, müßten wir selbst Gott sein.

 

Die Menschen, die überheblich die Ratschlüsse und Handlungen eines erhabenen Schöpfers und Regenten des Weltalls in Frage stellen, werden früher oder später ihren verhängnisvollen Irrtum erkennen. Von ihnen sagt Gottes Wort: "ja, freilich, o Mensch, wer bist du, der du das Wort nimmst wider Gott? Wird etwa das Geformte zu dem Former sagen: Warum hast du mich also gemacht? Oder hat der Töpfer nicht Macht über den Ton, aus derselben Masse ein Gefäß zur Ehre und ein anderes zur Unehre zu machen?" (Röm. 9, 20. 21).

 

Wie einfach und doch unwiderlegbar. Wenn ein Töpfer den Klumpen Lehm, den er in der Hand hält, bearbeiten kann, wie er will, wieviel mehr Macht hat dann doch der Schöpfer aller Dinge über die Ge­schöpfe, die Er gebildet hat! Die Menschen mögen bis an ihr Ende darüber nachsinnen, warum Gott es zuließ, daß die Sünde in den Menschen hineinkam, warum Er nicht Satan und seine Engel mit einem Schlage vernichtete, warum Er der Schlange erlaubte, Eva zu versuchen, warum Er sie nicht zurückhielt, die verbotene Frucht zu essen. Auf alle diese Fragen gibt es nur eine Antwort: "Wer bist du, o Mensch, der du das Wort nimmst wider Gott?" Ist es nicht ungeheuerlich, daß ein nichtiger Mensch sich herausnimmt, die unausforschlichen Gerichte und Wege des ewigen Gottes beurteilen zu wollen? Welch eine Torheit und Anmaßung ist es für ein Geschöpf, dessen Verstand durch die Sünde verfinstert ist (Eph. 4, 18), zu beurteilen, wie Gott in dem einen oder anderen Falle hätte handeln sollen! Ach! wieviele Menschen, die jetzt selbstsicher gegen die Wahrheit Gottes streiten, werden ihren verhängnisvollen Irrtum erst erkennen, wenn es zu spät ist, sich zu korrigieren.

 

Doch es gibt auch solche, die weit davon entfernt sind, sich auf der, gleichen Boden mit den Ungläubigen zu stellen, nichtsdestoweniger aber die Regierungswege Gottes bezweifeln, so zum Beispiel die ewige Verdammnis. *) Ihnen möchten wir raten, den kurzen Psalm 131 aufrichtig zu ­untersuchen: "HERR, nicht hoch ist mein Herz, noch tragen sich hoch meine Augen; und ich wandle nicht in Dingen, die zu groß und zu wunderbar für mich sind. Habe ich meine Seele nicht beschwich­tigt und gestillt? Gleich einem entwöhnten Kinde bei seiner Mutter, gleich dem entwöhnten Kinde ist meine Seele in mir." In ähnlicher Weise spricht der Apostel Paulus zu den Korinthern: "Denn obwohl wir im Fleische wandeln, kämpfen wir nicht nach dem Fleische; denn die Waffen unseres Kampfes sind nicht fleischlich, sondern göttlich mächtig zur Zerstörung von Festungen; indem wir Vernunftschlüsse zerstören und jede Höhe, die sich erhebt wider die Erkenntnis Gottes, und jeden Gedanken gefangen nehmen unter den Gehorsam des Christus' (2. Kor. 10, 3‑5).

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*) Da viele über diese Frage beunruhigt sind, will ich sie hier etwas ausführlicher behandeln. Es gibt drei Punkte, die jeden Christen in dieser Lehre befestigen können.

1. Das Wort "unaufhörlich" oder "ewig" kommt siebzigmal im Neuen Testament vor. Es wird angewandt auf das "Leben", das die Gläubigen besitzen, auf die "Wohnungen", in die sie aufgenommen werden und auf die " Herrlichkeit", die sie genießen werden. Es findet sich in Verbindung mit Gott«, mit der "Seligkeit", deren Urheber der Herr Jesus ist, mit der «Errettung', die Er für uns erworben hat, und endlich in Verbindung mit dem Geiste'. Von diesen siebzig Stellen gibt es sieben, in denen dasselbe Wort (aionios) angewandt wird auf die "Strafe" der Gottlosen, auf das "Gericht', das über sie kommen wird und das Feuer", das sie verbrennen wird. Nach welchem Prinzip oder mit welchem Recht kann man nun diese sieben Stellen aussondern und behaupten, daß hier das Wort aionios nicht in dem Sinne von "ewig", in den übrigen dreiundsechzig aber wohl in diesem Sinne gebraucht wird? Eine solche Behauptung entbehrt jeder Grundlage. Hätte der Heilige Geist ein anderes Wort gebraucht als in den übrigen Stellen, wenn Er von dem Gericht über die Gottlosen spricht, so müßten wir seine Bedeutung untersuchen. Aber Er verwendet durchaus dasselbe Wort, so daß '4* mit der Leugnung der ewigen Verdammnis auch notwendigerweise das o'~*4ge Leben die ewige Herrlichkeit, den ewigen Geist, den ewigen Gott, kurz alles, was ewig ist, leugnen müssen. Wenn die Strafe nicht ewig ist, so Ist nichts ewig. An dieser Wahrheit rüffeln, heißt die ganze göttliche Offenbarung antasten.

2. Den zweiten Beweis liefert uns die Tatsache der Unsterblichkeit der Seele. Wir lesen in 1. Mose 2: "Und der HERR Gott bildete den Menschen, Staub von dem Erdboden, und hauchte in seine Nase den Odem des Lebens; und der Mensch wurde eine lebendige Seele". Schon diese eine Stelle zeigt, daß der Mensch eine unsterbliche Seele hat. Der Sündenfall ändert nichts daran. Gefallen oder nicht gefallen, unschuldig oder schuldig, bekehrt oder unbekehrt ‑ die Seele existiert ewig.

Die ernste Frage ist nur: Wo wird sie leben?" Gott kann in Seiner Gegen­wart die Sünde nicht dulden. "Du bist zu rein von Augen, um Böses zu sehen, und Mühsal vermagst du nicht anzuschauen" (Hab. 1, 13). Wenn daher ein unbekehrter Mensch, ohne Vergebung seiner Sünden, dahinstirbt, so kann er gewiß nicht dahin kommen, wo Gott ist. ja, er wird nicht einmal wünschen, dahin zu kommen. Für ihn gibt es nichts als eine endlose Ewigkeit in dem See, der mit Feuer und Schwefel brennt.

3. Wir glauben, daß die Wahrheit von der ewigen Verdammnis in enger Beziehung zu dem umfassenden Charakter des Versöhnungswerkes unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus steht. Wenn nur ein ewig wirkendes Opfer uns von den Folgen der Sünde befreien konnte, so müssen die Folgen ebenfalls ewig sein. Dieser Beweis mag vielleicht manchem unwesentlich erscheinen; aber für uns ist er überzeugend. Wir müssen die Sünde und ihre Folgen mit demselben Maße messen wie die Liebe Gottes und ihre Ergebnisse, nicht mit dem Maßstab des menschlichen Gefühls oder der menschlichen Vernunft, sondern allein mit dem Maßstab des Kreuzes Christi.

 

Mancher Philosoph, mancher Gelehrte und Denker mag darüber lächeln, daß eine so wichtige Frage in so kindlich‑einfacher Weise behandelt wird. Aber ihr Urteil ist für einen Jünger Christi nicht maßgeblich . Der Apostel Paulus ist sehr schnell fertig mit der Weisheit und Gelehr­samkeit dieser Welt. Er sagt: "Niemand betrüge sich selbst. Wenn jemand unter euch sich dünkt weise zu sein in diesem Zeitlauf, so werde er töricht, auf daß er weise werde. Denn die Weisheit dieser Welt ist Torheit bei Gott; denn es steht geschrieben: Der die Weisen erhascht in ihrer List". Und wiederum: "Der Herr kennt die Überlegungen der Weisen, daß sie eitel sind" (l. Kor. 3, 18‑20). Und an einer anderen Stelle: "Denn es steht geschrieben: Ich will die Weisheit der Weisen vernichten, und den Verstand der Verständigen will ich hinwegtun.

 

Wo ist der Weise? wo der Schriftgelehrte: wo der Schulstreiter dieses Zeitlaufs? Hat nicht Gott die Weisheit der Welt zur Torheit gemacht? Denn weil ja in der Weisheit Gottes die Welt durch die Weisheit Gott nicht erkannte, so gefiel es Gott wohl, durch die Torheit der Predigt die Glaubenden zu erretten" (i. Kor. 1, 19‑21).

 

Hierin liegt das große Geheimnis: der Mensch muß erkennen, daß alle Weisheit der Welt Torheit ist. Eine demütigende, aber heilsame Wahr­heit! Demütigend, weil sie den Menschen an seinen rechten Platz stellt, heilsam, weil sie die Weisheit Gottes hervorbringt. Es wird heutzutage viel über Wissenschaft und Philosophie geredet. Aber „hat nicht Gott die Weisheit der Welt zur Torheit gemacht?“ *)

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*)Wir müssen unterscheiden zwischen aller echten Wissenschaft und der J1ISChlich sogenannten Kenntnis", zwischen den Tatsachen, die eine Wissenschaft ans Licht gebracht hat und den Schlüssen der Gelehrten. Die Tatsachen &lud das was Gott tut und getan hat. Aber wenn der Mensch sich daran begibt, aus diesen Tatsachen seine Schlüsse zu ziehen, so kann er in große Irrtümer geraten. Doch gibt es auch manche Wissenschaftler, die Gott den ihm, gebührenden Platz geben und unseren Herrn Jesus Christus auf­richtig lieben.

 

Die Welt hat durch die Weisheit Gott nicht erkannt." Was hat die berühmte Philosophie Griechenlands für ihre Anhänger getan? Sie machte sie zu unwissenden Anbetern eines "unbekannten Gottes". Die Inschrift auf ihrem Altar verkündigte der ganzen Welt ihre Unwissenheit und Schande. Und können wir nicht mit Recht fragen, ob die Philosophie für das Christentum Besseres geleistet hat, als einst für Griechenland? Hat sie die Kenntnis des wahren Gottes vermittelt? Millionen von christlichen Bekennern wissen heute von dem wahren Gott kaum mehr als jene Philosophen, die in Athen mit Paulus zu­sammentrafen.

 

Wie lernen wir denn Gott kennen? "Niemand hat Gott jemals gesehen; der eingeborene Sohn, der in des Vaters Schoß ist, der hat ihn kund­gemacht" (Joh. 1, 18). Das ist eine einfache und göttlich‑klare Antwort. Jesus ist es, der uns Gott und den Vater offenbart. Wir sind nicht auf ein Geschöpf angewiesen, um zu lernen, wer Gott ist, obgleich wir in der Schöpfung Seine Macht, Weisheit und Güte erkennen. Wir sind auch nicht auf das Gesetz angewiesen, obwohl wir darin Seine Gerechtigkeit erkennen. Nein, wenn wir wissen wollen, wer und was CM ist, so müssen wir Jesus Christus betrachten, den eingeborenen Sohn Gottes, der vor Grundlegung der Welt im Schoß des Vaters war als Seine Wonne, den Er liebte und der der Mittelpunkt aller Seiner Ratschlüsse ist. Getrennt von Jesus gibt es keine Erkenntnis Gottes. Aber "in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig" (Kol. 2,9). "Denn der Gott, der aus Finsternis Licht leuchten hieß, ist es, der in unsere Herzen geleuchtet hat zum Lichtglanz der Erkenntnis der Herr­lichkeit Gottes im Angesicht Christi" (2. Kor. 4, 6).

 

Im letzten Teil unseres Kapitels erinnert Mose die Versammlung daran, was sie mit den zwei Königen der Amoriter getan hatten und wie den zweieinhalb Stämmen auf der östlichen Seite des Jordan ihr Erbe zuge­teilt worden war. Es ist bemerkenswert, daß er gar nicht davon redet, ob sie recht oder unrecht getan hatten, sich ihren Besitz außerhalb des verheißenen Landes zu erwählen. Ja, es scheint nach diesem Bericht so, als wenn die genannten Stämme nicht von sich aus den Wunsch dazu gehabt hätten (vgl. V. 12‑20).

 

In unseren Betrachtungen über das vierte Buch Mose haben wir die Wahl des Wohnortes der zweieinhalb Stämme erörtert und gezeigt, daß sie nicht ans Ziel kamen, das Gott ihnen gesteckt hatte, indem sie sich ihr Erbe östlich des Jordan wählten. In diesem Kapitel aber wird nichts davon erwähnt, weil Mose hier der ganzen Gemeinde die über­strömende Güte, Barmherzigkeit und Treue Gottes vor Augen stellt, die sie durch alle Gefahren und Schwierigkeiten der Wüste hindurchge­führt, ihnen großartige Siege über die Amoriter gegeben und sie schließlich in das schöne Land gebracht hatte. Dadurch sucht Mose dem Volk klarzumachen, daß der HERR Anspruch hatte auf ihren Gehorsam gegen Seine Gebote. Es ist sehr schön zu sehen, daß in dieser Wieder­holung nicht erwähnt wird, ob Ruben, Gad und der halbe Stamm Manasse unrecht taten, sich außerhalb des Landes der Verheißung ansässig zu machen. Dies ist nicht nur ein Beweis von der Gnade Gottes, sondern auch von der göttlichen Inspiration der Heiligen Schrift.

 

Solche Beweise der Vollkommenheit des Wortes erfreuen den Gläubi­gen. Aber nicht allein das. je mehr die Herrlichkeit dieses Wortes und seine lebendigen und unerschöpflichen Tiefen sich uns erschließen, desto mehr werden wir erkennen, wie töricht die Angriffe der Ungläu­bigen sind. Das Wort Gottes braucht aber auch nicht von Menschen verteidigt zu werden. Es redet für sich selbst und enthält selbst über­zeugende Beweise. Wir können mit dem Apostel Paulus sagen: "Wenn aber auch unser Evangelium verdeckt ist, so ist es in denen verdeckt, die verloren gehen, in welchen der Gott dieser Welt den Sinn der Un­gläubigen verblendet hat, damit ihnen nicht ausstrahle der Lichtglanz des Evangeliums der Herrlichkeit des Christus, welcher das Bild Gottes ist" (2. Kor. 4, 3. 4). Allein der Geist Gottes befähigt einen Menschen, an die göttliche Inspiration der Heiligen Schrift zu glauben. Menschliche Beweise haben nur insoweit Wert, als sie manchen Gegner des Wortes zum Schweigen bringen, aber sie erreichen nicht das Herz. Sie sind nicht imstande, die lebenbringenden Strahlen der göttlichen Offenbarung in ihrer errettenden Kraft in die Seele zu senken. Das ist ein göttliches Werk. Solang dieses Werk nicht geschehen ist, bleibt ein Mensch trotz Beweise in der Finsternis des Unglaubens. Ist aber ein Mensch einmal durch den Geist Gottes erleuchtet, so ist ein menschliches Zeug­nis zur Verteidigung der Bibel überflüssig. Äußere Beweise, so interessant sie auch sein mögen, können der Herrlichkeit der göttlichen Offen­barung nichts hinzufügen. Sie trägt auf jeder Seite, in jedem Satz den deutlichen Stempel ihres göttlichen Urhebers. So wenig, wie ein Blinder die Sonne sieht, so wenig erkennt ein unbekehrter Mensch die Kraft und Schönheit der Heiligen Schrift. Die Augen müssen mit himmlischer Augensalbe gesalbt sein, um die Vollkommenheit dieses Buches zu erkennen.

 

Wir verweilen noch einen Augenblick bei den letzten Versen unseres Kapitels, in denen wir noch manche Belehrung finden. Zunächst wieder­holt Mose vor den Ohren des Volkes seinen Auftrag an Josua. "Und dem Josua gebot ich in selbiger Zeit und sprach: Deine Augen haben alles gesehen, was der HERR, euer Gott, diesen zwei Königen getan hat; also wird der HERR allen Königreichen tun, wohin du hinüber­ziehen wirst. Fürchtet sie nicht! denn der HERR, euer Gott, er ist es, der für euch streitet" (V. 21. 22). Die Erinnerung an das, was der Herr in der Vergangenheit für uns getan hat, sollte unser Vertrauen zu Ihm für die Zukunft stärken. Was wäre für einen Gott unmöglich gewesen, der Seinem Volk einen so herrlichen Sieg über die Amoriter verliehen hatte, einen so mächtigen Feind wie König Og vernichtet hatte und das Land der Riesen in ihre Hände gegeben hatte? Sie konnten kaum en' mit einem mächtigeren König im Lande Kanaan zusammen­zutreffen, als Og es war, dessen Bett so groß war, daß Mose ausdrück­lich davon spricht. Aber was war Og schon in der Gegenwart seines allmächtigen Schöpfers? Zwerge und Riesen sind vor Ihm völlig gleich. Entscheidend ist, daß wir Gott selbst im Auge behalten. Dann verschwin­den alle Schwierigkeiten. Wenn wir unseren Blick fest auf Ihn gerich­tet halten, so kann unsere Umwelt uns nicht beunruhigen. Das ist das Geheimnis des Friedens. "Deine Augen haben alles gesehen, was der HERR, euer Gott,... getan hat". Und wie Er getan hat, so wird Er tun. Er hat errettet, Er rettet jetzt, und Er wird erretten. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind gleicherweise durch die göttliche Errettung gekennzeichnet.

 

Befindest du dich in einer Schwierigkeit, mein lieber Leser? Liegt ir­8eRdein Druck auf dir? Bist du beunruhigt? Höre ein Wort der Ermuti­gung: "Fürchte dich nicht; glaube nur!" Er enttäuscht nie einen Men­schen, der Ihm vertraut. Benutze die Quellen der Hilfe, die in ihm für dich geöffnet sind. Lege dich selbst, alles was dich umgibt, deine Furcht und deine Angst, lege alles in Seine Hand, und da laß es ruhen.

 

ja, laß es dort! Es nützt nichts, unsere Schwierigkeiten und Bedürfnisse in die Hände unseres Gottes zu legen, und sie im nächsten Augenblick wieder in unsere eigene Hand zu nehmen. Wie oft geschieht das! Wir kommen in irgendeiner Not oder Prüfung im Gebet zu Gott, werfen unsere Bürde auf Ihn und fühlen uns erleichtert. Aber kaum haben wir uns von unseren Knien erhoben, so blicken wir von neuem auf die Schwierigkeiten, verweilen bei den traurigen Umständen, bis wir wieder an demselben Punkt ankommen, den wir soeben verlassen hatten. Wie sehr verunehren wir dadurch unseren Gott und Vater, und wir bleiben beladen und unglücklich. Er will unser Gemüt so frei von Sorgen haben, wie unser Gewissen frei ist von jeder Schuld. Sein Wort an uns lautet: "Seid um nichts besorgt, sondern in allem lasset durch Gebet und Fle­hen mit Danksagung eure Anliegen vor Gott kundwerden" (Phil. 4, 6).

 

In diesem Sinne suchte auch Mose, der treue Knecht des Herrn, seinen Mitarbeiter und Nachfolger Josua zu ermutigen im Blick auf das, was ihm bevorstand: "Fürchtet sie nicht, denn der HERR, euer Gott, ist es, der für euch streitet". In ähnlicher Weise ermunterte auch Paulus sein Kind und seinen Mitstreiter Timotheus, auf den lebendigen Gott zu vertrauen, stark zu sein in der Gnade, die in Christus Jesus ist, sich mit unerschütterlichem Vertrauen auf den festen Grund Gottes zu stützen und sich so mit Fleiß und geistlichem Mut dem Werk zu wid­men, zu dem er berufen war. Auch wir können einander ermuntern, in schlichtem Glauben an dem Wort festzuhalten, und es im Herzen zu bewahren als eine lebendige Macht und Autorität für uns. Das Wort erhält uns aufrecht, besonders auch im Alter, wenn alle menschlichen Stützen zerbrechen. "Alles Fleisch ist wie Gras, und alle seine Herrlich­keit wie des Grases Blume. Das Gras ist verdorrt, und seine Blume ist abgefallen; aber das Wort des Herrn bleibt in Ewigkeit. Dies aber ist das Wort, welches euch verkündigt worden ist" (i. Petr. 1, 24. 25).

 

Die Schlußverse dieses Kapitels berichten von einem Gespräch zwischen Mose und seinem Herrn. Auch dieser Bericht steht wieder in schöner Harmonie mit dein Charakter des ganzen Buches. (vgl. V. 23‑28). Es geht uns zu Herzen, wenn wir den treuen Knecht Gottes eine Bitte vorbringen hören, die Gott ihm doch nicht gewähren konnte. Er verlangte, das gute Land jenseits des Jordan zu sehen. Das Teil, das sich die zwei­einhalb Stämme erwählt hatten, konnte ihn nicht zufriedenstellen. Er wünschte das besondere Erbteil des Volkes Gottes zu betreten. Aber es, sollte nicht sein. Er hatte unvorsichtig mit seinen Lippen an den Wassern von Meriba geredet und durch den unabänderlichen Beschlug, der Regierung Gottes war ihm der Übergang des Jordan verwehrt.

 

Alles das wiederholt Mose in wirklicher Demut vor dem Volk. Er ver­heimlicht nicht die Tatsache, daß der Herr sich geweigert hatte, seine Bitte M erhören. Wohl erinnert er sie, daß sie Schuld daran hatten. Es war notwendig, daß das Volk daran erinnert wurde. Dennoch bekennt er, daß der HERR zornig über ihn gewesen sei und ihm trotz seiner Bitte nicht erlaubt habe, den Jordan zu überschreiten, sondern ihn aufgefordert habe, sein Amt niederzulegen und einen Nachfolger einzusetzen.

 

Mose selbst legt dieses offene Bekenntnis ab. Wie schwer wird es uns Oft, zu bekennen, wenn wir etwas Unrechtes getan oder gesprochen haben, vor unseren Brüdern einzugestehen, daß wir in diesem oder jenem Fall den Sinn verfehlt haben. Wir sind besorgt um unseren guten Ruf. Ist es nicht sonderbar, daß wir trotzdem oft betonen, daß wir schwache und irrende Geschöpfe sind und zu allem fähig, wenn wir uns selbst überlassen bleiben? Aber es ist etwas ganz anderes, ein allgemei­nes Bekenntnis abzulegen, als in einem bestimmten Fall anzuerkennen, daß man sich geirrt hat. Es gibt solche, die kaum einmal zugestehen, daß sie unrecht getan haben.

 

Nicht so Mose. Ungeachtet seiner erhabenen Stellung als der vertraute und geliebte Diener des HERRN, als der Führer der Gemeinde, dessen Stab einst alle Ägypter erzittern ließ, schämt er sich nicht, vor der Ver­sammlung seiner Brüder zu stehen und seinen Irrtum zu bekennen, anzuerkennen, daß er Worte gesagt hatte, die er nicht hätte sagen dürfen, und daß er eine dringende Bitte vor den HERRN gebracht hatte, die ihm nicht gewährt worden war.

 

Schätzen wir deshalb Mose weniger? Im Gegenteil, unsere Achtung Wächst. Es ist schön, sein Bekenntnis zu hören, zu sehen, wie er sich demütig unter die Regierungsabsichten Gottes beugt und wie selbstlos er dem Mann begegnet, der sein Nachfolger in dem hohen Amt werden sollte. Da findet sich keine Spur von Eifersucht und Neid, kein Aus­bruch des beleidigten Stolzes. In Selbstverleugnung steigt Mose von seiner erhabenen Stellung herab, legt seinen Mantel um die Schultern seines Nachfolgers und ermuntert ihn, mit Treue die Pflichten dieses bedeutenden Amtes zu erfüllen.

 

"Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden". Wie wird die Wahr­heit dieses Wortes in der Geschichte Moses so deutlich! Er demütigte sich unter die mächtige Hand Gottes und nahm die Zucht an, die ihm die göttliche Regierung auferlegte. Er äußerte auch nicht ein unzufriede­nes Wort darüber, daß seine Bitte nicht erhört worden war. Er beugte sich unter alles, und darum wurde er auch zu seiner Zeit erhöht. Gott erlaubte ihm in Seiner Regierung nicht, das Land zu betreten, aber in Seiner Gnade führte Er ihn auf die Höhe des Pisga, von wo aus Er ihm erlaubte, das gute Land in all seiner Schönheit zu sehen.

 

Es ist gut, den Unterschied zwischen Gnade und Regierung wohl zu überdenken. Dieser Unterschied wird in der Heiligen Schrift oft erklärt, aber wenig verstanden. Es mag uns schwer verständlich erscheinen, wie Gott Seinem treuen und geliebten Knecht den Zutritt in das Land ver­wehren konnte. Doch wir sehen hier den ganzen Ernst der göttlichen Regierung. Es geziemt uns, das Haupt zu beugen und anzubeten. Wie bereits erwähnt, konnte Mose nicht nur aufgrund seines Amtes, als Vertreter des gesetzlichen Systems, Israel nicht in das Land bringen, sondern auch weil er unvorsichtig mit seinen Lippen geredet hatte. Er und sein Bruder Aaron hatten Gott nicht verherrlicht vor der Versamm­lung; aus diesem Grunde "sprach der HERR zu Mose und zu Aaron“. Weil ihr mir nicht geglaubt habt, mich vor den Augen der Kinder Israel zu heiligen, deswegen sollt ihr diese Versammlung nicht in das Land bringen, das ich ihnen gegeben habe" (4. Mose 20, 12). Und weiterhin lesen wir: "Und der HERR redete zu Mose und zu Aaron am Berge Hor, an der Grenze des Landes Edom, und sprach: Aaron soll zu seinen Völkern versammelt werden; denn er soll nicht in das Land kommen, das ich den Kindern Israel gegeben habe, weil ihr meinem Befehle wider­spenstig gewesen seid bei dem Wasser von Meriba. Nimm Aaron und Eleasar, seinen Sohn, und laß sie hinaufsteigen auf den Berg Hor; und ziehe Aaron seine Kleider aus und lege sie seinem Sohne Eleasar an; und Aaron soll versammelt werden und daselbst sterben" (V. 23‑26).

 

Dar, ist sehr ernst. Diesen beiden Männern der Gemeinde Israel, die Gott dazu gebraucht hatte, Sein Volk mit mächtigen Zeichen und Wun­dern aus Ägypten zu führen, Männern, die von Gott hoch geehrt waren, wurde der Eintritt in das Land Kanaan verwehrt, "weil sie seinem Befehle widerspenstig gewesen waren". Laßt uns diese Worte zu Her­zen nehmen! Es ist etwas Schreckliches, widerspenstig zu sein gegen das Wort Gottes. Je höher die Stellung derjenigen ist, die sich dem Wort widersetzen, desto größer die Verantwortung und desto ernster und schneller erreicht sie das göttliche Gericht. "Denn wie Sünde der Wahrsagerei ist Widerspenstigkeit, und der Eigenwille wie Abgötterei und Götzendienst" (l. Sam. 15, 23). Diese ernsten Worte wurden an Saul gerichtet, als er dem Wort des Herrn nicht gehorchte. So werden ein Prophet, ein Priester und ein König als Beispiele dafür vorgestellt, daß Gott in Seiner Regierung wegen eines einmaligen Ungehorsams züchtigt. Die beiden ersteren durften das Land Kanaan nicht betreten, und der König verlor seinen Thron.

 

Wir sollen gehorchen und alles übrige den Händen unseres Herrn über­lassen. Es ist nicht die Sache eines treuen Dieners, über die Früchte seines Gehorsams nachzusinnen. Er tut das, was ihm aufgetragen ist. Die Früchte überläßt er seinem Herrn. Hätten Mose und Aaron dies bedacht, so würden sie den Jordan überschritten haben, und hätte Saul gehorcht, so würde er seinen Thron nicht verloren haben.

 

Schwächen wir diesen wichtigen Grundsatz nicht oft dadurch ab, daß wir sagen, Gott wisse und sehe alles voraus, was sich ereignen und was der Mensch im Lauf der Zeit tun werde? Doch was hat das Vorauswissen Gottes mit der Verantwortung des Menschen zu tun? Ist der Mensch verantwortlich oder nicht? Ohne Zweifel! Er ist berufen, dem Wort Gottes zu gehorchen. Er ist nicht verantwortlich, über Gottes Vor­sätze und geheimen Ratschlüsse etwas zu wissen. Die Verantwortung des Menschen erstreckt sich auf das, was geoffenbart ist, und nicht auf das Verborgene. Was wußte zum Beispiel Adam über die ewigen Ratschlüsse und Vorsätze Gottes, als er in den Garten gesetzt wurde und Gott ihm verbot, von dem Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen zu essen? Wurde seine Übertretung durch die Tatsache gemil­dert, daß Gott gerade diese Übertretung dazu benutzen wollte, Seinen wunderbaren Plan der Erlösung durch das Blut des Lammes zu entfal­ten? Sicher nicht. Adam empfing ein eindeutiges Gebot, das er beachten sollte, aber er war ungehorsam und wurde aus dem Paradies vertrieben.

 

Gott sei gepriesen! die Gnade ist in diese arme, sündige Welt gekom­men und hält da eine Ernte, die auf den Feldern einer nicht gefallenen Schöpfung nie hätte gehalten werden können. Aber der Mensch wurde gerichtet wegen seiner Übertretung. Er wurde vertrieben durch die regierende Hand Gottes und gezwungen, im Schweiß seines Angesichts sein Brot zu essen. "Was irgend ein Mensch sät, das wird er auch ernten" (Gal. 6, 7).

 

Kapitel 4

 

SATZUNGEN UND RECHTE

 

"Und nun, Israel, höre auf die Satzungen und auf die Rechte, die ich euch lehre zu tun, auf daß ihr lebet und hineinkommet und das Land in Besitz nehmet, welches der HERR, der Gott eurer Väter, euch gibt" (V. 1).

 

In diesem Vers sehen wir den besonderen Charakter des fünften Buches Mose sehr deutlich. "Höret ‑ und "tut", damit ihr "lebet" und "besitzt". Dieser Grundsatz ist immer gültig, ob damals für Israel oder heute für uns. Der Weg des Lebens besteht in einfältigem Gehorsam gegenüber den Geboten Gottes. Gott hat uns Sein Wort nicht gegeben, um darüber zu spekulieren oder zu streiten, sondern um ihm zu gehorchen. Und insoweit wir den Geboten und Anordnungen unseres Vaters aufrichtig gehorchen, gehen wir auf dem hellen Weg des Lebens und genießen alles, was Gott in Christus für uns bereitet hat. "Wer meine Gebote hat und sie hält, der ist es, der mich liebt; wer aber mich liebt, wird von meinem Vater geliebt werden; und ich werde ihn lieben und mich selbst ihm offenbar machen" (Joh. 14, 21).

 

Es ist jedoch ein großer Irrtum, anzunehmen, daß sich alle Gläubigen wirklich über dieses Vorrecht freuen. Nur wer gehorsam ist, genießt es. Zwar könnten es alle genießen; aber nicht alle sind gehorsam. Zwischen einem Kind und einem gehorsamen Kind ist ein großer Unterschied. Ebenso ist es etwas ganz anderes, den Heiland zu lieben und seine Freude im Beachten Seiner Gebote zu finden, als sich nur der Errettung bewußt zu sein.

 

Die Bestätigung hiervon können wir täglich in unserem Familienleben finden. Da sind zum Beispiel zwei Söhne. Der eine denkt nur daran, sich selbst zu gefallen und seine Wünsche zu erfüllen. Er fühlt sich nicht wohl in der Nähe seines Vaters und bemüht sich auch nicht, den Wün­schen seines Vaters nachzukommen. Er kennt kaum etwas von den Gedanken und Plänen seines Vaters, oder sie sind ihm völlig gleich­gültig. Dagegen nimmt er Kleider, Bücher und Geld an, kurz alles, was sein Vater ihm gibt, aber er bemüht sich nicht im geringsten, durch eine Aufmerksamkeit seinen Vater zu erfreuen. Der andere Sohn ist das genaue Gegenteil. Er findet seine Freude daran, in der Nähe seines Vaters zu sein. Er liebt seinen Vater und die Unterhaltung mit ihm. Er benutzt jede Gelegenheit, die Wünsche seines Vaters zu erfüllen und ihn zu erfreuen. Er liebt seinen Vater nicht um der Geschenke willen, sondern um seiner selbst willen.

 

Es ist leicht zu verstehen, daß die Empfindungen des Vaters zu diesen beiden Söhnen nicht dieselben sind. Zwar sind beide seine Söhne, und er liebt deshalb beide. Aber außer der verwandtschaftlichen Liebe zu beiden gibt es noch eine besondere Freude an einem gehorsamen Kind. Ein Vater kann an dem eigenwilligen, egoistischen und leichtsinnigen Leben seines Sohnes unmöglich Freude haben. Er wird in mancher schlaflosen Nacht an ihn denken und für ihn beten, er wird bereit sein, alles für ihn zu tun, aber er hat kein Vertrauen zu ihm, kann sich ihm nicht öffnen und ihm auch nicht seine Gedanken mitteilen.

 

Allein auf dem Weg des Gehorsams können wir unserem himmlischen Vater und unserem Herrn Jesus Christus Freude bereiten. Der Gehorsam ist Gott wohlgefällig, "und seine Gebote sind nicht schwer". In Seiner Gnade will der Herr sich demjenigen offenbaren und bei ihm wohnen der Sein Wort hält. Der Herr selbst sagt das auf die Frage des Judas. Judas, nicht der Iskariot, spricht zu ihm: Herr, wie ist es, daß du dich uns offenbar machen willst, und nicht der Welt? Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wenn jemand mich liebt, so wird er mein Wort halten, und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm machen" (Joh. 14, 22. 23).

 

Hier wird deutlich, daß es sich nicht um den Unterschied zwischen der "Welt" und "uns" handelt, denn die Welt kennt weder dieses Verhält­nis noch den Gehorsam. Sie wird deshalb in der Antwort des Herrn gar nicht berücksichtigt. Die Welt haßt Christus, weil sie Ihn nicht kennt.

 

Ihre Sprache ist: "Hinweg mit diesem! Wir wollen nicht, daß dieser über uns herrsche!" So ist die Welt, wenn auch verfeinert durch Bildung und Sitte und sogar übergoldet mit dem Bekenntnis des Christentums. Unter all dem Glanz und dem Gold hegt sie heute noch denselben Haß gegen die Person und die Autorität unseres Herrn Jesus wie damals. Zwar hat sie ihrer Religion Seinen heiligen Namen aufgeprägt, aber hinter dem Gewand des religiösen Bekenntnisses lauert ein Herz voll Feindschaft gegen Gott und Seinen Christus.

 

Doch der Herr spricht in obiger Stelle von der Welt. Er ist getrennt von ihr, "bei den Seinen", und von ihnen spricht er. Würde Er sich der Welt offenbaren, so hätte das nur Gericht und ewige Zerstörung zur Folge. Aber Er offenbart sich den Seinigen, die Seine Gebote haben und sie halten, die Ihn lieben und Sein Wort bewahren. Selbstverständ­lich denkt der Herr, wenn Er von Seinen Geboten und Seinen Worten redet, nicht an die zehn Gebote oder das Gesetz Moses. Das Gesetz Moses mit den Geboten Christi zu verwechseln, bedeutet Judentum und Christentum, Gesetz und Evangelium miteinander zu vermischen und alles zu verwirren.

 

Manche lassen sich durch den Wortlaut irreleiten und glauben, wenn sie dem Wort "Gebote" begegnen, müßten sie notwendig das Gesetz Moses darunter verstehen. Das ist aber ein Irrtum. Die ersten acht Kapitel des Römerbriefs und der ganze Galaterbrief belehren uns klar und unzweideutig, daß der Christ in keiner Weise unter Gesetz ist, weder um das Leben zu erlangen noch die Gerechtigkeit, weder in bezug auf die Heiligkeit noch auf den Wandel oder irgend etwas anderes. Die Lehre des ganzen Neuen Testaments zielt darauf ab, klarzumachen, daß der Christ nicht unter Gesetz ist. Er ist nicht von der Welt, nicht im ­Fleisch und nicht mehr in seinen Sünden. Die unerschütterliche Grundlage von all diesem ist die vollendete Erlösung, die wir in Christus Jesus besitzen. Aufgrund dieser Erlösung sind wir versiegelt mit dem Heiligen Geist und deshalb für immer verbunden und einsgemacht mit dem auferstandenen und verherrlichten Christus, so daß der Apostel Johannes von allen Gläubigen, von allen Kindern Gottes sagen kann, "daß gleichwie er (Christus) ist, auch wir sind in dieser Welt". Das entscheidet die Frage für alle, die dem Wort Gottes gehorsam sein möchten.

 

Bevor wir diesen Gegenstand verlassen, möchte ich den Leser bitten, für einige Augenblicke zu einem Abschnitt der biblischen Geschichte zurückzukehren, der den Unterschied zwischen einem gehorsamen und einem ungehorsamen Kind Gottes zeigt. In 1. Mose 18 und 19 wird uns die Geschichte von zwei Männern berichtet. Lot war ebensogut ein Gläubiger wie Abraham; denn Petrus sagt von Lot: Der "Gerechte quälte durch das, was er sah und hörte, Tag für Tag seine gerechte Seele mit ihren gesetzlosen Werken" (2. Petr. 2, 8). Aber laßt uns den Unterschied zwischen diesen beiden Männern beachten! Der Herr selbst besuchte Abraham, setzte sich mit ihm nieder und nahm bereitwillig seine Gastfreundschaft an. Das war wirklich eine hohe Ehre, ein Vor­recht, das Lot nie kennenlernte. Der Herr besuchte ihn nie in Sodom. Er sandte lediglich Seine Engel dorthin, die das Gericht ausführten. Auch die Engel weigerten sich anfangs entschieden, die Gastfreundschaft Lots anzunehmen; sie wollten lieber auf dem Platz übernachten, als in sein Haus einkehren. Und als sie seinem eindringlichen Bitten endlich nach­gaben, taten sie es nur, um ihn vor der Gewalttätigkeit der gottlosen Menge zu schützen und ihn aus den traurigen Umständen zu erretten, in die er sich um irdischen Gewinnes und Besitzes willen gestürzt hatte. Könnte der Unterschied krasser sein?

 

An Abraham fand der Herr Seine Freude; Er offenbarte sich ihm, teilte ihm Seine Gedanken mit und sagte ihm, was Er mit Sodom tun wollte (l. Mose 18, 17‑19).

 

Der Besuch des Herrn bei Abraham gibt eine deutliche Erklärung zu Joh. 1‑1, 21. 23, obgleich dieser Besuch stattfand, zweitausend Jahre bevor jene Worte gesprochen wurden. Finden wir etwas Entsprechendes in der Geschichte Lots? Nein! Lot war nicht in der Nähe Gottes, kannte Seine Gedanken nicht und hatte keine Einsicht in Gottes Vorhaben. Wie wäre das auch möglich gewesen? Wie hätte er, versunken in die Tiefen des Verderbens von Sodom, die Gedanken Gottes kennen können? Wie hätte er in der dumpfen Atmosphäre, welche diese ver­derbten Städte des Landes umgab, einen klaren Blick in die Zukunft haben können? Das war unmöglich! Ein Mensch, der mit der Welt ver­kettet ist, kann die Dinge des Lebens nur aus der Sicht dieser Welt betrachten und nach ihrem Maßstab und ihren Gedanken beurteilen. Daher kommt es, daß der Herr der Kirche in Sardes droht, Er werde über sie kommen wie ein Dieb, anstatt daß Er sie trösten kann durch die Hoffnung auf Seine Ankunft als der glänzende Morgenstern. Wenn die bekennende Kirche zu dem Niveau der Welt herabgesunken ist, (und leider ist sie es ja!) so kann sie die Zukunft nur von dort aus betrachten. Das erklärt den Schrecken, mit dem die meisten bekennenden Christen an die Ankunft des Herrn denken. Sie erwarten ihn wie einen Dieb, nicht aber als ihren geliebten Bräutigam. Wie gering ist die Zahl derer, die Seine Erscheinung in Wahrheit liebhaben! Die große Mehr­heit der bekennenden Christen findet ihr Spiegelbild eher in Lot als in Abraham. Die Kirche hat die Grundlage der Schrift verlassen. Sie ist herabgestiegen von ihrem erhabenen Platz und hat sich mit der Welt vereinigt, die ihren abwesenden Herrn haßt und verachtet.

 

Doch Gott sei Dank! es gibt selbst in Sardes noch "einige wenige Namen, . . die ihre Kleider nicht besudelt haben" (Offb. 3, 4), einige lebendige Steine inmitten der Trümmerhaufen eines toten Bekennt­nisses, einige Lichtblicke inmitten der Finsternis eines kalten, welt­lichen Christentums. Ja, selbst in dem Abschnitt der Kirchengeschichte, der durch Laodicäa vorgebildet ist, wenn ein noch niedriger und trauriger Zustand herrscht, wenn der treue und wahrhaftige Zeuge im Begriff steht, die ganze bekennende Christenheit aus Seinem Mund auszu­speien, selbst dann noch hören wir die eindringlichen Worte: "Siehe, ich stehe an der Tür und klopfe an; wenn jemand meine Stimme hört und die Tür auftut, zu dem werde ich eingehen und das Abendbrot mit ihm essen, und er mit mir."*)

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*) Das Sendschreiben Christi an die Gemeinde in Laodicäa auf den Zustand des Sünders anzuwenden, ist nicht richtig. Es handelt sich hier nicht um den Zustand eines einzelnen Sünders. Christus klopft nicht an die Herzenstür eines Sünders, sondern an die Tür der bekennenden Kirche. Wie ernst ist diese Tatsache im Blick auf die Kirche! Wo ist sie hingekommen? Christus steht außerhalb. Aber Er klopft an, Er bittet um Einlaß. Er wartet in Geduld und unveränderlicher Liebe und ist bereit, da einzukehren, wo sich noch ein Herz findet, das Ihm öffnen will. "Wenn jemand!" In Sardes konnte Er noch bestimmt von einigen wenigen Getreuen reden, hier aber in Laodicäa ist es zweifelhaft, ob Er wohl einen finden wird. Aber wenn auch nur einer da ist, Er will zu ihm kommen und das Abendbrot mit ihm essen.

 

Wir sehen also, daß Gott immer auf ein offenes Ohr und ein gehorsames Herz achtet, sei es nun in den Tagen der bekennenden Christenheit oder in den Tagen der Patriarchen, in der Zeit des Neuen Testaments oder des Alten Testaments. Abraham, der Fremdling, genoß da seltene Vorrecht, sich bei den Eichen Mamres mit dem Herrn der Herrlichkeit unterhalten zu dürfen ‑ ein Vorrecht, das jedem unbekannt blieb, der seinen Wohnort und seinen Besitz in einer Umgebung wählte, die zerstört werden sollte.

 

 

Laßt uns das nicht vergessen! Reiche Segnungen und Vorrechte sind unser Teil, wenn wir gehorsam sind. Ob unter Gesetz oder Gnade, stets bleibt wahr: "Aber auf diesen will ich blicken: auf den Elenden und den, der zerschlagenen Geistes ist, und der da zittert vor meinem Worte" (Jes. 66, 2). Dieser Grundsatz tritt uns sowohl am Anfang unseres Kapitels als auch in den Worten unseres Herrn in Joh. 14 entgegen: "Wer meine Gebote hat und sie hält, der ist es, der mich liebt", und: "Wenn jemand mich liebt, so wird er mein Wort halten".**) Besonders klar stellt uns der Apostel Johannes diesen Grundsatz vor Augen, wenn er sagt: "Geliebte, wenn unser Herz uns nicht verurteilt, so haben wir Freimütigkeit zu Gott, und was irgend wir bitten, emp­fangen wir von ihm, weil wir seine Gebote halten und das vor ihm Wohlgefällige tun. Und dies ist sein Gebot, daß wir an den Namen seines Sohnes Jesus Christus glauben und einander lieben, gleichwie er uns ein Gebot gegeben hat. Und wer seine Gebote hält, bleibt in ihm, und er in ihm" (i. Joh. 3, 21‑24).

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**) Es besteht ein bemerkenswerter Unterschied zwischen den Geboten" und dem "Wort" des Herrn. Die Gebote fordern, was wir tun sollen, das Wort aber ist mehr der Ausdruck der Gedanken und der Gesinnung des Herrn. Wenn ich meinem Kind ein Gebot gebe, so verlange ich Gehorsam, und wenn es mich liebt, wird es mit Freuden gehorchen. Wenn ich aber einen Wunsch äußere, ohne daß ein ausdrückliches Gebot hinzugefügt wird, so freue ich mich weitaus mehr, wenn es hingeht und tut, was ich wünsche. Sollten wir nicht auch versuchen, das Herz des Herrn Jesus zu erfreuen? Sollten wir uns nicht "beeifern, ihm wohlgefällig zu sein"? Er hat uns vor Gott angenehm gemacht. Sollten wir nicht auf jede Weise suchen, Ihm zu gefallen? Er hat Seine Freude an einem Gehorsam, der aus der Liebe entspringt. Einen solchen Gehorsam brachte Er selbst dem Vater dar. "Dein Wohlgefallen zu tun, mein Gott, ist meine Lust; und dein Gesetz ist im Innern meines Herzens.« (Ps. 40, 8). Wenn ihr meine Gebote haltet, so werdet ihr in meiner Liebe bleiben, gleichwie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe" (Joh. 15, 10).

 

Könnte irgend etwas mehr Kraft geben als der Wunsch, dem Herzen unseres geliebten Herrn Freude zu bereiten? Welch einen Wert verleiht das jeder noch so kleinen Tat des Gehorsams! Wie weit ist das jedem gesetzlichen System überlegen! Der Gegensatz zwischen Gesetz und Christentum ist gleich dem Unterschied zwischen Tod und Leben, Ge­fangenschaft und Freiheit, Verdammnis und Gerechtigkeit, Zweifel und Gewißheit. Wie verkehrt ist daher jeder Versuch, diese beiden Dinge miteinander zu vermengen, sie zu einem System zu verschmelzen, als wären es nur zwei Äste aus demselben Stamm. Welch eine hoffnungs­lose Verwirrung würde das geben! Dieser Versuch steht in krassem Gegensatz zu der Lehre des ganzen Neuen Testaments.

 

"Ihr seid nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade", sagt der Apostel unmißverständlich (Röm. 6, 14). Der Heilige Geist erklärt hier mit Nachdruck, daß die Christen nicht unter Gesetz sind. Wenn wir unter Gesetz wären, so würde die Sünde über uns herrschen. Wir finden in der Schrift beständig, daß "Sünde", "Gesetz" und "Fleisch" miteinan­der verbunden sind. Jemand, der unter Gesetz steht, kann niemals das Glück kennenlernen, aus der Herrschaft der Sünde befreit zu sein. Schon hieran können wir erkennen, wie verkehrt es ist, jemandem das Gesetz aufzuerlegen. Man würde denjenigen in eine Stellung drängen, in der die Sünde mit unumschränkter Macht über ihn herrscht. Es ist ganz und gar unmöglich, Heiligkeit durch das Gesetz hervorzubringen. Wenden wir uns noch einen Augenblick Römer 7 zu. Wir lesen in Vers 4 dieses Kapitels: "Also seid auch ihr, meine Brüder", das heißt also alle wahren Gläubigen, das ganze Volk Gottes, "dem Gesetz getötet worden durch den Leib des Christus, um eines anderen zu werden, des aus den Toten Auferweckten, auf daß wir Gott Frucht brächten." Es braucht kaum gesagt zu werden, daß wir nicht dem Gesetz getötet" und zugleich "unter dem Gesetz" sein können.

 

Beachten wir dabei, daß der Apostel nicht sagt, das Gesetz sei getötet. Wir sind durch den Tod Christi aus dem Bereich des Gesetzes heraus­genommen worden. Christus nahm unseren Platz ein. Er wurde ge­boren unter Gesetz und auf dem Kreuz für uns zur Sünde gemacht. Aber Er starb und wir mit Ihm, und so hat Er uns dadurch aus der Stellung, in der wir unter der Herrschaft der Sünde und unter dem Gesetz standen, völlig herausgenommen und uns in eine ganz neue Stellung, in eine lebendige Gemeinschaft und Einheit mit sich selbst gebracht, so daß jetzt auch von uns gesagt werden kann: ' ... daß gleichwie er ist, auch wir sind in dieser Welt". Ist Er unter Gesetz? Nein. Dann sind auch wir nicht unter Gesetz. Hat die Sünde noch einen Anspruch an Christus? Nicht den geringsten. So hat sie auch keinen An­spruch mehr an uns. Was unsere Stellung betrifft, so sind wir, wie Er ist, in der Gegenwart Gottes. Würden wir uns daher wieder unter das Gesetz stellen, so wäre das eine vollständige Umkehrung unserer christ­lichen Stellung und ein Widerspruch gegen die Aussagen der Heiligen Schrift.

 

Wie könnte ein Leben in Heiligkeit gefördert werden, wenn die eigent­lichen Grundlagen des Christentums beseitigt werden? Wie könnte die in uns wohnende Sünde niedergehalten werden, wenn man uns gerade unter das System zurückbringt, das der Sünde die Macht über uns gibt? Ein göttliches Ziel kann nur auf einem göttlichen Weg erreicht werden. Gottes Weise aber, wie Er uns aus der Herrschaft der Sünde befreit, besteht darin, daß Er uns aus dem Herrschaftsbereich des Ge­setzes herausnimmt. Wir sind nicht mehr unter Gesetz, sondern unter Gnade. Wer daher einen Christen wieder unter das Gesetz stellen will, handelt im Widerspruch zu Gott. Doch hören wir, was der Apostel in Römer 7 weiter sagt:

 

"Denn als wir im Fleische waren, wirkten die Leidenschaften der Sün­den, die durch das Gesetz sind, in unseren Gliedern, um dem Tode Frucht zu bringen. Jetzt aber sind wir von dem Gesetz losgemacht, da wir dem gestorben sind, in welchem wir festgehalten wurden, so daß wir dienen in dem Neuen des Geistes und nicht in dem Alten des Buchstabens" (V. 5. 6).

 

Auch diese Worte sind klar. Wenn der Apostel sagt: "Als wir im Fleische waren", so weist er damit doch auf die Vergangenheit hin, auf eine Stellung, in der wir uns nicht mehr befinden. Aber sind denn die Gläubigen nicht mehr im Fleische? Nein, die Schrift erklärt das aus­drücklich. Will das sagen, daß sie nicht mehr im Leibe sind? Keineswegs.

 

Sie sind noch in diesem Leib der Schwachheit, aber ‑ wenn es sich um ihre Stellung vor Gott handelt ‑ nicht mehr im Fleische. Am klarsten wird das in Römer 8: "Die aber, welche im Fleische sind, vermögen Gott nicht zu gefallen. Ihr aber seid nicht im Fleische, sondern im Geiste, wenn anders Gottes Geist in euch wohnt". Diese Worte stellen uns eine ernste Tatsache, zugleich aber auch ein herrliches Vorrecht vor Augen. "Die aber, welche im Fleische sind, vermögen Gott nicht zu ge­fallen." Sie mögen ehrbar, liebenswürdig und religiös sein, aber sie können Gott nicht gefallen. Ihre Stellung ist falsch. Die Quelle, aus der all ihr Tun entspringt, ist verderbt. Die Wurzel und der Stamm" von dem alle Zweige ausgehen, sind faul und hoffnungslos schlecht. Sie können nicht eine Frucht hervorbringen, die wirklich gut und Gott an­genehm ist. "Sie vermögen Gott nicht zu gefallen". Sie müssen in eine ganz neue Stellung gebracht werden und müssen ein neues Leben empfangen.

 

Doch laßt uns auch das herrliche Vorrecht aller wahren Gläubigen nicht aus dem Auge verlieren: "Ihr aber seid nicht im Fleische". Die Gläubi­gen sind nicht mehr in einer Stellung, in der sie Gott nicht gefallen können. Sie haben eine neue Natur, ein neues Leben empfangen. Der Heilige Geist ist die Kraft dieses Lebens, Christus der Ursprung, die Herrlichkeit das Ziel und der Himmel die Heimat. Er ist wohl wahr, daß der Gläubige irren kann, daß er geneigt ist, seinem eigenen Willen zu folgen und imstande ist zu sündigen. In ihm, das ist in seinem Fleische, wohnt nichts Gutes. Aber seine Stellung ist auf das Fundament der Gnade gegründet, und für den Zustand des Gläubigen hat Gott in Seiner Gnade vorgesorgt durch das vollgültige Opfer und die allmächtige Fürsprache unseres Herrn Jesus Christus. Er hat den Gläubigen für immer von dem schrecklichen System befreit, dessen hervorstechende Züge "Fleisch", "Gesetz", "Sünde" und "Tod" sind, und Er hat ihn auf den herrlichen Platz versetzt, der durch "Leben", "Freiheit", "Gnade", "Friede", "Gerechtigkeit", "Heiligkeit", "Herrlichkeit“, ja durch "Chri­stus" selbst charakterisiert wird (vgl. Hebr. 12, 18‑24).

 

Das gesetzliche System des Menschen steht der Lehre des ganzen Neuen Testaments schnurstracks entgegen. Gegen dieses System und seine Ver­teidiger mußte Paulus, der treue Knecht des Herrn, während seines ganzen Lebens kämpfen. Beständig warnte er davor. Denn die Gesetzes­lehrer wollten überall seine gesegnete Arbeit untergraben, verderben und die Christen im Glauben irreführen.

 

In Verbindung damit sei noch auf einige Schriftstellen verwiesen, aus denen die moralische Herrlichkeit des Christentums, im Gegensatz zu der mosaischen Zeitperiode, besonders hervorleuchtet. "Also ist jetzt keine Verdammnis für die, welche in Christus Jesus sind. Denn das Gesetz des Geistes des Lebens in Christus Jesus hat mich freigemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes. Denn das dem Gesetz Unmögliche, weil es durch das Fleisch kraftlos war, tat Gott, indem er seinen eigenen Sohn in Gleichgestalt des Fleisches der Sünde und für die Sünde sendend, die Sünde im Fleische verurteilte, auf daß das Recht des Gesetzes erfüllt würde in uns, die nicht nach dem Fleische, sondern nach dem Geiste wandeln" (Röm. 8, 1‑4). Der erste Vers beschreibt den Platz, den jeder Christ einnimmt, seine Stellung vor Gott. Er ist "in Christus Jesus". Das ordnet alles. Er ist nicht mehr im Fleische, nicht unter Gesetz; er ist für ewig "in Christus Jesus", daher kann es für ihn keine Verdammnis mehr geben.

 

Im vierten Vers handelt es sich um unseren Wandel ‑ darum, daß das Recht erfüllt wird, das ist die gerechte Forderung des Gesetzes. Wer im Geist handelt, wie jeder Christ es tun sollte, erfüllt das Recht des Gesetzes. Die Liebe ist die Erfüllung des Gesetzes, und sie wird uns leiten, das zu tun, was die zehn Gebote nicht bewirken konnten, nämlich daß wir unsere Feinde lieben. Keiner, der die Heiligkeit liebt und der praktischen Gerechtigkeit nachstrebt, braucht einen Verlust zu be­fürchten, wenn er das gesetzliche System verläßt und seinen Platz auf der Grundlage des Christentums einnimmt, wenn er den Berg Sinai mit dem Berg Zion vertauscht, wenn er Mose verläßt und zu Christus kommt. Nein, er gelangt zu einer weit tieferen Quelle und einem aus­gedehnten Bereich, den Heiligkeit, Gerechtigkeit und praktischer Gehor­sam charakterisieren.

 

Wird dadurch das Gesetz nicht seiner Schönheit beraubt? Keineswegs! Im Gegenteil, die Vollkommenheit des Gesetzes konnte erst durch das wunderbare Werk, das die unerschütterliche Grundlage aller Vorrechte und Segnungen des Christentums bildet, gesehen werden. Der Apostel hat diese Frage schon früher beantwortet. "Heben wir denn," sagt er, "das Gesetz auf durch den Glauben? Das sei ferne! sondern wir be­stätigen das Gesetz." Wie konnte das Gesetz herrlicher bestätigt werden als in dem Leben und dem Tode unseres Herrn Jesus? Wird das Gesetz dadurch verherrlicht, daß der Christ sich darunter stellt? Gewiß nicht. Alle Gläubigen, die das Vorrecht haben, im Licht der neuen Schöpfung zu wandeln, kennen Christus als ihr Leben und ihre Gerechtigkeit, als ihre Heiligung, als ihr großes Vorbild. Er ist alles in allem. Sie finden ihren Beweggrund zum Gehorsam nicht in der Furcht vor den Flüchen eines gebrochenen Gesetzes, sondern in der Liebe Christi, in Überein­stimmung mit dem herrlichen Wort: "Die Liebe des Christus" ‑ nicht das Gesetz Moses ‑ "drängt uns, indem wir also geurteilt haben, daß einer für alle gestorben ist und somit alle gestorben sind. Und er ist für alle gestorben, auf daß die, welche leben, nicht mehr sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben ist und ist auferweckt wor­den" (2. Kor. 5, 14. 15).

 

Hätte das Gesetz das hervorbringen können? Nein, niemals. Aber ge­priesen sei der Gott aller Gnade! "Das dem Gesetz Unmögliche", ‑nicht weil das Gesetz nicht heilig, gerecht und gut gewesen wäre, son­dern ‑ "weil es durch das Fleisch kraftlos war, tat Gott, indem er, seinen eigenen Sohn in Gleichgestalt des Fleisches der Sünde und für die Sünde sendend, die Sünde im Fleische verurteilte, auf daß das Recht des Gesetzes erfüllt würde in uns, die nicht nach dem Fleische, sondern nach dein Geiste wandeln." Wir sind auferstanden mit Christus und mit Ihm verbunden durch die Macht des Heiligen Geistes, in der Kraft des neuen und ewigen Lebens. Das ist wahres praktisches Christentum.

 

In Galater 2 weist der Apostel Paulus noch einmal auf das christliche Leben und Betragen hin in Verbindung mit dem Tadel, den er öffentlich über den Apostel Petrus in Antiochien aussprach. Petrus hatte durch seine natürliche Schwachheit für einen Augenblick die Grundlage ver­lassen, auf die das Evangelium der Gnade Gottes den Gläubigen stellt. Die Verse 11‑21 enthalten eine klare Darstellung des praktischen Christentums.

 

Bemerkenswert und schön ist die Weise, in der das Evangelium Gottes den Weg des wahren Gläubigen zeigt. Es bewahrt ihn vor den verhängnisvollen Irrwegen der Gesetzlichkeit auf der einen Seite und vor Falschheit und Nachlässigkeit auf der anderen Seite. Der 19. Vers enthält das göttliche Heilmittel gegen diese todbringenden übel. All den heuchelnden Juden, mit Petrus an ihrer Spitze, und den Gesetzeslehrern aller Zeiten ruft der Apostel die Worte entgegen: "Ich bin dem Gesetz gestorben!"

 

Was hat das Gesetz einem toten Menschen noch zu sagen? Nichts. Es hat nur über den lebenden Menschen Autorität. Es verflucht und tötet den Menschen, weil er das Gesetz nicht gehalten hat. Obwohl das Gesetz immer noch in seiner ganzen Kraft und Majestät sowie in seiner unbeugsamen Strenge besteht, endet doch, sobald der Mensch tot ist, seine Anwendung. Ein gestorbener Mensch ist völlig aus dem Bereich des Gesetzes herausgenommen. Wie aber ist der Gläubige dem Gesetz gestorben? Der Apostel gibt selbst die Antwort: "Ich bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben". Das Gesetz hatte das Todesurteil in sein Ge­wissen gebracht. Das sehen wir auch in Römer 7: "Ich aber lebte einst ohne Gesetz; als aber das Gebot kam, lebte die Sünde auf; ich aber starb. Und das Gebot, das zum Leben gegeben, dasselbe erwies sich mir zum Tode. Denn die Sünde, durch das Gebot Anlaß nehmend, täuschte mich und tötete mich durch dasselbe" (V. 9‑11).

 

Doch das ist noch nicht alles. Der Apostel fährt fort: "Ich bin mit Chri­stus gekreuzigt, und nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir". Das ist die triumphierende Antwort des Christen an alle, die ihn wieder unter das Gesetz bringen wollen. "Ich bin dem Gesetz gestor­ben", nicht um nun zügellos zu leben, sondern: "auf daß ich Gott lebe".

 

Gibt es eine schönere Antwort auf die Gesetzlichkeit und zugleich auf die Zügellosigkeit? Das Ich ist gekreuzigt, die Sünde verdammt. Neues Leben in Christus ist unser Teil, ein Leben für Gott, durch den Glauben an den Sohn Gottes; und die Liebe Christi ist der Antrieb für dieses Leben! Was könnte höher und herrlicher sein? Wer will, angesichts dieser sittlichen Schönheit des Christentums, den Gläubigen wieder unter das Gesetz, unter das Urteil des Todes, in Knechtschaft, Finster­nis, Fluch und Verdammnis zurückbringen? Wie betrübend ist es, Kin­der Gottes, Glieder des Leibes Christi, Tempel des Heiligen Geistes, ihrer herrlichen Vorrechte beraubt zu sehen und dafür mit einem schwe­ren Joch belastet, das, wie Petrus sagt, "weder unsere Väter noch wir zu tragen vermochten"! Wir bitten den gläubigen Leser, das zu überden­ken und die Schrift auf diesen Punkt hin genau zu untersuchen. Was entbehren doch diejenigen, die diesem gesetzlichen System verhaftet sind und nicht in der Freiheit wandeln, für die Christus Sein Volk freige­macht hat. Wie überstrahlt doch das Evangelium der Gnade Gottes das Gesetz, das der Mensch nicht halten konnte!

 

Laßt uns alle durch einen entsprechenden Wandel und im Umgang mit anderen beweisen, daß die Gnade das bewirkt, was das Gesetz nie ver­mochte! Laßt uns danach streben, soweit wir es vermögen, allen teuren Kindern Gottes eine klare Erkenntnis ihrer Stellung und Vorrechte in einem auferstandenen und verherrlichten Christus zu vermitteln! Möchte der Herr, in der Macht des Heiligen Geistes, Sein Licht und Seine Wahr­heit mehr und mehr ausbreiten und Sein geliebtes Volk um sich sam­meln, damit es in der Freude der Errettung, in Reinheit und in dem Licht Seiner Gegenwart wandelt und auf Seine Ankunft wartet.

 

Es scheint, als ob wir zu weit von unserem Thema abgeschweift wären. Doch die Frage des Gehorsams, die durch den ersten Vers des vierten Kapitels aufgeworfen wurde, ist so wichtig, daß es notwendig war, sich grundsätzlich damit auseinanderzusetzen. Wenn Israel berufen war, zu "hören" und zu "tun", wieviel mehr wir, die so reich gesegnet sind, ja, gesegnet "mit jeder geistlichen Segnung in den himmlischen Örtern in Christus"! (Eph. 1, 3). Wir sind sogar berufen zum Gehor­sam Jesu Christi, wie wir in 1. Petr. 1, 2 lesen: "Auserwählt nach Vor­kenntnis Gottes, des Vaters, durch Heiligung des Geistes, zum Gehor­sam und zur Blutbesprengung Jesu Christi". Wir sind zu demselben Charakter des Gehorsams berufen, der das Leben unseres Herrn selbst kennzeichnete. In Ihm gab es freilich keine hindernden Einflüsse, wie sie leider in uns allen vorhanden sind.  Aber der Charakter des Gehorsams ist derselbe.

 

Das ist ein erhabenes Vorrecht. Wir sind berufen, in den Fußstapfen Jesu zu wandeln. "Wer da sagt, daß er in ihm bleibe, ist schuldig, selbst auch so zu wandeln, wie er gewandelt hat" (i. Joh. 2, 6). Und wenn wir nun Seinen Weg überdenken, Sein Leben betrachten, so finden wir einen Wesenszug, der in besonderer Weise mit dem fünften Buch Mose in Verbindung steht. Ich denke an die Art und Weise, wie der Herr stets das Wort Gottes anwandte und den Gehorsam praktizierte. In diesem Buch nehmen die Aussprüche Gottes einen breiten Raum ein, als die einzige Richtschnur und die einzige Autorität für den Menschen. Gott befaßt sich mit kleinen Dingen genauso wie mit großen. Er zeigt den Menschen in allen Umständen und Lagen des Lebens einen Weg. Und wir können sagen, daß gerade die Art und Weise, in der das fünfte Buch Mose Nachdruck auf die Aussprüche Gottes und die Pflicht eines unbedingten Gehorsams legt, ihm seinen besonderen Reiz verleiht.

 

Die Zeit, in der wir leben, ist dadurch gekennzeichnet, daß der Mensch die Vernunft, sein eigenes Urteil und seinen Willen in den Vordergrund stellt. Man rühmt sich in stolzen Worten seines Verstandes und behaup­tet, daß jeder das Recht und die Fähigkeit habe, selbständig zu denken. Der Autoritätsanspruch der Bibel wird von den meisten Menschen heute verächtlich zurückgewiesen. An unseren Universitäten und Höheren Schulen kennt man die Bibel nicht mehr. Unsere Jugend wird angeleitet, allen Überlegungen wissenschaftliche Erkenntnisse und menschliche Vernunft zugrunde zu legen. Was sich über den engen Gesichtskreis des Menschen erhebt, wird verworfen.

 

Da Gott aber nun zu uns geredet hat, ist es unsere erste Pflicht, dieser Offenbarung Gottes aufrichtig und einfältig zu gehorchen. Der Weg des Gehorsams ist ein Weg herrlicher Vorrechte, der Ruhe und des Segens. Diesen Weg können die "Kindlein in Christus‑ ebensogut be­treten wie die "Jünglinge" und "Väter". Es ist der einzig gesegnete Weg für alle. Zweifellos ist er schmal; aber er ist ein sicherer Weg, der durch die Erkenntnis Gottes erleuchtet ist. In diesem Licht findet der gehorsame Christ eine passende Antwort auf alle Einwände derjenigen, die laut von Gedanken‑ und Meinungsfreiheit, Fortschritt, Entwicklung und dergleichen reden. Ein gehorsames Kind Gottes hält sich nicht dabei auf, sondern geht unbeirrt seines Weges weiter. Es empfindet,

 

daß es nicht seine erste Aufgabe ist, alles zu erklären, sondern einfach ­zu gehorchen. Auf diesem Weg des Gehorsams bleibt das geistliche Wachstum nicht aus. Das beste Zeugnis für die Wahrheit Gottes ist unser Leben.

 

Das vierte Kapitel enthält ernste Ermahnungen, die sich darauf grün­den, daß Israel das Wort Gottes gehört hatte. Im zweiten Vers finden wir zwei beherzigenswerte Dinge: "Ihr sollt nichts hinzutun zu dem Worte, das ich euch gebiete, und ihr sollt nichts davon tun". Dem Wort Gottes darf nichts hinzugefügt werden, weil es vollkommen ist und nichts fehlt. Es darf aber auch nichts davongenommen werden, weil nichts überflüssig ist. Sonst wäre es eben nicht Gottes Wort. Wie wich­tig ist das besonders heutzutage, wo man mit dem Wort Gottes sehr ungeziemend umgeht. Welch einen Schatz hat Gott uns da in die Hände gegeben! Nicht ein Satz, ein Jota, ein Strichlein muß ergänzt werden. *) Genauso wenig konnte ein Mensch an jenem Morgen, als die Söhne Gottes jauchzten, untersuchen, ob die Schöpfung Gottes "sehr gut" war. Anderseits darf aber auch kein Jota und kein Strichlein weggenommen werden. Man würde dadurch unterstellen, daß der Heilige Geist etwas Überflüssiges geschrieben habe. So ist das göttliche Buch nach allen Seiten hin geschützt und verwahrt, damit niemand seinen Inhalt verändern kann.

 

jemand könnte fragen: "Glaubst du wirklich, daß jedes Wort vom An­fang des ersten Buches Mose bis zum Schluß der Offenbarung göttlich inspiriert ist? Glaubst du zum Beispiel, daß die lange Reihe von Namen in den ersten Kapiteln des ersten Buches Chronika von Gott selbst eingegeben ist? Dienen diese endlosen Geschlechtsregister zu unserer Unterweisung und Belehrung?" Wir zweifeln nicht daran, daß sich die Bedeutung und der Nutzen dieser Aufzeichnungen für das Volk Israel noch erweisen wird. Und auch wir sehen in diesen Geschlechts­registern einen deutlichen Beweis der Fürsorge Gottes für das Volk Israel. Er wacht über Sein Volk von Generation zu Generation, wenn es auch zerstreut ist und für uns die Unterscheidung der einzelnen Stämme unmöglich geworden ist. Er kennt die "zwölf Stämme", und Er wird sie zu Seiner Zeit sammeln und sie in ihr bestimmtes Erbteil, in das Land Kanaan bringen, entsprechend den Verheißungen, die Er Abraham, Isaak und Jakob gegeben hat.

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*) Wir reden nicht von Übersetzungen, sondern von dem Urtext, so wie Gott uns ihn gegeben hat, von Seiner eigenen, vollkommenen Offenbarung.

 

Ist das nicht eine gesegnete Belehrung? Stärkt es nicht unseren Glau­ben, wenn wir die Fürsorge und die Aufmerksamkeit Gottes für Sein irdisches Volk sehen? Ganz gewiß. Sollten wir nicht an allem teilneh­men, was das Herz unseres Vaters interessiert? Sollten wir nur daran Interesse haben, was uns selbst unmittelbar angeht? Wo ist ein Kind, das die Eltern liebt und nicht teilnimmt an allem, was den Vater be­wegt, und sich nicht erfreut an jedem Satz eines Briefes, den der Vater geschrieben hat? Das heißt nicht, daß alle Teile des Wortes Gottes das gleiche Interesse und die gleiche Bedeutung für uns haben. Es ist offen­sichtlich, daß 1. Chronika 1 weniger bedeutsam für uns ist, als zum Bei­spiel Johannes 17 oder Römer a. Wir behaupten aber, daß jedes Buch und jedes Kapitel im Wort Gottes göttlich inspiriert ist und daß auch 1. Chronika 1 und alle ähnlichen Stellen einen Platz ausfüllen, den Johannes 17 nicht ausfüllen kann und einen Zweck hat, den Römer 8 nicht haben kann.

 

Wir nehmen jetzt den abgebrochenen Faden unserer Betrachtung wie­der auf. Wir finden hier wieder, daß es im fünften Buch Mose nicht so sehr um Vorschriften, Gebräuche und Zeremonien geht, sondern mehr um die Bedeutung und Einzigartigkeit des Wortes Gottes selbst. "Siehe, idi habe euch Satzungen und Rechte gelehrt, so wie der HERR, mein Gott, mir geboten hat, damit ihr also tuet inmitten des Landes, wohin ihr kommet, um es in Besitz zu nehmen". Das Verhalten des Volkes sollte in allen Dingen durch göttliche Gebote geregelt werden. Das ist ein Grundsatz, der zu allen Zeiten gültig ist! "Und so beob­achtet und tut sie! denn das wird eure Weisheit und euer Verstand sein vor den Augen der Völker, welche alle diese Satzungen hören und sagen werden: Diese große Nation ist ein wahrhaft weises und verstän­diges Volk" (V. 5. 6).

 

Das Volk sollte mit Weisheit und Verstand die göttlichen Satzungen und Rechte bewahren. Ihre Weisheit sollte sich nicht in gelehrten Diskussionen und Beweisen entfalten, sondern in kindlichem Gehor­sam. Die ganze Weisheit lag in den Satzungen und Rechten selbst, nicht aber in den Gedanken und Meinungen des Volkes darüber. Die tiefe und wunderbare Weisheit Gottes kam in Seinem Wort zum Vor­schein, und das war es, was die Nationen sehen und bewundern sollten. Die Gedanken Gottes sollten, indem sie aus dem Betragen und dem Charakter des Volkes Gottes widerspiegelten, die Bewunderung der Völker wachrufen, die um das Volk herum wohnten.

 

Doch wie ganz anders hat sich das Volk im Laufe der Zeit verhalten! Wie wenig konnten die Völker der Erde aus dein Verhalten Israels über Gott und Sein Wort lernen! Sein Name wurde durch ihr Verhalten ver­lästert. Statt abgesondert und treu den Geboten Gottes zu gehorchen, begaben sie sich auf das niedrige Niveau der sie umgebenden Völker.

 

Sie nahmen ihre Gewohnheiten an, verehrten ihre Götzen und gingen auf ihren Wegen. So sahen die umliegenden Nationen nicht die hohe Weisheit und sittliche Schönheit der göttlichen Satzungen, sondern nur die Schwachheit und Torheit eines Volkes, dessen eitler Ruhm einzig und allein darin bestand, daß ihnen die göttlichen Aussprüche anver­traut waren ‑ Aussprüche, durch die sie selbst verdammt wurden (vgl. Röm. 2 und 3).

 

Und doch, gepriesen sei Gott! Sein Wort wird ewiglich bestehen. Wenn Seine Kraft nicht in dem Verhalten Seines Volkes zutage tritt, so wird sie in dem Urteil Gottes über diese Wege gesehen werden. Das Wort ist immer noch in der Lage, diejenigen zu leiten, zu trösten und zu segnen, die den Weg des Gehorsams zu gehen wünschen, wenn es auch in Schwachheit geschieht. Dessen ungeachtet sucht Mose, dem Volk das göttliche Wort in seiner ganzen Würde und Schönheit vor Augen zu malen. Er unterläßt es nicht, ihnen mit Nachdruck die Folgen des Gehorsams vorzustellen, indem er sie vor den Gefahren warnt, die beim Abweichen von den heiligen Geboten Gottes auf sie lauern. "Denn welche große Nation gibt es, die Götter hätte, welche ihr so nahe wären, wie der HERR, unser Gott, in allem, worin wir zu ihm rufen? Und welche große Nation gibt es, die so gerechte Satzungen und Rechte hätte, wie dieses ganze Gesetz, das ich euch heute vorlege?" (V. 7. 8).

 

Hierin liegt das Geheimnis der Größe jedes Volkes, jeder Familie, ja, jedes einzelnen. Welches Vorrecht ist es, dem lebendigen Gott so nahe zu sein, in allen Umständen zu Ihm rufen zu dürfen, überzeugt zu sein, daß Er in Seiner Macht und Seiner Gnade unaufhörlich für uns da ist und daß Er mit Wohlgefallen auf uns sieht. Welch ein Vorzug ist es, wenn die gerechten Satzungen und heiligen Gebote unser prak­tisches Leben verändern und wir erfahren, daß Gott selbst sich uns offenbart und Wohnung bei uns machen will.

 

Welch eine Quelle von Segnungen ist das! Und doch sind sie in der göttlichen Gnade für jedes Kind Gottes auf der ganzen Erde vorhanden.

 

Doch nicht jedes Kind Gottes erfreut sich dieser Segnungen. Nur die­jenigen kennen sie, die dem göttlichen Wort aufrichtig gehorchen. So war es damals in Israel, und so ist es auch heute noch in der Kirche. Das Wohlgefallen Gottes ist der Lohn, der einem gehorsamen Kind Gottes in diesem Leben zuteil wird.

 

Und doch können wir so schnell abirren, uns von mancherlei Dingen um uns herum beeinflussen und uns von dem schmalen Weg des Ge­horsams abziehen lassen. Wir brauchen uns deshalb nicht zu wundern, daß Mose diese Ermahnungen wiederholt den Herzen und Gewissen seiner Zuhörer einzuprägen sucht. Er schüttet gleichsam sein Herz vor der Gemeinde aus. "Nur hüte dich und hüte deine Seele sehr, daß du die Dinge nicht vergessest, die deine Augen gesehen haben, und daß sie nicht aus deinem Herzen weichen alle Tage deines Lebens! Und tue sie kund deinen Kindern und deinen Kindeskindern" (V. 9).

 

Diese Worte enthalten zwei beachtenswerte Dinge, nämlich die persönliche Verantwortung und die Verantwortung für unser Haus einer­seits und anderseits auch unser persönliches Zeugnis und das Zeugnis, das von unserem Haus ausgeht. Das Volk Israel sollte sich sorgfältig hüten, daß es die Worte Gottes nicht vergaß. Zugleich wurde es dafür verantwortlich gemacht, seine Kinder und seine Kindeskinder darin zu unterweisen. Sind wir nun mit dem helleren Licht und mit den größeren Vorrechten, die wir besitzen, weniger verantwortlich als Israel damals? Sicherlich nicht. Wir werden ermahnt, mit aller Sorgfalt das Wort Gottes zu lesen, zu erforschen und auf uns wirken zu lassen. Es genügt nicht, in unseren täglichen Andachten einige Verse, ein Kapitel oder einen Abschnitt zu lesen. Vielmehr sollte die Bibel der erste und wich­tigste Gegenstand unseres eingehenden Studium sein, das Buch, an dem wir uns erfreuen und durch das wir erfrischt und gestärkt werden.

 

Es ist leider nur zu wahr, daß manche unter uns das Lesen der Bibel als eine Pflichtsache ansehen, während sie ihr Vergnügen und ihre Erholung in Zeitungen und anderer leichter Lektüre finden. Wundern wir uns da über die schwache und seichte Erkenntnis der Schrift, die man bei solchen Christen antrifft? Wie können wir die lebendigen Tiefen und die Herrlichkeit eines Buches erfassen, das wir nur aus Pflichtgefühl zur Hand nehmen und aus dem wir von Zeit zu Zeit einige Verse lesen, während wir die Zeitung oder einen spannenden Roman buchstäblich verschlingen?

 

Was bedeuten die folgenden Worte, die an Israel gerichtet wurden: "Und ihr sollt diese meine Worte auf euer Herz und auf eure Seele legen und sie zum Zeichen auf eure Hand binden, und sie sollen zu Stirnbändern zwischen euren Augen sein? (Kap. 11, 18)? Das Herz, die Seele, die Hand und die Augen, alles sollte mit dem Wort Gottes in Verbindung stehen. Das Lesen des Wortes und das Halten der Gebote muß eine Herzenssache sein. Eine leere Form nützt gar nichts. "Und lehret sie euren Kindern, indem ihr davon redet, wenn du in deinem Hause sitzest, und wenn du auf dem Wege gehst, und wenn du dich niederlegst, und wenn du aufstehst; und schreibe sie auf die Pfosten deines Hauses und an deine Tore" (Kap. 11, 19. 20). Hat das Wort Gottes einen solchen Platz in unseren Herzen, in unseren Häusern und Gewohnheiten? Merken die, die in unseren Häusern oder in anderer Weise mit uns in Berührung, kommen, daß das Wort Gottes unsere Richtschnur ist?

 

Das sind ernste, herzerforschende Fragen. Die Art und Weise, wie wir mit Gottes Wort umgehen, ist ein Barometer für unseren geist­lichen Zustand. Wenn wir es nicht gern lesen, nicht danach dürsten, uns nicht daran erfreuen können, nicht nach einer ruhigen Stunde ver­langen, wo wir uns in seinen Inhalt vertiefen und uns seine erhabenen Lehren einprägen können, wenn wir nicht persönlich in der Stille dar­über nachdenken und uns im Familienkreis darüber unterhalten, kurz, wenn wir uns nicht in seiner heiligenden Atmosphäre bewegen, dann ist es dringend notwendig, unseren geistlichen Zustand zu überprüfen, weil er nicht gesund ist. Die neue Natur liebt das Wort Gottes, sie sehnt sich danach, wie wir in 1. Petr. 2, 2 lesen: "Wie neugeborene Kindlein seid begierig nach der vernünftigen, unverfälschten Milch, auf daß ihr durch dieselbe wachset zur Errettung‑1 Wenn wir nicht begierig sind nach der reinen Milch des Wortes Gottes und uns nicht davon nähren, so befinden wir uns in einem niedrigen und gefährlichen Zustand. Es mag vielleicht an unserem äußeren Verhalten nichts An­stößliches zu bemerken sein und auch in unseren Wegen nichts vor­handen sein, durch das der Herr verunehrt wird, aber wir betrüben Sein liebendes Herz, wenn wir Sein Wort vernachlässigen. Es ist Selbst­betrug, uns für lebendige Christen zu halten, wenn wir Sein Wort nicht lieben, noch danach leben. Es ist Selbstbetrug, sich einzubilden, das neue Leben könne in einem gesunden Zustand sein, während wir aus Gewohnheit das Wort Gottes persönlich und in der Familie ver­nachlässigen.

 

Es ist nicht unsere Meinung, daß man außer der Bibel kein anderes Buch lesen sollte. Dann hätten wir sicherlich diese "Gedanken" nicht geschrieben. Aber wir müssen sehr wachsam sein bei der Frage, wie und was wir lesen sollen. Wir werden ermahnt, alles zu tun im Namen Jesu und zur Verherrlichung Gottes. Dazu gehört auch das Lesen.

 

Hat das Wort den richtigen Platz in unseren Herzen, so wird es ihn ohne Zweifel auch in unseren Häusern haben. Aber wenn es keine Anerkennung in der Familie findet, so ist es schwer zu glauben, daß es den richtigen Platz im Herzen hat. Jedes Familienhaupt sollte das ernst­lich überdenken. Der Hausvater sollte seine Kinder und alle, die zum Haushalt gehören, täglich versammeln, um einige Verse aus dem Wort Gottes zu lesen und Worte des Gebets zum Thron der Gnade emporzu­senden. Eine solche Gewohnheit stimmt sicher mit der Lehre des Alten wie des Neuen Testaments überein und ist nicht nur gesegnet und er­baulich, sondern ist auch Gott wohlgefällig.

 

Was halten wir von einem Christen, der nie betet und nie in der Stille Gottes Wort liest? Ist er ein wahrer Christ? Wir müssen daran zwei­feln, ob er wirklich göttliches Leben hat. Das Gebet und das Lesen des Wortes Gottes sind notwendige Voraussetzungen für eine gesunde und kräftige Entwicklung des christlichen Lebens, so daß ein Mensch, der beides aus Gewohnheit vernachlässigt, in einem sehr gefährlichen Zu­stand ist. Wenn das nun für einen einzelnen zutrifft, wie kann dann eine Familie in einem guten Zustand sein, wenn sie nie zu gemeinsa­mem Lesen und Gebet zusammen kommt? Was für ein Unterschied besteht zwischen einer solchen Familie und einem heidnischen Haus­halt? Ist es nicht sehr betrübend, solche zu finden, die ein so erhabenes Bekenntnis ablegen und ihren Platz am Tisch des Herrn einnehmen, zugleich aber in grober Vernachlässigung des gemeinsamen Lesens des Wortes Gottes und des gemeinsamen Gebets dahinleben?

 

Welch ein Vorzug ist es doch, daß jeder, den Gott zum Haupt eines christlichen Haushaltes gesetzt hat, alle Glieder seines Hauses um das                Wort versammeln und gemeinsam mit ihnen sein Herz vor Gott aus­schütten darf! ja, es ist sogar die besondere Pflicht eines Familienhaup­tes, das zu tun. Es ist durchaus nicht notwendig, einen langen ermüden­den Dienst daraus zu machen. Im Gegenteil, sowohl in unseren Häusern als auch in unseren öffentlichen Versammlungen wird ein kurzer, fri­scher und lebendiger Dienst mehr zur Erbauung dienen. Natürlich läßt sich hierüber keine Regel aufstellen. Könnten wir doch wie Josua sagen: "Ich aber und mein Haus, wir wollen dem HERRN dienen!" Mögen dann andere tun, was sie wollen.

 

Damit soll nicht gesagt sein, daß das Gebet und das Lesen des Wortes im Familienkreis alles umschließt, was in diesen wichtigen Worten: "Wir wollen dem Herrn dienen", enthalten ist. Dieser Dienst umfaßt alles, was zu unserem persönlichen und häuslichen Leben gehört, selbst die scheinbar unbedeutendsten Einzelheiten. Aber wir sind überzeugt, daß in einem Haushalt nichts recht verlaufen kann, wenn das Lesen des Wortes und das Gebet vernachlässigt werden.

 

Man kann einwenden, daß es manche Familien gibt, die mit aller Pünktlichkeit morgens und abends ihre Bibel lesen und gemeinsam beten, deren häusliches Leben aber von früh bis spät in offenem Wider­spruch zu ihrem Hausgottesdienst steht. Der Vater der Familie geht den Seinigen nicht durch freundliches Verhalten als gutes Beispiel vor­aus, sondern ist mürrisch und launenhaft, barsch und ungenießbar zu seiner Frau und ist streng und hart zu seinen Kindern. Stets bemängelt er das, was auf den Tisch gebracht wird, nachdem er kurz vorher Gott dafür gedankt hat. Die Hausfrau und Mutter macht es auch nicht besser, und die Kinder folgen ihr darin. Im ganzen Haus gibt es nichts als Unordnung und Verwirrung. Mit einem Wort, der Ton des Hauses ist unchristlich und paßt nicht zu dem Bekenntnis. Und so wie es in dem Haus einer solchen Familie aussieht, so steht es auch in ihrem Geschäft. Man findet nichts von Gott, nichts von Christus, nichts, was sie von den Kindern der Welt um sie herum unterscheidet; ja, deren Verhalten könnte sie oft beschämen und ihnen als ein Muster vorgehalten werden.

 

Unter solchen traurigen Umständen ist allerdings von dieser sonst so wertvollen Gewohnheit nichts zu halten. Dann ist alles nur eine leere Form. Das vermeintliche Morgen‑ und Abendopfer wird zu einer Morgen‑ und Abendlüge, ja, zu einer Verspottung und Beleidigung Gottes. In einem solchen Haus kann von einem gemeinschaftlichen Zeugnis für Gott keine Rede sein. Es fehlt die praktische Gerechtigkeit und Heiligkeit, die "feine Leinwand," die, wie wir in Offb. 19, 8 lesen, "die Gerechtigkeiten der Heiligen" sind. Die ernsten Worte des Apostels in Römer 14, 17 sind gänzlich in Vergessenheit geraten: "Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geiste."

 

Wir haben damit ein düsteres Bild gezeichnet, wie es sich unter Gläu­bigen hoffentlich nur selten findet. Aber wenn es in unseren Häusern auch nicht gerade so traurig aussieht, so ist doch nicht selten ein großer Mangel an wahrer, praktischer Gerechtigkeit in unseren Familien fest­zustellen. Den Tag mit einem Familiengottesdienst zu beginnen und zu beenden, im übrigen aber in Ungöttlichkeit, Leichtfertigkeit und Eitel­keit zu leben, gibt nichts anderes als ein häßliches Zerrbild. Es paßt nicht zusammen, einen Abend mit weltlichen Dingen, mit Scherzen und Witzen auszufüllen und ihn dann mit ein wenig Religion in Form eines Gebetes oder des Lesens eines biblischen Abschnittes zu beenden.

 

Wie schade, wenn diese Dinge in Verbindung mit dem heiligen Namen Jesu Christi, mit Seiner Versammlung oder mit der Teilnahme an Seinem Tisch gefunden werden. Wir haben in unserem Privatleben, in unserem täglichen Umgang mit anderen, in unserem Beruf alles mit e i n e m Maß zu messen, und dieses Maß ist Christus. Die einzig wich­tige Frage im Blick auf unser Verhalten ist: "Wird der Herr, zu dem ich mich bekenne, dadurch verherrlicht?" Wenn nicht, so laßt uns mit aller Entschiedenheit diesen Dingen den Rücken kehren. Laßt uns niemals fragen: "Was ist denn Böses dabei?" Wer so fragt, beweist, daß Christus nicht alles ist, was sein Herz ausfüllt.

 

Wenn wir ein so hohes Bekenntnis haben, sollten wir mit allem Ernst über unsere Wege nachdenken und den Zustand unserer Herzen in ihrer Stellung zu Christus prüfen. Denn wenn das Herz nicht aufrichtig in diesem Punkt ist, so fehlt auch in unserem persönlichen Leben, in der Familie, im Beruf und auch in der Versammlung die rechte Gesin­nung. Aber wenn das Herz wirklich aufrichtig ist, so ist auch alles andere in Ordnung.

 

Enthält die feierliche Erklärung des Apostels am Schluß seines ersten Korintherbriefes nicht eine ernste Belehrung für uns? "Wenn jemand den Herrn Jesus Christus nicht lieb hat, der sei Anathema; Maran atha!" Im Verlauf dieses Briefes hat er sich mit verschiedenen Formen von Irrlehren und sittlichen Verderben auseinandergesetzt; aber anstatt abschließend sein Urteil darüber auszusprechen, wendet er sich mit heiliger Entrüstung an jeden einzelnen, der den Herrn Jesus Christus nicht lieb hat. Die Liebe zu Christus ist der einzige Schutz vor jeder Art von Irrtum und Bösem. Ein Herz, das mit Christus erfüllt ist, hat keinen Raum für etwas außer Ihm; aber wenn keine Liebe zu Ihm Vorhanden ist, so ist allen Irrtümern der Zutritt geöffnet.

 

Im weiteren Verlauf dieses Kapitels wird das Volk besonders hin­gewiesen auf die ernsten Vorgänge am Berg Horeb, die sich tief und bleibend in ihre Herzen hätten einprägen sollen. An dem Tage, da du vor dem HERRN, deinem Gott, am Horeb standest, als der HERR zu mir sprach: Versammle mir das Volk, daß ich sie meine Worte hören lasse", ‑ das ist stets das wichtige Ziel Gottes, Sein Volk in unmittel­bare, lebendige Verbindung mit Seinem ewigen Wort zu bringen, ‑"welche sie lernen sollen, um mich zu fürchten alle die Tage, die sie auf dem Erdboden leben, und welche sie ihre Kinder lehren sollen" (V. 10).

 

Wir sehen hier, welch eine innige Verbindung zwischen dem Hören des Wortes Gottes und der Furcht vor Seinem Namen besteht. Dies ist einer der Grundsätze, die sich nie ändern, nie ihre Kraft und Gültig­keit verlieren. Das Wort und der Name Gottes gehören immer zu­sammen, und ein Christ, der den Namen Gottes liebt, wird Sein Wort ehren und sich in allen Dingen unter seine heilige Autorität beugen.

 

"Wer mich nicht liebt, hält meine Worte nicht" (Joh. 14, 24). "Wer da sagt: Ich kenne ihn, und hält seine Gebote nicht, ist ein Lügner, und in diesem ist die Wahrheit nicht. Wer aber irgend sein Wort hält, in diesem ist wahrhaftig die Liebe Gottes vollendet" (i. Joh. 2, 4. 5). jeder, der Gott wirklich liebt, wird Sein Wort ins Herz aufneh­men, und wo das Wort lebendig ins Herz eingedrungen ist, da wird sein heiliger Einfluß auch im ganzen Leben, Charakter und Benehmen gesehen werden. Gott hat uns Sein Wort gegeben, damit es unser Verhalten bestimmt und unseren Charakter bildet. Wenn Sein Wort diese praktische Wirkung nicht auf uns ausübt, so ist es Heuchelei, von der Liebe zu Ihm zu reden.

 

Beachtenswert ist auch die ernste Verantwortung Israels in bezug auf die Kindererziehung. Die Israeliten sollten nicht nur "hören" und "lernen", sondern das Gelernte auch an ihre Kinder weitergeben. Diese Pflicht haben Eltern stets; vernachlässigen sie diese Pflicht, wird Gott sie nicht ungestraft lassen. Welche Bedeutung Gott diesem Punkt beimißt, können wir aus den Worten an Abraham entnehmen: "Denn ich habe ihn (Abraham) erkannt, auf daß er seinen Kindern und seinem Hause nach ihm befehle, daß sie den Weg des HERRN bewahren, Gerechtigkeit und Recht zu üben, damit der HERR auf Abraham kommen lasse, was er über ihn geredet hat" (i. Mose 18, 19).

 

Gott hat immer Wohlgefallen gehabt an einem Familienleben in Seiner Furcht und an einer sorgfältigen Erziehung der Kinder. Er wünscht, daß sie nach seinem heiligen Wort erzogen werden, "in der Zucht und Ermahnung des Herrn". Sie sollen nicht in Unwissenheit, Gedan­kenlosigkeit und Eigenwillen aufwachsen.

 

Manchmal lernt man Kinder christlicher Eltern kennen, die in großer Unwissenheit über göttliche Dinge, in Gleichgültigkeit und selbst in offensichtlichem Unglauben aufwachsen. Ermahnt man die Eltern solcher Kinder, so erwidern sie: "Wir können unsere Kinder nicht zu Christen machen. Wir würden sie zu bloßen Formchristen oder Heuch­lern erziehen. Es muß ein göttliches Werk an ihnen geschehen, und wenn die von Gott bestimmte Zeit kommt, so wird Er sie schon be­rufen, falls sie wirklich zu der Zahl Seiner Auserwählten gehören. Wenn nicht, so ist all unser Tun umsonst“.

 

Genauso verhält es sich mit der Erziehung unserer Kinder. Es ist wahr, daß Gott unumschränkt ist. Auch bei unseren Kindern muß die Wieder­geburt stattfinden wie bei allen anderen. Diese Wiedergeburt ist aus­schließlich ein Werk, das der Heilige Geist mittels des Wortes her­vorbringt. Aber mindert das etwa die große Verantwortung christlicher Eltern, ihre Kinder von den ersten Augenblicken des Lebens an treu und hingebend zu erziehen und zu belehren? Ganz gewiß nicht. Wehe den Eltern, die aus irgendeinem Grund hier ihre Pflicht ver­nachlässigen! Es ist wahr, daß wir unsere Kinder nicht zu Christen machen können, und wir sollen sie auch nicht zu Formchristen und Heuchlern erziehen. ja, sind wir überhaupt berufen, sie zu etwas zu machen? Nein, wir werden einfach aufgefordert, unsere Pflicht zu tun, das Weitere aber Gott zu überlassen. Wir werden ermahnt, unsere Kin­der zu erziehen in der Zucht und Ermahnung des Herrn".

 

Welch eine Torheit! Wenn ein Landwirt so dächte, würde er wohl kaum sein Feld bestellen. Denn er kann ja auch den ausgestreuten Samen nicht aufgehen lassen und befruchten. Jeder vernünftige Mensch weiß aber, daß Pflügen und Säen der Ernte vorausgehen müssen und daß es die größte Torheit ist, eine Ernte zu erwarten, wenn man nicht vorher gepflügt und gesät hat.

 

Die ganze christliche Erziehung läßt sich in zwei kurzen Sätzen zu­sammenfassen: Rechne auf Gott für deine Kinder, und erziehe sie für Gott. Das erste zu sagen, ohne das zweite zu tun, ist Leichtfertig­keit, und das zweite zu tun, ohne das erste, ist Gesetzlichkeit, beides zusammen dagegen ist gesundes, praktisches Christentum. Es ist das besondere Vorrecht aller christlichen Eltern, für ihre Kinder mit voller Zuversicht auf Gott rechnen zu dürfen. Aber wir sollten wohl beachten, daß dieses Vorrecht mit Verantwortung untrennbar verbunden ist. Sprechen christliche Eltern davon, daß sie in bezug auf die Errettung ihrer Kinder und in bezug auf ihre zukünftige Laufbahn auf Gott rechnen, zugleich aber die Erziehung vernachlässigen, dann befinden sie sich in einer großen Selbsttäuschung.

 

Bestimmte Regeln oder Anleitungen für die Erziehung der Kinder aufzustellen, ist unmöglich. Kinder können nicht nach trockenen Regeln erzogen werden. Wer ist auch imstande, in Regeln auszudrücken, was in einem einzigen Satz enthalten ist: "Ziehet sie auf in der Zucht und Ermahnung des Herrn". In diesem Wort haben wir tatsächlich eine goldene Regel, die alles umfaßt. Wirkliche christliche Erziehung beginnt mit den ersten Lebenstagen eines Kindes. Man denkt allge­mein zu wenig daran, wie bald die Kinder anfangen zu beobachten und wie rasch sie alles in sich aufnehmen, was sie um sich her erblicken; sie sind besonders empfänglich für die sittliche Atmosphäre, die sie umgibt. ja, unsere Kinder sollten täglich in der Atmosphäre der Liebe und des Friedens, der Reinheit und der praktisch Gerechtigkeit leben. Wir machen uns keinen Begriff davon, welch eine erstaunliche Wirkung es auf die Bildung ihres Charakters ausübt, wenn sie ihre Eltern in gegenseitiger Liebe und Harmonie sehen, wenn sie bemerken, wie sie in freundlicher und liebevoller Weise miteinander und mit anderen verkehren und stets ein offenes Herz und eine offene Hand für Arme und Kranke haben. Welch eine negative Wirkung muß es auf ein Kind haben, wenn es zum ersten Mal zornige Blicke und unfreundliche Worte zwischen Vater und Mutter sieht und hört. Wenn sogar Tag für Tag Streit und Zank da ist, wenn der Vater der Mutter wider­spricht und die Mutter den Vater heruntersetzt ‑ wie können in einer solchen Umgebung die Kinder gedeihen?

 

Bevor wir dieses wichtige Thema verlassen, möchten wir die Aufmerk­samkeit aller christlichen Eltern noch auf einen Punkt lenken, der sehr wichtig ist, aber oft nicht beachtet wird: die Notwendigkeit, unseren Kindern die Pflicht eines unbedingten Gehorsams einzuprägen. Wir können nicht genug darauf dringen, denn es berührt die Ordnung und das Wohl unserer Familien und steht in unmittelbarer Verbindung mit der Verherrlichung Gottes und der Verwirklichung der Wahrheit, und das ist noch weitaus wichtiger. "Ihr Kinder, gehorchet euren Eltern im Herrn, denn das ist recht". Und weiter: "Ihr Kinder, gehorchet euren Eltern in allem, denn dies ist wohlgefällig im Herrn (Eph. 6, 1; Kol. 31 20).

 

Wir sollten diesen Punkt nicht unterschätzen. Das Kind muß von den ersten Augenblicken seines Lebens an lernen zu gehorchen. Es muß lernen, sich der von Gott eingesetzten Autorität zu unterwerfen, und zwar, wie der Apostel hervorhebt, "in allem". Wenn das nicht von vornherein geschieht, so werden wir erfahren, daß es später fast unmöglich ist. Wird dem Willen des Kindes einmal nachgegeben, so wächst der Eigenwille mit erschreckender Schnelligkeit, und je mehr er wächst, desto schwieriger ist es, ihn zu brechen. Daher sollten christliche Eltern mit Kraft und Ausdauer ihre Autorität behaupten. Zugleich können sie, ohne der Autorität Abbruch zu tun, zart und liebevoll mit den Kindern umgehen. Härte und Barschheit sind fehl am Platz. Gott hat die Zügel der Regierung und die Rute der Autorität in die Hände der Eltern gelegt, aber es zeugt von Unverstand und Schwäche, wenn die Eltern fortwährend an den Zügeln ziehen und die Rute schwingen. Wenn wir einen Menschen fortwährend von seiner Autorität sprechen hören, so können wir annehmen, daß es in diesem Punkt mit ihm schlecht bestellt ist. Wahre sittliche Kraft ist stets von Würde begleitet, die durchaus nicht mißverstanden werden kann.

 

Falsch ist es auch, wenn Eltern ständig in unwesentlichen Dingen den Willen ihrer Kinder unterdrücken. Durch eine solche Behandlung kann wohl das Selbstbewußtsein eines Kindes gebrochen werden, nicht aber sein Wille; und den Eigenwillen zu zügeln, ist doch das Ziel jeder gesunden Erziehung. Ein Kind sollte von der Art und Weise, wie seine Eltern es behandeln, den Eindruck bekommen, daß sie nur sein Bestes suchen, und daß sie ihm nicht etwas verweigern oder untersagen, um seine Freude zu verderben, sondern daß sie auf sein Wohl bedacht sind. Darüber hinaus ist es wichtig, daß jedes einzelne Glied der Familie seine Vorrechte genießt und die auferlegten Pflichten erfüllt. Wenn es nun die Pflicht eines Kindes ist, zu gehorchen, so sind seine Eltern verantwortlich, darauf zu achten, daß diese Pflicht auch erfüllt wird; denn wenn sie vernachlässigt wird, dann müssen andere Glieder der Familie darunter leiden. Ein unartiges und eigen­williges Kind ist sehr lästig. Ein solches Kind läßt auf eine schlechte Erziehung schließen. Sicherlich sind Kinder sehr verschieden an Gemüt und Geistesanlagen. Es gibt Kinder, die einen besonders starken Willen haben und daher schwierig zu behandeln sind. Aber das mindert in keiner Weise die Verantwortung der Eltern, auf unbedingten Gehorsam zu achten. Wenn Eltern auf Gott rechnen, so wird Er ihnen die nötige Gnade und Kraft schenken. Selbst eine verwitwete Mutter kann mit Zuversicht zu Gott ausblicken, und Er wird sie befähigen, ihren Kindern und ihrem ganzen Haushalt vorzustehen. Es darf in keinem Fall die elterliche Autorität in die Hände eines anderen gelegt werden.

 

Wie oft lassen sich Eltern durch falsche Zärtlichkeit verleiten, den Eigenwillen ihrer Kinder zu nähren; aber das ist eine Saat auf das Fleisch, und die Ernte wird Verderben sein. Es ist keine echte Liebe, wenn man den Eigenwillen eines Kindes mit Nachsicht behandelt; es dient nicht wirklich dem Glück des Kindes und bereitet ihm auch keine richtige Freude. Ein übermütiges und eigenwilliges Kind ist unglücklich und eine Plage für alle, die mit ihm zu tun haben. Kinder müssen angeleitet werden, an andere zu denken und deren Wohl und Glück zu suchen.

 

Um Frieden und Eintracht in einer Familie aufrechtzuerhalten, ist es vor allen Dingen nötig, daß "einer den anderen höher achtet als sich selbst". Wir sind verantwortlich für das Wohl der anderen, die um uns her sind, und nicht für unser eigenes. Wenn alle daran dächten, dann sähe es anders in unseren Häusern aus. jeder christliche Haushalt sollte den Charakter Gottes widerspiegeln. Ein himmlischer Wesenszug sollte ihn kennzeichnen. Doch wie ist das möglich? Einfach dadurch, daß alle in den Fußstapfen Jesu wandeln und Seine Gesinnung offen­baren. Er gefiel nie sich selbst, suchte nie das Seine. Er tat allezeit das, was dem Vater wohlgefiel. Er kam, um zu dienen und zu geben. Er ging umher, "wohltuend und heilend alle, die von dem Teufel überwältigt waren" (Apg. 10, 38). So war es stets bei unserem Herrn, dem gnädigen und liebenden Freund all derjenigen, die bedürftig, schwach und bekümmert waren. Wenn die verschiedenen Glieder aller christlichen Familien sich nach diesem vollkommenen Vorbild aus­richteten, so würden wir etwas von der Kraft eines persönlichen und häuslichen Christentums verwirklichen. Die Worte: "du und dein Haus", enthalten einen Grundsatz, der sich von Anfang bis Ende durch das Wort Gottes zieht. Wir finden zu unserem Trost und unserer Ermunterung, daß in den Tagen der Patriarchen, des Gesetzes und des Christentums eine persönliche und auch häusliche Frömmigkeit Gott sehr wohlgefiel und zur Verherrlichung Seines Namens beitrug.

 

Wir kommen jetzt zu der eindringlichsten Warnung vor dem Götzen­dienst, einer schrecklichen Sünde, zu der der Mensch in der einen oder anderen Form immer neigt. Um Götzendienst auszuüben, brauchen wir uns nicht vor einem geschnitzten Bild niederzubeugen. Wir sollten daher die ernsten Worte des ehrwürdigen Gesetzgebers überdenken. Sie sind zu unserer Belehrung aufgeschrieben worden.

 

"Da nahtet ihr hinzu und standet unten an dem Berge; und der Berg brannte im Feuer bis ins Herz des Himmels: Finsternis, Gewölk und Dunkel. Und der HERR redete zu euch mitten aus dem Feuer;" ‑wie ganz anders redet Er in dem Evangelium Seiner Gnade! ‑ "die Stimme der Worte hörtet ihr, aber ihr sahet keine Gestalt außer der Stimme" (V. 11, 12). Beachten wir wohl die Worte: "Ihr sahet keine Gestalt außer der Stimme". "Also ist der Glaube aus der Verkündi­gung, die Verkündigung aber durch Gottes Wort" (Röm 10, 17). "Und er verkündigte euch seinen Bund, den er euch zu tun gebot, die zehn Worte; und er schrieb sie auf zwei steinerne Tafeln. Und mir gebot der HERR in selbiger Zeit, euch Satzungen und Rechte zu lehren, damit ihr sie tätet" ‑ das Hauptthema des ganzen fünften Buches Mose, der Gehorsam, ob außer oder ‑ "in dem Lande, wohin ihr hinüber­ziehet, um es in Besitz zu nehmen" (V. 13‑14). Die Warnung vor aller Abgötterei wurde dadurch begründet, daß sie nichts sahen. Gott zeigte sich dem Volke nicht. Er nahm keine sichtbare Gestalt an, wonach sie sich ein Bild hätten machen können. Er gab ihnen Sein Wort, Seine heiligen Gebote, und zwar so klar, daß ein Kind sie verstehen konnte. Das Volk hatte daher gar nicht nötig, sich ein Bild oder ein Gleichnis von Gott zu machen. Gerade das war die Sünde, vor der sie so ernst gewarnt wurden. Sie waren berufen, die Stimme Gottes zu hören, nicht Seine Gestalt zu sehen, Seinen Geboten zu gehorchen und nicht ein Bild von Ihm zu machen. Der Aberglaube will Gott durch die Er­stellung und Anbetung eines Bildes ehren. Der Glaube dagegen nimmt Sein Wort auf und gehorcht in Gottesfurcht Seinen heiligen Geboten. "Wenn jemand mich liebt, so wird er mein Wort halten." Das macht alles so einfach und klar. Wir sind nicht berufen, unsere Sinne anzu­strengen, um uns eine Vorstellung von Gott zu machen, sondern sollen einfach Sein Wort hören und Seine Gebote halten. Wir können nur soweit einen Begriff von Gott haben, als Er sich uns geoffenbart hat. "Niemand hat Gott jemals gesehen; der eingeborene Sohn, der in des Vaters Schoß ist, der hat ihn kundgemacht" (Joh. 1, 18). "Denn der Gott, der aus Finsternis Licht leuchten hieß, ist es, der in unsere Herzen geleuchtet hat zum Lichtglanz der Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes im Angesicht Christi" (2. Kor. 4, 6).

 

Der Herr Jesus war, wie wir im Hebräerbrief lesen, der Abglanz der Herrlichkeit Gottes und der Abdruck Seines Wesens. Er konnte sagen: "Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen". Der Sohn offenbart also den Vater, und nur durch das Wort und den Heiligen Geist kennen wir etwas von dem Sohn. Jeder Versuch, sich durch Anstrengung des Geistes oder in der Phantasie ein Bild von Gott oder von Christus zu machen, ist daher Abgötterei. Auf einem an­deren Weg zur Erkenntnis Gottes und Christi gelangen zu wollen, als allein durch die Heilige Schrift, kann uns nur in Verwirrung bringen. ja, noch mehr, wir begeben uns damit in die Hände Satans, der uns täuscht und verblendet.

 

So wie Israel nur auf die "Stimme" Gottes hören sollte, sind auch wir allein auf das Wort Gottes angewiesen und werden eindringlich vor allem gewarnt, was uns davon abziehen will. Wir dürfen in diesem Punkt nicht den Eingebungen unseres eigenen Geistes und auch nicht den Meinungen anderer Gehör schenken. Wir sollen auf nichts an­deres hören als auf die Stimme Gottes, die Heilige Schrift. Hier haben wir uneingeschränkte Gewißheit, so daß wir sagen können: "Ich weiß, wem" ‑ nicht nur was _ ' ich geglaubt habe, und bin überzeugt, daß er mächtig ist, das ihm von mir anvertraute Gut auf jenen Tag zu bewahren" (2. Tim. 1, 12).

 

In den folgenden Versen (15‑20) wird uns eine wichtige Wahrheit vorgestellt: daß Israel sich selbst erniedrigte und verderben würde, wenn es sich irgendein Bild machte und sich vor ihm niederbeugte. Als das Volk das goldene Kalb gemacht hatte, sprach der Herr zu Mose: "Gehe, steige hinab! denn dein Volk, das du aus dem Lande Ägypten heraufgeführt hast, hat sich verderbt." Es kann nicht anders sein. Der Anbeter nimmt einen geringeren Platz ein als der Gegenstand seiner Anbetung. Wenn Israel daher ein Kalb anbetete, so hatte es sich unter die unvernünftigen Tiere gestellt. "Dein Volk ... hat sich ver­derbt. Sie sind schnell von dem Wege abgewichen, den ich ihnen geboten habe; sie haben sich ein gegossenes Kalb gemacht und sich vor ihm niedergebeugt und haben ihm geopfert und gesagt: Das ist dein Gott, Israel, der dich aus dem Lande Ägypten heraufgeführt hat" (2. Mose 32, 7. 8).

 

Aber hat das alles auch uns etwas zu sagen? Haben denn auch Christen etwas aus der Sache mit dem goldenen Kalb zu lernen? Ganz gewiß! "Denn alles, was zuvor geschrieben ist (2. Mose 32 und 5. Mose 4 miteingeschlossen), ist zu unserer Belehrung geschrieben, auf daß wir durch das Ausharren und durch die Ermunterung der Schriften die Hoffnung haben" (Röm 15, 4). Und wenn es darum geht, ob wir in der Lage sind oder in Gefahr stehen, die schlimme Sünde der Abgötterei zu begehen, so finden wir eine treffende Antwort in 1. Kor. 10, wo der Apostel gerade dieses traurige Schauspiel am Berg Horeb als Warnung für die Kirche Gottes benutzt.

 

In den ersten elf Versen von 1. Kor. 10 wird uns deutlich gezeigt, daß es keine Sünde, keine Torheit, keine Form sittlicher Verderbtheit gibt in die wir nicht hineinstürzen könnten, wenn uns nicht die Macht Gottes zurückhielte. Es gibt keine Sicherheit für uns, außer in dem Schutz der Gegenwart Gottes. Wir wissen, daß der Geist Gottes uns nicht vor etwas warnt, das gar keine Gefahr für uns ist. Das Wort würde uns nicht ermahnen: "Werdet auch nicht Götzendiener", wenn wir nicht fähig wären, Götzendienst auszuüben. Der Götzendienst nimmt die verschiedensten Formen an. Wir lesen zum Beispiel, daß die Habsucht Götzendienst und daß ein habsüchtiger, geiziger Mensch ein Götzendiener ist. Ein Mensch, der also mehr besitzen will, als Gott ihm gegeben hat, ist ein Götzendiener. Er macht sich tatsächlich der Sünde Israels am Berg Horeb schuldig. Darum sagt der Apostel den Korinthern und damit auch uns: "Meine Geliebten, fliehet den Götzendienst!" (l. Kor. 10, 14). Ist diese Warnung überflüssig? Was bedeuten die Schlußworte im ersten Brief des Johannes: "Kinder, hütet euch vor den Götzen"? Sagen sie uns nicht deutlich, daß wir in Gefahr sind, in Götzendienst zu verfallen? Ganz gewiß. Wir sind immer geneigt, von dem lebendigen Gott abzuweichen und einen anderen Gegenstand der Verehrung neben Ihm aufzustellen, und was ist das anderes als Götzendienst? Was auch immer unser Herz erfüllt, ist ein Abgott, seien es nun die Vergnügungen dieser Welt, sei es Geld, Ehre, Macht oder etwas dergleichen. Daher ist es nicht umsonst, wenn der Heilige Geist uns so oft und so eindringlich vor der Sünde der Abtrünnigkeit warnt.

 

Eine weitere, sehr bemerkenswerte Stelle finden wir im vierten Kapitel des Briefes an die Galater, wo der Apostel auf diese Dinge Bezug nimmt. Die Galater hatten als Heiden den Götzen gedient, waren dann aber durch das Evangelium von den Götzen bekehrt worden, um dem lebendigen Gott zu dienen. Eine Zeitlang liefen sie gut. Als aber Männer kamen und sie lehrten, daß sie nicht gerettet werden könnten, wenn sie sich nicht beschneiden ließen und das Gesetz hielten, hörten sie auf sie und wurden unsicher. Was sagt nun der Apostel? Er bezeichnet ihr Verhalten eindeutig als Abgötterei, als ein Zurückgehen in die Dunkelheit und die sittliche Verderbtheit ihrer früheren Tage, und das alles, nachdem sie das Evangelium von der freien Gnade in Christus gehört und angenommen hatten. "Aber da­mals freilich, als ihr Gott nicht kanntet, dienet ihr denen, die von Natur nicht Götter sind; jetzt aber, da ihr Gott erkannt habt, vielmehr aber von Gott erkannt worden seid, wie wendet ihr wieder um zu den schwachen und armseligen Elementen, denen ihr wieder von neuem dienen wollt? Ihr beobachtet Tage und Monate und Zeiten und Jahre. Ich fürchte um euch, ob ich nicht etwa vergeblich an euch gearbeitet habe" (Gal. 4, 8‑11).

 

Die Galater waren nicht in die heidnische Anbetung der Götzen zurück­gefallen. Wahrscheinlich hätten sie eine solche Anklage entrüstet zu­rückgewiesen. Trotzdem fragt sie der Apostel: ... "wie wendet ihr wieder um?" Welchen Sinn hatte diese Frage, wenn die Galater nicht im Begriff standen, zum Götzendienst zurückzukehren? Und was lernen wir aus dieser Stelle? Einfach das, daß die Wiedereinführung der Be­schneidung und des Gesetzes, die Beobachtung von Tagen, Monaten, Zeiten und Jahren, im Grunde nichts anderes war, als ein Zurückkehren zu ihrer früheren Abgötterei. Das Hervorheben besonderer Tage, wie auch die Anbetung falscher Götter, war ein Abweichen von dem leben­digen und wahren Gott, von Seinem Sohn Jesus Christus, von dem Heiligen Geist und von all den Wahrheiten, die das Christentum aus­machen.

 

Das ist für alle Christen von entscheidender Bedeutung. Gott will an allen Orten die Herzen und Gewissen Seines Volkes aufrütteln, damit es seine Stellung, seine Gewohnheiten, seine Wege und Verbindungen prüft und untersucht, wie weit es dem Beispiel der Versammlungen in Galatien gefolgt ist. Es kommt ein Tag, an dem Tausenden die Augen geöffnet werden und sie sehen, was diese Dinge im Licht Gottes wert sind. Dann werden sie erkennen, was sie heute nicht erkennen wollen, daß nämlich die gröbste und finsterste Form des Heidentums wieder aufgelebt ist unter dem Namen des Christentums und in Verbindung mit den erhabensten Wahrheiten, die je den menschlichen Verstand erleuchtet haben.

 

Mose warnt, von Gott selbst belehrt, das Volk sehr vor der Sünde der Abgötterei. Er läßt nichts unversucht, um die Herzen zu erreichen und wiederholt seine Ratschläge und Ermahnungen so eindringlich, daß für sie keine Entschuldigung blieb. Sie konnten nicht sagen, daß sie nicht gewarnt worden waren, bei dem HERRN zu verharren. Denken wir zum Beispiel an die Worte: "Euch aber hat der HERR genommen und euch herausgeführt aus dem eisernen Schmelzofen, aus Ägypten, damit ihr das Volk seines Erbteils wäret, wie es an diesem Tage ist" (V. 20).

 

Der HERR hatte sie in Seiner unendlichen Gnade aus dem Land der Fin­sternis herausgeführt und sie als ein erlöstes und befreites Volk zu sich selbst gebracht, damit sie Ihm ein Eigentumsvolk sein sollten vor allen Völkern der Erde, ein Gegenstand Seiner besonderen Freude und Wonne. Wie hätten sie sich von einem solchen Gott abwenden, wie Seinen Bund und Seine Gebote übertreten können? Ach, leider haben sie es getan! Sie machten ein Kalb und sprachen: "Das ist dein Gott, Israel, der dich aus dem Lande Ägypten herausgeführt hat".

 

Sind wir besser als die Israeliten? Wir haben zwar mehr Licht und höhere Vorrechte; aber wir sind aus demselben Stoff gemacht, haben dieselben Neigungen und Veranlagungen. Unser Götzendienst mag eine andere Form haben; aber Götzendienst ist Götzendienst, mag er aus­ sehen und sich nennen, wie er will. je höher unsere Vorrechte sind, desto größer ist auch unsere Sünde. Wir wundern uns vielleicht, daß das Volk so töricht sein konnte, ein Kalb zu machen und es in lustigem Reigen zu umtanzen. Doch laßt uns nicht vergessen, daß ihre Torheit ZU unserer Warnung niedergeschrieben ist und daß wir bei all unserer Erkenntnis, bei all unseren Vorrechten doch nötig haben, vor den Götzen gewarnt zu werden. Laßt uns Nutzen daraus ziehen! Unser ganzes Herz muß von Christus erfüllt sein. Dann haben wir keinen Raum für Götzen. Sobald wir uns aber von unserem teuren Heiland und Hirten entfernen, sind wir zu allen traurigen Dingen fähig. Licht, Erkenntnis, geistliche Vorrechte und kirchliche Stellung geben keine Sicherheit.

 

Nur die Gewißheit des Glaubens, daß Christus in unserem Herzen wohnt, kann uns sicher und glücklich erhalten. Bleiben wir in Ihm und Er in uns, so kann uns der Böse nicht antasten. Wird aber diese per­sönliche Gemeinschaft unterbrochen, so sind wir den Versuchungen Satans und der Lust unseres Fleisches preisgegeben. Und je höher unse­re Stellung ist, desto größer ist die Gefahr für uns und desto verhäng­nisvoller unser Fall. Es gab kein Volk, das so begünstigt und gesegnet war wie Israel am Berg Horeb, aber auch kein Volk, das sich tiefer erniedrigte und größere Schuld auf sich lud als Israel, als es sich vor dem goldenen Kalb beugte.

 

Im 21. und 22. Vers dieses Kapitels erinnert Mose das Volk zum drittenmal an seine persönliche Sünde und die Folge davon. Er hatte, wie wir betrachtet haben, bereits im ersten und dritten Kapitel davon gesprochen, und jetzt sagt er: "Und der HERR war eurethalben über mich erzürnt, und er schwur, daß ich nicht über den Jordan gehen und nicht in das gute Land kommen sollte, welches der HERR, dein Gott, dir als Erbteil gibt; denn ich werde in diesem Lande sterben, ich werde nicht über den Jordan gehen; ihr aber werdet hinüberziehen und werdet dieses gute Land besitzen".

 

Warum spricht Mose dreimal von derselben Sache? Und warum er­wähnt er jedesmal, daß der HERR sich ihretwegen Über ihn erzürnt hatte? Bestimmt war es nicht die Absicht Moses, die Schuld von sich auf das Volk zu wälzen. Vielmehr scheint es, daß er dadurch seinen Worten mehr Kraft und seinen Warnungen mehr Ernst geben wollte. Wenn der HERR zornig gewesen war über einen Mann wie Mose und ihm wegen einiger unbedachter Worte am Wasser von Meriba nicht er­laubt wurde, in das Land der Verheißung einzugehen ‑ so brennend er es auch wünschte, ‑ wieviel nötiger war es für sie, auf der Hut zu sein! Es ist ohne Zweifel ein gesegnetes Vorrecht, mit Gott in Verbin­dung zu stehen, zugleich aber ist es sehr ernst. Mose ist dafür ein Bei­spiel.

 

Eine Bestätigung für diesen Beweggrund Moses scheint auch aus den Worten hervorzugehen: "Hütet euch, daß ihr nicht des Bundes des HERRN, eures Gottes, vergesset, den er mit euch gemacht hat, und euch ein geschnitztes Bild machet, ein Gleichnis von irgend etwas, daß der HERR, dein Gott, dir verboten hat. Denn der HERR, dein Gott, ist ein verzehrendes Feuer, ein eifernder Gott!" (V. 23. 24).

 

Wie ernst reden diese Worte zu uns! Laßt uns nicht versuchen, durch eine falsche Vorstellung von der Gnade die Heiligkeit Gottes abzu­schwächen und den ernsten Ermahnungen des Wortes dadurch die Spitze abzubrechen, daß wir sagen: "Gott ist ein verzehrendes Feuer für die Welt". Ohne Zweifel wird Er das einmal für sie sein, heute aber handelt Er noch in Gnade und Geduld mit ihr. Der Apostel Petrus sagt uns: "Denn die Zeit ist gekommen, daß das Gericht anfange bei dem Hause Gottes, wenn aber zuerst bei uns, was wird das Ende derer sein, die dem Evangelium Gottes nicht gehorchen!" ('1. Petr. 4, 17). Weiter lesen wir in Hebr. 12, 29: "Denn auch unser Gott ist ein verzehrendes Feuer". Es wird hier nicht gesagt, was Gott einst für die Welt sein wird, sondern was Er jetzt für uns ist.

 

Unser Gott ist ein verzehrendes Feuer, ein eifernder Gott, und zwar, um das Böse aus uns und aus unseren Wegen zu entfernen. Er kann nichts in uns dulden, was Ihm und Seiner Heiligkeit und damit auch unserem echten Glück und unserem wirklichen und bleibenden Segen im Wege steht. Als der "heilige Vater" handelt Er so mit uns, wie es Seiner selbst würdig ist. Er züchtigt uns, damit wir Seiner Heiligkeit teilhaftig werden. Der Welt erlaubt Er jetzt, ihre eigenen Wege zu gehen, und befaßt sich nicht öffentlich mit ihr. Aber Er richtet Sein Haus, Er züchtigt Seine Kinder, damit sie völliger Seinen Gedanken entsprechen und Seinen Charakter darstellen. Ist das nicht ein gewalti­ges Vorrecht? Ja wirklich, ein Vorrecht, das in der unendlichen Gnade unseres Gottes begründet ist. Er beschäftigt sich mit uns und ist an allem interessiert, was uns angeht. Er selbst befaßt sich mit unseren Schwachheiten, Fehlern und Sünden, um uns davon zu befreien und an Seiner Heiligkeit teilhaben zu lassen.

 

Der Anfang von Hebräer 12 behandelt in sehr verständlicher Weise denselben Gegenstand (Hebr. 12, 5‑11).

 

Wir können des Herrn Züchtigung auf dreierlei Weise aufnehmen: wir können sie "gering achten", sie als etwas Unangenehmes ansehen, das jedem passieren kann, und erkennen dann nicht die Hand Gottes darin. Zweitens können wir unter der Züchtigung "ermatten", sie für unerträglich halten und für etwas, das über unsere Kräfte geht. Dann erkennen wir nicht die gnädigen Absichten des Vaters, der uns an Seiner Heiligkeit teilhaben lassen will. Drittens können wir "durch sie geübt" werden. Das ist der Weg, um dann „die friedsame Frucht der Gerechtigkeit" zu ernten. Wir sollten nichts "gering achten", worin wir die Spuren des Handelns und der Absichten Gottes sehen können. Wir brauchen nicht in einer Prüfung zu "ermatten", in der wir das Herz eines liebenden Vaters erkennen. Er wird nie erlauben, daß wir nicht scheitern. Der Herr befiehlt uns in Joh. 17 der Fürsorge des "heiligen Vaters" an, damit Er uns in Seinem Namen und in allem, was dieser Name in sich schließt, bewahren solle. Wir können sicher sein, daß jede Züchtigung ein Beweis seiner Liebe ist und eine Antwort auf dieses Gebet.

 

Wir können uns also der Züchtigung Gottes unterwerfen, uns ergeben oder aber uns darüber freuen. Diese drei Haltungen können wir ein­nehmen. Wo der eigene Wille gebrochen ist, da ist Unterwerfung. Kennt man die Absicht der Züchtigung Gottes, so findet sich stille Erge­benheit. Ist jedoch wirkliche Zuneigung zum Vater vorhanden, dann erfüllt Freude das Herz. Man zieht dann fröhlich seinen Weg weiter und erntet die friedsame Frucht der Gerechtigkeit zum Preise dessen, der es sich in Seiner unergründlichen Liebe zur Aufgabe gemacht hat, für uns zu sorgen.

 

Wer diese Zusammenhänge versteht, gewinnt daraus Kraft für Prü­fungen und Übungen. Wir sind in der Hand Gottes, dessen Liebe unendlich, dessen Weisheit unfehlbar, dessen Macht unbegrenzt ist und dessen Mittel zur rechtzeitigen Hilfe unerschöpflich sind. Warum sollten wir also jemals niedergeschlagen sein? Wenn Er uns züchtigt, so geschieht es, weil Er uns liebt und unser Bestes sucht. Wir mögen die Züchtigungen für schwer und bitter halten oder fragen, wie denn die Liebe uns solche Schmerzen und Leiden auferlegen kann. Doch wir dürfen daran denken, daß die göttliche Liebe weise und treu ist und daß sie uns Krankheit und Betrübnis nur zu unserem Nutzen und zu unserem Segen auferlegt. Wir beurteilen die Liebe sehr oft falsch. Warum legt zum Beispiel eine Mutter ihrem Kind, das sie liebt, ein Zugpflaster auf? Sie weiß, daß dieses Pflaster ihrem Kind Schmerzen verursachen wird, und doch legt sie es auf. Sie weiß, daß es notwendig ist. Sie weiß vielleicht auch, daß, menschlich gesprochen, das Leben ihres Kindes davon abhängt, und daß nach kurzem Schmerz die Gesundheit wiederkehren wird. Während das Kind mit den vorübergehenden Schmerzen beschäftigt ist, denkt die Mutter an das Wohl ihres Lieb­lings. Könnte das Kind die Gedanken der Mutter lesen, so wären die Schmerzen, die das Pflaster verursacht, nicht halb so unerträglich.

 

Genauso ist es im Blick auf die Erziehungsweise unseres Vaters mit uns. Wenn wir das immer im Gedächtnis behielten, so würden wir leicht alles, was Er uns auferlegt, ohne Klagen ertragen. Wenn wir ein geliebtes Kind Gottes oder einen treuen Knecht des Herrn jahre­lang unter schweren Leiden sehen, so mögen wir fragen, warum das so ist. Vielleicht ist der Leidende selbst nahe daran, unter der Last seines Leidens zusammenzubrechen. Vielleicht ruft er aus: "Warum muß ich so leiden? Kann das Liebe sein? Ist das die liebevolle Fürsorge des Vaters?" Doch der Glaube antwortet: "ja, das ist alles Liebe. Ich weiß, daß diese vorübergehenden Leiden eine ewige Segnung für mich bewirken. Ich weiß, daß mein liebender Vater mich durch diese Trübsal gehen läßt, um mich von den Schlacken zu reinigen und in mir Sein Bild deutlicher hervorzubringen. Ich weiß, daß die göttliche Liebe das Beste für mich tut und daß daher auch das schwere Leiden am besten für mich ist. Ich weiß, daß mein Vater selbst am Schmelztiegel sitzt, um in Seiner unendlichen Gnade und Geduld den Reinigungsprozeß zu überwachen, und daß Er mich sogleich herausnehmen wird, wenn das Werk getan ist."

 

Das ist der richtige Weg und der rechte Geist, in dem wir durch jede Züchtigung hindurchgehen sollten, mag sie nun in körperlichen Leiden, im Verlust geliebter Angehöriger, unseres Besitzes oder in nieder­drückenden Umständen anderer Art bestehen. Entdecken wir in allem die liebende Hand unseres Gottes und die Spuren Seiner Treue und Fürsorge für uns, so können wir inmitten der Trübsale überwinden und Gott verherrlichen. Jede Unzufriedenheit weicht dann. Unsere Herzen werden mit Ruhe und Frieden erfüllt und unser Mund wird loben und anbeten können.

 

In den verbleibenden Versen dieses Kapitels wendet sich der treue Knecht Gottes in Liebe mit Warnungen und Bitten an die Gewissen seiner Zuhörer, um ihnen von neuem die Notwendigkeit eines unbeding­ten Gehorsams vorzustellen. Wenn er sie an den eisernen Ofen Ägypten erinnert, aus dem der HERR sie in Seiner Gnade errettet hatte, wenn er bei den mächtigen Zeichen und Wundern verweilt, die Gott getan hatte, wenn er ihren Blick auf die Herrlichkeit des Landes lenkt, in das sie kommen sollten, wenn er endlich die wunder­bare Handlungsweise Gottes mit ihnen während der Wüstenreise schildert, so geschieht das alles nur mit der Absicht, die Ansprüche des HERRN auf ihren Gehorsam zu begründen. Die Schilderung der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sollte dazu dienen, in ihren Herzen eine völlige Hingabe an ihren Erretter zu bewirken. Sie hatten wirklich alle Ursache, zu gehorchen, und keine Entschuldigung recht­fertigte ihren Ungehorsam. Ein Rückblick auf ihre Geschichte, von Anfang bis Ende, konnte tatsächlich den Ermahnungen und War­nungen Moses eine überzeugende Kraft verleihen.

 

Besonders ernst sind die Verse 23‑28. Himmel und Erde wurden zu Zeugen aufgerufen. Und doch, wie bald hatten sie alles vollständig vergessen! Aber wie genau sind auch die angekündigten schweren Gerichte an dem Volk erfüllt worden. Trotzdem gibt es, Gott sei Dank, auch eine schönere Seite dieses düsteren Gemäldes, und Mose ist sehr bemüht, sie dem Volk vorzustellen. "Aber", sagt er, "ihr werdet von dort den HERRN, deinen Gott, suchen; und du wirst ihn finden, wenn du mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele nach ihm fragen wirst". Welche Gnade! "In deiner Bedrängnis . ‑das ist die Zeit, in der man erfährt, wer Gott ist ‑ "und wenn alle diese Dinge dich treffen werden am Ende der Tage, wirst du um­kehren zu dem HERRN, deinem Gott, und seiner Stimme gehorchen.

 

Denn ein barmherziger Gott ist der HERR, dein Gott; er wird dich nicht verlassen und dich nicht verderben und wird des Bundes deiner Väter nicht vergessen, den er ihnen geschworen hat" (V. 29‑31).

 

Gott erlaubt uns hier einen Blick in die Zukunft Israels zu werfen. Er zeigt uns ihr Abweichen von Ihm und die daraus folgende Zer­streuung unter die Nationen, das Ende ihrer politischen Selbständigkeit und das Verschwinden ihrer nationalen Bedeutung. Doch es gibt, Gott sei gepriesen, etwas, das über all diesen Fehlern und Sünden, dem Verfall und dem Gericht steht. Blicken wir auf das Ende der trau­rigen Geschichte Israels, so begegnen wir heute der Entfaltung der Gnade, Güte und Treue des HERRN, des Gottes ihrer Väter. Wir können die Wege Gottes mit Seinem irdischen Volk von zwei Seiten aus betrachten: von der geschichtlichen und der prophetischen. Die Geschichte zeigt den völligen Verfall des Volkes. Die Prophezeiung dagegen entfaltet eine herrliche Wiederherstellung. Israels Vergangen­heit ist düster und traurig. Wir sehen darin die Verhaltensweise des Menschen. Sie zeigt deutlich, was der Mensch ist. Die Prophezeiungen aber zeigen uns das Handeln Gottes. Wenn wir beides im Auge behalten, verstehen wir die Geschichte dieses merkwürdigen Volkes, ..das weithin geschleppt und gerupft ist", eines Volkes, "wunderbar seitdem es ist, und hinfort" (Jes. 18, 7).

 

Wir verzichten an dieser Stelle auf weitere Zitate, um diese Anschau­ung über Israels Vergangenheit und Zukunft zu beweisen. Wir möchten nur die Aufmerksamkeit auf dieses interessante Thema lenken. Wie lebendig und treffend wird die Vergangenheit Israels in den wenigen Worten geschildert: "Wenn du Kinder und Kindeskinder zeugen wirst, und ihr eingelebt seid im Lande, und ihr euch verderbet und euch ein geschnitztes Bild machet, ein Gleichnis von irgend etwas, und tut was böse ist in den Augen des HERRN, deines Gottes, ihn zu reizen . . ." (V. 25). Die ganze Geschichte Israels ist hier in einem Satz zusammengefaßt. Sie haben Böses getan in den Augen des HERRN, deines Gottes, Ihn zu reizen. Das eine Wort "Böses" umfaßt alles, von dem goldenen Kalb am Horeb bis zu dem Kreuz auf Golga­tha. Wie schrecklich hat sich der Fluch des HERRN erfüllt! Israel ist ein fortwährendes Denkmal der unveränderlichen Wahrheit Gottes. Nicht ein einziges Strichlein von dem ist ausgefallen, was Gott zu ihnen gesprochen hatte. Das Volk ist vertrieben worden aus dem Land, in das sie einst über den Jordan eingezogen waren, um es zu besitzen. Ihre Tage sind "nicht verlängert, sondern gänzlich vertilgt" worden. Der HERR hat sie "unter die Völker zerstreut“, und übrig­geblieben ist "ein zählbares Häuflein unter den Nationen", wohin der HERR sie geführt hat.

 

Genau das ist eingetroffen. Israels Vergangenheit und Gegenwart bezeugen gleichermaßen die Wahrheit des Wortes Gottes. Und wenn das bei der Vergangenheit und der Gegenwart so ist, sollte für die Zukunft Israels eine andere Regel gelten? Sowohl die Geschichte als auch die Prophezeiungen sind beide durch denselben Geist auf­gezeichnet worden. Wie uns die Geschichte Israels seine Sünde und Zerstreuung berichtet, so weissagen die Propheten von der Buße und Wiederherstellung des Volkes. Für den Glauben ist beides eine Tat­sache. So unbestritten wie Israel damals gesündigt hat und jetzt zerstreut ist, so gewiß wird es in Zukunft Buße tun und wiederher­gestellt werden. Außer Jona, der allein einen Auftrag an die Nationen hatte, haben alle Propheten von Jesaja bis Maleachi die herrliche Zukunft des Volkes Israel vorausgesagt. Wir überlassen es jedoch dem Leser, die entsprechenden Stellen zu diesem Thema aufzusuchen, und weisen besonders hin auf die letzten Kapitel des Propheten Jesaja.

 

Hier wird sehr ausführlich behandelt, was der Apostel Paulus mit den Worten ausdrückt: . . . "und also wird ganz Israel errettet werden". Alle Propheten stimmen damit überein, und die Lehre des Neuen Testaments steht in völligem Einklang mit den Aussagen der Pro­pheten. Wenn man die Wahrheit von der Wiederherstellung Israels in dem Land Palästina sowie seine zukünftige Segnung unter der Regierung seines Messias in Frage stellt, so tut man dem Zeugnis der Apostel und Propheten, die durch die Inspiration des Heiligen Geistes geredet und geschrieben haben, Gewalt an.

 

Kann ein aufrichtiger Christ eine so deutliche Wahrheit bezweifeln? ja, es kommt vor. Vielfach werden Gottes Verheißungen an die alt­testamentlichen Väter auf die Kirche angewendet. Aber man darf sie nicht auf andere anwenden, als auf die, denen sie gegeben wurden. Wir können uns an den Verheißungen erfreuen und auch Trost und Ermunterung aus ihnen schöpfen. Aber das ist etwas anderes, als Prophezeiungen und Verheißungen auf die Kirche oder die Gläubigen der neutestamentlichen Zeit anzuwenden, die nach den eindeutigen Belehrungen der Schrift nur auf Israel, auf den Samen Abrahams nach dem Fleische Bezug haben.

 

Die Anwendung auf die Kirche ist den Gedanken Gottes entgegen­gesetzt. Obwohl die meisten Christen mit den Worten des Apostels in Röm. 11 vertraut sind, werden sie doch nur wenig verstanden. Anknüpfend an den Ölbaum der Verheißung, sagt Paulus: "Und auch jene (das Volk Israel), wenn sie nicht im Unglauben bleiben, werden eingepfropft werden; denn Gott vermag sie wiederum einzupfropfen. Denn wenn du aus dem von Natur wilden Ölbaum ausgeschnitten und wider die Natur in den edlen Ölbaum eingepfropft worden bist, wieviel mehr werden diese, die natürlichen Zweige, in ihren eigenen Ölbaum eingepfropft werden! Denn ich will nicht, Brüder, daß euch dieses Geheimnis unbekannt sei, auf daß ihr nicht euch selbst klug dünket: daß Verstockung Israel zum Teil widerfahren ist, bis daß die Vollzahl der Nationen eingegangen sein wird; *) und also wird ganz

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*) Wir möchten noch auf den Unterschied aufmerksam machen, der zwischen "der Vollzahl der Nationen" in Röm. 11 und "den Zeiten der Nationen" in Luk. 21 besteht. Die Vollzahl der Nationen sind diejenigen, welche zur Zeit in der Kirche gesammelt werden. Der Ausdruck "Zeiten der Nationen" bezeichnet dagegen die Oberherrschaft der Nationen, die mit Nebukadnezar begann und bis zu der Zeit währen wird, wo der Stein, „losgerissen ohne Hände", in zermalmender Kraft auf das "große Bild" fallen wird (vgl. Dan. 2).

 

Israel errettet werden, wie geschrieben steht: Es wird aus Zion der Erretter kommen, er wird die Gottlosigkeit von Jakob abwenden; und dies ist für sie der Bund von mir, wenn ich ihre Sünden weg­nehmen werde! Hinsichtlich des Evangeliums sind sie zwar Feinde, um euretwillen, hinsichtlich der Auswahl aber Geliebte, um der Väter willen. Denn die Gnadengabe und die Berufung Gottes sind unbereu­bar. Denn gleichwie auch ihr einst Gott nicht geglaubt habt, jetzt aber unter die Begnadigung gekommen seid durch den Unglauben dieser, also haben auch jetzt diese an eure Begnadigung nicht geglaubt, auf daß auch sie unter die Begnadigung kommen". Das heißt, daß sie anstatt aufgrund des Gesetzes oder der fleischlichen Abstammung unter die Begnadigung zu kommen, einfach aufgrund der unum­schränkten Gnade hineinkommen werden, gerade wie die Heiden. "Denn Gott hat alle zusammen in den Unglauben eingeschlossen, auf daß er alle begnadige" (Röm. 11, 23‑32).

 

Hier endet der Teil des Briefes, in dem der Apostel die göttlichen Geheimnisse über Israel mitgeteilt hat. Die überströmenden Gefühle seines Herzens drückt er in den herrlichen Worten aus: "0 Tiefe des Reichtums, sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes! Wie unausforschlich sind seine Gerichte und unausspürbar seine Wege! Denn wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Mitberater gewesen? Oder wer hat ihm zuvorgegeben, und es wird ihm vergolten werden? Denn von ihm", als der Quelle, "und durch ihn als dem Kanal, "und für ihn", als dem Gegenstand, "sind alle Dinge; ihm sei die Herrlichkeit in Ewigkeit! Amen" (Röm. 11, 33‑36).

 

Dieser Abschnitt, ja, die ganze Heilige Schrift steht in vollkommener Übereinstimmung mit den Belehrungen des vierten Kapitels des fünften Buches Mose. Israels gegenwärtiger Zustand ist die Folge seines Unglaubens, seine zukünftige Herrlichkeit wird die Frucht der reichen, unumschränkten Gnade Gottes sein.

 

In den dann folgenden Versen (31‑36) wird der Zweck aller Wege und Handlungen Gottes mit Israel dargelegt. Das Volk sollte erkennen, daß der HERR der einzig wahre und lebendige Gott war, und daß kein anderer neben Ihm sein konnte. Es ist der Vorsatz Gottes, daß Israel auf der Erde ein Zeugnis für Ihn sein soll. Israel wird das mit Sicherheit einmal sein, wenn es auch bis heute in trauriger Weise abgewichen ist. Nichts kann Gott hindern, Seine Vorsätze auszu­führen. Sein Bund steht ewig fest. Israel wird in Zukunft ein gesegnetes und wirkungsvolles Zeugnis auf der Erde sein und ein Kanal reicher Segnungen für alle Völker. Der HERR hat Sein Wort hierfür als Pfand gesetzt, und keine Macht der Erde und der Hölle kann Ihn hindern, alles vollkommen zu erfüllen, was Er vorausgesagt hat. Seine Herrlich­keit ist mit der zukünftigen Segnung Israels eng verbunden. Würde etwas fehlen an dem, was Er vorausgesagt hat, so würde Er verunehrt werden; das wäre eine Gelegenheit für den Feind, Ihn zu lästern.

 

Es gibt in diesem Kapitel noch eine andere Wahrheit, die sehr inter­essant ist. Nicht allein die Herrlichkeit des HERRN ist mit der Wieder­herstellung und Segnung des Volkes Israel verbunden, sondern auch Seine Liebe, wie das aus den zu Herzen gehenden Worten zu ersehen ist: "Und darum, daß er deine Väter geliebt und ihren Samen nach ihnen erwählt hat, hat er dich mit seinem Angesicht, mit seiner großen Kraft aus Ägypten herausgeführt, um Nationen vor dir auszutreiben, größer und stärker als du, um dich hinzubringen, damit er dir ihr Land als Erbteil gäbe, wie es an diesem Tage geschieht" (V. 37. 38).

 

So sind die Wahrheit des Wortes Gottes, die Herrlichkeit Seines Namens und Seine Liebe alle beteiligt an Seinem Handeln mit dem Samen Abrahams, Seines Freundes. Obwohl Israel Sein Gesetz ge­brochen, Seine Gnade verachtet, Seine Propheten verworfen, Seinen Sohn gekreuzigt und Seinem Geist widerstrebt hat und als Folge davon aus dem Land vertrieben und über die ganze Erde zerstreut wurde und durch nie dagewesene Trübsal gehen muß, wird doch der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs in der zukünftigen Geschichte Seines irdischen Volkes Seinen Namen verherrlichen, Sein Wort er­füllen und Seine unveränderliche Liebe offenbaren.

 

"So erkenne denn heute und nimm zu Herzen, daß der HERR Gott ist im Himmel oben und auf der Erde unten, keiner sonst. Und beobachte seine Satzungen und seine Gebote, die ich dir heute gebiete, damit es dir und deinen Kindern nach dir wohlgehe, und damit du deine Tage verlängerst in dem Lande, welches der HERR, dein Gott, dir für immer gibt" (V. 39. 40).

 

Wir sehen hier, daß Gottes Ansprüche an den Gehorsam ihrer Herzen sich auf die Art und Weise, wie Gott sich dem Volk geoffenbart hat, und auf Seine Wege mit dem Volk, gründen. Sie waren verpflichtet zu gehorchen, trotz aller Gegenargumente, die in ihren Herzen auf­steigen mochten. Der Gott, der sie mit starker Hand und erhobenem Arm aus Ägypten herausgeführt und ihnen einen Weg durch die Fluten des Roten Meeres geöffnet hatte, der ihnen Brot vom Himmel sandte und Wasser aus dem Felsen hervorkommen ließ ‑ alles zur Verherrlichung Seines Namens, und weil Er ihre Väter liebte ‑ dieser Gott hatte sicherlich ein Anrecht darauf, daß sie Ihm von ganzem Herzen gehorchen, wieviel mehr wir! Wenn der Grund für ihren Gehorsam und die Gegenstände ihres Glaubens so zwingend waren, wieviel mehr sind es die unseren! Laßt uns immer daran denken, daß wir nicht uns selbst gehören, sondern für einen Preis erkauft worden sind mit dem kostbaren Blut Christi. Suchen wir für Ihn zu leben? Ist Seine Verherrlichung der erste Gedanke unserer Herzen? Ist Seine Liebe das, was uns treibt? Oder leben wir für uns selbst? Suchen wir in der Welt voranzukommen, in einer Welt, die unseren Herrn und Heiland verworfen und gekreuzigt hat? Sind wir nur darauf aus, Geld zu verdienen? Lieben wir das Geld um seiner selbst willen und um der Dinge willen, die wir davon kaufen können? Bestimmt das Geld unser Handeln? Suchen wir nach einer angesehenen Stellung in dieser Welt, für uns und für unsere Kinder? Laßt uns unsere Herzen mit allem Ernst prüfen, in der Gegenwart Gottes und in dem Licht Seiner Wahrheit, was unsere Ziele sind, was für uns Wirklichkeit ist, was unser Handeln bestimmt, woran wir hängen und wonach unsere Herzen verlangen.

 

Das sind herzerforschende Fragen, denen wir nicht ausweichen wollen. Wir wollen diese Fragen im Licht des Richterstuhls Christi über­denken. Unsere Zeit ist von einem beschrieben worden, der nie über­treibt, sondern Menschen und Dinge so darstellt, wie sie wirklich sind.

 

Der zweite Brief an Timotheus zeichnet ein sehr düsteres Bild von dem Zustand der bekennenden Christenheit in unseren Tagen. Wie in 1. Tim. 4 dem Aberglauben, so begegnen wir hier der krassen Form des Unglaubens. Beide Elemente sind um uns herum wirksam; doch der Unglaube wird bald vorherrschend sein, weil er in erschrek­kendem Maße zunimmt. Selbst die Lehrer der Christenheit scheuen sich heute nicht mehr, die Grundlagen des Christentums anzugreifen. Gar mancher von ihnen ist schamlos und frech genug, die Echtheit der fünf Bücher Mose und damit der ganzen Bibel in Frage zu stellen, denn gewiß, wenn der Pentateuch nicht inspiriert ist, so stürzt das ganze Gebäude der Heiligen Schrift zusammen. Die Schriften Moses sind so eng mit den übrigen Teilen des göttlichen Buches verbunden, daß, wenn sie angetastet werden, alle dahinfallen. Wenn Moses, der Knecht Gottes, nicht vom Heiligen Geist inspiriert war, die fünf ersten Bücher der Bibel zu schreiben, so haben wir kein Fundament für unseren Glauben. jede göttliche Autorität ist dahin, und wir haben nichts mehr, worauf wir bauen können. Die Pfeiler des Christentums sind dann umgestürzt, und unser Weg führt in hoffnungslose Ver­wirrung, mitten in widersprüchliche Meinungen ungläubiger Gelehrter, die die Inspiration leugnen.

 

Erscheint dir das zu streng, mein Leser7 Glaubst du, man könne denen, die die Inspiration der fünf Bücher Mose leugnen, glauben

und zugleich an der göttlichen Eingebung der Psalmen, der Propheten und des , Neuen Testaments festhalten? Der Herr sagt einmal zu den Juden: "Wähnet nicht, daß ich euch bei dem Vater verklagen werde­ da ist einer, der euch verklagt, Moses, auf den ihre eure Hoffnung gesetzt habt. Denn wenn ihr Moses glaubtet, so würdet ihr mir glauben, denn er hat von mir geschrieben. Wenn ihr aber seinen Schriften nicht glaubet, wie werdet ihr meinen Worten glauben?" (Joh. 5, 45‑47).

 

Wie bedeutsam sind diese Worte! Wer nicht an die Schrift Moses glaubt, der glaubt auch nicht an das Wort Christi und kann daher keinen gottgewirkten Glauben haben. Er ist überhaupt kein Christ.

 

Doch es gibt noch andere Stellen, die die göttliche Inspiration dieser fünf Bücher klar beweisen. Ich denke an die Stelle, wo der auferstan­dene Heiland die beiden jünger auf dem Weg nach Emmaus zurecht­weist: "O ihr Unverständigen und trägen Herzens, zu glauben an alles, was die Propheten geredet haben! Mußte nicht der Christus dies leiden und in seine Herrlichkeit eingehen? Und von Moses und von allen Propheten anfangend, erklärte er ihnen in allen Schriften das, was ihn betraf." Und zu den Elfen und zu denen, die bei ihm waren, sprach Er: "Dies sind die Worte, die ich zu euch redete, als ich noch bei euch war, daß alles erfüllt werden muß, was über mich geschrieben steht in dem Gesetz Moses' und den Propheten und Psalmen" (Luk. 24, 25‑27. 44).

 

Wir sehen also, daß der Herr Jesus das Gesetz in unmißverständlicher Weise als einen Teil des ganzen inspirierten Kanons anerkennt und so fest mit allen anderen Teilen des göttlichen Buches verbindet, daß es unmöglich ist, die Echtheit eines Teiles anzuzweifeln, ohne die Inspiration des Ganzen zu leugnen. Wenn Mose nicht mehr glaubhaft ist, SO Sind es auch die Propheten und die Psalmen nicht mehr. Sie stehen oder fallen miteinander. Aber das ist noch nicht alles. Entweder müssen wir den göttlichen Ursprung der fünf Bücher Mose anerkennen oder den Schlug, ziehen, der Herr Jesus habe einen Satz aus einem unechten Schriftstück kraft Seiner Autorität bestätigt. Es gibt zwischen diesen beiden Dingen keinen Mittelweg.

 

Wir weisen noch hin auf eine weitere Stelle, und zwar aus dem Gleich­nis von dem reichen Mann und dem armen Lazarus. Sie ist in diesem Zusammenhang sehr interessant. "Abraham aber spricht zu ihm: Sie haben Moses und die Propheten; mögen sie dieselben hören. Er aber sprach: Nein, Vater Abraham, sondern wenn jemand von den Toten zu ihnen geht, so werden sie Buße tun. Er sprach aber zu ihm: Wenn sie Moses und die Propheten nicht hören, so werden sie auch nicht überzeugt werden, wenn jemand aus den Toten aufersteht" (Luk. 16,29‑31).

 

Denken wir dann noch an die Gelegenheit, wo der Herr in Seinem Kampf mit Satan in der Wüste ihm nur mit Stellen aus den Schriften Moses antwortete, so haben wir nicht allein einen schlagkräftigen Beweis für die göttliche Eingebung der Schriften Moses, sondern es ist damit auch klar bewiesen, daß der Mensch, der die Echtheit der ersten fünf Bücher der Bibel in Frage stellt, überhaupt keinen festen Grund für seinen Glauben haben kann.

 

Laßt uns deshalb treu an dem Wort Gottes festhalten! Laßt uns dieses Wort in unsere Herzen einschließen und es immer mehr unter Gebet erforschen. Nur so bleiben wir bewahrt vor den verderblichen Ein­flüssen des Zweifels und des Unglaubens. Unsere Seele wird durch die reine Milch des Wortes genährt und erquickt und bleibt beständig unter dem Schutz der Gegenwart Gottes. Das ist es, was wir brauchen.

 

Bevor wir die Betrachtung des vierten Kapitels abschließen, wollen wir noch einen kurzen Blick auf den Bericht über die drei Zufluchtsstätten werfen.

 

"Damals sonderte Mose drei Städte ab diesseits des Jordan, gegen Sonnenaufgang, damit ein Totschläger dahin fliehe, der seinen Nächsten unabsichtlich erschlagen hat, und er haßte ihn vordem nicht; ‑ daß er in eine von diesen Städten fliehe und am Leben bleibe. Bezer in der Wüste, im Lande der Ebene, für die Rubeniter, und Ramoth in Gilead für die Gaditer, und Golan in Basan für die Manassiter" (V. 41‑43).

 

Die Gnade Gottes ist immer weitaus größer als alle menschlichen Schwachheiten und Fehler. Dadurch, daß die zweieinhalb Stämme sich ihr Erbe östlich des Jordan wählten, hatten sie sich selbst des eigent­lichen Erbteils des Volkes Gottes beraubt. Das Erbteil Gottes war auf der anderen Seite des Todesstromes. Aber ungeachtet dieses Fehlers wollte Gott in Seiner reichen Gnade einen armen Totschläger in seiner Not nicht ohne Zuflucht lassen. Wenn der Mensch auch nicht die Höhe der Gedanken Gottes erreichen kann, so kann doch Gott hinunter­steigen zu den Tiefen der menschlichen Bedürfnisse. Sein Segen besteht hier darin, daß Er den zweieinhalb Stämmen genauso wie allen übrigen Stämmen, die im Land Kanaan wohnten, die gleiche Anzahl Zufluchts­städte gibt.

 

Das war wirklich eine große Gnade. Wie ganz anders würde ein Mensch gehandelt haben! Hätte Gott in gesetzlicher Weise mit den zweieinhalb Stämmen gehandelt, so hätte Er zu ihnen sagen müssen: "Wenn ihr euer Erbteil außerhalb der göttlichen Grenzen erwählt, wenn ihr mit weniger zufrieden seid als mit Kanaan, dem Land der Verheißung, so könnt ihr nicht erwarten, die Segnungen und Vorrechte dieses Landes zu genießen. Die Vorzüge Kanaans müssen auf Kanaan beschränkt bleiben. Eure Totschläger müssen versuchen, über den Jordan zu kommen, um dort eine Zufluchtsstätte zu finden." Doch die Gnade spricht und handelt anders. Es wäre schon eine bewunde­rungswürdige Gnade gewesen, wenn die zweieinhalb Stämme eine einzige Zufluchtsstadt bekommen hätten. Allein unser Gott tut immer viel mehr, als wir erbitten oder erdenken können. Daher wurde der verhältnismäßig kleine Bezirk östlich des Jordan von Gott genauso versorgt wie das ganze Land Kanaan. Beweist das, daß die zweieinhalb Stämme richtig gehandelt hatten? Nein, sondern es beweist, daß Gott gütig ist, trotz aller unserer Schwachheit und Torheit. Hätte Er einen armen Totschläger im Land Gilead ohne Zuflucht lassen können? Nein, Gott wollte sich verherrlichen. Wir lesen in Jes. 46, 13: "ich habe meine Gerechtigkeit nahe gebracht"! Er sorgte dafür, daß die Zufluchtsstätte für den Totschläger "nahe" war. Er wollte, daß Seine reiche, überströmende Gnade dem Bedürftigen gerade an dem Ort zukam, wo er sich aufhielt. So handelt unser Gott stets, gepriesen sei Sein heiliger Name ewiglich!

 

„Und dies ist das Gesetz, welches Mose den Kindern Israel vorlegte; dies sind die Zeugnisse und die Satzungen und die Rechte, welche Mose zu den Kindern Israel redete, als sie aus Ägypten zogen, diesseits des Jordan, im Tale, Beth‑Peor gegenüber, im Lande Sihons, des Königs der Amoriter, der zu Hesbon wohnte, den Mose und die Kinder Israel geschlagen haben, als sie aus Ägypten zogen. Und sie nahmen sein Land in Besitz, und das Land Ogs, des Königs von Basan, das Land der zwei Könige der Amoriter, welche diesseit des Jordan waren, gegen Sonnenaufgang; von Aroer, das am Ufer des Flusses Arnon ist, bis an den Berg Sion, das ist der Hermon; und die ganze Ebene diesseit des Jordan, gegen Sonnenaufgang, und bis an das Meer der Ebene unter den Abhängen des Pisga" (V. 44‑49).

 

Hiermit schließt die wunderbare Ansprache. Es ist die Freude Gottes, die Grenzen Seines Volkes zu bestimmen und bei den kleinen Dingen zu verweilen, die in Verbindung mit der Geschichte des Volkes stehen. Er nimmt mit liebendem Interesse teil an allem, was sie betrifft, an ihren Kämpfen, Siegen, Besitzungen und Landesgrenzen. Auch bei den kleinen Dingen verweilt Er mit Teilnahme und erfüllt durch diese Gnade und Herablassung die Herzen mit Bewunderung, Dank und Anbetung. Der Mensch, in seiner Selbstüberhebung, hält es für unter seiner Würde, sich mit Kleinigkeiten zu beschäftigen, aber unser Gott zählt die Haare auf unserem Haupt und kennt jede unserer Sorgen, jeden Kummer und jedes Bedürfnis. Es ist nichts zu klein für Seine Liebe und nichts zu groß für Seine Macht. Es gibt nicht einen einzigen, noch so unbedeutenden Umstand unseres Lebens, um den Er sich nicht kümmert.

 

Wir denken leider wenig daran, daß unser Vater an allen unseren kleinen Sorgen und Kümmernissen Anteil nimmt und daß wir zu Ihm gehen dürfen mit allem, was uns bewegt und uns bedrückt! Wir denken oft, solche Kleinigkeiten seien zu gering für den Hohen und Mächtigen, der die Himmel bewohnt und über dem Erdkreis thront. Doch wie sehr werden wir dadurch unschätzbarer Segnungen in unserem täglichen Leben beraubt. Wir wollen daran denken, daß für unseren Gott die großen und die kleinen Dinge gleich sind. Er erhält das Weltall durch die Macht Seines Wortes und Er nimmt Kenntnis von dem Sperling, der vom Dach herunterfällt. Es ist für Ihn nicht schwerer, eine Welt zu erschaffen, als für eine arme Witwe, eine Mahlzeit zu bereiten. Die Größe Seiner Macht und die Herrlichkeit Seiner Regierung wie die liebevolle Fürsorge Seines Herzens für die Seinen rufen in gleicher Weise unsere Bewunderung und Anbetung wach.

 

Kapitel 5

 

WIEDERHOLUNG DER ZEHN GEBOTE , DER SABBATH

 

"Und Mose berief das ganze Israel und sprach zu ihnen: Höre, Israel, die Satzungen und die Rechte, die ich heute vor euren Ohren rede; und lernet sie, und achtet darauf, sie zu tun" (V. 1). Hier begegnen wir wie­der diesen vier Worten, die das fünfte Buch Mose in besonderer Weise kennzeichnen: "Hören" ‑"lernen" ‑"darauf achten" ‑"tun".

 

Das erste, was ein Mensch tun muß, ist "hören". "Hören will ich, was Gott, der HERR, reden wird" (Ps. 85, 8). "Höret, und eure Seele wird leben" (Jes. 55, 3). Das hörende Ohr ist der Ausgangspunkt für alles wahre christliche Leben. Es bringt einen Menschen in die einzige Stel­lung alles Segens.

 

Selbstverständlich sprechen wir hier nur von dem Hören des Wortes Gottes. Israel hatte auf die "Satzungen und Rechte" des HERRN zu horchen, auf das Wort des lebendigen Gottes, der sie erlöst hatte aus dem Land der Knechtschaft, der Finsternis und des Todes. Sie sollten nicht auf die Überlieferungen und Lehren der Menschen hören. Ebenso ist es auch heute mit uns.

 

Wir sind zum Gehorsam berufen. Wir sind berufen, zu "hören" und uns ehrerbietig einer Autorität zu unterwerfen. Der Weg eines unter­würfigen und demütigen Christen ist genauso weit von dem Aberglau­ben wie von dem Unglauben entfernt. Die vortreffliche Antwort, die Petrus einst dem Synedrium in Apg. 5 gab, weist beide gleich entschie­den zurück. Er sagte: "Man muß Gott mehr gehorchen als Menschen". Unsere Antwort auf den Unglauben in all seinen Erscheinungsformen ist: "Wir müssen gehorchen", und auf den Aberglauben, in welches Gewand er sich auch kleiden mag: "Wir müssen Gott gehorchen".

 

Das ist die Pflicht jedes wahren Christen. Er hat Gott zu gehorchen. Der Ungläubige mag über einen Mönch oder eine Nonne lächeln und sich wundern, wie ein Mensch seinen Verstand und seine Vernunft so vollständig einem anderen, der auch sterblich ist, unterwerfen und sich ,oft solch unnatürlichen Regeln und Übungen unterziehen kann. Dieser Ungläubige rühmt sich seiner geistigen Freiheit und hält seine Vernunft für den einzig gültigen Maßstab. Dabei weiß er nicht, daß er, während er sich mit seinem freien Willen brüstet, in Wirklichkeit von Satan, dem Fürsten und Gott dieser Welt, gefangen gehalten wird. Der Mensch ist geschaffen zu gehorchen und aufzublicken zu dem Einen, der über ihm steht. Der Christ ist geheiligt zum Gehorsam Jesu Christi, das heißt zu demselben Charakter des Gehorsams, wie er von unserem Herrn und Heiland selbst Gott gegenüber erfüllt wurde.

 

Das ist von fundamentaler Bedeutung für jeden, der wirklich erkennen möchte, worin wahrer christlicher Gehorsam besteht. Diesen Gehorsam zu kennen, ist das große Geheimnis, das von dem Eigenwillen des Un­glaubens und von dem falschen Gehorsam des Aberglaubens befreit. Er, ist nie richtig, unseren eigenen Willen zu tun. Es kann richtig sein, dem Willen eines Mitmenschen zu folgen, aber wir sind auf dem richtigen Weg, wenn wir den Willen unseres Gottes tun. Um diesen Willen zu tun, kam Jesus auf die Erde, und Er tat ihn vollkommen. "Siehe, ich komme, um deinen Willen zu tun" (Hebr. 10, 9). "Dein Wohlgefallen zu tun, mein Gott, ist meine Lust; und dein Gesetz ist im Innern meines Herzens" (Ps. 40, 8). Zu demselben Gehorsam sind auch wir berufen. Wir sind "auserwählt nach Vorkenntnis Gottes, des Vaters, durch Heiligung des Geistes, zum Gehorsam und zur Blutbesprengung Jesu Christi" (l. Petr. 1, 1. 2). In diesen Worten liegt ein unschätzbares Vorrecht, zugleich aber auch eine heilige und ernste Verantwortung für uns. Laßt uns nie vergessen, daß wir nicht nur der Blutbesprengung Jesu Christi teilhaftig geworden, sondern auch zu Seinem Gehorsam abgesondert sind!

 

vielleicht denkt jemand an die Ermahnung des Apostels in Hebr. 13: "Gehorchet euren Führern und seid unterwürfig; denn sie wachen über eure Seelen (als die da Rechenschaft geben sollen), auf daß sie dies mit Freuden tun und nicht mit Seufzen; denn dies wäre euch nicht nützlich." Das ist gewiß ein sehr wichtiges Wort, mit dem wir noch eine andere Stelle aus 1. Thess. 5 verbinden möchten: "Wir bitten euch aber, Brüder, daß ihr die erkennet, die unter euch arbeiten und euch vorstehen im Herrn und euch zurechtweisen, und daß ihr sie über die Maßen in Liebe achtet, um ihres Werkes willen" (V. 12.13). Weiterhin lesen wir in 1. Kor. 16, 15. 16: "Ich ermahne euch aber, Brüder: Ihr kennet das Haus des Stephanas, daß es der Erstling von ,Achaja ist, und daß sie sich selbst den Heiligen zum Dienst verordnet haben; daß auch ihr solchen unterwürfig seid und jedem, der mitwirkt und arbeitet." Und in 1. Petr. 5 ermahnt der Apostel die Ältesten, er, "der Mitälteste und Zeuge der Leiden des Christus und auch Teilhaber der Herrlichkeit, die geoffenbart werden soll: Hütet die Herde Gottes, die bei euch ist, indem ihr die Aufsicht nicht aus Zwang führet, sondern freiwillig, auch nicht um schändlichen Gewinn, sondern bereitwillig, nicht als die da herrschen über ihre Besitztümer, sondern indem ihr Vorbilder der Herde seid. Und wenn der Erzhirte offenbar geworden ist, so werdet ihr die unverwelkliche Krone der Herrlichkeit empfangen" (V. 1‑4).

 

Sprechen diese Stellen nicht gerade dafür, daß wir bestimmten Menschen gehorchen sollen? Mit welchem Recht verwirft man dann die menschliche Autorität? Die Antwort ist sehr einfach. Wo immer Christus eine Gabe des Geistes verleiht, sei es die Gabe des Lehrens oder die Gabe eines Hirten, da ist es die Pflicht eines Christen, die Gabe anzuerkennen und zu schätzen. Das nicht zu tun, bedeutet, die Segnungen und Gnadenerweisungen Gottes geringzuachten. Aber wir müssen in jedem Fall zu erkennen suchen, ob wirklich eine Gabe vorhanden ist, die Gott gegeben hat. Kein Mensch hat das Recht, sich ein bestimmtes Amt oder eine Stellung anzumaßen, oder sich von anderen zu einem solchen Amt berufen zu lassen. Das ist ein Eingriff in ein heiliges Gut und wird früher oder später das Gericht Gottes auf sich ziehen.

 

jeder wirkliche Dienst kommt von Gott und gründet sich auf eine wirkliche Gabe, die von dem Haupt der Kirche verliehen worden ist, so daß wir sagen können: ohne Gabe kein Dienst. In allen oben angeführten Stellen besitzen die genannten Personen eine Gabe und können sie daher ausüben. Wir sehen bei ihnen ein treues und warmes Herz für die Schafe und Lämmer der Herde Christi. In Hebr. 13 heißt es: "Gehorchet euren Führern". Wer unser Führer sein will, muß uns auf dem Weg vorangehen, den er uns führen will. Es wäre Torheit, sich den Titel eines Führers anzumaßen, ohne den Weg zu kennen oder willig und fähig zu sein, ihn zu gehen. Einem blinden, unwissen­den Führer wird sich niemand anvertrauen.

 

Worauf gründet der Apostel seine Ermahnungen an die Thessa­lonicher, bestimmte Personen zu achten und anzuerkennen? Darauf, daß jemand sich einen Titel, ein Amt oder eine Stellung anmaßt oder von anderen annimmt? 0 nein, die Thessalonicher wußten wohl, daß diese Personen ihnen "vorstanden im Herrn" und "sie zurechtwiesen". Deshalb ermahnt er sie, sie "über die Maßen in Liebe zu achten". Wegen ihres Amtes oder eines Titels? Keineswegs, sondern "um ihres Werkes willen". Ebenso wurden die Korinther ermahnt, sich dem Haus des Stephanas zu unterwerfen, nicht um eines Titels oder eines angemaßten Amtes willen, sondern weil "sie sich selbst den Heiligen zum Dienst verordnet hatten". Sie waren im Werk tätig. Sie hatten Gaben und Gnade von Christus empfangen und hatten ein Herz für Sein Volk. Sie rühmten sich nicht ihres Amtes, sondern gaben sich mit willigem Herzen dem Dienst Christi hin.

 

Das ist der wahre Dienst, der ausgeübt wird in der Kraft, die Christus darreicht und in dem Bewußtsein, daß man Ihm verantwortlich ist. Dieser Dienst findet die dankbare Anerkennung der Heiligen. Mag sich jemand als Lehrer oder Hirte ausgeben oder von anderen dazu ernannt werden, so ist doch alles Täuschung, Anmaßung und leere Form, wenn er nicht eine wirkliche Gabe von dem Haupt der Kirche empfangen hat. Seine Stimme ist die eines Fremden. Die wahren Schafe Christi kennen sie nicht und sollten sie nicht anerkennen. *)

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*) Wir haben wiederholt bemerkt, daß sich im Neuen Testament nichts von einer menschlichen Anweisung findet, das Evangelium zu predigen, die Versammlung Gottes zu belehren oder die Herde Christi zu weiden. Die Ältesten wurden durch die Apostel oder deren Stellvertreter, Timotheus und Titus, eingesetzt, die Diakonen von den einzelnen Versammlungen gewählt; aber Evangelisten, Hirten und Lehrer sind nie gewählt oder eingesetzt worden. Wir müssen zwischen einer Gnadengabe und der Übertragung eines örtlichen Dienstes unterscheiden. Älteste und Diakonen konnten eine besondere Gabe besitzen oder nicht, aber das hatte nichts mit ihrem örtlichen Dienst zu tun. Zum besseren Verständnis dieses Gegenstandes verweisen wir den Leser auf 1. Kor. 12‑14 und Eph. 4, 8‑13. In der ersten Stelle finden wir die Grundlage alles wahren Dienstes in der Kirche Gottes, nämlich die göttliche Anordnung: "Gott hat die Glieder gesetzt", dann den Beweggrund zu diesem Dienst: "Liebe", und endlich den Zweck: "auf daß die Versammlung erbaut werde". Aus Eph. 4 ersehen wir die Quelle alles Dienstes; den auferstandenen und aufgefahrenen Herrn, die Absicht: "zur Vollendung der Heiligen, für das Werk des Dienstes", die Dauer: "bis wir alle hingelangen ... zu dem erwachsenen Manne, zu dem Maße des vollen Wuchses der Fülle des Christus".

Mit einem Wort, der Dienst in all seinen Einzelheiten ist eine ausschließlich göttliche Einrichtung. Er ist nicht von Menschen, noch durch Menschen, sondern von Gott. Der Meister muß in jedem Fall die Gefäße füllen und ausrüsten. Die Behauptung, daß jedermann ein Recht habe, in der Kirche Gottes zu dienen, entbehrt jeder Grundlage in der Schrift. Eine solche Freiheit des Menschen ist den Gedanken Gottes zuwider. Freiheit des Heiligen Geistes, zu gebrauchen, wen Er will, das ist es, was uns im Neuen Testament gelehrt wird. Möchten wir das lernen.

 

 

Findet sich dagegen ein von Gott begabter Lehrer, ein treuer, liebender und weiser Hirte, der über die einzelnen wacht, für sie kämpft und fähig ist, zu sagen: "Wir leben, wenn ihr feststehet im Herrn", so wird man ihn anerkennen und achten. Hat jemand eine Gabe, so ist er ein Diener. Hat er sie nicht, so kann keine menschliche Autorität ihn zu einem wahren Diener Christi machen. Man mag ihn als Diener einsegnen, und er selbst mag sich so nennen, doch jeder wahre Dienst hat seine Quelle in Gott. Er gründet sich auf die göttliche Autorität, und sein Zweck ist, die Gläubigen in die Gegenwart Gottes zu bringen und in Gemeinschaft mit Ihm. Der falsche Dienst dagegen hat seinen Ursprung im Menschen und bezweckt, die Gläubigen an Menschen zu binden. Das zeigt den großen Unterschied zwischen beiden. Der erste Dienst führt zu Gott hin, der zweite von Gott weg. Der eine pflegt, nährt und kräftigt das neue Leben, der andere hindert den Fortschritt des Lebens in jeder Weise und bringt die Gläubigen in Zweifel und Finsternis. Mit einem Wort, der wahre Dienst ist von Gott, durch Ihn und für Ihn, der falsche Dienst von Menschen, durch sie und für sie. So sehr wir den einen schätzen, so vollständig ver­werfen wir den zweiten.

 

In allen Fällen aber, wo eine wirkliche Gnadengabe vorhanden ist, werden wir aufgefordert zu gehorchen und uns zu unterwerfen, in­soweit wir Christus in der Person und dem Dienst Seiner geliebten Knechte erkennen. Für einen geistlichen Menschen ist es nicht schwer zu erkennen, ob wirklich Gnade und Kraft vorhanden sind. Man sieht sehr bald, ob jemand in wahrer Liebe bemüht ist, uns mit dem Brot des Lebens zu nähren und uns in die Wege Gottes zu leiten, oder ob er sucht, sich selbst zu erheben und seinen eigenen mensch­lichen Interessen nachzugehen. Der Unterschied zwischen Kraft und Anmaßung ist zu groß, als daß er übersehen werden könnte. Ein wahrer Diener Christi wird nie mit seiner Autorität prahlen oder sich seiner Gaben rühmen. Er tut einfach sein Werk und läßt es für sich selbst reden. Der Apostel Paulus konnte den armen, irregeleiteten Korinthern, die unter dem Einfluß falscher Lehrer an seiner Apostel­schaft zweifelten, zurufen: "Weil ihr einen Beweis suchet, daß Christus in mir redet . . ., so prüfet euch selbst" (2. Kor. 13, 3‑5).

 

Die Korinther selbst waren der lebendige Beweis seines Dienstes. Ihre Bekehrung und Segnung zeigten deutlich, daß der Dienst von Gott war, und das gab dem Apostel Freude, Trost und Kraft. Er war ein "Apostel, nicht von Menschen, noch durch einen Menschen, sondern durch Jesus Christus und Gott, den Vater, der ihn auferweckt hat aus den Toten" (Gal. 1, 1). Er konnte sich der Quelle seines Dienstes rühmen und im Blick auf dessen Charakter zahlreiche Beweise an­führen, von denen jeder einzelne genügte, ein aufrichtiges Herz zu überzeugen. Er konnte in Wahrheit sagen: "Meine Rede und meine Predigt war nicht in überredenden Worten der Weisheit, sondern in Erweisung des Geistes und der Kraft" (i. Kor. 2, 4).

 

So muß es in jedem Fall sein. Es muß Kraft und Wirklichkeit vor­handen sein. Bloße Titel sind nichts. Die Menschen mögen wohl Titel und Ämter verleihen, aber sie haben kein Recht dazu.

 

Vielleicht wird man einwerfen, wir seien nicht befugt zu "richten". Wie sollen wir uns denn "vor den falschen Propheten hüten" können, wenn wir nicht das Recht haben, sie zu beurteilen? Mit welchem Maß aber sollen wir sie in unserer Beurteilung messen? "An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen." Kann das Volk des Herrn nicht unterscheiden zwischen einem Mann, der zu ihm kommt in der Kraft des Geistes, in heiliger, selbstverleugnender Gesinnung, begabt von dem Haupt der Kirche, erfüllt mit Liebe zu den Gläubigen, und einem anderen, der einen Titel trägt, den er sich selbst beigelegt hat oder der ihm von Menschen verliehen ist, der in seinem Dienst und Leben aber jede Spur göttlichen oder himmlischen Wesens vermissen läßt? Ohne Zweifel kann und soll das Volk Gottes diesen Unterschied machen. Deshalb fordert der betagte Apostel Johannes auch die Gläu­bigen auf, nicht jedem Geist zu glauben, sondern die Geister zu prüfen, "ob sie aus Gott sind; denn viele falsche Propheten sind in die Welt ausgegangen" (i. Joh. 4, 1). Und in seinem zweiten Brief ermahnt er die "auserwählte Frau": "Wenn jemand zu euch kommt und diese Lehre nicht bringt, so nehmet ihn nicht ins Haus auf und grüßet ihn

 

nicht. Denn wer ihn grüßt, nimmt teil an seinen bösen Werken." Und was sollte sie beurteilen? Sollte sie untersuchen, ob die, welche in ihr Haus kamen, von irgendeinem Menschen oder einer Institution bevollmächtigt waren? 0 nein. Sie sollte einzig und allein prüfen, ob sie gesund in der Lehre waren. Brachten sie die wahre, göttliche Lehre des Christus nicht, die Lehre, daß Er im Fleisch gekommen ist, so sollte sie die Tür vor ihnen verschließen, ohne danach zu fragen, wer sie wären und woher sie kämen. Wenn sie die Wahrheit nicht brachten, so sollte sie sie trotz aller Vollmachten, die sie etwa vor­zeigen mochten, mit Entschiedenheit abweisen.

 

Im zweiten Kapitel der Offenbarung wird die Versammlung in Ephesus gelobt, weil sie die geprüft hatte, welche sagten, sie seien Apostel, und waren es nicht. Wie konnte sie diejenigen prüfen, ohne ein Urteil zu bilden? Diese Beispiele zeigen, daß man die Worte des Herrn in Matth. 7, 1: "Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet", und die Worte des Apostels in 1. Kor. 4, 5: "So urteilet nicht etwas vor der Zeit", falsch anwenden und auslegen kann. Die Schrift widerspricht sich nicht, und daher können die Worte des Herrn oder des Apostels, was auch ihr Sinn sein mag, nicht im Widerspruch stehen mit der Verantwortung der Christen, die Gaben, die Lehre und das Leben all derer zu beurteilen, die den Platz eines Evangelisten, eines Hirten oder eines Lehrers in der Kirche Gottes einnehmen.

 

Die Worte "richtet nicht" und beurteilet nichts", verbieten uns einfach, die Beweggründe oder die verborgenen Quellen einer Hand­lung zu beurteilen und zu richten. Damit haben wir nichts zu tun. Wir können nicht ins Innere des Herzens eindringen, und, Gott sei Dank, sind wir auch nicht dazu berufen. Wir können die verborgenen Gedanken des Herzens nicht erraten. Aber anderseits dürfen wir uns nicht der Verantwortung entziehen, die zu prüfen, die in unserer Mitte irgendeinen Dienst ausüben.

 

Es wird immer das Ziel jedes wirklichen Dieners Christi sein, diejenigen, denen er dient, zum Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes zu führen. Ein schönes Beispiel dafür sehen wir in Mose, diesem ausgezeichneten Knecht Gottes. Er war immer bemüht, der Gemeinde Israel die drin­gende Notwendigkeit eines schlichten Gehorsams gegenüber allen Geboten und Satzungen Gottes einzuprägen. Er suchte keine Autori­tätsstellung für sich selbst. Sein großes Ziel von Anfang bis Ende war: Gehorsam, nicht gegenüber ihm, sondern gegenüber seinem und ihrem Herrn. Er wußte, daß dies das wahre Geheimnis ihres Glücks, ihrer Sicherheit und ihrer Kraft war. Er wußte, daß ein gehorsames Volk auch ein unüberwindbares Volk sein würde, und daß keine Waffe etwas gegen sie ausrichten konnte, solange sie sich vor dem Wort Gottes beugten. Mit einem Wort, er wußte und glaubte, daß es Israels Sache war Gott zu gehorchen, so wie es Gottes Sache war, Israel zu segnen. Ihre Aufgabe bestand einfach darin, den geoffenbarten Willen Gottes zu "hören", zu "lernen", "darauf zu achten" und ihn zu "tun", und solange sie das taten, konnten sie mit vollem Vertrauen auf Ihn rechnen als auf ihren Schild, ihre Kraft, ihren Beschützer und ihre Zuflucht. Der einzig wahre Weg für das Volk Gottes ist der schmale Weg des Gehorsams, auf den Gott immer mit Wohlgefallen herabsieht.

 

Wir kehren jetzt zu dem fünften Kapitel des fünften Buches Mose zurück. Im zweiten Vers erinnert Mose das Volk an ihre Beziehung zu dem HERRN, die auf den Bund gegründet war. Er sagt: "Der HERR, unser Gott, hat am Horeb einen Bund mit uns gemacht. Nicht mit unseren Vätern hat der HERR diesen Bund gemacht, sondern mit uns, die wir heute hier alle am Leben sind. Von Angesicht zu Angesicht hat der HERR auf dem Berge, mitten aus dem Feuer, mit euch geredet ‑ich stand zwischen dem HERRN und euch in selbiger Zeit, um euch das Wort des HERRN zu verkündigen; denn ihr fürchtetet euch vor dem Feuer und stieget nicht auf den Berg" (V. 2‑5).

 

Wir müssen gut unterscheiden zwischen dem Bund am Horeb und dem Bund, den Gott mit Abraham, Isaak und Jakob machte. Diese Bünd­nisse unterscheiden sich wesentlich. Der Bund vom Berg Horeb war ein Bund der Werke, bei dem das Volk versprach, alles zu tun, was der HERR gesprochen hatte; der Bund mit den Erzvätern aber war ein Bund reiner Gnade, bei dem Gott sich selbst mit einem Eid ver­pflichtete, alles zu erfüllen, was er verheißen hatte. Der Unterschied ist in jeder Hinsicht von großer Bedeutung, sowohl was die Grundlage und den Charakter dieser Bündnisse, als auch was die praktischen Ergebnisse betrifft. Der Bund am Horeb setzte das menschliche Ver­mögen voraus, alle seine Bedingungen zu erfüllen, und schon diese einzige Tatsache zeigte im voraus, daß er gebrochen werden würde. Der Bund mit Abraham dagegen gründete sich auf die Verheißungen Gottes, alle Seine Worte zu erfüllen, und daher ist es völlig unmöglich, daß ein einziges Jota oder ein Strichlein an seiner Erfüllung fehlen könnte.

 

In den "Gedanken zum 2. Buch Mose" haben wir uns eingehender mit dem Thema "Gesetz" beschäftigt und haben versucht, die Gedanken Gottes herauszustellen über Seine Mitteilung des Gesetzes und über die Unmöglichkeit, daß ein Mensch durch das Halten des Gesetzes Leben und Gerechtigkeit empfangen konnte. Wir verweisen den Leser auf diese Ausführungen und auch auf die früheren Kapitel. Im Blick auf die verkehrten Anstrengungen des Menschen, den Christen wieder unter das Gesetz zu stellen, wollen wir noch einige Stellen zitieren. Der Jude stand einst "unter Gesetz"; aber er mußte die Entdeckung machen, daß das Gesetz kein Ruhekissen war, auf dem er ausruhen konnte, und keine Decke, in die er sich einhüllen konnte. Der Heide war "ohne Gesetz". Er stand wohl unter der Regierung Gottes, aber nie unter Gesetz. Die Gnade stellt beide Klassen auf denselben Boden. In Apg. 15 wird gezeigt, wie die Apostel und die ganze Gemeinde in Jerusalem dem ersten Versuch widerstanden, bekehrte Heiden unter das Gesetz zu stellen. Die Frage war in Antiochien aufgekommen; aber Gott führte es in Seiner Güte und Weisheit so, daß sie nicht dort entschieden wurde, sondern daß Paulus und Barnabas nach Jeru­salem hinaufgehen mußten, wo dieses Thema öffentlich besprochen und durch den einmütigen Beschluß der zwölf Apostel und der ganzen Versammlung entschieden wurde.

 

Laßt uns Gott dafür danken. Die Entscheidung einer örtlichen Ver­sammlung, wie die in Antiochien, obgleich sie von Paulus und Barnabas anerkannt wurde, hätte keineswegs dasselbe Gewicht gehabt wie eine Entscheidung der versammelten zwölf Apostel in Jerusalem. Aber der HERR sorgte dafür, daß jeder Feind verstummen mußte und die Gesetzeslehrer aller Zeiten überzeugend belehrt wurden, daß es nicht nach den Gedanken Gottes ist, die Christen in irgendeinem Punkt unter das Gesetz zu stellen.

 

,Und etliche kamen von Judäa herab und lehrten die Brüder: Wenn ihr nicht beschnitten worden seid nach der Weise Moses', so könnt ihr nicht errettet werden" (Apg. 15, 1). Welch eine traurige Botschaft! Wie mußten sich diese Worte mit eisiger Kälte auf die Herzen derer legen, die durch die Rede des Apostels Paulus in der Synagoge in Antiochien bekehrt worden waren! "So sei es euch nun kund, Brüder", hatte er gesagt, "daß durch diesen euch Vergebung der Sünden ver­kündigt wird; und von allem, wovon ihr im Gesetz Moses' nicht gerechtfertigt werden konntet, wird in diesem" (ohne Beschneidung und ohne Gesetzeswerke irgendwelcher Art) "jeder Glaubende gerecht­fertigt" (Apg. 13, 38. 39).

 

Das war die herrliche Botschaft, die durch den Mund des Paulus ver­kündigt worden war, eine Botschaft von der freien und vollkommenen Errettung, von der völligen Vergebung der Sünden und der vollkom­menen Rechtfertigung durch den Glauben an den Herrn Jesus Christus. Nach der Lehre derer aber, die von Judäa herabkamen, war das alles unzureichend. Ohne Gesetz und ohne Beschneidung war Christus nicht genug. Wie muß das Herz des Apostels entbrannt sein, als er seine geliebten Kinder im Glauben durch diese Lehre beunruhigt sah! Die Annahme einer solchen Lehre ist gleichbedeutend mit der Preisgabe des ganzen Christentums. Mußte dem Kreuz Christi die Beschneidung hinzugefügt werden, mußte das Gesetz Moses die Gnade Gottes er­gänzen, dann war alles vergeblich. Aber gepriesen sei der Gott aller Gnade! Er gebot der verderblichen Lehre Einhalt. "Als nun ein Zwie­spalt entstand und ein nicht geringer Wortwechsel zwischen ihnen und dem Paulus und Barnabas, ordneten sie an, daß Paulus und Barnabas und etliche andere von ihnen zu den Aposteln und Ältesten nach Jerusalem hinaufgehen sollten wegen dieser Streitfrage ... Als sie aber nach Jerusalem gekommen waren, wurden sie von der Versamm­lung und den Aposteln und Ältesten aufgenommen, und sie verkün­deten alles, was Gott mit ihnen getan hatte. Etliche aber derer von der Sekte der Pharisäer, welche glaubten, traten auf und sagten: Man muß sie beschneiden und ihnen gebieten, das Gesetz Moses' zu halten" (Apg. 15, 2‑5). Hatte Gott das geboten? Gewiß nicht. Er hatte in Seiner unendlichen Gnade den Nationen die Tür des Glaubens geöffnet ‑ ohne Beschneidung oder irgendein Gebot, das Gesetz Moses zu halten. Nein, es waren "etliche Menschen", die sich anmaßten, das zu gebieten, Menschen, die die Kirche Gottes von jenem Tag an bis heute beunruhigt haben, "die Gesetzlehrer sein wollen und nicht ver­stehen, weder was sie sagen, noch was sie fest behaupten" (l. Tim. 1, 7). Sie haben keinen Begriff davon, wie verwerflich ihre Lehre ist vor dem Gott aller Gnade, dem Vater der Barmherzigkeit.

 

"Die Apostel aber und die Ältesten versammelten sich, um diese An­gelegenheit zu besehen. Als aber viel Wortwechsel entstanden war, stand Petrus auf und sprach zu ihnen: Brüder, ihr wisset, daß Gott vor längerer Zeit mich unter euch auserwählt hat, daß die Nationen durch meinen Mund", nicht das Gesetz Moses, oder die Beschneidung, sondern  „das Wort des Evangeliums hören und glauben sollten. Und Gott, Herzenskenner, gab ihnen Zeugnis, indem er ihnen den Heiligen Geist gab, gleichwie auch uns; und er machte keinen Unterschied zwischen uns und ihnen, indem er durch den Glauben ihre Herzen reinigte. Nun denn, was versuchet ihr Gott, ein Joch auf den Hals der jünger zu legen, das weder unsere Väter noch wir zu tragen vermochten?" Es war nicht die Absicht Gottes, das, was sich als ein unerträgliches Joch für Israel er­wiesen hatte, von neuem den Christen aus den Nationen aufzuerlegen. "Sondern", fügt der Apostel der Beschneidung hinzu, "wir glauben durch die Gnade des Herrn Jesus in derselben Weise errettet zu werden wie auch jene."

 

Es ist schön, diese Worte von den Lippen des Apostels der Beschneidung zu vernehmen. Er sagt nicht: "Sie werden in derselben Weise errettet werden wie wir", sondern: "Wir werden errettet werden wie sie." Ein Jude war bereit, von seinem hohen Platz herabzusteigen und ebenso errettet zu werden wie die armen, unbeschnittenen Heiden. Wahrlich, diese Worte mußten mit überwältigender Kraft in die Ohren der Ge­setzeslehrer dringen und sie von der Verkehrtheit ihrer Stellung und ihrer Forderungen überzeugen.

 

"Die ganze Menge aber schwieg und hörte Barnabas und Paulus zu, welche erzählten, wie viele Zeichen und Wunder Gott unter den Natio­nen durch sie getan habe." Der Heilige Geist hat es nicht für gut be­funden, uns mitzuteilen, was Paulus und Barnabas bei dieser denkwür­digen Gelegenheit gesprochen haben, und wir können auch darin Seine Weisheit erkennen. Er gibt offensichtlich Petrus und Jakobus den Vor­rang, weil ihre Worte für die Gesetzeslehrer mehr Gewicht haben mußten als die des Apostels der Nationen und seines Gefährten.

 

"Nachdem sie aber ausgeredet hatten, antwortete Jakobus und sprach: Brüder, höret mich! Simon hat erzählt, wie Gott zuerst die Nationen heimgesucht hat, um aus ihnen ein Volk zu nehmen für seinen Namen. Und hierin stimmen die Worte der Propheten überein", ‑ angesichts solcher Beweise mußten selbst die größten Eiferer für das Gesetz ver­stummen ‑ "wie geschrieben steht.

 

Somit wurde über diese wichtige Frage durch den Heiligen Geist, die zwölf Apostel und die ganze Kirche endgültig entschieden. Wir müssen wohl beachten, daß in dieser bedeutenden Kirchenversammlung niemand nachdrücklicher und entschiedener sprach als Petrus und Jakobus; Petrus, der Apostel der Beschneidung und Jakobus, der Vertreter der jüdisch­christlichen Gemeinde in Jerusalem. Durch seinen Dienst und seine Stellung bekamen seine Worte ein besonderes Gewicht für alle, die noch irgendwie auf jüdischem oder gesetzlichem Boden standen. Das Urteil dieser beiden hervorragenden Männer war klar und eindeutig, nämlich, daß die Bekehrten aus den Nationen nicht beunruhigt oder mit dem Gesetz belastet werden sollten. Sie bewiesen in ihren eindrucksvollen Ansprachen, daß es dem Wort, dem Willen und den Wegen Gottes schnurstracks entgegenlief, die Christen aus den Nationen unter das Gesetz zu stellen.

 

Im weiteren Verlauf unseres Kapitels werden zunächst die zehn Gebote wiederholt. Aber hier begegnen wir verschiedenen charakteristischen Zügen, die wir im zwanzigsten Kapitel des zweiten Buches Mose ver­geblich suchen. Dort werden uns lediglich die geschichtlichen Tatsachen mitgeteilt, hier aber ist mit der Geschichte auch ihre Anwendung ver­bunden. Mose stellt sittliche Beweggründe auf und wendet sich an das Gewissen des Volkes, wie es dort nicht möglich gewesen wäre. Also ist das eine Kapitel nicht eine nutzlose Wiederholung des anderen, wie der Unglaube es so gerne darstellen möchte.

 

Vergleichen wir zum Beispiel die beiden Kapitel bezüglich des Sabbaths. In 2. Mose 20 lesen wir: "Gedenke des Sabbathtages, ihn zu heiligen. Sechs Tage sollst du arbeiten und all dein Werk tun; aber der siebente Tag ist Sabbath dem HERRN, deinem Gott: du sollst keinerlei Werk tun, du und dein Sohn und deine Tochter, dein Knecht und deine Magd, und dein Vieh, und dein Fremdling, der in deinen Toren ist. Denn in sechs Tagen hat der HERR den Himmel und die Erde gemacht, das Meer und alles was in ihnen ist, und er ruhte am siebenten Tage; darum segnete der HERR den Sabbathtag und heiligte ihn" (V. 8‑11). In dem vorliegenden Kapitel aber heißt es: "Beobachte den Sabbathtag, ihn zu heiligen, so wie der HERR, dein Gott, dir geboten hat. Sechs Tage sollst du arbeiten und all dein Werk tun; aber der siebente Tag ist Sabbath dem HERRN, deinem Gott: du sollst keinerlei Werk tun, du und dein Sohn und deine Tochter und dein Knecht und deine Magd, und dein Rind und dein Esel und all dein Vieh, und dein Fremdling, der in deinen Toren ist; auf daß dein Knecht und deine Magd ruhen gleichwie du. Und gedenke, daß du ein Knecht gewesen bist im Lande Ägypten, und daß der HERR, dein Gott, dich mit starker Hand und mit ausgestrecktem Arme von dannen herausgeführt hat; darum hat der HERR, dein Gott, dir geboten, den Sabbathtag zu feiern" (V. 12‑15).

 

Der Leser wird auf den ersten Blick den Unterschied zwischen diesen beiden Stellen erkennen. In 2. Mose 20 gründet sich das Gebot, den Sabbath zu halten, auf die Schöpfung, hier in unserem Kapitel dagegen auf die Erlösung, ohne irgendeinen Hinweis auf die Schöpfung. Der Unterschied ist, wie auch an früheren Stellen, begründet durch den besonderen Charakter, den jedes der beiden Bücher trägt.

 

Wir dürfen nicht vergessen, daß die Einsetzung des Sabbaths völlig auf der unmittelbaren Autorität des Wortes Gottes beruht. Andere Gebote stellen bestimmte sittliche Pflichten vor. Jedermann Weiß, daß Töten und Stehlen schlecht ist, aber die Beobachtung des Sabbaths würde niemand als eine Pflicht betrachtet haben, wenn sie nicht durch göttliche Autorität deutlich so bezeichnet worden wäre. Das macht die außerordentliche Bedeutung des Sabbaths aus. Sowohl in unserem Kapitel als auch in 2. Mose 20 steht er auf gleicher Linie mit all den großen sittlichen Pflichten, die von dem menschlichen Gewissen allge­mein anerkannt werden. Und nicht allein das, sondern wir finden in verschiedenen anderen Stellen, daß der Sabbath besonders hervorge­hoben und als ein bedeutendes Bindeglied zwischen dem HERRN und Israel dargestellt wird, als ein Siegel des Bundes zwischen Ihm und dem Volk und als ein Prüfstein seines Gehorsams dem HERRN gegen­über. Jedermann war imstande, das Böse eines Diebstahls oder eines Mordes zu erkennen, aber nur solche, die den HERRN und Sein Wort liebten, die ehrten und liebten auch den Sabbath (vgl. 2. Mose 16, 22‑30).

 

Am Schluß von 2. Mose 31 finden wir eine andere bemerkenswerte Stelle, die zeigt, wie wichtig der Sabbath ist und welch ein Interesse er in den Gedanken Gottes hat (vgl. V. 12‑17). Diese Stelle beweist eindeutig den unveränderlichen Charakter des Sabbaths. Die hier von Gott gebrauchten Ausdrücke: "Ein Zeichen zwischen mir und den Kindern Israel ewiglich", "ein ewiger Bund", "ein Zeichen ewiglich", beweisen ausreichend, daß der Sabbath für Israel war und daß er ferner nach den Gedanken Gottes eine bleibende Einrichtung sein sollte. Er wird nachdrücklich ein Zeichen zwischen dem HERRN und Seinem Volk Israel genannt. Man findet nicht die geringste Andeutung in der Schrift, daß auch die Nationen den Sabbath halten sollten. Wir werden zwar weiterhin sehen, daß er zugleich ein Vorbild von der Zeit der Wiederherstellung aller Dinge ist, wovon Gott von jeher durch den Mund Seiner heiligen Propheten geredet hat, doch das berührt in keiner Weise die Tatsache, daß er eine ausschließlich jüdische Einrich­tung ist. Man hat aus 1. Mose 2, 2. 3 zu beweisen versucht, daß der Sabbath mehr umfassen müsse als nur die jüdische Nation. Doch diese Stelle sagt: "Und Gott hatte am siebenten Tage sein Werk vollendet, das er gemacht hatte; und er ruhte am siebenten Tage von all seinem Werk, das er gemacht hatte. Und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn; denn an demselben ruhte er von all seinem Werk, das Gott geschaffen hatte, indem er es machte."

 

Der Mensch wird hier überhaupt nicht erwähnt. Es wird auch nicht gesagt, daß der Mensch am siebenten Tag ruhte. Man kann diesen Schluß vielleicht ziehen, aber die Stelle selbst sagt nichts davon. Wir suchen und im ganzen ersten Buch Moses vergeblich nach irgendeinem Hinweis auf den Sabbath. Die erste Erwähnung des Sabbaths in Ver­bindung mit dem Menschen finden wir in der angeführten Stelle in 2. Mose 16, und diese Stelle zeigt deutlich, daß der Sabbath Israel gegeben wurde als einem Volk, das in Bundesbeziehung zu dem HERRN stand. Daß Israel die Bedeutung des Sabbaths nicht verstand und ihn in seinem Wert nicht würdigte, ist ebenso klar. Doch wir reden jetzt davon, was der Sabbath in den Gedanken Gottes war, und Gott sagt uns, daß er ein Zeichen zwischen Ihm und Seinem Volk Israel sein sollte, ein Prüfstein für ihre sittliche Stellung und für den Zustand ihrer Herzen zu Ihm hin. Der Sabbath war nicht nur ein Teil des Gesetzes, der unlösbar damit verbunden war, sondern immer wieder wird auf ihn hingewiesen als auf eine Einrichtung, die einen besonderen Platz in den Gedanken Gottes einnahm (vgl. auch Jes. 56, 2‑7; 58,13.14).

 

Zum Schluß möchten wir noch auf eine Stelle hinweisen, die mit unserem Gegenstand in Verbindung steht: "Und der HERR redete zu Mose und sprach: Rede zu den Kindern Israel und sprich zu ihnen: Die Feste des HERRN, die ihr als heilige Versammlungen ausrufen sollt, meine Feste sind diese: Sechs Tage soll man Arbeit tun; aber am siebenten Tage ist ein Sabbath der Ruhe, eine heilige Versamm­lung; keinerlei Arbeit sollt ihr tun; es ist ein Sabbath dem HERRN in allen euren Wohnsitzen" (3. Mose 23, 1‑3).

 

Hier steht der Sabbath am Anfang der von dem HERRN angeordneten Feste, in denen wir die ganze Geschichte der Handlungen Gottes mit Seinem Volk Israel vorgebildet finden. Der Sabbath ist der Aus­druck der ewigen Ruhe Gottes, in die Er nach Seinem Vorsatz Sein Volk noch einführen wird, wenn alle seine Arbeit und Mühe, seine Prüfungen und Trübsale vorüber sind, ein schönes Vorbild von der gesegneten Sabbathruhe, die für das Volk Gottes übrigbleibt. Auf mancherlei Weise hat Gott diese herrliche Ruhe Seinem Volk vor­zustellen gesucht. Der siebte Tag, das siebte Jahr, das Jubeljahr, alle diese Sabbathzeiten waren dazu bestimmt, die gesegnete Zeit vorzu­bilden, in der Israel wieder gesammelt und in sein eigenes, geliebtes Land gebracht sein wird, um den Sabbath der Ruhe zu feiern, wie er nie gefeiert worden ist.

 

Das bringt uns zu dem zweiten Punkt, zu der Beständigkeit des Sabbaths. Ausdrücke wie: "immerwährend", "ein ewiges Zeichen", "bei allen Geschlechtern" sind nicht auf eine zeitweilige Einrichtung anwendbar. Leider hat Israel nie den Sabbath Gott gemäß gehalten. Das Volk verstand nie seine Bedeutung und Segnung. Es brüstete sich nur damit als einer nationalen Einrichtung und mißbrauchte ihn zu seiner Selbsterhebung; aber nie feierte es ihn in Gemeinschaft mit Gott. Wir reden natürlich von der Nation in ihrer Gesamtheit. Ohne Zweifel gab es zu allen Zeiten fromme Juden, die im verbor­genen sich des Sabbaths freuten und die Gedanken Gottes darüber verstanden. Aber als Volk hat Israel den Sabbath nie in einer Gott wohlgefälligen Weise gefeiert. Darum ruft auch der Herr dem Volk durch den Mund des Propheten zu: "Bringet keine eitle Opfergabe mehr! Räucherwerk ist mir ein Greuel. Neumond und Sabbath, das Berufen von Versammlungen: Frevel und Festversammlung mag ich nicht" (Jes. 1, 13).

 

Die schöne Einrichtung des Sabbaths, den Gott dem Volk als ein Zeichen Seines Bundes gegeben hatte, war also in ihren Händen zu einem verabscheuungswürdigen Greuel geworden. Und wenn wir das Neue Testament öffnen, so finden wir die Obersten und Führer des jüdischen Volkes in fortwährendem Streit mit dem Herrn Jesus über den Sabbath.

 

In Luk. 6, 1‑11 gewinnen wir einen tiefen Einblick in die Hohlheit und Wertlosigkeit der Sabbathfeier des Menschen. Die religiösen Phari­säer hätten lieber gesehen, daß die jünger vor Hunger umgekommen wären, als daß ihr Sabbath verletzt wurde. Es wäre ihnen lieber ge­wesen, wenn der Mensch seine dürre Hand bis zu seinem Ende ge­tragen hätte, als daß er an ihrem Sabbath geheilt wurde. Ach! es War in der Tat, ihr, nicht Gottes Sabbath. Seine Ruhe konnte sich nicht vertragen mit Hunger und dürren Händen. Die Schriftgelehrten ver­standen nicht, daß alle gesetzlichen Anordnungen weichen müssen, sobald die göttliche Gnade der menschlichen Not begegnen will. Die Gnade erhebt sich in ihrer Herrlichkeit über alle gesetzlichen Schran­ken, und der Glaube erfreut sich daran. Äußere Religiosität aber stößt sich an den Handlungen der Gnade und der Unerschrockenheit des Glaubens. Die Pharisäer wußten nicht, daß der Mensch mit der dürren Hand ein Bild von dem sittlichen Zustand des ganzen Volkes war, ein lebendiger Beweis, daß sie von Gott entfernt waren. Wären sie in einem richtigen, Gott wohlgefälligen Zustand gewesen, so hätte es in ihrer Mitte keine dürre Hand zu heilen gegeben. Aber sie waren voll­ständig von Gott abgewichen, und daher war ihr Sabbath eine leere Form, eine kraftlose Regel.

 

Ein anderes Beispiel finden wir in Luk. 13, 10‑16, in der Geschichte der Frau, die "achtzehn Jahre einen Geist der Schwachheit hatte".

 

Welch ein vernichtender Tadel! Welch eine Bloßstellung der Verderbt­heit des ganzen jüdischen Systems! Man beachte nur den auffallenden Gegensatz: ein Sabbath und eine achtzehn Jahre von der grausamen Hand Satans gebundene Tochter Abrahams! Es gibt nichts, was den Geist so verblendet, das Herz so verhärtet und den ganzen Menschen so verdirbt wie eine Religion ohne Christen. Die täuschende und er­niedrigende Macht einer solchen Religion kann nur im Licht der Gegenwart Gottes richtig erkannt werden. Was kümmerte den Syna­gogenvorsteher jene arme Frau? Sie mochte seinetwegen ihr Leben lang krank und ein trauriges Zeugnis von der Macht Satans sein. Er war zufrieden, wann er nur seinen Sabbath halten konnte. Nicht die Macht Satans rief seine Entrüstung hervor, sondern die Macht Christi, die sich in der Befreiung der Frau aus der Gefangenschaft Satans offen­barte. Aber die Antwort des Herrn war passend und niederschmet­ternd. " Und als er dies sagte, wurden alle seine Widersacher beschämt, und die Volksmenge freute sich über all die herrlichen Dinge, welche durch ihn geschahen." Welch ein Gegensatz! Auf der einen Seite werden die Verfechter einer wertlosen Religion entlarvt, beschämt und verwirrt, auf der anderen Seite freut sich die Volksmenge über die herr­lichen Werke des Sohnes Gottes, der in ihre Mitte gekommen war, um sie zu befreien aus der verderbenbringenden Macht Satans und um ihre Herzen mit Freude über die Erlösung Gottes und ihren Mund mit Seinem Preis zu füllen!

 

Die wichtige Frage bezüglich des Sabbaths wird auch in Joh. 5 berührt. Dort wird uns in treffender Weise der damalige Zustand Israels ge­schildert. Der Teich Bethesda zeigte deutlich das ganze Elend, in das der Mensch allgemein, und insbesondere Israel, versunken war. In seinen fünf Säulenhallen "lag eine Menge Kranker, Blinder, Lahmer, Dürrer, die auf die Bewegung des Wassers warteten". Eine treffende Darstellung des sittlichen Zustandes des Menschen vom göttlichen Standpunkt aus gesehen! "Blind, lahm und dürr", das ist der wirkliche Zustand des Menschen.

 

Unter diesen vielen Kranken lag ein Mensch, so schwach und hilflos, daß selbst das Wasser von Bethesda seinem Elend nicht abhelfen konnte. "Es war aber ein gewisser Mensch daselbst, der achtunddreißig Jahre mit seiner Krankheit behaftet war. Als Jesus diesen daliegen sah und wußte, daß es schon lange Zeit also mit ihm war, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden?‑ Welch eine Fülle von Gnade und Macht liegt in dieser Frage! Sie ging weit über die Gedanken des armen Kranken hinaus. Er dachte nur an menschliche Hilfe oder an seine eigene Fähigkeit, in den Teich hinabzusteigen. Er wußte nicht, daß der, der mit ihm sprach, mehr Macht hatte als der Teich mit seiner gelegentlichen Bewegung, daß Er über allem Dienst der Engel, über allen menschlichen Hilfsquellen stand, ja, daß Er alle Macht im Himmel und auf Erden besaß. Deshalb antwortete er ihm: "Herr, ich habe keinen Menschen, daß er mich, wenn das Wasser bewegt worden ist, in den Teich werfe; indem ich aber komme, steigt ein anderer vor mir hinab."

 

Das ist ein genaues Bild von denen, die ihr Heil in äußeren Einrich­tungen und Gebräuchen suchen. Jeder denkt nur an sich und sucht sich so gut wie möglich zu helfen. Keiner denkt an den anderen. jeder hat mit sich selbst genug zu tun. Wie ganz anders handelt die Gnade: „Jesus spricht zu ihm: Stehe auf, nimm dein Bett auf und wandle! Und alsbald ward der Mensch gesund und nahm sein Bett auf und wandelte. Es war aber an jenem Tage Sabbath."

 

Hier begegnen wir wieder dem Sabbath des Menschen. Es war gewiß nicht Gottes Sabbath. Die Menge der Elenden, die sich in den Hallen von Bethesda drängten, bewies nur zu deutlich, daß Gottes vollkom­mene Ruhe noch nicht gekommen und das herrliche Gegenbild des Sabbaths noch nicht über dieser sündigen Welt angebrochen war. Wenn dieser gesegnete Tag kommt, dann wird es keine Blinden, Lah­men und Dürren mehr unter dem Volk geben. Gottes Sabbath und menschliches Elend sind unvereinbar miteinander.

 

Der Sabbath war nicht mehr das Zeichen des Bundes zwischen Gott und dem Samen Abrahams, wie er es einst gewesen war und in Zu­kunft sein wird, sondern das Merkmal der Selbstgerechtigkeit des Menschen. "Es sagten nun die Juden zu dem Geheilten: Es ist Sabbath, es ist dir nicht erlaubt, das Bett zu tragen ... Und darum verfolgten die Juden Jesum und suchten ihn zu töten, weil er dies am Sabbath tat." Welch ein Schauspiel! Die religiöse Menge, sogar die Leiter und Führer des bekennenden Volkes Gottes, suchen den Herrn des Sabbaths zu töten, weil Er einen Menschen am Sabbath gesund gemacht hatte! Doch was antwortet ihnen der Herr? Seine Worte sind sehr beachtens­wert. Er sagt: "Mein Vater wirkt bis jetzt, und ich wirke". Diese Antwort legt die Wurzel der ganzen Sache bloß. Sie zeigt uns den traurigen Zustand der menschlichen Gesellschaft, stellt uns aber auch das Geheimnis des Lebens und des Dienstes unseres Herrn vor. Er kam nicht in diese Welt, um zu ruhen. Wie konnte Er ruhen? Wie hätte die göttliche Liebe angesichts eines solchen Zustandes der Dinge ruhen können? Unmöglich! Auf dem Schauplatz der Sünde und des Elends kann die Liebe nicht anders als tätig sein. Sobald der Mensch fiel, begann der Vater zu wirken. Dann erschien der Sohn, um das Werk fortzusetzen, und jetzt ist der Heilige Geist wirksam. In einer Welt wie diese ist nicht Ruhe, sondern Wirken die göttliche Ordnung. "Also bleibt noch eine Sabbathruhe dem Volke Gottes aufbewahrt" (Hebr. 4, 9).

 

Unser Herr ging umher und tat Gutes am Sabbath wie an jedem anderen Tag, und nachdem Er Sein Werk der Erlösung vollendet hatte, brachte Er den Sabbath im Grab zu, aus dem Er am ersten Tag der Woche, als der Erstgeborene aus den Toten und als Haupt der neuen Schöpfung, auferstand. In dieser neuen Schöpfung sind alle Dinge von Gott, und wir dürfen wohl hinzufügen, daß auf die neue Schöpfung Begriffe wie "Tage und Monate und Zeiten und Jahre" nicht angewendet werden können. Wer die Bedeutung des Todes und der Aufer­stehung Christi versteht wird die Beobachtung von Tagen nicht aner­kennen. Der Tod Christi machte dieser ganzen Ordnung ein Ende, und Seine Auferstehung führt uns in einen ganz neuen Bereich ein, wo es unser gro es Vorrecht ist, in dem Licht und der Macht der ewigen Wirklichkeiten zu leben, die in Christus Jesus unser sind und die in krassem Gegensatz stehen zu den abergläubischen Gebräuchen und Zeremonien einer fleischlichen und weltlichen Religiosität.

 

Wir kommen jetzt zu einem anderen höchst interessanten Punkt, der mit diesem Gegenstand in Verbindung steht, nämlich zu dem Unter­schied zwischen dem Sabbath und dem Tag des Herrn oder dem ersten Tag der Woche.

 

Es ist bereits erwähnt worden, daß unser Herr den Sabbath im Grab zubrachte. Das ist eine bedeutungsvolle Tatsache. Sie zeigt, daß der alte Zustand der Dinge beseitigt und daß es unmöglich ist, in einer Welt der Sünde und des Todes einen Sabbath zu halten. Die Liebe konnte in einer solchen Welt nicht ruhen. Sie konnte nur wirken und sterben. Das ist die Überschrift über der Gruft, in der der Herr des Sabbaths begraben lag.

 

Aber was bedeutet der erste Tag der Woche? Ist er nicht der Sabbath auf einer neuen Grundlage, der christliche Sabbath? Im Neuen Testa­ment wird er nie genannt. In der Apostelgeschichte werden diese beiden Tage deutlich unterschieden. Am Sabbath finden wir die Juden in ihren Synagogen versammelt, um das Gesetz und die Propheten zu lesen, und am ersten Tag der Woche die Christen zum Brechen des Brotes. Diese beiden Dinge sind so klar voneinander unterschieden wie Juden­tum und Christentum. Die Schrift bietet nicht den geringsten Anlaß zu dem Gedanken, daß der Sabbath auf den ersten Tag der Woche ver­legt worden sei. Der Sabbath ist nicht bloß irgendein siebter, sondern der siebte Tag. Das ist wohl zu beachten, da manche meinen, es sei im Alten Bund eben nur ein Siebtel der Zeit zur leiblichen Ruhe und zur öffentlichen Ausübung der religiösen Satzungen vorgesehen worden, und es tue gar nichts zur Sache, welchen Tag man dazu benutze. Wir brauchen nicht zu sagen, daß dies verkehrt ist. Der Sabbath im Para­dies war der siebte Tag, und der Sabbath für Israel war ebenfalls der siebte Tag. Aber der achte Tag lenkt unsere Gedanken vorwärts in die Ewigkeit, und im Neuen Testament wird er "der erste Tag der Woche" genannt, um den Anfang jener neuen Ordnung der Dinge zu bezeich­nen, von der das Kreuz die Grundlage und der auferstandene Christus das verherrlichte Haupt ist. Diesen Tag etwa den "christlichen Sabbath" zu nennen, heißt, irdische und himmlische Dinge miteinander zu ver­mengen, den Christen aus seiner erhabenen Stellung, als vereinigt mit einem auferstandenen und verherrlichten Haupt in den Himmeln, herabzuziehen und ihn mit der abergläubischen Beobachtung von Tagen zu beschäftigen, einer Sache, die der Apostel an den Galatern so ernst rügt.

 

Die Kirche, obwohl auf Erden, ist nicht von dieser Welt, wie auch Christus nicht von dieser Welt ist. Ihr Ursprung ist himmlisch; und darum sind auch ihr Charakter, ihre Grundsätze, ihr Wandel und ihre Hoffnung himmlisch. Sie steht gleichsam zwischen dem Kreuz und der Herrlichkeit. Die beiden Endpunkte ihres Bestehens auf der Erde sind der Pfingsttag, an dem der Heilige Geist herniederkam und sie bildete, und die Ankunft des Herrn, um sie aufzunehmen.

 

Alles das ist im Wort Gottes klar und verständlich dargestellt. Jeder Versuch, der Kirche Gottes die gesetzliche oder abergläubische Beach­tung von "Tagen und Monaten und Zeiten und Jahren" vorzuschreiben, ist eine Verfälschung der christlichen Stellung, ein Angriff auf die Vollständigkeit der göttlichen Offenbarung und eine Beraubung des Christen, denn dadurch werden ihm der Platz und das Teil genommen, die ihm durch die unendliche Gnade Gottes und das vollbrachte Werk Jesu Christi gehören. Daß dieses Urteil nicht zu hart und zu streng ist, beweist die bekannte Stelle aus Kol. 2, 16‑23, die mit unauslöschlicher Schrift in unser aller Herzen eingegraben sein sollte.

 

Das Verständnis dieser Schriftstelle wirft nicht nur Licht auf den Cha­rakter des Sabbaths, sondern auch auf das ganze System, das damit zusammenhängt. Wenn ein Christ seine Stellung wirklich versteht, so ist er für immer fertig mit allen Fragen über Speise und Trank, Tage und Monate, Zeiten und Jahre. Er weiß nichts von besonderen Zeiten und Orten. Er ist mit Christus den Elementen der Welt gestorben und deshalb befreit von allen Satzungen einer überlieferten Religion. Er gehört zum Himmel, wo von Neumonden, besonderen Tagen und Sabbathen keine Rede mehr ist. Er gehört der neuen Schöpfung an, in der alle Dinge von Gott sind. Worte wie: "berühre nicht, koste nicht, betaste nicht“ haben für ihn keine Bedeutung mehr. Für uns gilt vielmehr: "Wenn ihr nun mit dem Christus auferweckt worden seid, so suchet, was droben ist, wo der Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes. Sinnet auf das, was droben ist, nicht auf das, was auf der Erde ist; denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist verborgen mit dem Christus in Gott. Wenn der Christus, unser Leben, geoffenbart werden wird, dann werdet auch ihr mit ihm geoffenbart werden in Herrlichkeit. Tötet nun eure Glieder, die auf der Erde sind" (Kol. 3, 1‑5).

 

Das ist wirkliches, lebendiges Christentum. Das christliche Leben besteht nicht im Halten gewisser Regeln, Gebote und Oberlieferungen der Men­schen, sondern darin, daß Christus im Herzen wohnt und im täglichen Leben gesehen wird durch die Kraft des Heiligen Geistes. Es ist der neue Mensch, der gebildet ist nach dem Vorbild Christi selbst und der sich in den kleinen Dingen des täglichen Lebens offenbart, in der Fami­lie, im Beruf, in unserem Umgang mit anderen und in unserem Wesen, in unserer Unterhaltung und unseren Verhaltensweisen. Es ist nicht eine Sache bloßen Bekenntnisses oder wechselnder Meinungen und Gefühle. Es ist eine unveränderliche, lebendige Wirklichkeit. Es ist gleichsam das in dem Herzen aufgerichtete Reich Gottes, das seinen belebenden und gesegneten Einfluß ausübt auf unser ganzes Wesen und Denken sowie auf die Umwelt, in der wir uns täglich bewegen müssen. Es ist der Christ, der in den Fußstapfen Christi geht, der nicht für sich selbst, sondern für andere lebt, dessen Freude es ist, zu dienen, zu geben und Mitgefühl zu zeigen und Trost zu bringen, wo immer es nötig ist.

 

Bevor wir nun diesen interessanten Gegenstand verlassen, wollen wir noch einige Worte über den Platz sagen, den der Tag des Herrn oder der erste Tag der Woche im Neuen Testament einnimmt. Wenn er auch nichts mit dem Sabbath, besonderen Tagen und Neumonden zu tun hat, so nimmt er doch einen bedeutenden Platz im Christentum ein, was viele Stellen in den Schriften des Neuen Testaments beweisen.

 

An diesem Tag ist unser Herr aus den Toten auferstanden. An diesem Tag erschien Er wiederholt Seinen Jüngern. An diesem Tag kamen der Apostel Paulus und die Brüder in Troas zusammen, um das Brot zu brechen (Apg. 20, 7). Der Apostel belehrt die Korinther und alle, die an jedem Ort den Namen unseres Herrn Jesus Christus anrufen, daß sie an jedem ersten Wochentag etwas für die Kollekte zurücklegen sollen, und zeigt uns somit deutlich, daß der erste Tag der Woche der besondere Tag war, an dem das Volk des Herrn sich versammelte, um das Abendmahl des Herrn zu feiern, und daß die Anbetung, die Gemeinschaft und der Dienst zur Auferbauung mit diesem Tag in Ver­bindung stehen. Der Apostel Johannes sagt uns ausdrücklich, daß er an diesem Tag im Geist war und die wunderbare Offenbarung empfing, die den Schluß des göttlichen Buches bildet.

 

Der erste Tag der Woche ist also für den wahren Christen weder der jüdische Sabbath noch der heidnische Sonntag, sondern der Tag des Herrn, an dem sich Sein Volk dankbar an Seinem Tisch versammelt, um das bedeutsame Fest zu feiern, durch das sie Seinen Tod verkün­digen, bis Er kommt. Mit dem ersten Tag der Woche ist nicht eine Spur gesetzlicher Knechtschaft verbunden. Wir haben kein ausdrückliches Gebot, das uns die Beachtung dieses Tages zur Pflicht macht; aber die oben angeführten Schriftstellen werden jeden geistlich gesinnten Christen überzeugen, und die göttliche Natur wird ihn anleiten, den Tag des Herrn zu lieben, zu ehren und ihn von den übrigen Tagen zu unterscheiden, weil er zur Anbetung und zur eigenen Auferbauung bestimmt ist. Kann jemand bekennen, Christus zu lieben und dabei den Tag des Herrn zu allerlei unnötigen Geschäften und Verrichtungen benutzen? Wir halten es für ein besonderes Vorrecht, uns soviel wie möglich von den Zerstreuungen der alltäglichen und irdischen Dinge zurückzuziehen und die Stunden am Tag des Herrn Ihm selbst und Seinem Dienst zu weihen.

 

jemand könnte einwenden, daß der Christ doch jeden Tag dem 'Herrn weihen solle. Das ist sicher wahr, denn wir gehören dem Herrn, ja, alles, was wir haben und sind, gehört Ihm. Wir sind berufen, alles in Seinem Namen und zu Seiner Verherrlichung zu tun. Wir sollten die ganze Woche hindurch nichts anfangen, wozu wir nicht den Segen des Herrn erflehen könnten. Trotzdem aber werden wir im Neuen Testa­ment belehrt, daß der Tag des Herrn einen besonderen Platz einnimmt und daß er eine Bedeutung hat, die auf keinen anderen Tag der Woche übertragen werden kann. Wir halten es daher für unsere heilige Pflicht, uns am Tag des Herrn von allen Beschäftigungen zurückzuziehen, so­weit sie nicht unvermeidlich sind, und wir dürfen es gewiß mit Dank gegen Gott anerkennen, daß der Tag des Herrn schon durch mensch­liche Gesetze angeordnet wird.

 

Welch ein Geschenk ist der Tag des Herrn, an dem wir uns gänzlich von weltlichen Dingen abwenden können! Welch eine gesegnete Unterbrechung der mühsamen Beschäftigungen der Woche! Wie erfrischend sind die ruhigen Stunden für ein geistliches Gemüt! Wie erhaben die Versammlung um den Tisch des Herrn zu Seinem Gedächtnis, um Sei­nen Tod zu verkündigen und Ihm Preis und Anbetung darzubringen! Wie erfreulich sind die verschiedenen Dienste am Tag des Herrn, seien es die der Evangelisten, der arten, der Lehrer, der Sonntagschulhalter oder der Kolporteure! Wer ermißt, wie groß Wert und Nutzen dieser Dienste sind? Der Tag des Herrn ist für Seine Diener mehr als ein Tag körperlicher Ruhe. Er ist in Wirklichkeit oft anstrengender als jeder andere Tag der Woche. Aber es ist eine gesegnete Anstrengung, die ihren herrlichen Lohn empfangen wird in der Ruhe, die dem Volk Gottes noch bleibt.

 

Abschließend sei noch einem Einwand begegnet, den man heute oft hört: "Da wir nicht mehr unter Gesetz sind, so besteht auch keine Verpflichtung für uns, den Sonntag zu halten." Eine große Menge bekennender Christen nimmt diesen Standpunkt ein und verteidigt ihre Sonntagsvergnügungen als erlaubte Erholungen. Man will das Gesetz beseitigen, um sich Freiheiten zur Befriedigung des Fleisches zu ver­schaffen. Man versteht nicht, daß der einzige Weg zur Befreiung vom Gesetz darin besteht, daß man ihm gestorben ist, und wenn man dem Gesetz gestorben ist, muß man auch zwangsläufig der Sünde und der Welt gestorben sein. Der Christ ist, Gott sei Dank, frei vom Gesetz, aber nicht, um sich am Tag des Herrn oder an einem anderen Tag zu vergnügen und sich selbst zu befriedigen, sondern um Gott zu leben. "Denn ich bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben, auf daß ich Gott lebe" (Gal. 2. ig). Das ist die christliche Grundlage. Auf dieser Grund­lage stehen nur die, die aus Gott geboren sind. Und doch sind die Völker und auch der einzelne soweit verantwortlich, wie ihr Bekenntnis geht. Die Völker, die das christliche Bekenntnis tragen, werden nicht nach dem Zeugnis, das durch die Schöpfung vorhanden ist, oder nach dem Gesetz gerichtet werden, sondern nach dem vollen Licht des Christentums, nach all den Wahrheiten, die in dem gesegneten Buch, der Bibel, enthalten sind. Die Heiden werden entsprechend dem Zeugnis von Gott durch die Schöpfung, die Juden aufgrund des Gesetzes, und die Namenschristen aufgrund der christlichen Wahrheiten gerichtet werden.

 

Das macht die Verantwortung aller bekennenden christlichen Völker sehr groß. Gott wird entsprechend ihrem Bekenntnis mit ihnen handeln. Es nützt nichts, zu sagen, daß sie nicht verstehen, was sie bekennen.

 

Warum bekennen sie denn, was sie nicht verstehen noch glauben? Tat­sache ist, daß sie bekennen zu verstehen und zu glauben, und danach werden sie gerichtet werden. Wie ernst ist der Gedanke, nach dem Maßstab des Wortes Gottes gerichtet zu werden! Welch ein Gericht wird sie treffen! Was wird ihr Ende sein!

 

Wir wollen noch kurz auf die Schlußverse des fünften Kapitels ein­gehen. Nachdem Mose dem Volk noch einmal die zehn Gebote vorge­stellt hat, fährt er fort, sie an die Begleitumstände der Gesetzgebung sowie an ihre eigenen Empfindungen und Äußerungen bei dieser Ge­legenheit zu erinnern (V. 22‑33).

 

Der Hauptgrundsatz des fünften Buches Mose erscheint hier wieder in sehr schönem Glanz. Er ist eingekleidet in zu Herzen gehende Worte, die den Kern dieser Stelle bilden: "Möchte doch dieses ihr Herz ihnen bleiben, mich allezeit zu fürchten und alle meine Gebote zu beobachten, auf daß es ihnen und ihren Kindern wohlgehe ewiglich!" (V. 29).

 

Welche Worte! Sie zeigen uns, daß die Quelle des Lebens in einfäl­tigem, unbedingtem Gehorsam besteht. Dieses Leben sollen wir als Christen täglich offenbaren, indem wir den Herrn fürchten, nicht in einem knechtischen Geist, sondern mit wahrer, anbetender Liebe, die der Heilige Geist in unsere Herzen ausgegossen hat. Ein solches Leben erfüllt das Herz unseres liebenden Vaters mit Freude. Sein Wort an uns ist: "Gib mir, mein Sohn, dein Herz!" Haben wir Ihm unser Herz gegeben, so folgt alles andere von selbst. Ein Mensch, der Gott liebt, wird gerne alle Gebote Gottes beobachten und tun. Nichts hat Wert für Gott, was nicht aus der Liebe zu Ihm entspringt. Das Herz ist der Ausgangspunkt des Lebens. Wird es von der Liebe Gottes regiert, so wird sich das in der Befolgung Seiner Gebote äußern. Wir lieben Seine Gebote, weil wir Ihn lieben. Jedes Wort Gottes ist wertvoll für ein Herz, das Ihn liebt. Jeder Befehl, jede Satzung, jedes Urteil, mit einem Wort, Sein ganzes Gesetz wird geliebt und geehrt, weil Sein Name und Seine Autorität damit verbunden sind.

 

In Psalm 119 finden wir sehr schöne Erläuterungen hierfür und zugleich das ermunternde Beispiel eines Menschen, der seine tiefe und bleibende Freude an dem Gesetz gefunden hat. Genau hundertsechsundsiebzig Aussprüche über das Wort und das Gesetz finden wir in diesem wun­derbaren Psalm. Einige davon lauten:

 

"In meinem Herzen habe ich dein Wort verwahrt, auf daß ich nicht wider dich sündige." "An dem Wege deiner Zeugnisse habe ich mich erfreut wie über allen Reichtum." "Ober deine Vorschriften will ich sinnen und acht haben auf deine Pfade." "An deinen Satzungen habe ich meine Wonne; deines Wortes werde ich nicht vergessen." "Zermalmt ist meine Seele vor Verlangen nach deinen Rechten zu aller Zeit." "ich hange an deinen Zeugnissen." "Siehe, ich verlange nach deinen Vor­schriften." "Ich harre auf deine Rechte." "Ich vertraue auf dein Wort." "Ich werde meine Wonne haben an deinen Geboten, die ich liebe." "Deine Satzungen sind meine Gesänge gewesen im Hause meiner Fremdlingschaft." "Besser ist mir das Gesetz deines Mundes als Tau­sende von Gold und Silber." "Ich habe auf dein Wort geharrt." "Dein Gesetz ist meine Wonne." "Alle deine Gebote sind Treue." "In Ewig­keit, HERR, steht dein Wort fest in den Himmeln." "Nimmermehr werde ich deine Vorschriften vergessen." "Wie liebe ich dein Gesetz! Es ist mein Sinnen den ganzen Tag." "Wie süß sind meinem Gaumen deine Worte, mehr als Honig meinem Munde!" "Deine Zeugnisse habe ich mir als Erbteil genommen auf ewig, denn meines Herzens Freude sind sie." "Darum liebe ich deine Gebote mehr als Gold und gediegenes Gold." Darum halte ich alle deine Vorschriften für recht." "Wunder­bar sind deine Zeugnisse." "Ich habe meinen Mund weit aufgetan und gelechzt, denn ich habe verlangt nach deinen Geboten." "Wohlgeläutert ist dein Wort." "Gerechtigkeit sind deine Zeugnisse ewiglich." "Wohl­geläutert ist dein Wort." "Gerechtigkeit sind deine Zeugnisse ewig­lich.‑ "Alle deine Gebote sind Wahrheit." Die Summe deines Wortes ist Wahrheit, und alles Recht deiner Gerechtigkeit währt ewiglich." "Ich freue mich über dein Wort wie einer, der große Beute findet. "Große Wohlfahrt haben die, die dein Gesetz lieben." "Meine Seele hat deine Zeugnisse bewahrt, und ich liebe sie sehr."

 

Wie bedeutend ist das alles für uns! Wie belebend und ermutigend ist es zu sehen, wie der Herr selbst zu jeder Zeit sich auf die Schrift stützte, welchen Platz Er ihr gab und mit welcher Würde Er sie zitierte! Bei jeder Gelegenheit berief Er sich auf das Wort als auf eine göttliche Autorität, die alles entscheidet. Obgleich Er Gott war über alles, obgleich Er selbst das göttliche Buch gegeben hatte, nahm Er doch auf Erden Seinen Platz als Mensch ein und zeigte unzweideutig, daß es die Pflicht und das Vorrecht des Menschen ist, durch das Wort Gottes zu leben und sich in Ehrfurcht und Seine göttliche Autorität zu beugen.

 

Zugleich finden wir hier eine befriedigende Antwort auf die oft aufge­worfene Frage des Unglaubens: "Wie können wir wissen, daß die Bibel Gottes Wort ist?" Alle, die an Christus glauben und bekennen, daß Er der Sohn Gottes ist, Gott geoffenbart im Fleische, das heißt wahrer Gott und wahrer Mensch, werden tief beeindruckt davon sein, daß diese göttliche Person sich beständig auf die Schriften, auf Mose, auf die Propheten und die Psalmen berief. Er erkannte sie als das Wort Gottes an. Als Gott gab Er die Schriften, als Mensch empfing Er sie, lebte durch sie und erkannte ihre höchste Autorität in allen Dingen an. Welch eine niederschmetternde Tatsache ist das für die bekennende Kirche und vor allem für die christlichen Theologen und Schriftsteller, die sich anmaßen, die große Grundwahrheit von der Inspiration der Heiligen Schrift und besonders der fünf Bücher Moses zu leugnen! Wie furchtbar ist der Gedanke, daß solche, die sich Lehrer der Kirche Gottes nennen, nicht davor zurückschrecken, Schriften als unecht zu bezeichnen, die unser Herr und Meister selbst als göttlich anerkannte.

 

Wohin ist die Christenheit gekommen! Und ach, das Zeugnis der Heiligen Schrift von Anfang bis zu Ende, Propheten und Apostel, be­weisen einstimmig, daß der gegenwärtige Zustand sich nicht etwa all­mählich bessern, sondern immer trauriger und schlechter werden wird, und daß, bevor die Herrlichkeit des tausendjährigen Reiches die Erde er­freuen kann, das Schwert des Gerichts sein schreckliches Werk tun muß.

 

Damit soll nicht gesagt sein, daß wir dem Guten die Anerkennung ver­sagen, das geschehen ist und noch geschieht. Wir danken Gott für jedes noch so kleine Werk. Wir freuen uns über jede Bemühung zur Aus­breitung des herrlichen Evangeliums der Gnade Gottes; wir danken für jede Seele, die der Gemeinschaft der Erlösten Gottes zugeführt wird. Wir freuen uns über die vielen Millionen Bibeln, die über die ganze Erde verbreitet sind. Wer könnte die segensreichen Folgen der Verbrei­tung des göttlichen Buches ausdenken? Aber trotzdem wird sich die Welt durch die Mittel, die heute angewandt werden, nicht bekehren. Die Schrift sagt uns, daß dann, wenn die Gerichte Gottes die Erde treffen, die Bewohner des Erdkreises Gerechtigkeit lernen (Jes. 26, 9). Nicht durch Gnade, sondern durch Gericht wird das geschehen.

 

Aber was ist dann der Zweck des Evangeliums? Wozu wird es gepre­digt, wenn nicht zur Bekehrung der Welt? Der Apostel Jakobus gibt in seiner Rede vor dem Konzil in Jerusalem eine eindeutige Antwort auf diese Frage. Er sagt: "Simon hat erzählt, wie Gott zuerst die Nationen heimgesucht hat, um aus ihnen ein Volk zu nehmen für seinen Namen", nicht aber, "um die Nationen zu bekehren". Das führt uns den großen Zweck aller Missionsarbeit vor Augen, den jeder Missionar bei seiner Tätigkeit stets verfolgen sollte: "aus ihnen (den Nationen) ein Volk zu nehmen für seinen Namen".

 

Es ist völlig klar, daß die Apostel unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus, als sie an die Arbeit gingen, nicht daran dachten, die Welt zu bekehren. "Gehet hin in die ganze Welt und predigt das Evangelium der ganzen Schöpfung. Wer da glaubt und getauft wird, wird errettet werden; wer aber nicht glaubt, wird verdammt werden" (Mark. 16, 15). Die Welt war also das Wirkungsfeld der Zwölf. Ihre Botschaft war be­stimmt für die ganze Schöpfung, konnte aber nur auf den angewendet werden, der glaubt. Es war eine ganz persönliche Sache. Die Zwölf hatten nicht den Auftrag, die Welt zu bekehren. Erst dann, wenn durch die Predigt des Evangeliums ein Volk für den Himmel gesammelt und dorthin versetzt ist, wird nach schrecklichen Gerichten die Zeit kommen, wo die "Erde voll sein wird der Erkenntnis des HERRN".*) Am Pfingsttag kam der Heilige Geist vom Himmel hernieder, nicht um die Welt zu bekehren, sondern um sie zu "überführen" von ihrer Schuld an der Verwerfung des Sohnes Gottes. Seine Gegenwart bewirkte die Überführung der Welt, und der wichtigste Zweck Seines Kommens war es, einen Leib von Gläubigen aus den Juden und aus den Heiden zu bilden. Das war das Geheimnis, dessen Diener Paulus wurde, und das er in solch gesegneter Weise im Epheserbrief entfaltet hat. Es ist unmöglich, diese Wahrheit zu kennen und trotzdem festzuhalten, daß die Bekehrung der Welt und die Bildung des Leibes Christi zu gleicher Zeit stattfinden können.

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*) Wir bitten den Leser, aufmerksam den 67. Psalm zu lesen. Er beweist neben vielen anderen Schriftstellen, daß die Segnung der Nationen erst auf die Wiederherstellung Israels folgt. "Gott sei uns gnädig und segne uns, er lasse sein Angesicht leuchten über uns, daß man auf der Erde erkenne deinen Weg, unter allen Nationen deine Rettung! ... Gott wird uns segnen, und alle Enden der Erde werden ihn fürchten." Gibt es einen schöneren und zugleich kräftigeren Beweis dafür, daß nicht die Kirche, sondern Israel zur Segnung der Nationen benutzt werden wird?

 

Was der besondere Gegenstand im Dienst des Apostels Paulus war, zeigen uns die Schriftstellen wie Eph. 3, 1‑10 und Kol. 1, 23‑29. Der Gedanke an eine Bekehrung der Welt kam ihm sicherlich nie in den Sinn. Er predigte das Evangelium in seiner ganzen Tiefe und Kraft "von Jerusalem an und ringsumher bis nach Illyrikum"; er verkündigte "unter den Nationen den unausforschlichen Reichtum des Christus", aber nie mit der Absicht, die Welt zu bekehren. Er wußte und lehrte, daß die Welt schnell dem Gericht entgegenreift, daß "böse Menschen und Gaukler im Bösen fortschreiten werden" und "daß in späteren Zeiten etliche von dem Glauben abfallen werden, indem sie achten auf betrügerische Geister und Lehren von Dämonen, die in Heuchelei Lügen reden und betreffs des eigenen Gewissens wie mit einem Brenneisen gehärtet sind". Ferner lehrt dieser treue und göttlich inspirierte Zeuge, daß "in den letzten Tagen", das heißt unmittelbar vor der Ankunft des Herrn, "schwere Zeiten da sein werden; denn die Menschen werden eigenliebig sein, geldliebend, prahlerisch, hochmütig, Lästerer, den Eltern ungehorsam, undankbar, heillos, ohne natürliche Liebe, unver­söhnlich, Verleumder, unenthaltsam, grausam, das Gute nicht liebend, Verräter, verwegen, aufgeblasen, mehr das Vergnügen liebend als Gott, die eine Form der Gottseligkeit haben, deren Kraft aber verleugnen" (l. Tim. 4, 1‑3; 2. Tim. 3, 1‑5).

 

Welch ein Bild! Es erinnert uns an den Schluß von Römer 1, wo wir eine ähnliche Schilderung finden, nur mit dem Unterschied, daß dort die Greuel des Heidentums aufgezeichnet sind, während es sich hier nicht um das Heidentum, sondern um das Namenschristentum, um "eine Form der Gottseligkeit" handelt. Das ist also das Ende der Christenheit! Das ist die bekehrte Welt, von der man soviel redet! Ach, es gibt falsche Propheten rings um uns her. Sie rufen "Friede! Friede!" und da ist doch kein Friede. Sie versuchen, die verfallenen Mauern des Christentums zu übertünchen. Aber all ihr Bemühen ist umsonst, all ihre Arbeit vergeblich Das Gericht steht vor der Tür. Die beken­nende Kirche hat schrecklich gefehlt. Sie ist in trauriger Weise abge­wichen von dem Wort Gottes und hat sich empört gegen die Autorität ihres Herrn. Es gibt auch nicht einen einzigen Hoffnungsstrahl für die bekennende Christenheit. Der Apostel Paulus sagt uns, daß das "Ge­heimnis der Gesetzlosigkeit" schon zu seiner Zeit wirksam war. Es ist also jetzt schon mehr als neunzehnhundert Jahre wirksam. "Nur ist jetzt der, welcher zurückhält, bis er aus dem Wege ist, und dann wird der Gesetzlose geoffenbart werden, den der Herr Jesus verzehren wird durch den Hauch seines Mundes und vernichten durch die Erscheinung seiner Ankunft, ihn, dessen Ankunft nach der Wirksamkeit des Satans ist, in aller Macht und allen Zeiten und Wundem der Lüge und in allem Betrug der Ungerechtigkeit denen, die verloren gehen, darum daß sie die Liebe zur Wahrheit nicht annahmen, damit sie errettet würden. Und deshalb sendet ihnen Gott eine wirksame Kraft des Irrwahns, daß sie der Lüge glauben, auf daß alle gerichtet werden, die der Wahr­heit nicht geglaubt, sondern Wohlgefallen gefunden haben an der Ungerechtigkeit" (2. Thess. 2, 7‑12).

 

Welch ein schreckliches Los! Und alles das angesichts der Träume fal­scher Propheten, die den Zustand der Dinge schön und glänzend dar­zustellen suchen. ja, gepriesen sei Gott, es gibt Herrliches für alle, die Christus angehören! Ihnen ruft der Apostel die ermunternden Worte zu: "Wir aber sind schuldig, Gott allezeit für euch zu danken, vom Herrn geliebte Brüder, daß Gott euch von Anfang erwählt hat zur Seligkeit in Heiligung des Geistes und im Glauben an die Wahrheit, wozu er euch berufen hat durch unser Evangelium, zur Erlangung der Herrlichkeit unseres Herrn Jesus Christus" (2. Thess. 2, 13. 14).

 

Hier haben wir die herrliche und glückselige Hoffnung der Kinder Gottes, den "glänzenden Morgenstern" zu sehen. Auf dieses Ereig­nis warten alle Christen, die im Wort Gottes unterwiesen sind. Sie warten nicht auf eine verbesserte oder bekehrte Welt, sondern auf ihren kommenden Herrn und Heiland, der hingegangen ist, eine Stätte für sie in dem Haus Seines Vaters zu bereiten, von woher Er wiederkommen wird, um sie zu sich zu nehmen, auf daß, wo Er ist, auch sie seien. Das ist Seine eigene Verheißung, die jeden Augenblick in Erfüllung gehen kann. Er verzieht nur, wie Petrus sagt, in lang­mütiger Gnade, da Er nicht will, daß jemand verloren gehe, sondern daß alle zur Buße kommen. Aber wenn durch den Heiligen Geist dem Leib Christi das letzte Glied hinzugefügt ist, so wird die Stimme des Erzengels und die Posaune Gottes erschallen, und alle Erlösten werden ihrem herniederkommenden Herrn begegnen "in der Luft", um allezeit bei Ihm zu sein.

 

Kapitel 6

 

"DER HERR, UNSER GOTT, IST EIN EINIGER HERR!‑

 

"Und dies sind die Gebote, die Satzungen und die Rechte, welche der HERR, euer Gott, geboten hat, euch zu lehren, damit ihr sie tuet in dem Lande, wohin ihr hinüberziehet, um es in Besitz zu nehmen; auf daß du den HERRN, deinen Gott, fürchtest alle Tage deines Lebens, um zu beobachten alle seine Satzungen und seine Gebote, die ich dir gebiete, du und dein Sohn und deines Sohnes Sohn, und auf daß deine Tage sich verlängern. So höre denn, Israel, und achte darauf, sie zu tun, damit es dir wohlergehe, und ihr euch sehr mehret ‑so wie der HERR, der Gott deiner Väter, zu dir geredet hat ‑‑ in einem Lande, das von Milch und Honig fliegt! Höre, Israel: Der HERR, unser Gott, ist ein einiger HERRF' (V. 1‑4).

 

Wir finden hier die große Grundwahrheit, die zu bewahren das Volk Israel ganz besonders berufen war, nämlich die Wahrheit, daß Gott ein einiger Gott ist. Diese Wahrheit bildete eigentlich die Grundlage des ganzen jüdischen Systems. So lange das Volk an dieser Wahrheit festhielt, war es glücklich und gesegnet; sobald es aber diese Wahrheit fallenließ, war alles verloren. Diese Wahrheit zeichnete Israel vor allen Nationen der Erde aus. Das Volk war berufen, sie zu bekennen an­gesichts einer götzendienerischen Welt mit "ihren vielen Göttern und vielen Herren". Es war Israels Vorrecht und seine heilige Pflicht, ständig Zeugnis von der Einheit Gottes abzulegen. Schon Abraham, ihr Vater, war berufen worden, aus seiner götzendienerischen Um­gebung auszuziehen, um ein Zeugnis für den einen wahren und lebendigen Gott zu sein.

 

Im letzten Kapitel des Buches Josua finden wir einen ernsten Hinweis darauf, verbunden mit einer eindringlichen Ermahnung, die Josua in seiner letzten Ansprache an das Volk richtet. Wir lesen dort: "Und Josua versammelte alle Stämme Israels nach Sichem, und er berief die Ältesten von Israel und seine Häupter und seine Richter und seine Vorsteher; und sie stellten sich vor Gott. Und Josua sprach zu dem ganzen Volke: So spricht der HERR, der Gott Israels: Eure Väter wohnten vor alters jenseit des Stromes, Tarah, der Vater Abrahams und der Vater Nahors, und sie dienten anderen Göttern. Und ich nahm Abraham, euren Vater, von jenseits des Stromes und ließ ihn durch das Land Kanaan wandern, und ich mehrte seinen Samen und gab ihm Isaak" (Jos. 24, 1‑3).

 

Sie hätten nie vergessen Sollen, daß ihre Väter anderen Göttern gedient hatten. Die Erinnerung daran würde sie stets angespornt haben, mit Eifer über sich zu wachen, um nicht selbst in diese grobe und schreckliche Sünde hineinzugeraten, woraus Gott ihren Vater Abraham herausgeführt hatte. Sie würden erkannt haben, wie gefähr­det sie waren, in dieselbe Sünde zu fallen, in der einst ihre Väter gelebt hatten.

 

Im weiteren Verlauf seiner Rede stellt Josua dem Volk noch einmal die wesentlichen Ereignisse ihrer Geschichte vor, von der Geburt Isaaks bis zu dem damaligen Zeitpunkt, und ermahnt es im Rückblick darauf: "Und nun fürchtet den HERRN und dienet ihm in Voll­kommenheit und in Wahrheit; und tut die Götter hinweg, welchen eure Väter jenseit des Stromes und in Ägypten gedient haben, und dienet dem HERRN. Und wenn es übel ist in euren Augen, dem HERRN zu dienen, so erwählet euch heute, wem ihr dienen wollt, ob den Göttern, welchen eure Väter gedient haben, die jenseit des Stro­mes wohnten, oder den Göttern der Amoriter, in deren Land ihr wohnet. Ich aber und mein Haus, wir wollen dem HERRN dienen!" (Jos. 24, 14.15).

 

Wir finden wiederholt erwähnt, daß die Väter Israels falschen Göttern gedient hatten und daß das Land, in das der HERR das Volk gebracht hatte, von einem Ende bis zum anderen von den Greueln des heid­nischen Götzendienstes befleckt war. Josua, dieser treue Knecht des Herrn, suchte, geleitet durch den Heiligen Geist, dem Volk die große Gefahr vor Augen zu stellen, daß es diese bedeutende Grundwahrheit von dem einen wahren und lebendigen Gott verlieren und in den Götzendienst zurückfallen konnte. Hier mußte eine eindeutige und aufrichtige Entscheidung getroffen werden: "Erwählet euch heute, wem ihr dienen wollt". Nichts gleicht einer solchen bestimmten Ent­scheidung des Herzens für Gott. Sie gebührt ihm stets. Der HERR hatte bewiesen, daß Er für sie war, indem Er sie aus der Knecht­schaft Ägyptens erlöst, in der Wüste ernährt und in das verheißene Land gebracht hatte. Daher war es ihre selbstverständliche Pflicht, sich auch mit ganzem Herzen für ihn zu entscheiden.

 

Wie tief Josua diese Zusammenhänge für seine Person empfand, geht klar aus seinen denkwürdigen Worten hervor: "Ich aber und mein Haus, wir wollen dem HERRN dienen!" Das Volk im allgemeinen mochte von Gott abweichen, die persönliche Gottesfurcht in Haus und Familie brauchte aber hiervon nicht berührt zu werden. Durch Gottes Gnade gilt das überall und zu allen Zeiten. Gott sei Dank dafür! Laßt uns das nicht vergessen! "Ich und mein Haus" ist die klare und fröhliche Antwort des Glaubens auf Gottes "Du und Dein Haus". Mag der Zustand des bekennenden Volkes Gottes sein, wie er will, es ist und bleibt zu jeder Zeit das Vorrecht des aufrichtigen Gläu­bigen, sich wie Josua zu entscheiden und so zu handeln. "Ich aber und mein Haus, wir wollen dem HERRN dienen!"

 

Allerdings kann nur durch die täglich dargereichte Gnade Gottes dieser Entschluß verwirklicht werden. Aber wir dürfen sicher sein, daß da, wo jemand dem Herrn aufrichtig folgen will, er auch Tag für Tag die nötige Gnade empfängt. Die ermutigende Antwort, die dem Apostel Paulus auf sein Flehen zuteil wurde, bleibt immer wahr: "Meine Gnade genügt dir, denn meine Kraft wird in Schwachheit vollbracht" (2. Kor. 12, 9).

 

Die Worte Josuas schienen für den Augenblick ihre Wirkung auf das Volk nicht zu verfehlen (V. 16‑18). Das Volk verstand offenbar, daß der HERR Anspruch auf unbedingten Gehorsam hat. Das Volk konnte alle die mächtigen Taten Gottes aufzählen. Es verwahrte sich feierlich gegen jede Abgötterei und versprach, dem HERRN, seinem Gott, allein zu gehorchen. Aber ach! wie bald zeigte sich, wie recht Josua hatte, als er dem Volk antwortete: "Ihr könnet dem HERRN nicht dienen; denn er ist ein heiliger Gott, er ist ein eifernder Gott; er wird eure Übertretungen und eure Sünden nicht vergeben." Wie bald gaben sie sich dem bestrickenden Zauber des Götzendienstes hin, und wie schnell wichen sie ab von dem einen wahren Gott! Alle ihre Versprechungen, Vorsätze und Gelübde, die sie unter dem mächtigen Eindruck der Worte Josuas ausgesprochen hatten, blieben unerfüllt und wurden sehr bald vollständig vergessen (Vgl. Richt. 2, 7‑13).

 

Die traurige Geschichte des Volkes enthält auch für uns eine ernste Warnung. Solange Josua und die Ältesten lebten, wurde Israel durch ihre Gegenwart und ihren Einfluß vor offenem Abfall bewahrt. Aber kaum waren diese gestorben, so brach auch gleich die dunkle Flut des Götzendienstes herein und schwemmte die Grundlagen des israeli­tischen Glaubens hinweg. Der HERR Israels wurde ersetzt durch Baal und Astaroth. Menschlicher Einfluß ist immer eine schwache Stütze, ein lockerer Halt. Wenn wir nicht durch Gottes Macht bewahrt bleiben, so werden wir früher oder später abweichen. Der Glaube, der bloß in der Weisheit der Menschen und nicht in der Kraft Gottes gegründet ist, wird sich immer als arm, schwach und wertlos erweisen. Er wird in den Tagen der Trübsal nicht bestehen und das Feuer der Läuterung nicht ertragen.

 

Wir tun gut, das ernstlich zu bedenken. Ein Glaube aus zweiter Hand kann nicht genügen. Es muß ein lebendiges Bindeglied zwischen Gott und der Seele vorhanden sein. Wir müssen persönlich mit Gott in Verbindung stehen, sonst werden wir wanken und fallen, wenn die Zeit der Prüfung kommt. Menschliches Beispiel und menschlicher Einfluß haben an ihrem Platz ihren Wert. Es war gut und recht, auf Josua und die Ältesten zu blicken und ihre Treue nachzuahmen. Es ist ermunternd, von einer Zahl treuer, unterwürfiger Christen umgeben zu sein, und angenehm, von dem Strom gemeinsamer Treue zu Christus und zu Seiner Person und Seinem Werk mitgetragen zu werden. Aber wenn das alles ist, wenn die Quelle persönlichen Glaubens und persön­licher Erkenntnis fehlt, wenn nicht das göttlich gewirkte und unter­haltene Band der Gemeinschaft vorhanden ist, so werden wir, wenn die menschlichen Stützen brechen und ein allgemeiner Rückgang ein­tritt, dem Volk Israel gleich sein, das dem Herrn folgte, solange Josua und die Ältesten lebten. Wir werden das Bekenntnis Seines Namens aufgeben und zurückkehren zu den Torheiten und Eitelkeiten der Welt, zu Dingen, die in Wirklichkeit nicht besser sind als Baal und Astaroth.

 

Wenn dagegen das Herz in der Wahrheit und Gnade Gottes fest gegründet ist und wir sagen können, wie es das Vorrecht jedes wahren Gläubigen ist: "Ich weiß, wem ich geglaubt habe, und bin überzeugt, daß er mächtig ist, das ihm von mir anvertraute Gut auf jenen Tag zu bewahren' (2. Tim. 1, 12), so werden wir, mögen sich auch alle um uns her von dem öffentlichen Bekenntnis Christi wegwenden, und mögen wir uns von aller menschlichen Hilfe verlassen sehen, doch den "festen Grund Gottes" sicher finden und den Weg des Gehorsams so klar vor uns liegen sehen, als ob Tausende ihn vor uns her in Entschiedenheit gingen.

 

Wir müssen beachten, daß Gott der bekennenden Kirche in der Ge­schichte des Volkes Israel tiefgründige und ernste Belehrungen geben wollte. "Denn alles, was zuvor geschrieben ist, ist zu unserer Belehrung geschrieben." Und um uns diese Belehrung zunutze zu machen, brau­chen wir keine künstlichen Vergleiche anzustellen oder weithergeholte Erläuterungen zu suchen. Viele haben das getan, und anstatt durch die Schriften ermuntert zu werden, haben sie sich in leere und törichte Gedanken verloren oder sind in verderbliche Irrtümer geraten. Wir haben es nur mit Tatsachen zu tun, die uns in der Schrift mitgeteilt sind. Über sie wollen wir nachdenken, und aus ihnen können wir die Lehren für unser praktisches Verhalten ziehen.

 

Nehmen wir doch als Beispiel die Tatsache, daß Israel abwich von der Wahrheit:. "Der HERR, unser Gott, ist ein einiger HERR!" Welche vorbildliche Bedeutung hat nun diese Tatsache für die Kirche? Zweifel­los hat sie eine sehr ernste Bedeutung. Verfolgen wir die Kirche Gottes in ihrem öffentlichen Zeugnis für Christus auf der Erde, so begegnen wir denselben traurigen Erscheinungen wie bei Israels Abfall. Kaum war die Kirche aufgerichtet und hatte die ganze Fülle der Segnungen und Vorrechte bekommen, die Gott für sie in Christus bereitet hatte, so begann sie, von den Wahrheiten abzuweichen, die sie bewahren und bekennen sollte. Gleich Adam im Garten Eden, gleich Noah auf der wiederhergestellten Erde, gleich Israel im Land Kanaan war auch die Kirche kaum als die verantwortliche Verwalterin der Geheimnisse Gottes eingesetzt, als sie schon anfing zu straucheln und zu fallen. Sehr rasch wurden die großen Wahrheiten vergessen, die das Christen­tum vor allem Vorhergegangenen auszeichneten. Schon zu Lebzeiten der Apostel begannen das Böse und der Irrtum zu wirken, die die Grundlagen des Zeugnisses der Kirche unterwühlt haben (Vgl. den Galaterbrief: 2. Tim. 1, 15; 4, 3. 4 und andere Stellen).

 

Paulus hatte als ein weiser Baumeister den Grund der Kirche gelegt. Welche Erfahrungen mußte er machen! Er sah sich gleich seinem Meister von allen verlassen, die sich in der Frische und dem Eifer früherer Tage um ihn gesammelt hatten. Ihn erfüllte Trauer bei dem Gedanken an das Verderben, das sich schon überall zu zeigen begann. judaisierende Lehrer waren an allen Orten beschäftigt, den wahren Grund des Christentums zu unterwühlen und den Glauben der Aus­erwählten Gottes zu erschüttern. Er weinte über die Vielen, die das Bekenntnis des Namens Christi im Mund führten, aber "Feinde des Kreuzes Christi" waren. Er sah, wenn er aus dem Gefängnis in Rom auf die bekennende Kirche schaute, nichts als hoffnungslosen Verfall. Er kannte, daß es ihr geradeso ergehen würde wie dem Schiff, in dem er seine Reise nach Rom gemacht hatte, eine Reise, die ein treffendes Bild von der traurigen Geschichte der Kirche in dieser Welt ist.

 

Selbstverständlich denken wir dabei nicht an die Kirche als den Leib Christi, sondern an ihren Charakter als verantwortliche Zeugin hie­nieden, als der Leuchter oder das Zeugnis Christi in dieser Welt. Die Kirche als der Leib Christi ist durch die Gegenwart und das Inne­wohnen des Heiligen Geistes mit ihrem lebendigen und verherrlichten Haupt in den Himmeln verbunden und kann nie vergehen, nie gleich Paulus' Schiff durch die Stürme und Wogen dieser feindseligen Welt zertrümmert werden. Das Haupt und der Leib sind eins, unauflöslich miteinander verbunden. Keine Macht der Erde oder der Hölle, keine Macht der Menschen oder des Teufels kann je ein Glied dieses Leibes antasten. Sie alle stehen vor Gott, sie alle befinden sich vor Ihm in der ganzen Fülle, Schönheit und Annehmlichkeit Christi selbst. Wie das Haupt, so sind auch die Glieder, alle Glieder zusammen, und jedes Glied insbesondere. Alle genießen die vollendeten, ewigen Er­gebnisse des Werkes Christi, das Er am Kreuz vollbracht hat.  Die Verantwortung der einzelnen Glieder wird hier außer acht gelassen, denn der Herr selbst macht sich verantwortlich für die Glieder. Er genügt jedem Anspruch. Nichts bleibt übrig als Liebe ‑ Liebe, so voll­ kommen wie das Werk Christi, so unwandelbar wie Sein Thron.

 

Jede Beschuldigung, die je gegen eins oder gegen alle Glieder der Kirche Gottes erhoben werden könnte, ist bereits am Kreuz vorge­bracht und zwischen Gott und Seinem Christus für ewig entschieden worden. Alle Sünden und Ungerechtigkeiten, alle Schuld jedes ein­zelnen Gläubigen ‑ alles lag dort auf Christus und wurde von Ihm getragen. Entsprechend Seiner Gerechtigkeit und Heiligkeit hat Gott dort alles in Ordnung gebracht, was jemals der Errettung, Segnung und Herrlichkeit eines Gliedes des Leibes Christi, der Versammlung Gottes, im Weg stehen konnte. jedes Glied des Leibes Christi ist durchdrungen von dem Leben des Hauptes, jeder Stein des Baues durchdrungen von dem Leben des Ecksteins. Alle sind miteinander verbunden in der Kraft eines Bandes, das nie gelöst werden kann.

 

Natürlich dürfen wir die kirchlichen Systeme dieser Welt, alte und neue, griechische, römische oder protestantische, nicht verwechseln mit der Kirche Gottes, dem Leib Christi. Es hat noch nie ein religiöses System gegeben und wird es auch nie geben, das einen Anspruch darauf haben kann, "der Leib Christi" genannt zu werden. Daher ist es falsch, die Absonderung von einem solchen System ein Spalten oder Zerreißen des Leibes Christi zu nennen. Im Gegenteil ist es die Pflicht jedes Gläubigen, der die Wahrheit von der Einheit des Leibes verwirklichen und bekennen will, sich entschieden von allem abzu­sondern, was sich selbst fälschlich eine Kirche nennt. Wenn sich aber jemand von solchen absondert, die sich klar und unzweifelhaft nach dem Grundsatz der einen Versammlung Gottes versammeln, so ist das eine Trennung.

 

Keine christliche Gemeinschaft kann Anspruch auf den Titel "Leib Christi" oder "Kirche Gottes" erheben. Die Glieder dieses Leibes sind überall verstreut. Sie werden in all den verschiedenen religiösen Be­nennungen unserer Tage gefunden, soweit diese nicht die Gottheit unseres Herrn Jesus Christus leugnen. Aber obgleich sich keine christ­liche Gemeinschaft rechtmäßig den Titel "Versammlung Gottes" bei­legen kann, so sind doch alle Christen verantwortlich, nach dem Grundsatz der einen Versammlung zusammenzukommen.

 

Und wenn nun gefragt wird: "Wie können wir diesen Grundsatz kennen?" oder: "Wo wird er verwirklicht?" so antworten wir: "Wenn dein Auge einfältig ist, so wird dein ganzer Leib licht sein". "Wenn jemand seinen Willen tun will, so wird er von der Lehre wissen, ob sie aus Gott ist." Da ist "ein Pfad, den der Raubvogel nicht kennt, und den das Auge des Habichts nicht erblickt hat; den die wilden Tiere nicht betreten, über den der Löwe nicht hingeschritten ist" (Hiob 28, 7. 8). Das natürliche Auge kann diesen Pfad nicht erkennen, menschliche Kraft kann ihn nicht betreten. Wo ist dieser Pfad? Hier ist er: "Und zu dem Menschen" ‑ zu jedem Leser wie dem Schreiber dieser Zeilen, ‑ sprach er. "Siehe, die Furcht des Herrn ist Weisheit, und vom Bösen weichen ist Verstand" (Hiob 28, 28).

 

An dieser Stelle sei ein Ausdruck angeführt, den man häufig von Leuten hört, von denen man es nicht erwartet. Man spricht von einem "Abschneiden der Glieder vom Leib Christi". *) Aber das ist, Gott sei Dank, unmöglich. Nicht ein einziges Glied des Leibes Christi kann von dem Haupt getrennt oder von dem Platz entfernt werden, an den es, infolge des ewigen Vorsatzes Gottes und kraft des vollbrachten Opfers unseres Herrn Jesus Christus, durch den Heiligen Geist eingefügt ist. Die göttliche Dreieinheit hat sich verbürgt für die Sicherheit jedes Gliedes am Leib sowie für die Erhaltung der unauflöslichen Einheit des ganzen Leibes.

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*) Dieser Ausdruck wird gewöhnlich auf Fälle angewendet, in denen die Versammlung Zucht ausübt. Aber die Anwendung auf solche Fälle ist so falsch wie der Ausdruck selbst. Die Zucht der Versammlung hat nichts mit der Einheit des Leibes zu tun. Ein Glied des Leibes kann einen so schlechten Wandel führen oder in der Lehre so irren, daß die Versammlung genötigt ist, diesen Bruder vom Tisch des Herrn auszuschließen; aber das berührt seinen Platz im Leib Christi nicht. Diese beiden Dinge sind völlig verschieden voneinander.

 

Es ist heute noch so wahr wie damals, als der Apostel das vierte Kapitel an die Epheser schrieb, daß es nur "einen Leib" gibt, von dem Christus das Haupt und alle wahren Gläubigen Glieder sind. Dieser Leib ist seit dem Pfingsttag auf der Erde und wird bis zu dem Augen­blick hier sein, wenn Christus kommt und ihn in das Haus Seines Vaters einführen wird. Sicher fällt es manchem schwer, bei der gegen­wärtigen Zerstreutheit der Glieder an die bleibende Einheit des Ganzen zu glauben und sie zu bekennen. Man fühlt sich geneigt, Epheser 4, 4 nur auf die Zeit anzuwenden, in der der Apostel diese Worte schrieb, wo die Christen sichtbar eins waren und man nicht daran denken konnte, ein Glied dieser oder jener Kirche zu sein, weil alle Gläubigen Glieder der einen Kirche waren. **)

 

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**) Die Einheit der Kirche kann mit einer Kette verglichen werden, die über einen Fluß gespannt ist und deren Enden an jeder Seite des Flusses gesehen werden, während sie in der Mitte im Wasser hängt. Obgleich so ein Stück der Kette unsichtbar ist, so ist sie doch nicht unterbrochen. Wir sehen das Mittelstück nicht, aber wissen, daß die Kette nicht unterbrochen ist. So wurde auch die Kirche Gottes am Pfingsttag in ihrer Einheit gesehen und wird in der Herrlichkeit in ihrer Einheit wiedergesehen werden, und obgleich sie jetzt für uns verborgen ist, so sind wir doch von ihrem Bestehen über­zeugt.

Die Einheit des Leibes hat eine wichtige praktische Bedeutung; denn wir müssen die Folgerung ziehen, daß der Wandel und der Zustand jedes ein­zelnen Gliedes auf den ganzen Leib wirkt. "Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit." Ein Glied wovon? Von einer örtlichen Versammlung? 0 nein, sondern ein Glied des Leibes. Wir dürfen den Leib Christi nicht auf einen Ort beschränken.

"Aber", könnte jemand fragen, "können wir durch etwas berührt werden, das wir weder sehen noch wissen?" Gewiß. Sind wir berechtigt, die große Wahrheit von der Einheit des Leibes und alle ihre praktischen Auswirkungen auf das Maß unserer persönlichen Erfahrung und Erkenntnis zu beschränken? Die Gegenwart des Heiligen Geistes verbindet die Glieder des Leibes mit dem Haupt und untereinander, und daher wirken der Wandel und die Wege des einzelnen Gliedes auf den ganzen Leib. Selbst im Alten Bund, wo es keine leibliche, sondern nur eine nationale Einheit gab, heißt es im Blick auf die Sünde Achans. Israel hat gesündigt", und die ganze Gemeinde wurde gedemütigt wegen einer Sünde, von der sie nichts wußte.

 

 

Aber wer gibt uns ein Recht, aus Eph. 4, 4‑6 einen Satz herauszu­nehmen und zu behaupten, daß er nur für die Zeit der Apostel gültig sei? Wenn ein Satz so eingeschränkt werden kann, warum dann nicht alle? Gibt es nicht auch heute noch "einen Geist, einen Herrn, einen Glauben, eine Taufe, einen Gott und Vater aller"? Ganz gewiß! Daran zweifelt niemand. Daraus aber folgt, daß es ebenso gewiß auch nur einen Leib gibt. Diese Dinge sind so eng miteinander verknüpft, daß man nicht das eine antasten kann, ohne alle zu leugnen. Wenn man die Einheit des Leibes verwirft, so muß man auch folgerichtig das Dasein eines Gottes leugnen; den dieselbe Schriftstelle, die das eine erklärt, behauptet auch das andere.

 

"Aber", wird man einwenden, "wo befindet sich dieser eine Leib? Ist es nicht töricht, angesichts der fast zahllosen Benennungen in der Christenheit von einem Leib zu reden?" Nein, wir können die Wahrheit Gottes nicht aufgeben, nur weil der Mensch sie nicht verwirklicht hat. Versagte Israel nicht vollständig, wenn es darum ging, die Wahrheit von der Einheit Gottes zu bekennen und zu verwirklichen? Und doch wurde diese herrliche Wahrheit durch das traurige Verhalten des Volkes nicht im geringsten geändert. Als es in Jerusalem ebenso viele Götzenaltäre wie Straßen gab und aus jedem Haus der Weihrauch zu Ehren von Baal und Astaroth aufstieg, war es da nicht mehr wahr, daß Gott einer ist, wie zur Zeit, da Mose der ganzen Versammlung die feierlichen Worte zurief: "Höre, Israel: Der HERR, unser Gott, ist ein einiger HERR!"? Gepriesen sei Gott, Seine Wahrheit ist unabhängig von den treulosen und törichten Wegen der Menschen, Sie ist unantastbar und unerschütterlich.

 

Aber wie wird die Wahrheit von der Einheit des Leibes praktisch ver­wirklicht? Dadurch, daß wir jeden anderen Grund der christlichen Gemeinschaft und des Zusammenkommens ablehnen. Alle wahren Gläubigen sollten sich einfach aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu dem Leib Christi versammeln. Sie sollten sich am ersten Tag der Woche um den Tisch des Herrn scharen und als Glieder des einen Leibes das Brot brechen, nach den Worten des Apostels in 1. Kor. 10: "Denn ein Brot, ein Leib sind wir, die Vielen, denn wir alle nehmen teil an dem einen Brote". Das gilt heute noch so gut wie damals, als Paulus an die Versammlung zu Korinth schrieb. Allerdings gab es in Korinth Spaltungen, genauso wie es in der heutigen Christenheit unzählige gibt; aber das ändert nichts an der Wahrheit Gottes. Der Apostel tadelte die Korinther und nannte sie fleischlich. Er war keineswegs der Meinung, daß solche Spaltungen nützlich sind, weil sie, wie man heutzutage sagt, einen Wetteifer erzeugen sollen. Paulus betrachtete sie als eine traurige Frucht des Fleisches, als das Werk Satans. Mit Sicherheit hätte er auch die in unseren Tagen so weitverbreitete und gern angenommene Erklärung für die Spaltungen in der Kirche nicht gutgeheißen. Man sagt nämlich, daß die verschiedenen Parteien mit ebenso vielen Regimentern einer Armee zu vergleichen wären, die, ob­gleich in Uniform und Waffen verschieden, doch unter einem Feldherrn kämpfen. Gegenüber dem klaren und unmißverständlichen Ausspruch Gottes: "Da ist ein Leib‑ werden solche Ansichten als törichte Wider­sprüche offenbar und zerfallen in sich selbst.

 

Es gab also auch in Korinth Irrlehren, Spaltungen, Böses aller Art. Sollte aber deshalb die Wahrheit Gottes aufgegeben werden? Sollten sich die Korinther nach einem anderen Grundsatz versammeln, eine neue Einrichtung schaffen, sich um einen neuen Mittelpunkt ver­sammeln, Gott sei Dank, nein! Seine Wahrheit durfte keinen Augen­blick aufgegeben werden, und wenn auch Korinth in tausend Sekten zersplittert und sein Horizont durch tausend Ketzereien verdunkelt gewesen wäre. Der Leib Christi ist einer, und der Apostel entfaltet ganz einfach vor ihnen sein Banner mit der segensreichen Inschrift: "Ihr aber seid der Leib Christi, und Glieder insonderheit".

 

Diese Worte aber wurden nicht nur an die Versammlung in Korinth gerichtet, sondern auch an alle, "die an jedem Orte den Namen unseres Herrn Jesus Christus anrufen, sowohl ihres als unseres Herrn". Die Wahrheit von der Einheit des Leibes ist daher bleibend und allgemein gültig. jeder Christ ist verpflichtet, sie zu beachten und danach zu handeln, und jede Versammlung von Christen, wo sie auch zusammen­kommt, sollte an diesem Ort die so wichtige Wahrheit verwirklichen. Kann denn von einer solchen örtlichen Versammlung gesagt werden: "Ihr seid der Leib Christi"? Wir erwidern hierauf: Gab es nicht zur Zeit des Apostels auch in Ephesus, Kolossä und Philippi Gläubige? Zweifellos, und hätte der Apostel an sie über dasselbe Thema geschrie­ben, so würde er auch zu ihnen gesagt haben: "Ihr seid der Leib Christi", vorausgesetzt, daß sie an dem Ort, wo sie sich versammelten, der Ausdruck dieses Leibes waren. Zugleich aber standen alle Heiligen bis ans Ende der irdischen Laufbahn der Kirche vor dem Geist des Apostels.

 

Unmöglich hätte er solche Worte an eine menschliche Einrichtung, welcher Art sie auch sein mochte, richten können. Selbst wenn alle derartigen Einrichtungen zu einer einzigen vereinigt würden, so könnte sie dennoch nicht "der Leib Christi" genannt werden. Dieser Leib, das sollten wir klar verstehen, besteht aus allen wahren Gläubigen auf der ganzen Erde. Daß sie sich nicht alle nach diesem einzigen göttlichen Grundsatz versammeln, ist ein schwerer Verlust für sie und dient zur Verunehrung des Herrn. Aber diese herrliche Wahrheit ­"da ist ein Leib", wird hiervon nicht berührt, und sie ist der göttliche Maßstab, mit dem alle kirchlichen Vereinigungen und religiösen Systeme gemessen werden müssen.

 

Wir wollen jetzt die menschliche Seite unseres Themas betrachten: die Kirche in ihrer Verantwortlichkeit auf der Erde. Wenn man vor­urteilsfrei das Neue Testament liest, so erkennt man, daß die Kirche in ihrem Zeugnis für Christus hier auf der Erde weit abgewichen ist und in sehr betrüblicher Weise versagt hat. Werfen wir nur einen Blick in das zweite und dritte Kapitel der Offenbarung. Dort wird uns die Kirche als unter Gericht stehend vorgestellt. Diese ernsten Kapitel können wir wohl mit Recht eine göttliche Kirchengeschichte nennen. Sieben Versammlungen oder Gemeinden wurden ausgewählt, um die verschiedenen Zeitabschnitte der Geschichte der Kirche zu ver­anschaulichen, von dem Tag an, da sie als ein verantwortliches Zeugnis auf der Erde aufgerichtet wurde, bis zu dem Augenblick, wo die Namenschristenheit aus dem Mund des Herrn ausgespieen werden

 

wird. Beide Kapitel sind ohne Zweifel geschichtlich, d. h. die Send­schreiben richteten sich zunächst an damals bestehende Versammlungen und behandelte deren Zustände. Zugleich aber tragen sie einen deut­lichen ausgeprägten prophetischen Charakter. Übersehen wir das, so entgehen uns wertvolle Unterweisungen.

 

Nehmen wir z. B. das Sendschreiben an die Versammlung in Ephesus. Es ist dieselbe Gemeinde, an die der Apostel Paulus seinen einzig­artigen Brief geschrieben und darin die himmlische Seite verschiedener Grundsätze entwickelt hatte: Gottes ewigen Vorsatz bezüglich der Kirche und ihrer Stellung, als angenommen in Christus und gesegnet in Ihm mit jeder geistlichen Segnung in den himmlischen Örtern. Doch wie wir gesehen haben, gibt es eine irdische und auch eine himmlische, eine menschliche und auch eine göttliche Seite, einen Leuchter und auch einen Leib. Und das ist der Grund, weshalb wir in Offenbarung 2 die ernsten Worte lesen: "Ich habe wider dich, daß du deine erste Liebe verlassen hast." Wie ganz anders ist die Sprache hier als in dem Brief an die Epheser! Das Licht hat bereits begonnen, trübe zu werden. Kaum war es angezündet worden, so wurden schon Lichtschneuzen nötig.

 

So zeigten sich bereits am Anfang die unverkennbaren Spuren begin­nenden Verfalls vor dem durchdringenden Auge dessen, der inmitten der sieben goldenen Leuchter wandelt. Wenn wir die irdische Geschichte der Kirche bis zu ihrem letzten Abschnitt verfolgen, wie sie uns in dem Sendschreiben an die Versammlung in Laodicäa dargestellt wird, so finden wir keine Wiederherstellung mehr. Der Verfall ist hoff­nungslos. Der Herr steht außerhalb der Kirche: "Siehe, ich stehe an der Tür und klopfe an." Hier heißt es nicht mehr wie bei Ephesus: "Ich habe wider dich". Nein, die ganze Stellung ist falsch. Das ganze bekennende Zeugnis ist nahe daran, aufgegeben zu werden: Ich werde "dich ausspeien aus meinem Munde". Der Herr zögert noch, gepriesen sei Sein Name! Nur ungern verläßt er den Platz der Gnade, um den Platz des Gerichts einzunehmen. Das erinnert uns an den Weggang der Herrlichkeit Gottes, wie sie uns in den ersten Kapiteln des Pro­pheten Hesekiel vorgestellt wird. Die Herrlichkeit zieht sich langsam und zögernd zurück. Sie verläßt ungern den Tempel, das Land und das Volk. "Und die Herrlichkeit des HERRN hatte sich von dem Cherub auf die Schwelle des Hauses hin erhoben; und das Haus war von der Wolke erfüllt, und der Vorhof war voll von dem Glanz der Herrlichkeit des HERRN." ‑ "Und die Herrlichkeit begab sich von der Schwelle des Hauses hinweg und stellte sich über die Cherubim." Und zum Schluß‑ "Und die Herrlichkeit des HERRN erhob sich aus der Mitte der Stadt und stellte sich auf den Berg, welcher gegen Osten der Stadt ist" (Hes. 10, 4; 18; 11, 23).

 

Wie auffallend ist der Gegensatz zwischen diesem langsamen Weg­gehen der Herrlichkeit Gottes und ihrem schnellen Eintritt, als Salomo den Tempel einweihte! (2. Chron. 7, 1). Der HERR war schnell bereit, Seine Wohnung in der Mitte Seines Volkes einzunehmen, aber nur zögernd verließ Er sie wieder. Er wurde, menschlich gesprochen, durch die Sünde und hoffnungslose Unbußfertigkeit Seines betörten Volkes vertrieben.

 

Ebenso ist es mit der Kirche. Im zweiten Kapitel der Apostelgeschichte wird uns der plötzliche Eintritt des Herrn in Sein geistliches Haus beschrieben. Er kam gleich einem brausenden Wind, um das Haus mit Seiner Herrlichkeit zu erfüllen. Im dritten Kapitel der Offenbarung erblicken wir Ihn außerhalb des Hauses. Aber Er klopft an. Er zögert, nicht als ob Er eine Wiederherstellung der Kirche als ein Ganzes er­wartet, sondern Er klopft, ob vielleicht "jemand" Seine Stimme hört und Ihm die Tür auftut. Die Tatsache, daß Er außerhalb der Kirche steht, zeigt, was aus ihr geworden ist, und die Tatsache, daß Er an­klopft, beweist, was Er ist.

 

Möchte jeder gläubige Leser diesen ernsten Gegenstand gründlich ver­stehen lernen! Von allen Seiten hört man falsche Ansichten über die gegenwärtige Stellung und die zukünftige Bestimmung der bekennen­den Kirche. Aber die Schrift belehrt uns unmißverständlich, daß die bekennende Kirche in hoffnungslosem Verfall ist, und daß das Gericht vor der Tür steht (vgl. 2. Petr. 2 und 3, den 2. Brief an Timotheus und den Brief des Judas). Nichts anderes steht der Namenschristenheit bevor als der unvermischte Zorn des allmächtigen Gottes. Ihr Urteil finden wir bereits in den kurzen, aber ernsten Worten ausgesprochen: "Du wirst ausgeschnitten werden" (Röm. 11).

 

So redet die Schrift: "Du wirst ausgeschnitten", du wirst "ausgespieen werden. Die bekennende Kirche hat in ihrem Zeugnis für Christus völlig versagt. Die Wahrheit, die sie bewahren sollte, hat sie treulos verlassen. So wie Israel in Kanaan den HERRN für Baal und Astaroth aufgab, so hat auch die Kirche die Wahrheit für kindische Fabeln und verderbliche Irrtümer preisgegeben. Und wie erschreckend schnell ist sie abgewichen! Die warnenden Worte, die der scheidende Apostel an die Ältesten von Ephesus richtete, erfüllten sich sehr bald (Vgl. Apg. 20, 28‑30).

 

Den Aposteln unseres Herrn Jesus Christus folgten fast unmittelbar die "verderblichen Wölfe" und die Lehrer "verkehrter Dinge". Die ganze Kirche versank in dichte Finsternis. Das Licht der göttlichen Offenbarung verschwand mehr und mehr, und an seine Stelle trat kirchliche Verderbtheit und Priesterherrschaft mit all ihren schrecklichen Folgen. So kam es, daß die Geschichte der Kirche, die Geschichte der Christenheit der traurigste Bericht ist, der je aufgeschrieben wurde. Allerdings hatte Gott immer ein Zeugnis. Wie in Israel, so erweckte Er auch in der Kirche den einen oder anderen zu einem treuen Zeugen für sich selbst. Sogar inmitten der dichtesten Finsternis des Mittel­alters erschien hier und da ein glänzender Stern am Horizont der Kirche. Die Albigenser, Waldenser und andere wurden durch die Gnade Gottes befähigt, an Seinem Wort festzuhalten und Seinen Namen nicht zu verleugnen, trotz der schrecklichen Tyrannei Roms und seiner Greueltaten.

 

Dann kamen die gnadenreichen Tage des sechzehnten Jahrhunderts, wo Gott Martin Luther und viele andere treue Männer mit ihm er­weckte, um die wichtige Wahrheit von der Rechtfertigung aus Glauben aus dem jahrhundertealten Schutt kirchlichen Aberglaubens hervorzu­ziehen und dem Volk das Wort Gottes in seiner eigenen Sprache in die Hand zu geben. Es ist unmöglich, den Segen dieser denkwürdigen Zeit angemessen zu schildern. Tausende hörten die frohe Botschaft des Heils, glaubten und wurden errettet. Tausende, die jahrelang unter dem Joch Roms geseufzt hatten, begrüßten mit tiefer Dankbarkeit das himmlische Licht. Tausende strömten zusammen, um aus dem Quell göttlicher Offenbarung zu trinken, der durch päpstliche Unduldsamkeit jahrhundertelang verstopft gewesen war. Das gesegnete Licht der Wahr­heit, das so lange unter dem Scheffel gestanden hatte, durfte von neuem seine Strahlen in die Finsternis hineinwerfen und unzählige Herzen erleuchten.

 

Doch so groß und herrlich die Ergebnisse und Segnungen des Zeit­alters der Reformation auch waren, eine Wiederherstellung der Kirche zu ihrem ursprünglichen Zustand brachte es nicht. Luther und seine Mitarbeiter haben die Gedanken Gottes über die Kirche als den Leib Christi nie völlig verstanden. Die Einheit des Leibes, die Gegenwart des Heiligen Geistes in der Versammlung und Sein Innewohnen in dem einzelnen Gläubigen blieben ihnen mehr oder weniger unbekannt.

 

Ebenso erkannten sie wenig von dem Charakter, von der Quelle der Kraft und der Verantwortlichkeit des Dienstes in der Kirche. Sie gingen wohl nie über den Begriff einer menschlichen Autorität als Grundlage für den Dienst hinaus. Von der besonderen Hoffnung der Kirche, der Ankunft Christi als dem glänzenden Morgenstern für Sein Volk, finden wir nichts in ihren Schriften. Sie predigten die herrliche Wahrheit von der Rechtfertigung aus Glauben; sie gaben dem Volk die Heilige Schrift zurück und rissen die engen Schranken nieder, die der Aber­glaube Roms um die Seelen gezogen hatte. Aber von einer Wieder­herstellung der Kirche konnte keine Rede sein. Die sogenannten Kir­chen der Reformation sind nicht die Kirche Gottes. Trotz der gelegent­lichen Wiederbelebungen, die das Christentum im Lauf der Jahrhun­derte erfuhr, trotz der glänzenden Lichter, die zu verschiedenen Zeiten am Horizont der Kirche erschienen und die um so heller leuchteten, je dichter die Finsternis war, die sie umgab, trotz der vielen gnädigen Bemühungen des Geistes Gottes während des vergangenen und des gegenwärtigen Jahrhunderts bleibt es Tatsache, daß die bekennende Kirche in Trümmern liegt und daß die Christenheit in eilender Hast dem ewigen Dunkel der Finsternis entgegeneilt, ja, daß jene hoch­begünstigten Länder, wo soviel Wahrheit des Evangeliums gepredigt, Bibeln und Evangeliumsschriften zu Millionen verbreitet worden sind, dennoch über kurz oder lang völliger Finsternis und traurigen Irrtümer anheimfallen werden.

 

Der glückliche Augenblick kommt näher., wo alle wahren Heiligen, alle Glieder des Leibes Christi, teils auferweckt, teils verwandelt, ihrem wiederkommenden Herrn entgegengehen werden in die Luft, um für allezeit bei Ihm zu sein. Dann wird das Geheimnis der Bosheit sich einen Anführer erwecken in der Person des Menschen der Sünde, des Gesetzlosen, des Antichristen. Aber dann wird der Herr Jesus kommen mit allen Seinen Heiligen, um das Gericht auszuführen an dem Tier, dem wiedererstandenen römischen Reich, sowie an dem falschen Pro­pheten, dem Antichristen. Schließlich folgt das Gericht der Lebendigen (Matth. 25, 31‑46).

 

Nachdem alles Böse hinweggetan ist, beginnt die tausendjährige Re­gierung Christi in Gerechtigkeit und Frieden: eine herrliche und geseg­nete Zeit, der wahre Sabbath für Israel und für die ganze Erde. Satan ist in den Abgrund hinabgeworfen und gebunden. Nach Verlauf der tausend Jahre wird er wieder losgelassen werden und in großer Wut eine letzte gewaltige Anstrengung gegen Gott und Seinen Christus machen (Offb. 20, 7‑10). Dann folgt das Gericht über die Toten, das Gericht über alle, die in ihren Sünden gestorben sind, von den Tagen Kains bis zu dem letzten Abtrünnigen der tausendjährigen Herrlichkeit. Keine Zunge, keine Feder kann den furchtbaren Ernst dieser Szene schildern.

 

Danach beginnt dann der herrliche Zustand ewiger, unveränderlicher Segnung, und der neue Himmel und die neue Erde erscheinen, in denen Gerechtigkeit wohnt.

 

Wir kehren jetzt zu unserem Kapitel zurück.

 

Nachdem Mose der Gemeinde Israel die bedeutsame Grundwahrheit, daß Gott ein einiger HERR ist, vorgestellt hat, fährt er fort, sie an ihre Pflicht zu erinnern, die sie diesem einigen Gott gegenüber hatte. Nicht allein gab es e i n e n Gott, sondern dieser eine Gott war auch i h r Gott. Er hatte sich in Seiner herablassenden Gnade mit ihnen verbunden. Er hatte sie wie auf Adlersflügeln getragen und sie zu sich gebracht, damit sie Sein Volk und Er ihr Gott sein sollte. Und jetzt sollte sich Israel in einer Weise verhalten, die einer solchen Ver­bindung würdig war. Doch wie war das möglich? Wie konnte ein solches Verhalten erreicht werden? Es konnte einzig und allein aus einem liebenden Herzen entspringen, und deshalb sagt Mose: Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft". Darin liegt das Geheimnis aller wahren Religion. Ohne Liebe ist alles wertlos für Gott. "Gib mir, mein Sohn, dein Herz!" Wo das geschehen ist, .da wird alles andere richtig stehen. Man kann das Herz mit dem Regulator einer Taschenuhr vergleichen. Dieser wirkt nacheinander über die Spiralfeder auf die Hauptfeder und auf die Zeiger, die sich auf dem Zifferblatt drehen. Wenn meine Uhr zu schnell oder zu langsam geht, so sind diese Mängel nicht dadurch zu beheben, daß ich die Zeiger verrücke. Ich muß den Regulator stellen. So ist das Herz gleichsam der Regulator des Menschen. Ist unser Herz in einem guten Zustand, so wird auch unser ganzes Verhalten gut sein. All unser Tun und Lassen wird immer mit dem Zustand unseres Innern über­einstimmen. Äußerliche Änderungen und Verbesserungen sind nicht von Dauer. Es muß wirklich Herzenssache sein. Gott blickt auf das Herz. Sein Wort an uns ist: "Kinder, laßt uns nicht lieben mit Worten, noch mit der Zunge, sondern in Tat und Wahrheit"!

 

Wie offenbaren diese Worte die Liebe Seines Herzens! Er liebt uns in Tat und Wahrheit, und dasselbe erwartet Er von uns, sowohl Ihm gegenüber als auch im Umgang miteinander. Alles muß unmittelbar aus dem Herzen kommen. "Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollen auf deinem Herzen sein." Das ist beachtenswert. Was im Herzen ist, kommt auch über die Lippen und wird offenbar im ganzen Leben. Wie wichtig ist es daher, das Herz mit dem Wort Gottes so ganz erfüllt zu haben, daß kein Raum mehr bleibt für die Eitelkeiten und Torheiten dieser Welt! Unsere Unterhaltungen werden dann allezeit in Gnade und mit Salz gewürzt sein. "Denn aus der Fülle des Herzens redet der Mund." Stets können wir nach dem, was aus dem Mund kommt, das Herz beurteilen. Die Zunge ist gleichsam das Organ des Herzens, ja, des ganzen Menschen. "Der gute Mensch bringt aus dem guten Schatze Gutes hervor, und der böse Mensch bringt aus dem bösen Schatze Böses hervor" (Matth. 12, 35). Wenn das Herz durch das Wort Gottes regiert wird, so zeigen sich die gesegneten Folgen im ganzen Charakter.

 

Die Heilige Schrift zeigt immer wieder, welchen Wert Gott auf einen guten Zustand des Herzens legt ‑ im Blick auf sich selbst und auf Sein Wort, was eigentlich dasselbe ist. Ist das Herz kalt und gleich­gültig gegenüber Gott und Seiner Wahrheit, so wird sich früher oder später ein Abweichen von dem Weg der Gerechtigkeit und der Wahr­heit zeigen. Deshalb ermahnte Barnabas die Neubekehrten in An­tiochien, "mit Herzensentschluß bei dem Herrn zu verharren". Wie nötig ist diese Ermahnung für alle Zeiten! Ein solcher Herzensentschluß hat allein Wert für Gott. Er gibt dem Charakter des Christen einen würdigen Ernst, den wir alle ernstlich begehren sollten. Er ist ein göttliches Heilmittel gegen Kälte, Gleichgültigkeit und totes Formen­wesen, ja, gegen alles, was Gott verunehrt. Unser äußeres Verhalten mag korrekt und unser Bekenntnis glaubwürdig sein, aber wenn der ernste Entschluß des Herzens fehlt, wenn wir nicht mit unserem ganzen Sein bei Gott und dem Herrn Jesus verharren, dann ist alles wertlos.

 

Das Herz ist außerdem das Mittel, durch das der Heilige Geist belehrt. Deshalb betet der Apostel für die Heiligen in Ephesus, daß sie er­leuchtet werden möchten an den Augen ihres Herzens und daß Christus in ihren Herzen wohnen möge durch Glauben. So stimmt die ganze Schrift mit der Ermahnung in unserem Kapitel überein: "Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollen auf deinem Herzen sein". Wäre Israel dieser Ermahnung gefolgt, so wäre es in der Nähe seines Bundes­gottes geblieben und vor allem Bösen, besonders aber vor der abscheu­lichen Sünde der Abgötterei, bewahrt worden. Hätten sie in Wahrheit des HERRN Wort in ihre Herzen eingeschlossen, so wären sie der Gefahr, Baal und Astaroth anzubeten, nicht erlegen. Beachten wir, wie der Charakter des 5. Buches Mose auch hier wieder in so leben­diger Weise hervortritt. Es ist nicht ein Buch der Zeremonien, sondern des Gehorsams. Das Wort Gottes ist sein erhabenes, wichtiges Thema, das Wort des HERRN in den Herzen des Volkes Israel. Wir finden in fast jedem einzelnen Teil die Belehrung, daß ein Herz, das das Wort Gottes liebt und ehrt, immer zum Gehorsam bereit ist, sei es, ein Opfer darzubringen oder einen bestimmten Tag zu halten. Ein Israelit konnte an einen Ort oder in Umstände kommen, wo ihm eine strenge Befol­gung der Gebräuche und Zeremonien unmöglich wurde; aber nie konnte er in eine Lage geraten, in der er das Wort Gottes nicht lieben, ehren und ihm gehorchen konnte. Mochte er selbst als ein armer Gefangener bis an das Ende der Erde weggeführt werden, so konnte ihm doch nichts das hohe Vorrecht rauben, mit dem Psalmisten zu sagen: "In meinem Herzen habe ich dein Wort verwahrt, auf daß ich nicht wider dich sündige" (Ps. 119, 11).

 

Ergreifende Worte! Sie enthalten den Hauptgrundsatz des göttlichen Lebens' wie er zu allen Zeiten gültig ist, der nie seinen Wert und seine Kraft verlieren kann. So zutreffend dieser Grundsatz in den Tagen der Patriarchen war, so zutreffend ist er heute für jeden einzelnen Gläu­bigen mitten im hoffnungslosen Ruin der Kirche. Gehorsam gegenüber dem Schöpfer und Seinem ewigen Wort ist immer die Pflicht und das Vorrecht des Geschöpfes. Gott hat uns Sein Wort gegeben, und Er ermahnt uns, dieses Wort reichlich in unseren Herzen wohnen zu lassen und ihm zu erlauben, seinen heiligenden Einfluß auf unseren ganzen Wandel und Charakter auszuüben.

 

„Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollen auf deinem Herzen sein. Und du sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzest, und wenn du auf dem Wege gehst, und wenn du dich niederlegst, und wenn du aufstehst. Und du sollst sie zum Zeichen auf deine Hand binden, und sie sollen zu Stirnbändern sein zwischen deinen Augen; und du sollst sie auf die Pfosten deines Hauses und an deine Tore schreiben" (V. 6‑9).

 

Fragen wir uns mit aufrichtigem Herzen: Unterweisen wir unsere Kinder so? Ist es unser beständiges Bemühen, ihren jungen, empfäng­lichen Seelen das Wort Gottes in seiner ganzen Anziehungskraft vorzu­stellen? Bemerken sie seinen gesegneten Einfluß auf unser tägliches Leben, auf unsere Gewohnheiten, Unterhaltungen und geschäftlichen Verrichtungen? Das ist zweifellos die geistliche Bedeutung der gött­lichen Vorschrift, das Wort zum Zeichen auf unsere Hand zu binden, es zu Stirnbändern "zwischen unseren Augen" zu haben und es "auf die Pfosten unseres Hauses und an unsere Tore" zu schreiben. Es ist nutzlos, unsere Kinder in dem Wort Gottes zu unterweisen, wenn unser Leben ihm nicht entspricht. Es ist nicht gut, das Wort lediglich zu einem Schulbuch zu machen. Dann machen wir aus einem gesegneten Vorrecht eine lästige, mühsame Arbeit. Unsere Kinder sollten sehen, daß wir in der Atmosphäre des Wortes Gottes leben, und daß es der Gegenstand unserer Unterhaltungen im Kreis der Familie und in unse­ren Mußestunden ist.

 

Ach, wie selten ist das der Fall! Müssen wir uns in der Gegenwart Gottes nicht schämen, wenn wir an den allgemeinen Charakter und den Ton unserer Unterhaltungen bei Tisch und im Familienkreis den­ken? Wie wenig finden wir da verwirklicht, was wir in 5. Mose 6, 7 lesen! Wieviel dagegen von "albernem Geschwätz oder Witzelei, welche sich nicht geziemen"! Wieviel übles Nachreden über unsere Brüder, unsere Nachbarn, unsere Mitarbeiter! Wieviel müßiges und wertloses Geschwätz! Und was ist der Grund dieser traurigen Erscheinungen? Der Zustand unserer Herzen. Das Wort Gottes, die Gebote und Reden unseres Herrn und Heilandes wohnen nicht in unseren Herzen, und daher können sie auch nicht in lebendigen Strömen der Gnade und der Erbauung hervorquellen. Laßt uns doch stets die ernste Ermahnung des Apostels beachten: "Kein faules Wort gehe aus eurem Munde, sondern das irgend gut ist zur notwendigen Erbauung, auf daß es den Hörenden Gnade darreiche." Und weiter: "werdet mit dem Geiste erfüllt, redend zueinander in Psalmen und Lobliedern und geistlichen Liedern, singend und spielend dem Herrn in euren Herzen, danksagend allezeit für alles dem Gott und Vater im Namen unseres Herrn Jesus Christus, einander unterwürfig in der Furcht Christi" (Eph. 4, 29; 5, 18‑20).

 

Wie weit lassen wir es an einer wirklich geistlichen Unterhaltung, vor allem im Kreis unserer Familien und in unserm täglichen Verhalten, fehlen. Wir haben daher die oben erwähnte Ermahnung sehr nötig. offensichtlich hat der Heilige Geist dieses Bedürfnis vorausgesehen und ist ihm zuvorgekommen. Hören wir, was Er "den heiligen und getreuen Brüdern in Kolossä" sagt: "Der Friede des Christus regiere in euren Herzen, zu welchem ihr auch berufen worden seid in einem Leibe; und seid dankbar. Laßt das Wort des Christus reichlich in euch wohnen, indem ihr in aller Weisheit euch gegenseitig lehret und ermah­net mit Psalmen, Lobliedern und geistlichen Liedern, Gott singend in euren Herzen in Gnade" (Kol. 3, 15. 16).

 

Ein schönes Bild des christlichen Lebens! Es ist nichts anderes als eine Weiterentwicklung von dem, was wir in unserem Kapitel finden, WO wir den Israeliten inmitten seiner Familie, in seinem täglichen Leben, in seinem Verhalten zu Hause und draußen, kurz, überall unter dem heiligenden Einfluß des Wortes des HERRN sehen.

 

"Und es soll geschehen, wenn der HERR, dein Gott, dich in das Land bringt, das er deinen Vätern, Abraham, Isaak und Jakob, geschworen hat, dir zu geben: große und gute Städte, die du nicht gebaut hast, und Häuser, voll von allem Gut, die du nicht gefüllt, und gehauene Zister­nen, die du nicht gehauen, Weinberge und Olivengärten, die du nicht gepflanzt hast, und du essen und satt werden wirst: so hüte dich, daß du des HERRN nicht vergessest, der dich herausgeführt hat aus dem Lande Ägypten, aus dem Hause der Knechtschaft" (V. 10‑12).

 

Bei all den Segnungen und Vorrechten des Landes Kanaan sollten sie stets an den denken, der sie in Seiner Güte und Treue aus dem Land der Knechtschaft erlöst hatte. Sie sollten nie vergessen, daß alle diese herrlichen Dinge Gaben Seiner freien, unumschränkten Gnade waren. Das Land mit allem, was darin war, war ihnen geschenkt nach der ihren Vätern, Abraham, Isaak und Jakob, gegebenen Verheißung. Große Städte und eingerichtete Häuser, fließende Brunnen, fruchtbare Weinberge und Ölgärten, alles war bereit für sie. Es blieb ihnen nur Übrig, das Land mit all seinen Schätzen in schlichtem Glauben in Besitz zu nehmen und den wohltätigen Geber im Herzen und im Gedächtnis zu behalten. In Seiner erlösenden Liebe sollten sie stets den Antrieb zu einem Leben in Gehorsam und Liebe zu Ihm finden. Wohin sie auch blickten sahen sie die Zeichen Seiner großen Güte, die reichen Früchte Seiner wunderbaren Liebe. jede Stadt, jedes Haus, jeder Brun­nen, jeder Weinstock, jeder Ölbaum und jeder Feigenbaum redete zu ihren Herzen von der überströmenden Gnade des HERRN und gab ihnen einen Beweis von der unfehlbaren Treue zu Seinen Verheißungen.

 

"Den HERRN, deinen Gott, sollst du fürchten und ihm dienen, und bei seinem Namen sollst du schwören. Ihr sollt nicht anderen Göttern nachgehen, von den Göttern der Völker, die rings um euch her sind; denn ein eifernder Gott ist der HERR, dein Gott, in deiner Mitte: Damit nicht der Zorn des HERRN, deines Gottes, wider dich entbrenne, und er dich vertilge vom Erdboden hinweg" (V. 13‑15). Zwei wichtige Dinge sollten also die Gemeinde Israel in ihrem Verhalten leiten: "Liebe" (Vers 5) und "Furcht" (Vers 13). Beide Dinge finden wir wie­derholt in der Schrift, und wir können nicht genug auf ihre Bedeutung hinweisen. "Die Furcht des HERRN ist der Weisheit Anfang". Wir werden ermahnt, "den ganzen Tag in der Furcht des HERRN zu wan­deln". Sie ist ein großer Schutz gegen alles Böse. "Und zu dem Men­schen sprach er: Siehe, die Furcht des Herrn ist Weisheit, und vom Bösen weichen ist Verstand" (Hiob 28, 28). Die Heilige Schrift enthält eine Menge von Aussprüchen, die uns die Furcht Gottes vor Augen stellen. "Wie sollte ich", sagt Joseph, "dieses große Übel tun und wider Gott sündigen?" Wer bewußt in der Furcht Gottes lebt, bleibt vor jeder Art des sittlich Bösen bewahrt. Das beständige Bewußtsein der Gegen­wart Gottes ist der wirksamste Schutz gegen jede Versuchung. Wie oft erfahren wir, daß die Gegenwart einer geistlich gesinnten Person ein wohltuendes Hindernis ist gegen leichtfertiges und törichtes Handeln und Reden. Wenn schon ein Mensch einen solchen Einfluß ausüben kann, wieviel mehr die Gegenwart Gottes!

 

Geliebter Leser! Laßt uns diesem Gegenstand unsere ernste Aufmerk­samkeit schenken und in dem Bewußtsein zu leben suchen, daß wir uns immer in der Gegenwart Gottes befinden. Nur so werden wir vor allem Bösen bewahrt bleiben, zu dem wir leider sehr neigen. Die Furcht des HERRN wird sich als eine Schranke gegen das Böse jeder Art er­weisen. Sie wird all unserem Reden und Tun Aufrichtigkeit verleihen. Ach, wie oft sprechen wir leere, nichtssagende Worte! Wie oft reden wir weit mehr, als wir empfinden! Wir sind dann nicht ehrlich' Wir reden nicht die Wahrheit mit unserem Nächsten. Wir geben Empfin­dungen Ausdruck, die wir gar nicht in unseren Herzen haben. Das ist Heuchelei.

 

Das beweist nur zu deutlich, wie wenig wir in der Gegenwart Gottes leben. Wir würden uns oft anders verhalten, wenn wir uns stets bewußt wären, daß Gott uns hört und sieht, daß Er jedes unserer Worte hört, jeden Gedanken kennt und alle unsere Wege siehtt Wir würden mehr über unsere Gedanken, über unsere Gefühle und über unsere Worte wachen. Reinheit des Herzens wäre die Folge. Welche Wahrheit und Aufrichtigkeit unserem Nächsten gegenüber! Oh, laßt uns danach rin­gen', mehr im Bewußtsein der Gegenwart Gottes zu leben und täglich, ja, stündlich in der Furcht des Herrn unseren Weg zu gehen.

 

Welch ein heilsamer Einfluß würde dann das Bewußtsein und der Ge­nuß Seiner Liebe auf uns ausüben! Dann leitet uns diese Liebe an, alles das zu tun, was Er wünscht. Wir finden unsere einzige Freude daran, Gutes zu tun. Wir erfahren die große Freude, andere Herzen glücklich zu machen und immer nur daran zu denken, was Gott erfreut. Wenn wir recht nahe an der Quelle der göttlichen Liebe bleiben, sind wir erfrischende Ströme inmitten der durstigen Wüste um uns her, strahlende Lichter inmitten der sittlichen Finsternis, die uns umgibt! "Denn die Liebe des Christus", sagt der Apostel, "drängt uns, indem wir also geurteilt haben, daß einer für alle gestorben, auf daß die, welche leben, nicht mehr sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben ist und ist auferweckt worden" (2. Kor. 5, 14. 15).

 

Laßt uns das mehr verwirklichen, damit diese Furcht und diese Liebe ständig in unseren Herzen wohnen und sie leiten kann. Dann wird unser tägliches Leben zur Verherrlichung unseres Gottes und zum Nutzen, Trost und Segen für alle sein, die mit uns in Berührung kommen!

 

Die Ermahnung im sechzehnten Vers unseres Kapitels: "Ihr sollt den HERRN, euren Gott, nicht versuchen, wie ihr ihn zu Massa versucht habt", fordert unsere besondere Aufmerksamkeit, denn der Herr Jesus berief sich darauf, als Satan Ihn verführen Wollte, sich von der Zinne des Tempels herunterzustürzen. "Dann nimmt der Teufel ihn mit in die heilige Stadt und stellt ihn auf die Zinne des Tempels und spricht zu ihm: Wenn du Gottes Sohn bist, so wirf dich hinab; denn sie wer­den dich auf den Händen tragen, damit du nicht etwa deinen Fuß an einen Stein stoßest" (Matth. 4, 5. 6). Diese Stelle beweist, wie selbst Satan die Schrift anzuführen weiß, wenn es seinen Zwecken dient. Doch er läßt in seiner Anführung einen wichtigen Satz aus. Der Vers lautet buchstäblich: "Er wird seinen Engeln über dir befehlen, dich zu bewahren auf allen deinen Wegen. Auf den Händen werden sie dich tragen . . ." (Ps. 91, 11. 12). Es gehörte aber nicht zu den Wegen Christi, sich von der Zinne des Tempels herunterzustürzen. Er hatte kein Gebot von Gott empfangen, so etwas zu tun, und deshalb weigerte Er sich, das zu tun. Er hatte nicht nötig, Gott auf die Probe zu stellen. Er hatte als Mensch vollkommenes Vertrauen auf Gott und war völlig überzeugt, daß er Ihn bewahren würde.

 

Außerdem dachte Er nicht daran, den Weg des Gehorsams zu verlassen und dadurch Gottes Sorge für Ihn zu erproben. Hierdurch gibt Er auch eine sehr bedeutsame Unterweisung. Wir können stets mit Gottes Schutz rechnen, wenn wir uns auf dem Weg des Gehorsams befinden. Gehen wir aber auf eigenen Wegen, die wir uns ausgedacht haben, und verfolgen unsere eigenen Interessen und Ziele, dann ist es geradezu vermessen, von Vertrauen auf Gott zu reden. Unser Gott ist zweifellos sehr gütig und gnädig, ja, Seine Güte hört selbst dann noch nicht auf, wenn wir uns von dem Weg des Gehorsams abgewandt haben. Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß wir nur mit dem Schutz Gottes rechnen können, wenn wir uns auf einem Weg des Gehorsams befinden. Ist solch ein Weg auch eng, rauh und mühsam, so wird er doch überschattet von den Flügeln des Allmäch­tigen und von Ihm erleuchtet.

 

Bevor wir dieses Thema verlassen, möchten wir noch darauf hinweisen, daß unser Herr in Seiner Erwiderung auf die verstümmelte Anführung der obenerwähnten Stelle nicht eingeht. Statt Satan zu belehren: "DU hast einen sehr wichtigen Satz ausgelassen", beruft Er sich für Sein eigenes Verhalten einfach auf eine andere Schriftstelle. Auf diese Weise überwand Er den Versucher und gab uns damit ein wunderbares Beispiel. Er besiegte den großen Feind nicht durch Seine göttliche Macht. Hätte Er das getan, so wäre es kein Beispiel für uns gewesen. Nein, Er gebrauchte als Mensch das Wort Gottes als Seine einzige Waffe und errang damit einen herrlichen Sieg über Satan. Das ermun­tert und tröstet unsere Herzen und belehrt uns zugleich, wie auch wir uns im Kampf verhalten sollen. Der Mensch Jesus Christus überwand den Versucher nur durch die Abhängigkeit von Gott und durch unbe­dingten Gehorsam gegenüber Seinem Wort.

 

Satan konnte Ihm nichts anhaben, da Er nur aufgrund der göttlichen Autorität und in der Kraft des Geistes handelte. Jesus tat nie Seinen eigenen Willen, obgleich Sein Wille vollkommen war. Er kam vom Himmel herab, wie Er uns in Joh. 6 selbst sagt, nicht um Seinen Willen zu tun, sondern den Willen dessen, der Ihn gesandt hatte. Er war vom Anfang bis zum Ende der vollkommene Diener. Die Richt­schnur für Sein Verhalten war das Wort Gottes, Seine Kraft der Heilige Geist, und der einzige Beweggrund für Sein Handeln der Wille Gottes. Daher hatte der Fürst dieser Welt nichts in Ihm. Satan konnte Ihn trotz all seiner listigen Versuche nicht bewegen, auch nur für einen Augenblick den Weg des Gehorsams oder den Platz der Abhän­gigkeit zu verlassen.

 

Der letzte Abschnitt unseres Kapitels hat eine besondere Fülle, Tiefe und Kraft. Er kennzeichnet wieder in treffender Weise den Charakter des ganzen fünften Buches Mose (V. 17‑25).

 

Es war der Zweck und das einzige Ziel des Gesetzgebers, das Wort Gottes dem Herzen des Volkes so wertvoll wie möglich zu machen und ihm die Notwendigkeit und auch den Segen eines aufrichtigen, ernsten Gehorsams einzuschärfen. "Ihr sollt fleißig beobachten die Gebote des HERRN, eures Gottes". Und weiter: "Du sollst tun was recht und gut ist in den Augen des HERRN". Diese ernsten Grund­sätze haben sich nicht geändert. Kein Wechsel der Haushaltung, kein Wechsel der Zeit, des Ortes oder der Umstände kann sie je ver­ändern. "Was recht und gut ist", das muß allgemeine und bleibende Gültigkeit behalten. Es erinnert uns an die Worte des Apostels Johannes in dem Brief an seinen Freund Gajus: "Geliebter, ahme nicht das Böse nach, sondern das Gute". Die Versammlung war vielleicht in einem beklagenswerten Zustand. Vielleicht zeigte sich vieles, was Gajus übte und niederbeugte. Was sollte er tun? Einfach dem folgen, was recht und gut war, sein Herz, seine Hand und sein Haus jedem öffnen, der die Wahrheit brachte.

 

Und das, was Gajus in seinen Tagen tun sollte, erwartet der Herr 'von jedem wahren Gläubigen zu allen Zeiten und in allen Umstän­den. Wenden sich auch viele von uns ab, wenn wir den verleugnungs­vollen Weg des Gehorsams gehen, dennoch müssen wir stets dem folgen, was gut und recht ist, koste es, was es wolle. Wir werden er­mahnt, uns abzuwenden von der Ungerechtigkeit, uns zu reinigen von den Gefäßen der Unehre und uns wegzuwenden von den bloßen Be­kennern. Und dann? Nachjagen der Gerechtigkeit, dem Glauben, der Liebe, dem Frieden mit allen denen, die den Herrn anrufen aus reinem Herzen (vgl. 2. Tim. 2).

 

Kapitel 7

 

REGIERUNG UND GNADE

 

"Wenn der Herr, dein Gott, dich in das Land bringt, wohin du kommst, um es in Besitz zu nehmen, und viele Nationen vor dir austreibt ..., sieben Nationen, größer und stärker als du, und der HERR, dein Gott, sie vor dir dahingibt, und du sie schlägst, so sollst du sie ganz und gar verbannen; und du sollst keinen Bund mit ihnen machen, noch Gnade gegen sie üben" (V. 1. 2).

 

Wenn wir den Bericht lesen über die Wege Gottes mit den Völkern der Erde in Verbindung mit Seinem Volk Israel, dann werden wir unwillkürlich an die ersten Worte des Psalms 101 erinnert: "Von Güte und Recht will ich singen". Wir sehen die Entfaltung der Güte zu Seinem Volk wegen Seines Bundes mit Abraham, Isaak und Jakob, aber auch die Ausübung des Gerichts an den Nationen als Folge ihrer bösen Wege. Bei Israel begegnen wir der unumschränkten Güte Gottes, bei den Nationen Seiner Gerechtigkeit. Aus beiden strahlt die Herrlich­keit Gottes hervor. Alle Wege Gottes, ob in Güte oder in Gericht verkünden Sein Lob und werden in alle Ewigkeit die Anbetung Seines Volkes wachrufen. "Groß und wunderbar sind deine Werke, Herr, Gott, Allmächtiger! gerecht und wahrhaftig deine Wege, o König der Nationen! Wer sollte nicht dich, Herr, fürchten und deinen Namen verherrlichen? denn du allein bist heilig; denn alle Nationen werden kommen und vor dir anbeten, denn deine gerechten Taten sind offen­bar geworden" (Offb. 15, 3. 4).

 

Das ist die richtige Gesinnung, in der wir die Wege der Regierung Gottes betrachten sollen. Manche Leser des Wortes lassen sich aller­dings durch ihre Gefühle leiten und haben dann Schwierigkeiten, die Anweisungen, die dem Volk Israel bezüglich der Kanaaniter am Anfang unseres Kapitels gegeben werden, zu verstehen. Es scheint ihnen mit dem gütigen Wesen Gottes unvereinbar, daß Er einem Volk gebieten konnte, ein anderes Volk ohne Barmherzigkeit zu erschlagen. Sie können nicht begreifen, wie ein barmherziger Gott Seinem Volk den Auftrag, geben kann, Frauen und Kinder mit der Schärfe des Schwertes zu schlagen.

 

Solche Personen können natürlich nicht der oben angeführten Schrift­stelle zustimmen. Sie sind nicht fähig anzuerkennen: "Gerecht und wahrhaftig sind deine Wege, o König der Nationen!" Sie können Gott nicht rechtfertigen in a 11 en Seinen Wegen, ja, sie kritisieren Sein Tun. Sie maßen sich an, die Handlungen der göttlichen Regierung mit dem Maßstab ihrer eigenen, oberflächlichen Gedanken zu messen. Sie beur­teilen das Unendliche nach dem Endlichen.

 

Das ist ein verhängnisvoller Irrtum. Wir haben kein Recht, ein Urteil über die Wege Gottes zu fällen, und es verrät nur Anmaßung, wenn arme, kurzsichtige, sterbliche Menschen das versuchen. Es steht ge­schrieben: "Und die Weisheit ist gerechtfertigt worden von allen ihren Kindern" (Luk. 7, 35).

 

Hat aber ein aufrichtiger Leser wirklich Schwierigkeiten, diese Zu­sammenhänge zu verstehen, so lese er Ps. ‑136, 1. 10‑22. Er findet dort, daß die ewige Güte des HERRN durch das Erschlagen der Erst­geburt Ägyptens wie auch durch die Befreiung Israels und seinen Durchzug durchs Rote Meer, durch die gänzliche Vernichtung der Heere des Pharao und das Gericht der Kanaaniter wie auch durch die Austeilung ihres Landes an Israel ans Licht kommt. *)

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*) Viele Christen verstehen eine große Zahl von Psalmen sehr schwer, weil in ihnen das Gericht für den Gottlosen erfleht wird. Die Sprache dieser Psalmen ist natürlich für uns Christen heute ganz unpassend, da wir ja belehrt werden, unsere Feinde zu lieben Gutes zu tun denen, die uns hassen, und für solche zu beten, die uns beleidigen und verfolgen. Doch dürfen wir nicht vergessen, daß das, was für die Kirche Gottes, als ein heimliches und unter der Gnade stehendes Volk, unpassend ist, dem Volk Gottes, das unter den Grundsätzen göttlicher Regierung stand, von Gott aufgetragen war. Kein geistlich gesinnter Christ denkt daran, Rache für seine Feinde oder für den Gottlosen zu erbitten. Das wäre ein grobes Vergessen seiner christlichen Stellung. Wir sind vielmehr berufen, ein leben­diges Zeugnis der Gnade Gottes in einer sündigen Welt zu sein, in den Fußstapfen des Herrn Jesus zu gehen, der sanftmütig und von Herzen demütig war, um der Gerechtigkeit willen zu leiden und dem Bösen zu widerstehen. Gott handelt jetzt mit der Welt in Langmut und Geduld. „Er läßt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte" (Matth. 5, 45). Das soll unser Vorbild sein, und der Herr ermahnt uns, hierin "vollkommen zu sein, wie unser himmlischer Vater vollkommen ist". Ein Christ würde seinen himmlischen Vater völlig falsch darstellen und sein Bekenntnis verfälschen, wenn er mit der Welt nach den Grundsätzen eines gerechten Gerichts verfahren wollte.

Aber bald, wenn die Kirche die Erde verlassen hat, wird Gott mit der Welt in Gerechtigkeit handeln und die Völker danach richten, wie sie Sein Volk Israel behandelt haben.

 

 

Alles muß zur Verherrlichung Gottes dienen, und es ist unser Vor­recht, Gottes Gutes zu erkennen uns vor Seinen unausforschlichen Ge­richten zu beugen und die Gewißheit zu haben, daß alle Wege Gottes gut und richtig sind. Sicher ist es uns unmöglich, sie alle zu ver­stehen; denn die Endlichkeit kann die Unendlichkeit nicht erfassen.

 

Hierin liegt der Grund, weshalb soviele irregehen. Sie urteilen über die Handlungen der Regierung Gottes, ohne daran zu denken, daß solche Handlungen ebensoweit über dem Bereich der menschlichen Vernunft liegen, wie der Schöpfer über dem Geschöpf steht. Kann der menschliche Verstand die tiefen Geheimnisse der göttlichen Vor­sehung enthüllen? Können wir erklären, daß eine Stadt voll lebens­froher Menschen ‑ Männer, Frauen und Kinder ‑ in einer Stunde durch einen Strom glühender Lava untergeht? Und dennoch ist dies nur eine Tatsache von tausenden, die die menschliche Geschichte auf­gezeichnet hat und die alle außerhalb des menschlichen Beurteilungs­vermögens liegen. Können wir sie erklären? Können wir sagen, warum Gott es erlaubt? Ist es unsere Aufgabe, das zu tun? Wir geraten in Verwirrung, wenn nicht gar in Unglauben, sobald wir anfangen, in unserer Unwissenheit über die unerforschlichen Geheimnisse der gött­lichen Regierung zu grübeln.

 

Diese Ausführungen sollen dazu dienen, die Eingangsworte unseres Kapitels besser zu verstehen. Die Israeliten sollten den Kanaanitern keine Gnade erzeigen, weil deren Sünden und Missetaten ihren Höhe­punkt erreicht hatten. Es blieb nichts anderes übrig als eine genaue Ausführung des göttlichen Gerichts. "Du sollst keinen Bund mit ihnen machen, noch Gnade gegen sie üben, ...' (V. 2‑5). Keine Gnade für die Kanaaniter, kein Bund mit ihnen, keine Vereinigung, keinerlei Gemeinschaft, nur ein schonungsloses Gericht, eine entschiedene Trennung.

 

Wir wissen, wie bald und wie vollständig Israel diese göttlichen Anweisungen mißachtet hat. Kaum hatten sie das Land Kanaan be­treten, als sie schon einen Bund mit den Gibeonitern machten. Selbst Josua fiel in diese Schlinge. Die Fürsten der Gemeinde, getäuscht durch die zerrissenen Kleider und das schimmlige Brot des listigen Volkes, ließen sich betören, in direktem Widerspruch zu dem ausdrücklichen Gebot Gottes zu handeln. Hätten sie sich durch die Autorität des Wortes leiten lassen, so wären sie vor dem Fehler bewahrt geblieben, ein Bündnis mit einem Volk zu machen, das sie hätten ausrotten sollen. Aber sie urteilen nach dem Schein, nach dem, was ihre Augen sahen, und sie mußten die Folgen davon tragen. *)

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*) Es ist lehrreich und auch zugleich eine Warnung für uns, zu sehen, wie das, was die Mauern Jerichos nicht bewirken konnten, durch die Kleider, das schimmlige Brot und die trügerischen Reden der Gibeoniter erreicht wurde. Satans List ist mehr zu fürchten als seine Macht. Ziehet an die ganze Waffenrüstung Gottes, damit ihr zu bestehen vermöget wider die Listen des Teufels" (Eph. 6, 11). je mehr wir die verschiedenen Teile der Waffenrüstung Gottes untersuchen, um so klarer werden wir sehen, daß sie sich unter zwei Überschriften einreihen lassen: Gehorsam und Abhängig­keit. Ein Mensch , der wirklich durch die Autorität des Wortes beherrscht wird und abhängig ist von der Macht des Heiligen Geistes, ist vollkommen ausgerüstet zum Kampf. Das waren die Waffen, durch die der Mensch Christus Jesus den Feind besiegte. Der Teufel konnte nichts mit einem Menschen anfangen, der vollkommen gehorsam und abhängig war.

 

Ein bedingungsloser Gehorsam ist der wirksamste Schutz gegen die Listen des Feindes. Ohne Zweifel erschien die Erzählung der Gibeoniter sehr glaubhaft, und das Äußere der Männer schien ihre Worte zu bestätigen. Aber alles das hätte es auch nicht gehabt, wenn sie das Gebot des Herrn beachtet hätten. Aber hierhin versagen sie. Anstatt einfach dem zu gehorchen, was sie gehört hatten, Überlegten und urteil­ten sie nach dem, was sie sahen. Doch der menschliche Verstand kann nie dem Volk Gottes als Führer dienen. Wir müssen uns einzig und allein durch das Wort Gottes leiten und beherrschen lassen.

 

Im sechsten Vers unseres Kapitels stellt Mose dem Volk den Grund vor, weshalb es in so strenger Absonderung von den Kanaanitern leben und ein solch schonungsloses Gericht über sie bringen sollte. Er sagt: "Denn ein heiliges Volk bist du dem HERRN, deinem Gott; dich hat der HERR, dein Gott, erwählt, ihm zum Eigentumsvolke zu sein aus allen Völkern, die auf dem Erdboden sind".

 

Der hier aufgezeigte Grundsatz ist sehr wichtig. Warum mußte das Volk von den Kanaanitern abgesondert bleiben? Warum mußte es jede eheliche oder sonstige Verbindung mit ihnen verweigern? Warum sollten sie ihre Altäre zerbrechen und ihre Ascherim umhauen? Weil sie ein heiliges Volk waren. Und wer hatte sie dazu berufen? Der HERR. Er hatte sie erwählt und geliebt. Er hatte sie erlöst und für sich selbst abgesondert, und darum stand Ihm auch das Recht zu, ihnen vorzuschreiben, was sie sein und wie sie handeln sollten. "Seid heilig, denn ich bin heilig".

 

Er handelte keineswegs mit ihnen nach dem Grundsatz: "Bleibe für dich und nahe mir nicht, denn ich bin dir heilig" (Jes. 65, 5). Das geht klar aus den Worten hervor: "Nicht weil euer mehr wären als aller Völker, hat der HERR sich euch zugeneigt und euch erwählt; denn ihr seid das geringste unter allen Völkern; sondern wegen des HERRN Liebe zu euch, und weil er den Eid hielt, den er euren Vätern geschwo­ren, hat der HERR euch mit starker Hand herausgeführt und dich erlöst aus dem Hause der Knechtschaft, aus der Hand des Pharao, des Königs von Ägypten" (V. 7. 8).

 

Wie heilsam und nötig waren diese Worte für Israel. Sie sollten sich immer daran erinnern, daß sie alle ihre Würden, Vorrechte und Seg­nungen nicht sich selbst, nicht ihrer eigenen Güte oder Größe, sondern allein dem HERRN zu verdanken hatten, der sich mit ihnen eins­gemacht hatte in Seiner unendlichen Güte, Seiner unumschränkten Gnade und kraft des Bundes, den Er mit ihren Vätern gemacht hatte, eines Bundes, "geordnet in allem und verwahrt" (2. Sam. 23, 5). Diese Worte gaben ihnen einerseits ein göttliches Gegenmittel gegen alle Selbstgefälligkeit und alles Selbstvertrauen und bildeten anderseits die feste Grundlage für ihre Glückseligkeit und Sicherheit. Alles beruhte auf der Gnade Gottes, und deshalb war jeder menschliche Ruhm ausge­schlossen. "In dem HERRN soll sich rühmen meine Seele; hören wer­den es die Sanftmütigen und sich freuen".

 

Nach Gottes bestimmtem Vorsatz soll sich vor Ihm "kein Fleisch' rühmen (i. Kor. 1, 29). Jede menschliche Anmaßung muß beseitigt werden. Der Herr verbirgt #,Übermut vor dem Manne" (Hiob 33, 17). Israel mußte lernen, seinen Ursprung und seinen wahren Zustand nicht zu vergessen. Sie waren "Knechte in Ägypten" gewesen und waren "das geringste unter allen Völkern". Da war kein Raum für Stolz oder Selbsterhebung. Sie waren nicht besser als die Völker um sie her und hatten, was die Ursache ihrer Gunst und Vorrechte betraf, einfach alles der freien Liebe Gottes zu verdanken und der Zuverlässigkeit Seines Eidschwurs.

 

"So wisse denn, daß der HERR, dein Gott, Gott ist, der treue Gott, der den Bund und die Güte auf tausend Geschlechter hin denen bewahrt, die ihn lieben und seine Gebote beobachten, und denen, die ihn hassen, ins Angesicht vergilt, sie zu vertilgen. nicht zögert er mit seinem Hasser, ins Angesicht vergilt er ihm" (V. 9. 10).

 

Hier begegnen wir zwei wichtigen Tatsachen. Die eine ist voll Trost für jeden, der Gott liebt, die andere ist sehr ernst für jeden, der Ihn haßt. Alle, die Gott in Wahrheit lieben und Seine Gebote bewahren, dürfen zu allen Zeiten und in allen Umständen auf Seine Treue und Güte rechnen. "Wir wissen aber, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten mitwirken, denen, die nach Vorsatz berufen sind" (Röm. 8, 28). Wenn dank der Gnade die Liebe Gottes in unseren Herzen wohnt und wir in Gottesfurcht leben, so dürfen wir mit gutem Mut und frohem Vertrauen und in der Gewißheit vorangehen, daß alles gut gehen wird. "Geliebte, wenn unser Herz uns nicht verurteilt, so haben wir Freimütigkeit zu Gott, und was irgend wir bitten, empfangen wir von ihm, weil wir seine Gebote halten und das vor ihm Wohlgefällige tun" (i. Joh. 3, 21. 22).

 

Das ist eine bedeutende, ewig gültige Wahrheit, sowohl für Israel als auch für die Kirche. Die Verschiedenheit ihrer Stellung macht hier kei­nen Unterschied. Das siebte Kapitel des fünften Buches Mose und das dritte Kapitel des ersten Briefes des Johannes lehren uns dieselbe praktische Wahrheit, nämlich, daß Gott Seine Freude an denen hat, die Ihn fürchten, lieben und Seine Gebote halten.

 

Darin liegt nichts Gesetzliches. Liebe und Gesetzlichkeit haben nichts miteinander gemeinsam. Sie sind im Gegenteil einander so entgegenge­setzt wie die beiden Pole der Erde. "Denn dies ist die Liebe Gottes, daß wir seine Gebote halten, und seine Gebote sind nicht schwer" (l. Joh. 5, 3). Der Geist, die Natur, der Grund und Charakter unseres Gehorsams beweisen, daß er das gerade Gegenteil von Gesetzlichkeit ist. Die­jenigen, die sogleich von Gesetzlichkeit reden, sobald ihnen die Not­wendigkeit eines schlichten Gehorsams vorgestellt wird, befinden sich in einem traurigen Irrtum. Wenn gelehrt würde, daß wir uns durch unseren Gehorsam die Stellung und das Verhältnis von Kindern Gottes erwerben müßten, dann wäre allerdings die Beschuldigung, gesetzlich zu sein, gerechtfertigt. Aber den christlichen Gehorsam als Gesetzlichkeit zu bezeichnen, ist ein Irrtum. Sicherlich kann der Gehor­sam der Sohnschaft nicht vorausgehen, jedoch sollte er ihr folgen.

 

Bevor wir dieses Thema abschließen, möchten wir die Aufmerksamkeit des Lesers auf einige Stellen des Neuen Testaments richten, die oft falsch verstanden werden. Wir lesen in Matth. 5. "Ihr habt gehört, daß gesagt ist. Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen,... damit ihr Söhne eures Vaters seid, der in den Himmeln ist; denn er läßt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte ... Ihr nun sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist" (V. 43‑48).

 

Diese Stelle scheint auf den ersten Blick zu lehren, daß das Kindesver­hältnis durch bestimmtes Verhalten erlangt werden kann. Aber das ist gerade nicht der Fall. Es handelt sich hier vielmehr um die Gleichheit oder Übereinstimmung mit den Wegen unseres Vaters. Man sagt zum Beispiel in der Umgangssprache: "Du wärst nicht der Sohn deines Vaters, wenn du so oder so handeln würdest." So sagt gleichsam auch der Herr: "Wenn ihr Söhne eures himmlischen Vaters sein wollt so müßt ihr gegen alle Menschen in Gnade handeln, denn also handelt Er".

 

Dann lesen wir in 2. Kor. 6: "Darum gehet aus ihrer Mitte aus und sondert euch ab, spricht der Herr, und rühret Unreines nicht an, und ich werde euch aufnehmen, und ich werde euch zum Vater sein, und ihr werdet mir zu Söhnen und Töchtern sein, spricht der Herr, der All­mächtige" (V. 17. 18). Hier handelt es sich nicht um das verborgene, durch göttliche Wirksamkeit gebildete Kindesverhältnis, sondern um die öffentliche Anerkennung unserer Stellung als Söhne infolge unserer Trennung vom Bösen.

 

Dieser wichtige Unterschied sollte wohl beachtet werden. Er kann nicht ohne Einfluß auf unsere Praxis bleiben. Wir werden nicht Söhne durch unsere Trennung von der Welt, sondern "durch den Glauben an Christus Jesus" (Gal. 3, 26). "So viele ihn aber aufnahmen, denen gab er das Recht, Kinder Gottes zu werden, denen, die an seinen Namen glauben, welche nicht aus Geblüt, noch aus dem Willen des Fleisches, noch aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind" (Joh. 1, 12. 13). "Nach seinem eigenen Willen hat er uns durch das Wort der Wahrheit gezeugt" (Jak. 1, 18). Wir werden Kinder durch die neue Geburt, die von Anfang bis zu Ende Sein Werk ist. Dafür sei Gott gepriesen. Was hatten wir bei unserer natürlichen Geburt zu tun? Nichts. Und was haben wir bei unserer geistlichen Geburt zu tun? Ebenfalls nichts.

 

Doch müssen wir uns daran erinnern, daß Gott nur solche öffentlich anerkennen und sich mit ihnen einsmachen kann, die durch die Gnade Seiner würdig zu wandeln suchen, wie es sich für Söhne und Töchter des Allmächtigen geziemt. Wie können wir erwarten, daß Gott uns als Seine Söhne anerkennt, wenn unsere Wege nicht mit Seinem Willen übereinstimmen, wenn wir uns in allerlei traurige Dinge verwickeln und uns in einem ungleichen Joch mit Ungläubigen befinden? Wir hö­ren in Hebräer 11 von Männern, die "bekannten, daß sie Fremdlinge und ohne Bürgerschaft auf der Erde seien" und die deutlich zeigten, daß sie "ein Vaterland" suchten. Von ihnen wird gesagt: "Darum schämt sich Gott ihrer nicht, ihr Gott genannt zu werden" (V. 13‑16). Er konnte sich öffentlich mit ihnen einsmachen und sie als die Seinigen anerkennen.

 

Wenden wir uns jetzt einen Augenblick der ernsten Wahrheit zu, die uns im 10. Vers unseres Kapitels vorgestellt wird: "... und denen, die ihn hassen, ins Angesicht vergilt, sie zu vertilgen: nicht zögert er mit seinem Hasser, ins Angesicht vergilt er ihm". Während in Vers 9 diejenigen, die Gott lieben, getröstet und ermuntert werden, Seine Gebote zu halten, ergeht in diesem Vers die Aufforderung an die Hasser Gottes, Seine Warnungen zu beachten.

 

Es kommt eine Zeit, wo Gott sich mit Seinen Feinden persönlich, von Angesicht zu Angesicht, beschäftigen wird. Wie schrecklich ist der Ge­danke, daß irgend jemand den hassen kann, der "Licht" und "Liebe­ ist, die Quelle der Güte, der Urheber und Geber aller guten und voll­kommenen Gaben und der Vater der Lichter, dessen freigebige Hand die Bedürfnisse jedes Lebewesens kennt, der das Schreien der jungen Raben hört und den Durst des Wildesels stillt; der der allein weise, unendlich gütige und vollkommen heilige Gott, der gewaltige Herr und Gebieter und der Schöpfer der Enden der Erde ist!

 

ich wiederhole: welch ein Gedanke, daß jemand einen solchen Gott hassen kann! Und doch wissen wir, daß alle, die Ihn nicht lieben, Ihn hassen, so wenig der Mensch im allgemeinen bereit ist, das anzuerken­nen. Es gibt hier keinen neutralen Boden. Man steht notwendigerweise auf der einen oder auf der anderen Seite. Und auch die Erfahrung lehrt, daß der Mensch, selbst der religiöse Bekenner, gar nicht lange zögert, wenn es darauf ankommt, seine wirkliche Einstellung zu offenbaren. Oft zeigt sich die im Innersten verborgene Feindschaft gegen Gott im Haß gegen Sein Volk, Sein Wort, Seine Anbetung und Seinen Dienst; ..weil die Gesinnung des Fleisches Feindschaft ist gegen Gott, denn sie ist dem Gesetz Gottes nicht untertan' denn sie vermag es auch nicht" (Röm. 8, 7). Diese Feindschaft zeigt sich in bezug auf alles, was mit Gott in Verbindung steht. Sie schlummert in jedem unbekehrten Herzen und wartet nur auf die Gelegenheit, sich zu offenbaren. Jeder Mensch in seinem natürlichen Zustand haßt Gott.

 

Nun aber bezeugt Gott in der erwähnten Stelle: "Nicht zögert er mit seinem Hasser, ins Angesicht vergilt er ihm". Welch eine ernste Wahr­heit! Der Mensch hört sie nicht gern, und viele möchten sie ganz wegleugnen. Sie suchen sich selbst und andere zu überreden, daß Gott zu gütig, zu liebevoll, zu wohlwollend und zu barmherzig ist, um ein strenges Gericht über Seine Geschöpfe ergehen zu lassen. Aber sie vergessen dabei ganz, daß die Wege der Regierung Gottes genauso vollkommen sind wie Seine Wege in Gnade. Sie bilden sich ein, Gott würde das Böse übersehen oder es doch mit ihm und mit denen, die es tun, nicht so genau nehmen.

 

Jeder, der sich diesem verhängnisvollen Irrtum hingibt, tut das auf seine eigenen und ewigen Kosten. Daß Gott in Seiner reichen und un­umschränkten Gnade und Barmherzigkeit unsere Sünden vergeben und uns vollkommen rechtfertigen kann und dann in unsere Herzen den Geist der Sohnschaft einkehren läßt, ist eine ganz andere Sache. Es ist die Gnade, die durch Gerechtigkeit herrscht "zu ewigem Leben durch Jesus Christus, unseren Herrn" (Röm. 5, 21). Dem armen, schuldigen Sünder, der anerkennt und empfindet, daß er keine Gerechtigkeit besitzt noch erwerben kann, schenkt Gott in Seiner wunderbaren Liebe Seine Gerechtigkeit umsonst. Er hat in der unendlichen Liebe Seines Herzens ein Mittel gefunden, durch das Er, unbeschadet Seiner Gerechtigkeit, jeden rechtfertigen kann, der als ein armer, bußfertiger Sünder ein­fältig an Jesus glaubt (Röm. 3, 26).

 

. 7 Hat Gott dabei die Sünde übersehen, als ob sie bedeutungslos wäre. Hat Er die Ansprüche Seiner Regierung herabgesetzt, die Forderungen Seiner Heiligkeit verringert oder die Würde und Majestät des Gesetzes in irgendeiner Weise angetastet? Nein, im Gegenteil. Nirgendwo findet man einen furchtbareren Ausdruck des Hasses Gottes gegen die Sünde und Seinen unwandelbaren Vorsatz, sie mit ewiger Strafe zu strafen, als in dem erhabenen, herrlichen Werk der Erlösung. Nie hätte die göttliche Regierung mehr gerechtfertigt und die Ansprüche göttlicher Heiligkeit, Wahrheit und Gerechtigkeit vollkommener aufrecht gehalten, nie hätte das Gesetz glorreicher bestätigt werden können, als es in dem wunderbaren Erlösungsplan geschehen ist, der durch Gott, den Vater, entworfen, durch Gott, den Sohn, ausgeführt und durch Gott, den Heili­gen Geist, geoffenbart worden ist.

 

Wollen wir ein richtiges Verständnis von dem Haß Gottes gegen die Sünde und von dem wahren Charakter Seiner Heiligkeit haben, so brauchen wir nur einen Blick auf das Kreuz zu werfen. Dort müssen wir horchen auf den Schrei bitterer Not, der aus dem Herzen des Soh­nes zu Gott aufstieg und die finsteren Schatten Golgathas durchdrang: "Mein Gott, mein Gott! warum hast du mich verlassen?" Nie vorher war eine solche Frage gestellt worden, nie kann und wird sie jemals wieder an Gott gerichtet werden. Sie steht einzig da in den Jahrbüchern der Ewigkeit. Laßt uns den betrachten, der diese Frage stellte, oder den, an welchen sie gerichtet wurde. Das Kreuz ist der Maßstab für den Haß Gottes gegen die Sünde und zugleich der Maßstab für Seine Liebe zu dem Sünder. Das Kreuz ist die unerschütterliche Grundlage des Gna­denthrons und die Grundlage, auf der Gott unsere Sünden vergeben und uns vollkommen gerecht in einem auferstandenen und verherrlich­ten Christus annehmen kann.

 

Doch was wird das Ende derer sein, die all das verachten, in ihrem Haß gegen Gott beharren und doch davon reden, daß Er zu gütig und zu gnädig ist, um die Übeltäter zu bestrafen? ‑ "Wer an den Sohn glaubt, hat ewiges Leben; wer aber dem Sohne nicht glaubt (oder nicht ge­horcht), wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt auf ihm" (Joh. 3, 36). *) Könnten wir auch nur für einen Augenblick denken, daß ein gerechter Gott über Seinen eingeborenen, geliebten Sohn, über den, der Seine ewige Wonne ist, das Gericht ergehen ließ, weil Er unsere Sünden auf dem Holz trug, und daß Gott trotzdem erlauben könnte, daß einer, der keine Buße getan hat, entrinnt? Wenn Jesus, der fleckenlose, heilige und vollkommene Mensch, der einzige Vollkommene, der je auf dieser Erde lebte, für die Sünden leiden mußte, Er, der Gerechte für die Ungerechten, sollten dann Übeltäter, Ungläu­bige und Gotteshasser errettet werden, und zwar nur deshalb, weil Gott angeblich zu gütig ist, um Sünder für immer in die Hölle zu werfen? Wenn Gott Seinen geliebten Sohn verlassen und zerschlagen mußte, um Sein Volk von seinen Sünden zu erretten, sollten dann Gott­lose, Verächter und Widerspenstige errettet werden in ihren Sünden? Warum dann die furchtbaren Schrecken Golgathas? Warum die drei Stunden der Finsternis? Warum der bittere Schrei: "Mein Gott, mein Gott! warum hast du mich verlassen?" Warum alles das, wenn Sünder, ohne daß das Gericht nötig war, in den Himmel eingehen könnten? Warum alle die unsagbaren Leiden und Schmerzen, wenn Gott zu gütig, zu gnädig und zu barmherzig ist, Sünder in die Hölle zu senden?

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*) Diese Stelle zeigt uns nicht nur die Wahrheit, daß alle, die an den Sohn glauben, das ewige Leben besitzen, sondern sie entzieht auch den beiden bedeutendsten Irrlehren unserer Tage, der Allversöhnungs ‑ und der Ver­nichtungslehre, jeden Boden. Der Allversöhner lehrt, daß schließlich alle Menschen errettet und gesegnet werden. Unsere Stelle aber sagt: "Wer dem Sohne nicht glaubt, wird das Leben nicht sehen".

Der Anhänger der Vernichtungslehre glaubt, daß alle, die Christus nicht angehören, wie das Vieh umkommen. Unsere Stelle aber sagt: "Der Zorn Gottes bleibt" auf einem jeden, der nicht glaubt oder nicht gehorcht. Offenbar aber sind ein bleibender Zorn und eine gänzliche Vernichtung unvereinbare Begriffe.

 

Wie vollständig vernichtet der oben zitierte Vers alle Meinungen und Schlußfolgerungen, die die Menschen in ihrer Torheit und Unwissen­heit bezüglich der göttlichen Regierung aufstellen! Ach! wenn der Mensch doch auf das Wort Gottes hören und sich durch seine klare, ernste Ankündigung des kommenden Zorns und ewigen Gerichts war­nen lassen wollte! Gott will Seinem Hasser ins Angesicht vergelten. Welch eine Vergeltung wird das sein! Wer kann sie ertragen? Die Regierung Gottes ist vollkommen, und darum ist es unmöglich, daß Er das Böse ungerichtet läßt. Das Wort Gottes besteht ewiglich, und wir sehen den Ernst der Regierungswege Gottes, sowohl damals in Verbindung mit Israel als auch heute im Blick auf die Christenheit. Hat Gott das Böse bei Seinem Volk übersehen? Keineswegs. Im Gegenteil, Er hat Israel fortwährend gezüchtigt, und zwar gerade deshalb, weil es Sein Volk war. Er ließ ihnen durch Seinen Propheten Amos sagen: "Höret dieses Wort, das der HERR über euch redet, ihr Kinder Israel, über das ganze Geschlecht, welches ich aus dem Lande Ägypten her­aufgeführt habe! indem er spricht: Nur euch habe ich von allen Ge­schlechtern der Erde erkannt; darum werde ich alle eure Missetaten an euch heimsuchen" (Amos 3, 1. 2).

 

Denselben Grundsatz finden wir im ersten Brief des Petrus auf die Christenheit angewandt: "Denn die Zeit ist gekommen, daß das Gericht anfange bei dem Hause Gottes; wenn aber zuerst bei uns, was wird das Ende derer sein, die dem Evangelium Gottes nicht gehorchen! Und wenn der Gerechte mit Not errettet wird, wo will der Gottlose und Sünder erscheinen?" (i. Petr. 4, 17. 18).

 

Gott züchtigt die Seinigen, eben weil sie Sein sind, damit sie nicht mit der Welt verurteilt werden (l. Kor. 11, 32). Gott erlaubt den Kindern dieser Welt, ihre eigenen Wege zu gehen; aber ihr Tag kommt, ein finsterer und schrecklicher Tag, ein Tag des Gerichts und des schonungslosen Zorns. Der Mensch mag zweifeln, mag Vernunft­schlüsse ziehen; die Schrift aber spricht deutlich und entschieden: Gott hat einen Tag gesetzt, "an welchem er den Erdkreis richten wird in Gerechtigkeit durch einen Mann, den er dazu bestimmt hat" (Apg. 17, 31). Und nahe ist der große Tag der Abrechnung, an dem Gott einem jeden ins Angesicht vergelten wird.

 

Sehr beeindruckend ist auch die Art und Weise, in der Mose, der ge­liebte und geehrte Diener Gottes, geleitet durch den Heiligen Geist, der Gemeinde den Ernst der göttlichen Regierung vorstellt (V. 11‑16).

 

Es ist eine gewaltige und rührende Ansprache. Beachten wir die beiden interessanten Wortgruppen: Israels Teil war es, zu gehorchen. 1 zu "beobachten" und zu "tun", und es war die Sache des HERRN, zu "lieben", zu "segnen" und zu "mehren". Aber ach! Israel versagte in trauriger und schmachvoller Weise unter dem Gesetz wie auch unter der Regierung Gottes, und statt der Liebe, der Segnung und Vermeh­rung ist Gericht, Fluch, Unfruchtbarkeit und Zerstreuung über das Volk gekommen.

 

Doch wenn auch Israel unter dem Gesetz und der Regierung versagt hat, so hat Gott doch in Seiner reichen, unumschränkten Gnade und Barmherzigkeit nicht versagt. Er wird den Bund und die Güte bewahren, die Er ihren Vätern zugeschworen hat. Nicht ein Jota, nicht ein Strich­lein Seiner Bundesverheißungen wird ausfallen. Er wird alles erfüllen, alles in Ordnung bringen. Er wird alle Seine gnädigen Verheißungen verwirklichen. Zwar kann Er das nicht auf der Grundlage des Gehor­sams Israels, aber Er tut es auf der Grundlage des Blutes des ewigen Bundes, des kostbaren Blutes Jesu, Seines ewigen Sohnes. Israel kann nicht den geringsten Anspruch auf die Erfüllung der gegebenen Ver­heißungen geltend machen. Es hat diesen Bund gebrochen und ist ohne Entschuldigung. Aber Gott bleibt derselbe, trotz der Untreue Israels. "Die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind unbereubar." (Röm. 11, 29). Er wird Seinen Eid, den Er Abraham geschworen hat, erfüllen, trotz des Verderbens und Verfalls des Samens Abrahams. Israel wird wiederhergestellt, gesegnet und vermehrt werden in seinem geliebten und heiligen Land. Sie werden ihre Harfen von den Weiden herab­nehmen, um unter dem Schatten ihrer Weinstöcke und Feigenbäume ihrem Gott und Heiland Preis und Anbetung darzubringen während des herrlichen tausendjährigen Sabbaths, der vor ihnen liegt. Das ist das unveränderliche Zeugnis der Schrift von Anfang bis zu Ende, und es wird in allen seinen Einzelheiten erfüllt werden zur Verherrlichung Gottes und aufgrund Seines ewigen Bundes.

 

Doch wir müssen zu unserem Kapitel zurückkehren, dessen Schluß­verse unsere besondere Aufmerksamkeit erfordern. Wir lesen, wie Mose das Herz des Volkes bezüglich der gefürchteten Nationen Kana­ans ermutigen möchte. Er geht auf ihre innersten Gedanken und Gefühle ein und kommt ihnen zuvor (V. 17‑26).

 

Das Heilmittel gegen alle Befürchtungen und Bedenken des Unglaubens besteht darin, daß wir das Auge einfach auf den lebendigen Gott gerichtet halten; denn das hebt unser Herz über alle Schwierigkeiten hinaus. Es nützt nichts, wenn wir leugnen, daß es Schwierigkeiten und Widerwärtigkeiten aller Art gibt. Das flößt dem ängstlichen Herzen keinen Trost und keinen Mut ein. Es gibt Personen, die im Blick auf die Prüfungen und Schwierigkeiten des Weges gern allerlei geistlich klingende Redensarten im Mund führen, aber gerade dadurch ihre große Unwissenheit über die Wirklichkeit des Lebens an den Tag legen. Sie versuchen uns einzureden, daß wir die Prüfungen, Leiden und Schwierigkeiten des Weges nicht fühlen sollten. Aber sie könnten uns gerade so gut sagen, daß wir keinen Kopf auf den Schultern oder kein Herz in der Brust haben dürfen. Solche Leute können ein nieder­gebeugtes Herz nicht trösten. Sie sind bloße Theoretiker und gänzlich unfähig, Herzen zu ermuntern, die sich im Kampf oder in den Wider­wärtigkeiten des täglichen Lebens befinden.

 

Wie ganz anders suchte Moses die Herzen seiner Brüder zu ermutigen! Er sagte: "Fürchte dich nicht!" Und warum nicht? Gab es keine Feinde oder Schwierigkeiten und Gefahren in dem Land? Es gab sie, und Mose dachte nicht daran, sie wegzuleugnen. Warum sollte sich das Volk denn nicht fürchten? "Denn der HERR, dein Gott, ist in deiner Mitte, ein großer und furchtbarer Gott" (V. 21). In diesen Worten liegt wirklicher Trost und wahre Ermunterung. Die Feinde waren da; aber Gott war ihre Hilfe. In derselben Weise suchte auch Josaphat sich und seine Brüder in der Zeit der Prüfung und Drangsal zu ermutigen: "Unser Gott, willst du sie nicht richten? Denn in uns ist keine Kraft vor dieser großen Menge, die wider uns kommt; und wir wissen nicht, was wir tun sollen, sondern auf dich sind unsere Augen gerichtet" (2. Chron. 20, 12).

 

Da haben wir das Geheimnis. Die Augen sind auf Gott gerichtet. Seine Macht wird in die Schwierigkeiten hineingebracht und ordnet alles. "Wenn Gott für uns ist, wer wider uns?" (Röm. 8, 31). Mose begegnet durch seinen Dienst den Befürchtungen, die in den Herzen der Kinder Israel aufsteigen: "Diese Nationen sind größer als ich". Es war aller­dings so, aber waren sie auch größer als "der große und furchtbare Gott"? Welche Nationen könnten vor Ihm bestehen? Gott selbst lag gleichsam im Streit mit diesen Nationen wegen ihrer schrecklichen Sünden. Das Maß ihrer Missetaten war voll. Ihre Stunde hatte ge­schlagen, und der Gott Israels stand im Begriff, sie vor Seinem Volk auszutreiben.

 

Israel brauchte daher die Macht des Feindes nicht zu fürchten. Gegen diese Macht wollte der HERR eintreten. Mose weist vielmehr auf eine weit größere Gefahr hin, den Fallstrick des Götzendienstes. "Die geschnitzten Bilder ihrer Götter sollt ihr mit Feuer verbrennen." ‑"Wie," mochten manche fragen, "sollen wir das Gold und das Silber vernichten, mit dem diese Bilder geschmückt sind? Könnte das nicht für einen guten Zweck verwendet werden? Es ist ja ganz richtig, die Bilder zu verbrennen, aber warum sollte man das Gold und das Silber nicht schonen?"

 

Doch welch eine verhängnisvolle Täuschung ist das! "Du sollst nicht das Silber und das Gold an ihnen begehren und es dir nehmen, daß du nicht dadurch verstrickt werdest; denn es ist ein Greuel für den HERRN, deinen Gott." Alles muß aufgegeben, alles muß zerstört werden. Behalten wir auch nur das Geringste von dem Verbannten zurück, so fallen wir in den Fallstrick des Teufels und verbinden uns mit dem, was in den Augen Gottes ein Greuel ist.

 

Kapitel 8

 

"BEOBACHTEN“ UND "GEDENKEN‑!

 

"Das ganze Gebot, das ich dir heute gebiete, sollt ihr beobachten, es zu tun; auf daß ihr lebet und euch mehret und hineinkommet und das Land in Besitz nehmet, welches der HERR euren Vätern zugeschworen hat. Und du sollst gedenken des ganzen Weges, den der HERR, dein Gott, dich hat wandern lassen diese vierzig Jahre in der Wüste, um dich zu demütigen, um dich zu versuchen, um zu erkennen, was in deinem Herzen ist, ob du seine Gebote beobachten würdest oder nicht" (V. 1. 2).

 

Es ist ermutigend, zurückzuschauen auf den Weg, den uns unser Gott geführt hat, nachzusinnen über Seine weise und gnädige Leitung, uns ins Gedächtnis zurückzurufen, wie oft Er wunderbar für uns eintrat, in­dem Er uns bald aus dieser, bald aus jener Schwierigkeit befreite, uns zu erinnern, wie oft Er uns half, wenn wir völlig ratlos dastanden, und uns einen Weg zeigte, wenn wir nicht mehr aus noch ein wußten, wobei Er uns wegen unserer Befürchtungen tadelte und unsere Herzen mit Lob und Dank erfüllte.

 

Aber hüten wir uns, dies mit der Gewohnheit zu verwechseln, auf unsere Wege zurückzublicken, auf unsere Verdienste, unsere Fort­schritte und unser Wirken, oder auf das, was wir tun konnten. Auch wenn wir dabei im allgemeinen zugeben, daß nur die Gnade Gottes uns befähigen konnte, etwas für Ihn zu tun, dient doch alles nur unserer Selbstgefälligkeit, die eine wahrhaft geistliche Gesinnung nicht auf­kommen läßt. Solche selbstsüchtigen Rückblicke wirken ebenso nach­teilig wie der stete Blick in das eigene Ich. Oberhaupt ist die Beschäfti­gung mit dem eigenen Ich nur verderblich und gibt aller echten Gemeinschaft den Todesstoß. Alles das, was darauf abzielt, unser eigenes Ich uns vorzustellen, sollten wir daher verurteilen und zurückweisen, denn es führt nur zur Schwächung des inneren Lebens.

 

Erinnern wir uns hier einen Augenblick an die denkwürdigen Worte des Apostels: "Brüder, ich halte mich selbst nicht dafür, es ergriffen zu haben; eines aber tue ich: Vergessend was dahinten, und mich aus­streckend nach dem, was vorn ist, jage ich, das Ziel anschauend, hin zu dem Kampfpreis der Berufung Gottes nach oben in Christo Jesu" (Phil. 3, 13. 14).

 

Welche Dinge vergaß der Apostel? Waren es die Barmherzigkeiten Gottes, die er während seiner ganzen Pilgerschaft erfahren hatte? Stel­len wie Apg. 26, 22; 2. Tim. 3, 11; 4, 16. 17 beweisen das Gegenteil. Wir glauben, daß er auf alles hinweist, was nicht in Verbindung mit Christus stand, auf Dinge, in denen das Herz ruhen und das Fleisch sich rühmen mochte und die eine Last und ein Hindernis für ihn sein konn­ten. Alles das vergaß er in seinem sehnsüchtigen Verlangen nach jenen großen und herrlichen Wirklichkeiten, die vor ihm lagen. Wie Paulus könnte auch kein anderes Kind Gottes, kein anderer Diener Christi es je wünschen, auch nur eine einzige Situation während seiner irdischen Laufbahn zu vergessen, in der sich die Güte, Liebe, Barmherzigkeit und Treue Gottes gezeigt hat. Im Gegenteil, es wird stets eine unserer schönsten Beschäftigungen sein, bei der gesegneten Erinnerung an alle Wege unseres Vaters zu verweilen, die Er uns geführt hat, während wir durch diese Wüste zu unserer ewigen Heimat und Ruhe unterwegs sind.

 

So sollten auch die Kinder Israel "des ganzen Weges gedenken", den sie ihr Gott geleitet hatte, um ihre Herzen im Blick auf die Vergangen­heit zum Dank zu stimmen und für die Zukunft ihr Vertrauen auf Gott zu stärken. So sollte es immer sein. Stets sollten wir den Herrn für alles preisen, was hinter uns liegt, und Ihm in allem vertrauen, was noch kommen mag. Das sind die beiden Dinge, die zur Verherrlichung Gottes und zu unserem Frieden sind, unserer Freude in Ihm dienen. Wenn das Auge auf den "Eben‑Ezers" ruht, die entlang unseres ganzen Weges liegen, so kann es nicht ausbleiben, daß das Herz "Hallelujah" Dem darbringt, Der bis hierher geholfen hat und uns sicher bis zum Ende hin weiterhelfen wird. Er hat geholfen, Er hilft, und Er wird helfen. Das ist eine gesegnete Kette, deren Glieder alle den Namen »göttliche Hilfe" tragen!

 

Aber wir sollen mit dankerfülltem Herzen nicht nur bei den Barm­herzigkeiten und bei der gnädigen Durchhilfe unseres Vaters verweilen, sondern auch bei den Demütigungen und Prüfungen, die Seine weise, treue und heilige Liebe über uns kommen ließ. Alle diese Dinge sind voll von Segnungen für uns. Es sind nicht, wie man manchmal sagt, "verborgene Segnungen", sondern offenbare und unverkennbare Barm­herzigkeiten, für die wir Gott in Ewigkeit loben werden.

 

"Du sollst gedenken des ganzen Weges", an alle Ereignisse der Reise, an jede Szene des Wüstenlebens, an alle Führungen Gottes von Anfang bis Ende, die den einen Zweck hatten, "um dich zu demütigen, um dich zu versuchen, um zu erkennen, was in deinem Herzen ist".

 

Der letztgenannte Grund ist besonders wichtig. Wenn wir beginnen, dem Herrn nachzufolgen, kennen wir nur wenig von den Tiefen des Bösen und der Torheit unserer Herzen. Aber je mehr Fortschritte wir machen, desto mehr erfahren wir, was alles in uns und um uns her ist. Wir lernen die Tiefen des Verderbens in uns, sowie die Leere und Wertlosigkeit alles dessen, was in der Welt ist, kennen und wir erfah­ren, wie nötig es ist, in ständiger Abhängigkeit vom Herrn zu gehen.

 

Alles das ist sehr gut. Er macht uns demütig und mißtrauisch gegen uns selbst, befreit uns von Hochmut und Eigendünkel und führt uns dahin, in kindlicher Einfalt an Dem zu hangen, Der uns vor Straucheln bewahren kann. Je mehr wir in der Selbsterkenntnis wachsen, um so mehr verstehen wir von der Gnade und lernen die Liebe Gottes näher kennen; wir erkennen dann Seine wunderbare Geduld mit unseren Schwachheiten und Fehlern, Seine Barmherzigkeit, in der Er Sich unser angenommen hat und die Fürsorge für alle unsere Bedürfnisse; wir bekommen ein tieferes Verständnis für die Übungen, durch die Er uns führen mußte zu unserem tiefen und bleibenden Nutzen.

 

Die praktischen Auswirkungen hiervon sind unschätzbar und verleihen unserem Charakter Festigkeit und Milde. Sie heilen uns von unseren törichten Meinungen, machen uns geduldig und rücksichtsvoll gegen andere, mildern unser Urteil und lassen uns die Handlungen anderer im bestmöglichen Licht sehen. In zweideutigen Fällen werden wir ihnen stets die besten Beweggründe zuschreiben. Das sind einige der Früchte der Erfahrungen in der Wüste, denen wir alle ernstlich nachstreben sollten.

 

"Und er demütigte dich und ließ dich hungern, und er speiste dich mit dem Man, das du nicht kanntest und das deine Väter nicht kannten, um dir kundzutun, daß der Mensch nicht von Brot allein lebt, sondern daß der Mensch von allem lebt, was aus dem Munde des HERRN her­vorgeht" (V. 3).

 

Diese Stelle erhält besonderes Interesse durch die Tatsache, daß sie die erste aus dem fünften Buche Mose ist, auf die sich der Herr wäh­rend Seines Kampfes mit dem Widersacher in der Wüste berief. Warum entnahm Er Seine Anführungen gerade diesem Buche? Weil es mehr als alle anderen auf den damaligen Zustand Israels zugeschnitten war. Israel hatte gefehlt, und diese Tatsache wird gerade im fünften Buche Mose vom Anfang bis zum Ende vorausgesetzt. Aber obwohl die Nation gefallen war, war der Weg des Gehorsams für jeden treuen Israeliten klar. Es war das Vorrecht und die Pflicht eines jeden, der Gott liebte, unter allen Umständen und an allen Orten an Seinem Wort festzuhalten.

 

Unser Herr war göttlich treu in bezug auf die Stellung des Israels Got­tes. Israel nach dem Fleische hatte gefehlt und alles eingebüßt, und Er war in der Wüste als der wahre Israel Gottes, um dem Feind mit der einfachen Autorität des Wortes Gottes zu begegnen. "Jesus aber, voll Heiligen Geistes, kehrte vom Jordan zurück und wurde durch den Geist in der Wüste vierzig Tage umhergeführt, indem er von dem Teufel versucht wurde. Und er aß in jenen Tagen nichts, und als sie vollendet waren, hungerte ihn. Und der Teufel sprach zu ihm: Wenn du Gottes Sohn bist, so sprich zu diesem Steine, daß er Brot werde. Und Jesus antwortete ihm und sprach: Es steht geschrieben: "Nicht vom Brot allein soll der Mensch leben, sondern von jedem Worte Gottes" (Luk. 4, 1‑4).

 

Diese Stelle gibt uns reichen Stoff zum Nachdenken. Der vollkommene Mensch, der wahre Israel ist in der Wüste, umgeben von wilden Tieren, und fastet vierzig Tage in Gegenwart des großen Widersachers Gottes, des Menschen und Israels. Bei dem zweiten Menschen war alles anders als bei dem ersten. Dieser sah sich umgeben von all den Freuden Edens, jener befand sich einsam und hungrig in einer Wüste. Er war dort für Gott, und, gepriesen sei Sein Name! auch für den Menschen, um die­sem zu zeigen, wie er zu leben und dem Feind in allen seinen Ver­suchungen zu begegnen habe. Und vergessen wir nicht, daß unser Herr dem Fe d hier nicht in Seinem Charakter als Gott über alles begegnete.

 

Zwar war Er Gott, aber wenn Er nur so dem Teufel entgegengetreten wäre, könnte uns Sein Kampf nicht zum Beispiel dienen. Er würde dann nur besagen, daß Gott fähig war, ein Geschöpf zu überwinden und in die Flucht zu schlagen, das Er Selbst erschaffen hatte. Aber zu sehen, daß hier Einer, Der in jeder Beziehung Mensch war und Sich ‑ aus­genommen die Sünde ‑ in allen menschlichen Umständen befand, in Schwachheit und Hunger, umgeben von allen Folgen des menschlichen Falles, dennoch über den schrecklichen Feind triumphierte, das ist es, was für uns so voll Trost, Kraft, Ermutigung und Erquickung ist.

 

Wie triumphierte der Herr? Der Mensch Christus Jesus besiegte den Feind einfach durch das Wort Gottes, nicht als der allmächtige Gott, sondern als der demütige, abhängige und gehorsame Mensch. Ein Mensch wurde in die Gegenwart des Teufels gestellt und besiegte diesen vollständig, nicht durch die Entfaltung göttlicher Macht, auch nicht mit irgendeiner anderen Waffe, sondern einfach durch das Wort Gottes, das in Seinem Herzen und in Seinem Munde war.

 

Beachten wir ferner, daß der Herr Sich nicht mit Satan in einen Streit einließ. Er berief sich nicht auf Tatsachen, die sich auf Ihn bezogen, und die dem Feind wohlbekannt waren. Das hätte für uns kein Beispiel sein können. Die wichtige Lehre aus der Versuchungsgeschichte unseres großen Vorbildes besteht darin, daß Er Sich in allen Versuchungen des Feindes ausschließlich der Waffe bediente, die auch wir besitzen, näm­lich des geschriebenen Wortes Gottes, und zwar berief Er Sich auf das Buch, das Ungläubige besonders angreifen, das aber vornehmlich das Buch für jeden gehorsamen Menschen ist, der angesichts des hoffnungs­losen Verfalls lebt.

 

"Leben von jedem Worte Gottes" ist die einzige sichere und glückselige Einstellung für den Menschen, und wir dürfen wohl hinzufügen: eine gesegnete Haltung, mit der sich nichts in dieser Welt vergleichen läßt. Sie bringt die Seele durch das Wort in eine lebendige und persönliche Verbindung mit dem Herrn und macht uns so das Wort Gottes in jeder Beziehung lebensnotwendig. Wie das Brot zur Erhaltung des natürlichen Lebens, so dient das Wort zur Erhaltung des geistlichen. Aber nicht, indem wir uns nur zur Bibel wenden, um bestimmte Lehrsätze kennen­zulernen oder unsere Meinungen und Ansichten darin bestätigt zu finden, sondern indem wir sie zur Hand nehmen, um Licht, Nahrung, Leitung, Trost und Kraft, ja, alles, was der neue Mensch braucht, in ihr zu finden. Jesus, unser großes Vorbild, ging nicht einen Schritt, sprach nicht ein Wort, tat nicht das Geringste ohne die Autorität des Wortes Gottes. Ohne Zweifel hätte Er die Steine in Brot verwandeln können, aber Er hatte dazu kein Gebot von Gott empfangen, und darum gab es für Ihn kein Motiv zum Handeln.

 

Beachten wir auch, daß der Herr die Schrift nicht anführte, um den Widersacher zum Schweigen zu bringen, sondern einfach als Grundlage für Sein Verhalten. In diesem Punkt versagen wir leicht. Wir benutzen das Wort mehr zum Besiegen des Feindes, als daß wir seine Macht und Autorität auf unsere eigenen Herzen anwenden, und dadurch verliert es seine Kraft in unseren Herzen. Wir müssen das Wort gebrauchen wie ein Hungriger das Brot, und wie ein Seemann seine Karte und seinen Kompaß, d. h. als das, wovon wir leben und kraft dessen wir denken, reden, handeln und wandeln. Je mehr wir dies tun, um so mehr werden wir seinen unendlichen Wert kennenlernen. Wer weiß den Wert des Brotes mehr zu schätzen, ein Chemiker oder ein hungriger Mensch? Ohne Zweifel der letztere. jener kann seine verschiedenen Bestandteile feststellen und genau beschreiben; aber nur der Hungrige kennt seinen wahren Wert. Wer kennt den Wert einer genauen Seekarte am besten? Der Lehrer an der Seefahrtsschule? Nein, der Seemann, wenn er an einer unbekannten und gefährlichen Küste entlangsteuert.

 

Das sind nur schwache Bilder, aber sie geben doch einen Begriff davon, was das Wort Gottes für den treuen Christen bedeutet. Er kann es nicht entbehren. Seine Seele wird durch das Wort genährt und er­halten und sein praktisches Leben wird durch das Wort geleitet. In persönlichen und familiären Fragen und bei seiner täglichen Arbeit kann nur das Wort Gottes sein Führer und Ratgeber sein.

 

Niemals wird es den im Stich lassen oder enttäuschen, der einfach dar­auf vertraut. Wir werden im Wort Gottes immer das finden, was wir brauchen. Haben wir Kummer und Sorgen, was könnte uns dann mehr beruhigen und trösten als die Worte, die der Heilige Geist für uns hat niederschreiben lassen? Ein einziger Vers der Heiligen Schrift kann in dieser Beziehung mehr tun als alle menschlichen Beileidsbezeugungen und Trostbriefe. Sind wir beunruhigt durch Streitfragen oder andere Schwierigkeiten, die sich auf religiösem Gebiet ergeben, genügen meist wenige Stellen der Heiligen Schrift, um unser Herz und Gewissen wie­der mit göttlichem Licht zu erfüllen und völlig zu beruhigen, jede Frage zu beantworten und jeden Zweifel zu beseitigen. Sie teilen uns die Gedanken Gottes mit und machen durch ihre göttliche Autorität jedem Streit ein Ende.

 

Ebenso wertvoll für das Herz des Gläubigen sind die folgenden Worte, in denen der geliebte und geehrte Diener des HERRN auf die Sorgfalt hinweist, die Israel während seiner ganzen Wanderung durch die Wüste von seiten Gottes erfahren hatte: "Dein Kleid ist nicht an dir zerfallen, und dein Fuß ist nicht geschwollen diese vierzig Jahre".

 

Welch eine Gnade strahlen diese Worte aus! Der HERR trug eine solche Sorge um Sein Volk, daß ihre Kleider nicht zerfielen und ihre Füße nicht schwollen. Er ernährte sie nicht nur, sondern kleidete sie auch und dachte daran, daß der Sand der Wüste ihre Füße nicht verletzte. So wachte Er vierzig Jahre lang mit der Fürsorge eines Vaters über sie und gab ihnen alles, was sie brauchten. Der HERR liebte Sein Volk, und diese gesegnete Tatsache sicherte ihm alles. Wenn das Volk die Liebe des HERRN nur verstanden hätte! In alledem, was es von Ägypten bis nach Kanaan nötig hatte, gab es nicht das Geringste, was Gott ihm nicht bereitwillig gegeben hätte. Was konnte ihm je mangeln, da eine unend­liche Liebe und eine allmächtige Kraft auf seiner Seite standen?

 

Wir wissen jedoch, daß sich die Liebe in verschiedene Formen kleidet. Sie hat mehr zu tun, als ihre Gegenstände mit Nahrung und Kleidung zu versorgen. Sie hat neben den leiblichen auch auf deren geistliche Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen. Und Mose versäumt nicht, das Volk daran zu erinnern, wenn er sagt: "SO erkenne in deinem Herzen" ‑. der einzig richtige Weg, um zu echter Erkenntnis zu gelangen ‑ "daß, wie ein Mann seinen Sohn züchtigt, der HERR dein Gott, dich züchtigt". Wir lieben die Züchtigung nicht, denn sie scheint uns "nicht Freude, sondern Traurigkeit zu sein". Es ist einem Sohn schon recht, wenn er aus seines Vaters Hand Nahrung, Kleidung und alles das nehmen kann, was die Liebe des Vaterherzens ihm gewährt; aber er liebt es nicht, wenn der Vater zur Rute greift. Dennoch kann diese gefürchtete Rute gerade das Beste für den Sohn sein. Sie kann für ihn etwas bewirken, was alle äußerlichen Wohltaten nicht können, indem sie ihn von einer schlechten Gewohnheit, einer bösen Neigung oder von schädlichen Ein­flüssen befreit und so für ihn ein Segen wird, für den er Zeit seines Lebens dankbar sein kann. Es ist wichtig, daß der Sohn die Liebe des Vaters ebenso deutlich in den Züchtigungen wie in den leiblichen Wohltaten sieht, die er täglich erfährt. Aber bei uns ist es meistens nicht so. Wir freuen uns zwar über die Segnungen des Vaters und sind dankbar, wenn Er unseren Bedürfnissen Tag für Tag entgegenkommt und uns in Zeiten der Bedrängnis und Prüfung hilft. Wir erinnern uns gerne an die uns widerfahrene Gnade und Barmherzigkeit. Ohne Zweifel ist das alles recht und gut und auch gesegnet für das Herz. Aber es besteht die große Gefahr, daß wir bei diesen Wohltaten und Segnungen stehen­bleiben und mit dem Psalmisten sagen: "Ich zwar sagte in meinem Wohlergehen: Ich werde nicht wanken ewiglich. 0 HERR! in deiner Gunst hattest du festgestellt meinen Berg" (Ps. 30, 6. 7). Es ist sicher richtig, wenn wir sagen: "in deiner Gunst", aber wir neigen dazu, bei unserem Berge und bei unserem Wohlergehen stehenzubleiben und diese Dinge zwischen unsere Herzen und den Herrn kommen zu lassen, so daß sie ein Fallstrick für uns werden. Dann wird die Züchtigung nicht ausbleiben. Unser Vater wacht in treuer Liebe und Fürsorge über uns. Er sieht die Gefahr und sendet Prüfungen. Wir müssen oft durch Tiefen gehen, die unseren schwachen und ängstlichen Herzen über­wältigend erscheinen. Der Feind flüstert uns dann zu: Ist das Liebe? Der Glaube antwortet: Ja! Alles ist Liebe und Weisheit, auch der Tod geliebter Angehöriger, der Verlust des Vermögens, lange und schmerz­liche Krankheit und ähnliche Dinge.

 

Das ist der Weg, um den Einflüsterungen Satans zu begegnen und die finsteren Gedanken zu verscheuchen, die in unseren Herzen aufsteigen wollen. Stets müssen wir Gott rechtfertigen und alle Seine züchtigenden Wege im Lichte Seiner Liebe betrachten. "So erkenne in deinem Herzen, daß, wie ein Mann seinen Sohn züchtigt, der HERR, dein Gott, dich züchtigt" (Vergl. auch Hebr. 12, 5‑13).

 

Es ist interessant und nützlich zu sehen, wie Mose der Gemeinde die aus der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hervorgehenden Motive zum Gehorsam einschärft. Alles wird aufgewandt, um in ihren Herzen das Bewußtsein zu beleben und zu vertiefen, daß der HERR Ansprüche an sie stellt. Sie mußten ihren Blick auf die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft richten, damit die großen Taten des HERRN, die Er für sie getan hatte, tat und noch tun Wollte, sie zu heiligem Gehorsam gegen Ihn anspornen konnten.

 

Diese beständige Darlegung sittlicher Beweggründe ist ein besonderer Charakterzug des fünften Buches Mose. Diese Beobachtung beweist, daß wir es hier nicht mit einer Wiederholung des zweiten Buches Mose zu tun haben, sondern daß das fünfte Buch Mose einen eigenständigen Charakter und Zweck hat.

 

"Und beobachte die Gebote des HERRN, deines Gottes, um auf seinen Wegen zu wandeln und ihn zu fürchten." Diese Ermahnung gründete sich sowohl auf das, was Gott bereits für sie getan hatte, als auch auf das, was Er noch für sie tun wollte. Zunächst sollte Israel einen Beweg­grund zum Gehorsam in den Erfahrungen der Wege des HERRN fin­den, die es während der vierzig Jahre seiner Wüstenwanderung gemacht hatte. Tatsächlich waren die Belehrungen, Demütigungen und Prüfun­gen, die ihnen zuteil geworden waren, ferner das Brot vom Himmel, das Wasser aus dem geschlagenen Felsen, die Sorge für ihre Kleider und Füße und endlich die heilsame Zucht Gottes zu ihrem geistlichen Wohl ein mächtiger Beweggrund für sie, den Geboten Gottes zu gehorchen. Aber sie mußten auch ihren Blick auf die Zukunft richten, um darin ebenso wie in Vergangenheit und Gegenwart die Grundlage der An­sprüche des HERRN auf ihren Gehorsam zu erblicken.

 

"Denn der HERR, dein Gott, bringt dich in ein gutes Land, ein Land von Wasserbächen, Quellen und Gewässern, die in der Niederung und im Gebirge entspringen; ein Land von Weizen und Gerste und Wein­stöcken und Feigenbäumen und Granatbäumen; ein Land von ölreichen Olivenbäumen und Honig; ein Land, in welchem du nicht in Dürftig­keit Brot essen wirst, in welchem es dir an nichts mangeln wird; ein Land, dessen Steine Eisen sind, und aus dessen Bergen du Erz hauen wirst" (Verse 7‑9).

 

Was für herrliche Aussichten waren das! Welch eine Zukunft lag vor ihnen! Wie groß war der Gegensatz zu Ägypten und zu der Wüste, die sie durchzogen hatten! Das Land des HERRN lag vor ihnen in seiner ganzen Schönheit und Pracht, mit seinen rebenbedeckten Hügeln und ertragreichen Ebenen, mit seinen sprudelnden Quellen und strö­menden Flüssen. Wie belebend war der Gedanke an die Weinstöcke und Feigenbäume, an die Granat ‑ und Ölbäume! Was für ein Unter­schied gegenüber dem Lauch, dem Knoblauch und den Zwiebeln Ägyp­tens! Wie hätte es auch anders sein können! Es war des Herrn Land, das vor ihnen lag. Es erzeugte und barg alles in sich, was Israel nötig haben würde: Überfluß auf seiner Oberfläche, Reichtümer und Schätze in seinem Innern.

 

Mit welcher Sehnsucht mochte ein treuer Israelit den Augenblick er­warten, da er dieses Land betreten und den Sand der Wüste mit die­sem herrlichen Erbteil vertauschen konnte! Gewiß hatte die Wüste ihre Erfahrungen, Lehren und Erinnerungen. Israel hatte dort den HERRN in einer Weise kennengelernt, wie es in Kanaan nicht möglich war. Aber doch war die Wüste nicht Kanaan, und jeder treue Israelit mußte sich danach sehnen, seinen Fuß auf den Boden des verheißenen Landes zu setzen. Alle ihre Bedürfnisse sollten dort in göttlicher Weise be­friedigt werden. Hunger und Durst sollten für immer fern sein, und Gesundheit und Überfluß, jubel und Freude, Friede und Segnungen ihr sicheres Teil in dem schönen Land werden, an dessen Grenze sie jetzt standen. Alle Feinde sollten besiegt, alle Hindernisse beseitigt werden, und nichts sollte den Vollgenuß der Erben des herrlichen Landes ein­schränken. Getränkt von dem Regen des Himmels und erwärmt von den Strahlen der Sonne, sollte der Boden alles in Überfluß hervorbringen, was das Herz nur wünschen konnte.

 

So sah das Land aus, wenn man es vom göttlichen Standpunkt betrach­tete. So war es und so wird es nach den Gedanken Gottes für Israel tatsächlich im Zeitalter des tausendjährigen Reiches sein. Wir würden nur einen schwachen Eindruck von dem Land des HERRN erhalten, wenn wir es bloß so betrachteten, wie es Israel, selbst in den herrlich­sten Tagen seiner Geschichte unter der Regierung Salomos im Besitz hatte. Um eine richtige Vorstellung von dem zu haben, was das Land Kanaan für das Volk Gottes sein wird, müssen wir vorwärts schauen auf die "Zeiten der Wiederherstellung aller Dinge".

 

Nach Gottes Gedanken spricht Mose von dem Lande so, wie Gott es gegeben, und nicht, wie Israel es besessen hat. Nach seiner Beschreibung gab es dort weder einen Feind noch Böses, sondern nur Fruchtbarkeit und Segnungen. Er stellt es dar als das, was es hätte sein sollen und was es einmal für den Samen Abrahams aufgrund des Bundes sein wird, den Gott mit ihren Vätern gemacht hat, d. h. des neuen und ewi­gen Bundes, der auf die unumschränkte Gnade Gottes gegründet und durch das Blut des Kreuzes bestätigt ist. Wenn auch Abrahams Same unter dem Gesetz und unter der Regierung Gottes völlig versagt hat, wird doch der Gott Abrahams Gnade und Herrlichkeit geben, denn Seine Gnadengaben und Seine Berufung sind unbereubar.

 

Mose verstand das sehr gut. Er wußte, welches Ende die vor ihm ste­hende Generation und ihre Kinder nach ihnen, viele Geschlechter hin­durch, nehmen würde. Aber er schaute vorwärts in die herrliche Zu­kunft, wenn der Bundesgott Israels vor den Augen aller Geschöpfe die Triumphe Seiner Gnade in Seinen Wegen mit dem Samen Abrahams, Seines Freundes, offenbaren wird.

 

Inzwischen fährt der Diener des HERRN fort, der Gemeinde vorzu­stellen, wie sie sich in dem guten Land, das sie betreten wollten, zu verhalten hatte. So wie er über die Vergangenheit und Gegenwart ge­sprochen hatte, wollte er auch in die Zukunft weisen. Er bot in seinem heiligen Eifer alles auf, was dazu dienen konnte, dem Volk seine ern­sten Verpflichtungen gegen Den einzuschärfen, der sie bis dahin so treu gehört hatte und jetzt im Begriff stand, sie in den Berg seines Erbteils einzupflanzen.

 

"Und hast du gegessen und bist satt geworden, so sollst du den HERRN, deinen Gott, für das gute Land preisen, das er dir gegeben hat." Gesättigt von der Frucht der Güte des HERRN, sollten sie Seinen heiligen Namen loben und preisen. Gott findet Seine Freude darin, sich mit Herzen zu umgeben, die von dem Bewußtsein Seiner Güte erfüllt sind und deren Lippen von Lob‑ und Dankesliedern überströmen. Er, der unter den Lobgesängen Israels wohnt, spricht: "Wer Lob opfert, verherrlicht mich" (Ps. 50, 23). Das schwächste Lob eines dankerfüll­ten Herzens steigt wie ein duftender Wohlgeruch zum Thron und zum Herzen Gottes auf.

 

So ist es heute noch. Lob geziemt sich ebenso für uns wie einst für Israel. Es ist unsere höchste Aufgabe, den Herrn zu preisen. "Durch ihn (Christus) nun laßt uns Gott stets ein Opfer des Lobes darbringen, das ist die Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen!" (Hebr. 13, 15). Nichts kann den Namen unseres Gottes mehr verherrlichen als eine dankbare, anbetungsvolle Gesinnung bei Seinem Volk. Es ist sicher ein hohes Vorrecht für uns, wohlzutun und mitzuteilen, wo sich uns Gele­genheit dazu bietet. Aber der erste Platz gebührt dem Lob Gottes. Diesem Lob werden alle unsere Kräfte in der Ewigkeit gewidmet sein, wenn es für Opfer des Wohltuns keine Notwendigkeit und keine Ge­legenheit mehr geben wird.

 

Mose kannte jedoch die Neigung des menschlichen Herzens, alles das zu vergessen, den gnädigen Geber aus den Augen zu verlieren und sich mit Seinen Gaben zufriedenzugeben. Er richtet daher in den folgenden Versen (11‑20) ernste, warnende Worte an die Gemeinde.

 

Diese Worte reden ebenso ernst zu uns wie damals zu Israel. Vielleicht wundern wir uns über die vielen Wiederholungen der Warnungen und Ermahnungen, über die ständigen Erinnerungen an die Pflicht, dem Wort Gottes in allem zu gehorchen, sowie über die immer wiederkeh­renden Hinweise auf die großen Tatsachen, die mit ihrer Befreiung aus Ägypten und ihrer Reise durch die Wüste in Verbindung standen.

 

Aber brauchen wir uns wirklich darüber zu wundern? Müssen wir nicht zugeben, daß auch wir vor allen Dingen Warnung, Zurechtweisung und Ermahnung nötig haben? Brauchen wir nicht Belehrung auf Belehrung, Erinnerung auf Erinnerung? Wir erfreuen uns so gern am Strom des Segens, anstatt zu seiner Quelle vorzudringen. Wir machen die Barm­herzigkeiten, Segnungen und Wohltaten, mit denen Gott unseren Weg überschüttet, so gern zu einer Gelegenheit, uns selbst darin zu gefal­len, anstatt in ihnen den Grund zu stetem Lob und Dank zu finden.

 

Könnten die Begebenheiten, an die Mose das Volk immer wieder er­innerte, jemals ihre Wichtigkeit, Kraft und ihren Wert verlieren? Sicher nicht. Die Begebenheiten blieben dieselben, wenn auch Israel sie vergaß und ihren Wert aus den Augen verlor. Wie hätten die Plagen Ägyp­tens, die Nacht des Passahfestes, die Befreiung aus dem Land der Fin­sternis, der Schmach und der Knechtschaft, der wunderbare Durchzug durch das Rote Meer, die tägliche wiederkehrende geheimnisvolle Speise vom Himmel, die erfrischenden Wasser aus dem Kieselfelsen ‑wie hätten alle diese wunderbaren Dinge je ihre Kraft für ein Herz verlieren können, in dem noch ein Funke echter Liebe zu Gott war? Dürfen wir uns darüber wundern, daß Mose sie immer wieder an­führte, um die Herzen des Volkes zu bewegen? Er selbst fühlte den mächtigen Einfluß dieser Dinge, und daher wünschte er, daß auch andere ihn fühlten und dadurch angespornt die Ansprüche des HERRN auf ihren rückhaltlosen Gehorsam anerkannten.

 

Die häufigen Erinnerungen an vergangene Tage und Dinge, die wir in den letzten Reden Moses an das Volk finden, lassen uns an die Worte des Apostels Petrus denken: "Deshalb will ich Sorge tragen, euch immer an diese Dinge zu erinnern, wiewohl ihr sie wisset und in der gegenwärtigen Wahrheit befestigt seid. Ich halte es aber für recht, so lange ich in dieser Hütte bin, euch durch Erinnerung aufzuwecken, da ich weiß, daß das Ablegen meiner Hütte bald geschieht, wie auch unser Herr Jesus Christus mir kundgetan hat. Ich will mich aber befleißigen, daß ihr auch zu jeder Zeit nach meinem Abschiede imstande seid, euch diese Dinge ins Gedächtnis zu rufen" (2. Petr. 1, 12‑15).

 

Der Geist, der diese beiden Diener Gottes beseelte, und der Zweck, den sie verfolgten, zeigt eine auffallende Übereinstimmung. Beide kannten die Neigung des menschlichen Herzens, die göttlichen und ewigen Dinge zu vergessen, und beide fühlten die Wichtigkeit und den Wert der Dinge, von denen sie redeten. Daher ihr Wunsch, sie dem Herzen und Gedächtnis des geliebten Volkes Gottes ständig vorzustellen. Eine flüch­tige, ruhelose Natur hätte vielleicht zu Mose oder Petrus sagen können: "Habt ihr uns denn gar nichts Neues zu sagen? Warum bleibt ihr im­mer bei demselben alten Thema? Alles, was ihr zu sagen habt, wissen wir. Wir haben es schon so oft gehört. Wenn wir weiterhin ständig über veraltete Lehren und Gedanken brüten, werden wir unversehens auf dem Trockenen stehen, während der Strom der Zivilisation an uns vorüberrauscht. Bringt uns doch etwas Neues!"

 

So hätte man damals sagen können, und so könnte heute ein ungläu­biges oder weltliches Herz reden; aber der Glaube kennt die Antwort auf solche traurigen Äußerungen. Sicher hätten Mose und Petrus solche Einwürfe kurz abgefertigt, und wir sollten es nicht anders machen. Konnte ein wahrer Israelit müde werden, das zu hören, was der HERR für ihn in Ägypten, am Roten Meer und in der Wüste getan hatte? Ein solches Thema mußte seinem Herzen stets frisch und willkommen sein. Ebenso ist es mit dem Christen. Kann sein Herz müde werden, das Kreuz und all die großen und herrlichen Dinge, die damit in Verbin­dung stehen, zu betrachten? Kann es ihn ermüden, Christus und Sein Werk, Seinen Dienst, Seine unvergleichliche Herrlichkeit und Seine un­ermeßlichen Reichtümer zu erforschen? Alle diese Dinge sind und blei­ben seinem Herzen lieb und wertvoll. Kann die Wissenschaft Christus etwas hinzufügen oder kann menschliche Gelehrsamkeit das große Geheimnis der Gottseligkeit vollkommener machen, das einen "Gott, geoffenbart im Fleische", als Fundament und einen verherrlichten Men­schen im Himmel zum Schlußstein hat? Könnte es etwas Höheres geben?

 

Wenn wir die Werke Gottes in der Schöpfung betrachten, finden wir da nicht schon dasselbe? Könnten wir z. B. jemals der Sonne müde wer­den? Sie ist nicht neu. Ihre Strahlen ergießen sich bereits seit mehr als sechstausend Jahren über diese Erde, und doch sind sie heute noch

 

jeden Tag ebenso neu und willkommen wie zur Zeit, da sie geschaffen wurden. Oder könnten wir je des Meeres überdrüssig werden? Auch das Meer ist nicht neu. In regelmäßiger Ebbe und Flut sind seine Was­ser schon unzählige Male hin ‑ und hergeströmt, und doch sind seine Wellen heute noch so willkommen an unseren Ufern und so gerne gesehen wie je. Allerdings ist die Sonne oft zu blendend für die schwachen menschlichen Augen, und das Meer verschlingt nicht selten in einem Augenblick des Menschen Werke. Aber doch verlieren beide weder ihre Macht noch ihren Reiz und ihre Frische. Werden wir je der Tautropfen müde, die in erfrischender Kraft unsere Gärten und Felder benetzen? Oder könnten wir je des schönen Geruchs unserer Hecken und Wiesen, des Gesangs der Nachtigall und der Drossel überdrüssig werden?

 

Was ist das alles im Vergleich mit den Herrlichkeiten, die mit der Per­son und dem Kreuz Christi in Verbindung stehen? Was ist es gegen­über den großen Wirklichkeiten der vor uns liegenden Ewigkeit?

 

Wir wollen solchen Einflüsterungen nicht unser Ohr leihen, ob sie nun von außen an uns herantreten oder aus unseren eigenen Herzen auf­steigen, damit es uns nicht ergeht wie Israel, dem vor dem himmlischen Manna ekelte und das das köstliche Land verschmähte, oder wie De­mas, der den Apostel Paulus verließ, da er den jetzigen Zeitlauf lieb­gewonnen hatte, oder auch wie jenen, die, unwillig über die ernsten Worte des Herrn, zurückblieben und nicht mehr mit Ihm gingen (Joh. 6).

 

Kapitel 9

 

WESHALB DIE NATIONEN VOR ISRAEL AUSGETRIEBEN WURDEN

 

"Höre, Israel! du gehst heute über den Jordan, um hineinzukommen, Na­tionen in Besitz zu nehmen, größer und stärker als du, Städte, groß und befestigt bis an den Himmel, ein großes und hohes Volk, die Söhne der Enakim, die du ja kennst, und von denen du ja gehört hast: Wer kann vor den Kindern Enaks bestehen?" (V. 1. 2).

 

Dieses Kapitel beginnt mit einem Ausdruck, der das ganze fünfte Buch Mose kennzeichnet: Höre, Israel!" Er gibt gleichsam den Grundton dieses Buches und vor allem jener Eingangsreden an, die uns bereits beschäftigt haben. Das vor uns liegende Kapitel enthält besonders wichtige Dinge. Zunächst stellt Mose mit ernsten Worten der Gemeinde vor, was sie bei ihrem Eintritt in das Land zu erwarten habe. Er ver­hehlt ihnen nicht, daß sie auf ernste Schwierigkeiten und furchtbare Feinde treffen würden. Er tat das nicht, um sie zu entmutigen, sondern um sie vorher zu warnen, damit sie auf alles vorbereitet und gerüstet wären. Worin diese Vorbereitung bestand, werden wir noch sehen. Der treue Diener Gottes fühlte, daß es recht, ja, dringend nötig war, seinen Brüdern die wirkliche Sachlage vorzustellen.

 

Es gibt zwei verschiedene Arten, sich mit Schwierigkeiten zu beschäf­tigen. Man kann sie vom menschlichen und vom göttlichen Standpunkt aus betrachten, im Geist des Unglaubens oder mit ruhigem und stillem Vertrauen auf den lebendigen Gott. Vom einen liefern uns die ungläu­bigen Kundschafter (4. Mose 13), vom anderen der Anfang des vorlie­genden Kapitels ein Beispiel.

 

Zu leugnen, daß Schwierigkeiten vorhanden sind, ist nicht Glaube, sondern Torheit oder Anmaßung und fleischliche Schwärmerei. Nie sollte man blindlings einen Weg gehen, auf den man nicht vorbereitet ist. Der Faule spricht: Ein Löwe ist auf dem Weg". Der Schwärmer meint: "Für mich gibt es weder Gefahren noch Schwierigkeiten!" Ein glaubender Mensch spricht dagegen: "Ob auch tausend Löwen auf dem Weg wären, Gott ist mächtig genug, sie in einem Augenblick zu ver­nichten".

 

Aber doch ist für alle, die des Herrn sind, der allgemein gültige und praktische Grundsatz sehr wichtig: ruhig und gründlich zu erwägen, was sie zu tun vorhaben, bevor sie irgendeinen Weg des Dienstes be­treten oder eine Tätigkeit beginnen. Würde das mehr beachtet, so wür­den wir nicht so viel Schiffbruch in sittlicher und geistlicher Beziehung um uns her feststellen (Vergl. auch Luk. 14, 26‑30).

 

Wie viele unvollendete Gebäude begegnen uns, wenn wir das weite Feld des christlichen Bekenntnisses betrachten! Sie geben dem Be­schauer Anlaß zum Spott! Wie viele haben nur durch einen plötzlichen Impuls oder durch den Druck eines rein menschlichen Einflusses den Weg eines Jüngers Christi eingeschlagen, ohne die ganze Bedeutung dieses Schrittes verstanden und genügend erwogen zu haben! Gab es dann Schwierigkeiten, zeigte sich der Weg schmal, einsam und unbe­quem, so gaben sie ihn auf und bewiesen damit, daß sie nie wirklich die Kosten überschlagen, noch den Weg in Gemeinschaft mit Gott begangen oder überhaupt jemals verstanden hatten, was sie taten.

 

Solche Fälle sind sehr traurig. Sie bringen große Schmach auf die Sache des Herrn, geben dem Widersacher Anlaß zur Lästerung und entmuti­gen die, die um die Ehre Gottes und das Wohl der Seelen besorgt sind. Es ist viel besser, nie den Weg eines Jüngers Christi zu betreten, als, nachdem man es getan hat,. ihn im Unglauben und in weltlicher Gesin­nung wieder zu verlassen.

 

Es ist daher nicht schwer, die Weisheit und Wahrheit der Anfangs­worte unseres Kapitels zu verstehen. Mose sagte den Israeliten offen und ehrlich, was ihnen bevorstand, um sie dadurch vor jedem Selbst­vertrauen zu bewahren, das im Augenblick der Prüfung immer zusam­menbrechen wird. Sie sollten sich auf den lebendigen Gott stützen, der ein Herz, das auf Ihn vertraut, nie beschämen wird.

 

"So wisse heute, daß der HERR, dein Gott, es ist, der vor dir her hin­übergeht, ein verzehrendes Feuer; er wird sie vertilgen, und er wird sie vor dir beugen, und du wirst sie austreiben und sie schnell vernichten, so wie der HERR zu dir geredet hat."

 

Das ist die göttliche Antwort auf alle Schwierigkeiten, so unüberwind­lich sie auch scheinen mögen. Was sind mächtige Nationen und große Städte, wenn der HERR gegenwärtig ist? Nichts als leichte Spreu im Wind. "Wenn Gott für uns ist, wer wider uns?" (Röm. 8, 31 b). Das, was ein furchtsames Herz mit Angst und Schrecken erfüllt, wird eine Gelegenheit für die Entfaltung der Macht Gottes und für die herrlichen Triumphe des Glaubens.

 

Aber wir dürfen nicht vergessen, daß auch der Sieg große Gefahren für uns in sich birgt, Gefahren, die aus unserer beständigen Neigung zur Überheblichkeit entspringen. In der Stunde des Kampfes fühlen wir unsere Ohnmacht und Abhängigkeit; aber sobald wir gesiegt haben, vergessen unsere Herzen so leicht, woher Kraft und Sieg kamen. Diese Erfahrung läßt den treuen Dienst Gottes mit Nachdruck sagen: "Sprich nicht in deinem Herzen" ‑ das ist immer der Anfang eines Fehltrittes ‑"wenn der HERR, dein Gott, sie vor dir ausstößt: um meiner Gerech­tigkeit willen hat der HERR mich hierher gebracht, um dieses Land in Besitz zu nehmen; denn um der Gesetzlosigkeit dieser Nationen willen treibt der HERR sie vor dir aus."

 

Dieser Stolz, diese Unwissenheit und dieses oberflächliche Verständnis für den wirklichen Charakter unserer Wege wohnt in unseren Herzen! Kaum sollte man es für möglich halten, daß ein menschliches Herz eine solche Sprache führen könnte: "Um meiner Gerechtigkeit willen"! Aber daß die Israeliten dazu fähig waren, beweist die Tatsache, daß sie davor gewarnt wurden. Und wie sie, so sind auch wir fähig, das, was Gott zu unserem Besten tut, zu unserer eigenen Verherrlichung zu be­nutzen, anstatt darin einen Grund zu sehen, Gott zu loben.

 

Wir tun darum gut, auf die warnende Stimme des treuen Knechtes Gottes zu hören, denn seine Worte vermitteln uns ein wirksames Gegenmittel gegen die Selbstgerechtigkeit, die uns, wie damals dem Volk Israel, so anhaftet. "Nicht um der Gerechtigkeit und um der Geradheit deines Herzens willen kommst du hinein, um ihr Land in Besitz zu nehmen; sondern um der Gesetzlosigkeit dieser Nationen willen treibt der HERR, dein Gott, sie vor dir aus, und damit er das Wort aufrecht halte, welches der HERR deinen Vätern, Abraham, Isaak und Jakob, geschworen hat. So wisse denn, daß nicht um deiner Gerech­tigkeit willen der HERR, dein Gott, dir dieses gute Land gibt, es zu besitzen; denn ein hartnäckiges Volk bist du. Gedenke, vergiß nicht.. wie du den HERRN, deinen Gott, in der Wüste erzürnt hast! Von dem Tage an, da du aus dem Lande Ägypten herausgezogen bist, bis ihr an diesen Ort kamet, seid ihr widerspenstig gegen den HERRN gewesen" (V. 5‑7).

 

Dieser Abschnitt zeigt die beiden großen Grundsätze, die das Herz wirklich in den moralisch richtigen Zustand versetzen, wenn sie klar erfaßt werden. Zunächst wird das Volk daran erinnert, daß ihre Besitz­ergreifung des Landes Kanaan nichts anderes war als die Erfüllung der Verheißung, die Gott ihren Vätern gegeben hatte. Die Austreibung der sieben Nationen Kanaans war nach der gerechten Regierung Gottes eine Folge ihrer Gesetzlosigkeit. Jeder Gutsherr hat ein Recht, schlech­ten Pächtern zu kündigen, und die Nationen Kanaans hatten gewisser­maßen nicht nur ihre Pacht nicht bezahlt, sondern auch das Eigentum Gottes so sehr verdorben und verunreinigt, daß Er sie nicht länger darin dulden konnte. Darum wollte Er sie austreiben, und zwar ohne jede Beziehung zu den neuen Pächtern des Landes. Wer auch immer nach ihnen das Land in Besitz nehmen mochte, die alten bösen Pächter muß­ten jedenfalls ausgewiesen werden. Die Ungerechtigkeit der Amoriter hatte ihren Höhepunkt erreicht, und darum konnte nichts mehr das Gericht aufhalten. Der Mensch mag es für ungerecht und grausam halten, er mag es nicht mit einem wohlwollenden Wesen in Einklang bringen können, wenn Tausende von Familien aus ihrer Heimat vertrie­ben und dem Schwerte preisgegeben werden; aber Gott weiß Seine Angelegenheiten zu ordnen, ohne nach menschlichen Meinungen zu fragen. Er hatte die Bosheit der sieben Nationen solange erduldet, bis sie einfach unerträglich wurde. Selbst das Land konnte sie nicht mehr ertragen. jede weitere Nachsicht hätte bedeutet, die schrecklichsten Greuel gutzuheißen, und das war selbstverständlich unmöglich. Die Ehre Gottes forderte die Austreibung der Kanaaniter. Sie forderte aber auch die Einführung des Samens Abrahams in den Besitz des Landes, das er als Pächter zum ewigen Eigentum erhalten sollte unter Gott, dem Allmächtigen, unter dem höchsten Gott, der Himmel und Erde besitzt. So standen die Dinge für Israel, wenn es nur ein Auge dafür gehabt hätte. Der Einzug des Volkes in das Land der Verheißung und die Auf­rechterhaltung der göttlichen Ehre waren so eng miteinander verbun­den, daß keines von beiden angetastet werden konnte, ohne dabei auch das andere in Mitleidenschaft zu ziehen. Gott hatte verheißen, das Land Kanaan dem Samen Abrahams zum ewigen Besitztum zu geben. Hatte Er nicht das Recht, das zu tun? Kann der Unglaube Gott das Recht streitig machen, mit Seinem Eigentum zu tun, was Er will? Kann er dem Schöpfer und Herrscher des Weltalls ein Recht verweigern, das Er für sich in Anspruch nimmt? Das Land gehörte dem HERRN, und Er gab es Abraham, Seinem Freunde, für immer. Trotzdem wurden die Kanaaniter nicht eher aus ihrem Besitz verdrängt, bis ihre Bosheit unerträglich geworden war.

 

Bei der Austreibung der alten und der Einführung der neuen Besitzer ging es also nur um die Ehre Gottes. Israel aber hatte durchaus keinen Grund zur Überheblichkeit, was Mose ihnen klar bezeugte. Er schil­derte ihnen wiederholt alle wichtigen Szenen ihrer Geschichte vom Horeb bis Kades‑Barnea. Er erinnerte sie an das goldene Kalb, an die zerbrochenen Tafeln des Bundes, an Tabhera, Massa und Kibroth­-Hattaawa und faßte schließlich im 24. Verse ihre ganze Geschichte in die tief demütigenden Worte zusammen: "Widerspenstige seid ihr gegen den HERRN gewesen, von dem Tage an, da ich euch gekannt habe."

 

So versuchte Mose eindringlich auf Herz und Gewissen des Volkes ein­zuwirken. Der feierliche Rückblick auf ihre ganze Laufbahn sollte ihnen vor allem jeden falschen Begriff über sich selbst nehmen. Betrachteten sie ihre Geschichte vom richtigen Standpunkt aus, so zeigte sich nur zu deutlich, daß sie ein halsstarriges Volk waren und wiederholt am Rande des Verderbens gestanden hatten. Mit welch einer überwältigenden Kraft mußten daher die Worte in ihre Ohren dringen: "Und der HERR

sprach zu mir: Mache dich auf, steige eilends hinab! denn dein Volk, das du aus Ägypten herausgeführt hast, hat sich verderbt. Sie sind schnell von dem Wege abgewichen, den ich ihnen geboten habe; sie haben sich ein gegossenes Bild gemacht. Und der HERR sprach zu mir und sagte: Ich habe dieses Volk gesehen, und siehe, es ist ein hart­näckiges Volk. Laß ab von mir, daß ich sie vertilge und ihren Namen unter dem Himmel auslösche, und ich will dich zu einer Nation machen, stärker und größer als sie" (V. 12‑14).

 

Wie vernichtend waren solche Worte für ihren Stolz und ihre Selbst­gerechtigkeit! Wie mußten sie im Innersten erschüttert werden, wenn sie hörten: "Laß ab von mir, daß ich sie vertilge!‑ Wie überwältigend war der Gedanke, dem Untergang und der Vernichtung so nahe gewe­sen zu sein! Wie wenig hatten sie davon gewußt, was sich zwischen dem HERRN und Mose auf dem Gipfel des Horeb zugetragen hatte! Sie hatten am Rande eines furchtbaren Abgrundes gestanden, und der nächste Augenblick hätte sie hinabstürzen können! Die Fürbitte Moses, des Mannes, den sie der Anmaßung beschuldigten, hatte sie gerettet. Er, den sie der Selbstsucht und der Absicht bezichtigt hatten, sich zum Herrscher über sie zu machen, hatte eine ihm von Gott gebotene Gele­genheit ausgeschlagen, das Haupt einer Nation zu werden, die größer und mächtiger war als Israel! Ja, er hatte sogar ernstlich darum gebeten, aus dem Buche Gottes ausgelöscht zu werden, wenn ihnen nicht ver­geben werden würde und wenn sie nicht in das Land gebracht werden sollten!

 

Wie verschwindend klein muß Israel sich diesen wunderbaren Tatsachen gegenüber gefühlt haben! Wenn sie diese Dinge betrachteten, mußten sie einsehen, wie töricht es war, zu denken: "Um meiner Gerechtigkeit willen hat der HERR mich hierher gebracht, dieses Land zu besitzen". Wie konnten die Anbeter eines gegossenen Bildes so reden? Mußten sie nicht vielmehr anerkennen, daß sie nicht besser waren als die Na­tionen, die vor ihnen ausgetrieben werden sollten? Was unterschied sie denn von ihnen? Nur die unumschränkte Barmherzigkeit und aus­erwählende Liebe ihres Bundesgottes. Wem hatten sie ihre Befreiung aus Ägypten, ihre Erhaltung in der Wüste und ihre Einführung in das Land zu verdanken? Ganz allein der ewigen Beständigkeit des mit ihren Vätern gemachten Bundes, der "geordnet in allem und bewahrt", be­stätigt und befestigt wurde durch das Blut des Lammes, kraft dessen ganz Israel einmal in seinem eigenen Land errettet und gesegnet werden wird.

 

Die herrlichen Schlußworte unseres Kapitels (V. 25‑29) waren beson­ders geeignet, die Augen Israels zu öffnen und ihnen die große Torheit ihrer Gedanken über Mose, über sich selbst und über Den zu zeigen, Der sie trotz ihres finsteren Unglaubens und ihrer halsstarrigen Wider­spenstigkeit so wunderbar getragen hatte. Sie sind ein gewaltiges, er­greifendes Flehen für Israel. Mose schlägt ohne Bedenken die ihm an­gebotene Würde aus, das Haupt einer größeren und stärkeren Nation als Israel zu werden. Sein einziger Wunsch ist, daß der HERR ver­herrlicht werde, daß Er Israel vergebe, es segne und es in das ver­heißene Land bringe. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, daß auch nur eine Spur von Schmach auf den glorreichen Namen gebracht würde, der seinem Herzen so wertvoll war. Ebenso war es ihm unmöglich, der Zeuge von Israels Vernichtung zu werden. Das waren die beiden Über­legungen, die ihn bewegten, während der Gedanke an seine eigene Erhebung keinen Raum bei ihm fand. Nur wenn er besorgt für die Ehre Gottes und das Heil Seines Volkes war, konnte dieser vielgeliebte Knecht Gottes, was seine eigenen Hoffnungen und Interessen anging, vollkommen in der Gewißheit ruhen, daß sein persönlicher Segen und die göttliche Herrlichkeit durch ein unauflösliches Band miteinander verbunden waren.

 

Wie köstlich muß das alles für das Herz Gottes gewesen sein! Wie mußte das ernste Flehen Seines Knechtes Ihm wohltun! Wieviel mehr entsprach es Seinen Gedanken als das Gebet des Elia, der einige Jahr­hunderte später gegen Israel vor Ihm auftrat! Wie erinnert uns die Fürbitte Moses an den gesegneten Dienst unseres großen Hohenprie­sters, der immerdar lebt, um Sich für Sein Volk zu verwenden, und dessen Vermittlung zu unserem Wohl nie aufhört!

 

Schön ist auch die Art, in der Mose darauf besteht, daß das Volk das Erbteil des HERRN war und daß Er es aus Ägypten herausgeführt hatte. Der HERR sagte: "dein Volk, das du aus Ägypten herausgeführt hast". Aber Mose erwiderte: "Sie sind ja dein Volk und dein Erbteil, das du herausgeführt hast mit deiner großen Kraft usw."

 

Kapitel 10

 

DIE ZWEITEN TAFELN

 

Zu Anfang des 10. Kapitels verweilt Mose bei dem, was mit den Geset­zestafeln in Verbindung stand, von denen die ersten am Fuß des Berges in Stücke zerschlagen und die anderen in die Lade gelegt worden waren (V. 1‑5).

 

Die zerbrochenen Tafeln redeten eine ernste Sprache. Sie enthielten eine heilsame Lehre für das Volk. Unser Kapitel bringt nicht etwa eine Wiederholung der im 2. Buch Mose berichteten Tatsachen, sondern erfüllt vielmehr eine besondere Aufgabe. Der Diener Gottes erinnert hier wieder das Volk an die vergangenen Dinge, um sie ihrem Gedächt­nis unauslöschlich einzuprägen. Er läßt sie einen Blick in die Vorgänge tun, die sich während der geheimnisvollen vierzig Tage auf dem Gipfel des wolkenbedeckten Berges zwischen ihm und dem HERRN ereignet hatten. Er teilt dem Volk mit, wie der HERR über die zerbrochenen Tafeln dachte, dieses treffende und überwähigende Zeugnis von der gänzlichen Wertlosigkeit des mit dem Menschen abgeschlossenen Bundes. Warum waren die Tafeln denn zerbrochen worden? Weil das Volk in trauriger Weise gefehlt hatte. Die zerbrochenen Tafeln zeigten, daß Israel nach dem Urteil des Gesetzes hoffnungslos verloren war. Wie eine zerbrochene Säule auf einem Grabe ein ausdrucksvolles Sinnbild der Hinfälligkeit und Vergänglichkeit aller menschlichen Kraft ist, das keiner weiteren Inschrift bedarf, so verkündigten diese zer­brochenen Tafeln dem Volk Israel die schreckliche Tatsache, daß, soweit es ihren Bund betraf, alles für sie verloren war. Es gab auf Grund des Gesetzes keine Hoffnung mehr für sie. Sie hatten Schiffbruch erlitten. Alles war dahin.

 

Was aber bedeuten die anderen Tafeln? Gott sei Dank, daß sie von einem ganz anderen Zweck sprachen. Sie wurden nicht zerbrochen. Gott Selbst sorgte dafür. Und ich wandte mich und stieg von dem Berge herab. Und ich legte die Tafeln in die Lade, die ich gemacht hatte; und sie sind daselbst, wie der HERR mir geboten hat" (V. 5).

 

Gesegnete Tatsache! "Sie sind daselbst“, verborgen in der Lade, die von Christus redet, der das Gesetz groß gemacht und jedes Jota, jedes Strichlein zur Verherrlichung Seines Gottes und zum ewigen Segen Seines Volkes erfüllt hat. Während die Trümmer der ersten Tafeln ein demütigendes Zeugnis von dem Verfall und Verderben Israels ablegten, gaben die anderen, die unversehrt in der Lade ruhten, Zeugnis von der Wahrheit, daß Christus des Gesetzes Ende ist, jedem Glaubenden zur Gerechtigkeit, sowohl dem Juden zuerst als auch dem Griechen.

 

Wir behaupten nicht, daß Israel die Bedeutung dieser wunderbaren Tatsachen verstanden hätte. Sicher haben einzelne von ihnen etwas davon erfaßt, aber als Nation verstanden sie es damals noch nicht. Doch darum geht es hier nicht. Wir sollten die Anwendung der in den Tafeln vorgestellten kostbaren Wahrheit auf uns selbst verstehen, daß näm­lich der Mensch in allem, was ihm anvertraut ist, versagt hat, während der Bund Gottes in Gnade von ewiger Dauer ist, bestätigt durch das Blut Christi. Und nahe ist die Zeit, wo dieser Grund in allen seinen herrlichen Ergebnissen im tausendjährigen Reiche zur Wirkung kom­men wird, wenn der Sohn Davids herrschen wird von Meer zu Meer, und von dem Strome bis an die Enden der Erde; wenn der Same Abra­hams das Land der Verheißung, so wie Gott es ihm gegeben hat, be­sitzen wird, und wenn alle Nationen der Erde gesegnet sein werden unter der Herrschaft des Friedefürsten.

 

Ist das nicht eine herrliche Aussicht für das Land Israel und für unsere seufzende Erde? Dann wird der König der Gerechtigkeit und des Friedens alles nach Seiner eigenen Weise handhaben. Alles Böse wird mit mächtiger Hand unterdrückt werden. Keine Schwäche wird sich in dieser Regierung zeigen, und keine Zunge wird es wagen, sich gegen ihre Beschlüsse und Verfügungen aufzulehnen. Keinem Aufwiegler wird es gestattet sein, den Frieden des Volkes zu stören oder die Majestät auf dem Thron zu lästern. Jeder Mißbrauch wird dann geschafft, jedes zerstörende Element unschädlich gemacht, jeder Anstoß entfernt und jede Wurzel der Bitterkeit ausgerottet sein. Kein Armer und Dürftiger wird unbeachtet bleiben, sondern alle werden in gött­licher Weise versorgt werden. Mühsal, Kummer, Mangel und Trost­losigkeit wird man nicht kennen. "Die Wüste und das dürre Land werden sich freuen, und die Steppe wird frohlocken und aufblühen wie eine Narzisse." "Siehe, ein König wird regieren in Gerechtigkeit; und die Fürsten, sie werden nach Recht herrschen. Und ein Mann wird sein wie ein Bergungsort vor dem Winde und ein Schutz vor dem Regen­sturm, wie Wasserbäche in dürrer Gegend, wie der Schatten eines ge­waltigen Felsen in lechzendem Lande" (Jes. 35, 1; 32, 1. 2).

 

Die Verse 6‑9 unseres Kapitels bilden eine Einschaltung, in der der Gesetzgeber einige Umstände zusammenstellt, die er aus der Geschichte des Volkes herausgreift und die zugleich die Regierung und die Gnade Gottes beleuchten. Die erstere tritt in dem Tode Aarons hervor, die letztere in der Auswahl und Erhebung Levis. Beide Ereignisse gehören der Zeit nach nicht zusammen und sind nur im Blick auf das große Ziel zusammengestellt, das der Gesetzgeber immer vor Augen hatte. Es ist sicher wertvoll, sich hiermit eingehend zu beschäftigen.

 

Warum greift Mose in diesem Zusammenhang auf die beiden Ereignisse aus der Geschichte Israels und scheinbar so unvermittelt und in Form einer Einschaltung zurück? Um die Herzen des Volkes auf den einen großen Gegenstand des Gehorsams hinzulenken. Deshalb greift er verschiedene Ereignisse heraus und stellt sie nach der ihm gegebenen Weisheit nebeneinander. Ihrer inneren Bedeutung nach sucht er sie auf Herz und Gewissen anzuwenden.

 

Wir begnügen uns hier mit diesem Hinweis, da wir uns anderswo schon damit beschäftigt haben, unterstreichen aber abschließend die Tragweite und Bedeutung, die das fünfte Buch Mose den Tatsachen gibt. Der betagte Gesetzgeber führt sie an, um seinem letzten Appell an das Herz und Gewissen des Volkes mehr Nachdruck zu verleihen und seinen Ermahnungen zu einem unbedingten Gehorsam gegenüber den Satzun­gen und Rechten ihres Bundesgottes mehr Kraft zu geben. Israel sollte sich daran erinnern, daß Aaron trotz seiner hohen Stellung als Hoher­priester Israels wegen seines Ungehorsams gegen das Wort des HERRN sterben mußte. Wie wichtig war es deshalb für sie, auf sich selbst acht­zuhaben! Mit der Regierung Gottes kann man nicht spielen, und die hohe Stellung Aarons machte es um so notwendiger, seine Sünde zu bestrafen, damit andere sich fürchteten.

 

Ferner sollte sich das Volk an das Handeln Gottes mit Levi erinnern, aus dem die Gnade so wunderbar hervorstrahlt. Der grausame und eigenwillige Levi wurde aus seinem sittlichen Tiefstand in die Nähe Gottes gebracht, um die Lade des Bundes des HERRN zu tragen, vor dem HERRN zu stehen, um Ihm zu dienen und in Seinem Namen zu segnen.

 

Aber warum verbindet Mose die Geschichte mit dem Tode Aarons? Einfach deshalb, um die gesegneten Folgen des Gehorsams zu zeigen Wie der Tod Aarons das Ergebnis des Ungehorsams war, so war die Erhebung Levis die Frucht des Gehorsams. Hören wir, was der Prophet Maleachi über ihn sagt: "Und ihr werdet wissen, daß ich dieses Gebot an euch gesandt habe, damit mein Bund mit Levi sei, spricht der HERR der Heerscharen. Mein Bund mit ihm war das Leben und der Friede, und ich gab sie ihm zur Furcht, und er fürchtete mich, und er, er zitterte vor meinem Namen. Das Gesetz der Wahrheit war in seinem Munde, und Unrecht fand sich nicht auf seinen Lippen; er wandelte mit mir in Frieden und Geradheit, und viele brachte er von ihrer Ungerechtigkeit zurück“ (Mal. 2, 4‑6).

 

Diese bemerkenswerte Stelle wirft ein helles Licht auf die Zusammen­hänge. Der HERR gab Levi Seinen Bund des Lebens und des Friedens, weil dieser Ihn fürchtete bei der Aufrichtung des goldenen Kalbes durch Aaron, der selbst ein Levit von höchstem Rang war. Warum wurde Aaron bestraft? Wegen seiner Widerspenstigkeit an den Wassern von Meriba (4. Mose 20, 24). Warum wurde Levi gesegnet? Wegen seines Gehorsams am Fuße des Horeb (2. Mose 32). Der Grund, weshalb wir diese beiden Begebenheiten in unserem Kapitel nebeneinandergestellt finden, liegt also in dem Wunsche Moses, der Gemeinde die Not­wendigkeit eines unbedingten Gehorsams gegen die Gebote ihres Gottes einzuschärfen. Wie vollkommen ist die Schrift! Wie treffend sind die Zusammenhänge! Wie füllt auch das fünfte Buch Mose seinen Platz aus! Es steht weder im Widerspruch mit den vorhergehenden inspirierten Büchern, noch ist es eine bloße Wiederholung, sondern viel­mehr deren göttliche Anwendung. Wie augenscheinlich ist es, daß Ungläubige nicht verstehen, was sie sagen oder fest behaupten, wenn sie sich erdreisten, die Aussprüche Gottes anzugreifen! Ja, sie irren sehr, weil sie weder die Schriften noch die Kraft Gottes kennen.*)

 

*) in rnenschlichen Schriften finden sich unzählige Beispiele, in denen als Beweis oder zur Erläuterung einer Behauptung Tatsachen ‑ nach derselben Art wie in 5. Mose 10, &‑9 ‑ ungeachtet der Zeitfolge, nur nach sachlichen Gesichtspunkten zusammengestellt werden. Haben die Ungläubigen etwas dagegen einzuwenden? Ganz und gar nicht. Nur wenn so etwas in der Heili­gen Schrift vorkommt, machen sie Einwendungen, weil sie das Wort Gottes hassen und den Gedanken nicht ertragen können, daß Gott Seinen Geschöpfen eine schriftliche Offenbarung Seiner Gedanken gegeben hat.

 

Mit dem zehnten Vers unseres Kapitels nimmt Mose den Faden seiner Rede wieder auf. "Ich aber blieb auf dem Berge, wie die vorigen Tage, .vierzig Tage und vierzig Nächte, und der HERR erhörte mich auch dieses Mal; der HERR wollte dich nicht verderben. Und der HERR sprach zu mir:. Mache dich auf, gehe hin, um vor dem Volke herzu­ziehen, damit sie hineinkommen und das Land in Besitz nehmen, das ich ihren Vätern geschworen habe, ihnen zu geben."

 

               

Der HERR wollte Seine Verheißungen trotz aller Hindernisse erfüllen und Israel das ganze Land besitzen lassen, so wie er Abraham, Isaak und Jakob geschworen hatte, es ihrem Samen zu geben zum ewigen Erbteil.

 

„Und nun, Israel, was fordert der HERR, dein Gott, von dir, als nur den HERRN, deinen Gott, zu fürchten, auf allen seinen Wegen zu wan­deln und ihn zu lieben, und dem HERRN, deinem Gott, zu dienen mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele, indem du die Gebote des HERRN und seine Satzungen, die ich dir heute gebiete, beobachtest, dir zum Guten?" Das Befolgen der göttlichen Gebote brachte ihnen wirklich nur Gutes, ja vollkommenen und reichen Segen. Der Weg göttlichen, einfältigen Gehorsams ist der Weg der wahren Glückseligkeit, und der Herr sei gepriesen, daß jeder, der ihn liebt, diesen Weg gehen kann.

 

Das ist ein Trost für alle Zeiten. Gott hat uns Sein kostbares Wort gegeben, die vollkommene Offenbarung Seiner Gedanken. Er hat uns auch ‑ und das besaß Israel nicht ‑ Seinen Heiligen Geist in unsere Herzen gegeben. Durch Ihn können wir Sein Wort verstehen und wirk­lich schätzen. Wir tragen daher eine weit größere Verantwortung als Israel, und wir sind in jeder Hinsicht zu einem Leben des Gehorsams verpflichtet.

 

In den Schlußversen unseres Kapitels scheint Mose sich in seiner Dar­stellung der moralischen Beweggründe zum Gehorsam immer mehr zu steigern und den Herzen des Volkes immer näher zu kommen. "Siehe", sagt er, des HERRN, deines Gottes, sind die Himmel und die Himmel der Himmel, die Erde und alles was in ihr ist. Jedoch deinen Vätern hat der HERR sich zugeneigt, sie zu lieben, und er hat euch, ihren Samen nach ihnen, aus allen Völkern erwählt, wie es an diesem Tage ist." Ist das nicht ein wunderbares Vorrecht, von Dem, Der Himmel und Erde besitzt, geliebt und erwählt zu sein! Welch eine Ehre, berufen zu sein Ihm zu dienen und zu gehorchen als Sein Eigentum und als das Volk Seiner Wahl, abgesondert zu sein von allen Völkern der Erde als die Knechte des HERRN und Seine Zeugen!

 

Freilich, unsere Vorrechte sind noch höher, da wir Gott tiefer und inni­ger kennen, als das Volk Israel Ihn je gekannt hat. Wir kennen Ihn als den Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus und als unseren Gott und Vater. Der Heilige Geist wohnt in uns. Durch Ihn ist die Liebe Gottes ausgegossen in unsere Herzen und Er leitet uns an, zu rufen: Abba, Vater! Wie weit geht es über das hinaus, was dem irdischen Volke Gottes je zuteil geworden ist. Im gleichen Maße wie unsere Vor­rechte größer sind, steigen aber auch die Ansprüche Gottes auf unseren Gehorsam. Darum sollte jeder an Israel ergangene Ruf und jede an sie gerichtete Ermahnung unsere Herzen doppelt treffen. Wir nehmen die höchste Stellung ein, die ein Geschöpf erreichen kann. Weder der Same Abrahams auf der Erde noch die Engel Gottes im Himmel können sagen, was wir sagen, oder kennen, was wir kennen. Wir sind einsge­macht und für ewig verbunden mit dem auferstandenen und verherr­lichten Sohn Gottes. Wir dürfen mit dem Apostel Johannes sprechen: "Gleichwie er ist, sind auch wir in dieser Welt" (i. Joh. 4, 17).

 

"SO beschneidet denn die Vorhaut eures Herzens und verhärtet euren Nacken nicht mehr! Denn der HERR, euer Gott, er ist der Gott der Götter und der Herr der Herren, der große, mächtige und furchtbare Gott, der keine Person ansieht und kein Geschenk annimmt; der Recht schafft der Waise und der Witwe, und den Fremdling liebt, so daß er ihm Brot und Kleider gibt" (V. 16‑18).

 

Hier redet Mose nicht nur von den Handlungen und Wegen Gottes, sondern auch von dem, was Er ist. Er ist höher als alles, mächtig und furchtbar. Aber Er hat ein Herz für die einsame Witwe und für die Waise, hilflose Wesen, die aller irdischen und natürlichen Stützen be­raubt sind. Er denkt an sie und sorgt für sie ganz besonders. Sie haben ein besonderes Anrecht auf Sein liebendes Herz und Seine mächtige Hand. "Ein Vater der Waisen und ein Richter der Witwen ist Gott in seiner heiligen Wohnung" (Ps. 68, 5). "Die aber wirklich Witwe und vereinsamt ist, hofft auf Gott und verharrt in dem Flehen und den Gebeten Nacht und Tag" (l. Tim. 5, 5). "Verlasse deine Waisen, ich werde sie am Leben erhalten, und deine Witwen sollen auf mich ver­trauen" (Jer. 49, 11).

 

Welch eine Fürsorge für die Witwen und Waisen liegt in diesen Wor­ten! Wie wunderbar sorgt Gott für sie! Wie mancher Witwe geht es nach dem Tode ihres Mannes besser als vorher, und wie viele Waisen sind später besser versorgt gewesen, als zur Zeit, da sie ihre Eltern noch hatten! Gott blickt auf sie. Nie enttäuscht Er diejenigen, die auf Ihn vertrauen. Er bleibt Seinem Namen immer treu, wie Er Sich auch offen­baren mag. Mögen sich alle Witwen und Waisen zu ihrem Trost und zu ihrer Stärkung daran erinnern!

 

Und der arme Fremdling? Auch er ist nicht vergessen. Gott liebt den Fremdling und gibt ihm Brot und Kleidung. Unser Gott sorgt für alle, denen irdische Stützen und menschliche Hoffnungen fehlen. Er wird dem besonderen Anrecht, das sie alle auf Ihn haben, nach der ganzen Liebe Seines Herzens entsprechen. Die Witwe, die Waise und der Fremde sind die besonderen Gegenstände Seiner Fürsorge. Sie alle sollten allein auf Ihn schauen und dürfen sich in ihren Bedürfnissen an Seine unerschöpflichen Quellen der Hilfe wenden.

 

Aber wenn man wirklich auf Ihn vertrauen will, dann muß man Ihn kennen. "Und auf dich werden vertrauen, die deinen Namen kennen; denn du hast nicht verlassen, die dich suchen, o HERR" (Ps. 9, 10). Wer Gott nicht kennt, wird ein festes Einkommen Seinen Verheißungen vorziehen. Aber der wahre Gläubige sieht in diesen Verheißungen die Stütze seines Herzens, weil er Den, Der sie gegeben hat, kennt und Ihm vertraut. Er freut sich bei dem Gedanken, auf Gott angewiesen und von Ihm abhängig zu sein. Gerade das, was den Ungläubigen fast zur Verzweiflung bringen würde, ist für einen Christen, einen Mann des Glaubens, die größte Freude. Er kann immer sagen: "Nur auf Gott vertraue still meine Seele! denn von ihm kommt meine Erwartung. Nur er ist mein Fels" (Ps. 62, 5. 6).

 

Was verschafft Gott dem Fremdling? "Nahrung und Kleidung". Und das ist auch für einen wirklichen Fremdling genug, wie der Apostel in Timotheus schreibt: "Denn wir haben nichts in die Welt herein­gebracht, so ist es offenbar, daß wir auch nichts hinausbringen können. Wenn wir aber Nahrung und Bedeckung haben, so wollen wir uns daran genügen lassen" (l. Tim. 6, 7. 8).

 

Dieser Hinweis ist beachtenswert. Welch ein Heilmittel für die uner­sättliche Habgier und Ehrsucht unserer Zeit wird uns hier gegeben! Wenn wir mit dem, was Gott für den Fremdling vorgesehen hat, zu­frieden wären, würden wir ganz andere Erfahrungen machen! Wie ein­fach wären dann unsere Gewohnheiten, wie frei von weltlicher Gesin­nung wäre unser Verhalten dann! Wie hoch würde es uns über die Selbstgefälligkeit und Üppigkeit erheben, die unter den bekennenden Christen der heutigen Zeit so vorherrschend sind! ja, wir sollten einfach essen und trinken zur Verherrlichung Gottes und um unserem Leibe die notwendige Nahrung zuzuführen. Darüber hinausgehen heißt, den Lüsten des Fleisches frönen, "welche wider die Seele streiten".

 

Leider versagen auch Christen in dieser Beziehung oft. Wenig wird oft das Wort des Apostels beachtet: "Denn die Gnade Gottes ist er­schienen, heilbringend für alle Menschen, und unterweist uns, daß wir . . . besonnen und gerecht und gottselig leben sollen in dem jetzigen Zeitlauf!" (Tit. 2, 11. 12). Der Ausdruck "besonnen leben" bezieht sich gewiß nicht allein auf Mäßigkeit im Essen und Trinken ‑ aber ohne Zweifel sind sie einbegriffen; er umfaßt vielmehr die völlige innere Selbstbeherrschung, die Beherrschung der Gedanken und der Zunge.

 

Es ist interessant, die Art und Weise zu sehen, wie Mose dem Volk das göttliche Beispiel als Muster vorstellt. Er sagt, daß der HERR "den Fremdling liebt, so daß er ihm Brot und Kleider gibt". ‑ "Und ihr sollt den Fremdling lieben; denn ihr seid Fremdlinge gewesen im Lande Ägypten". Das Volk sollte nicht nur seine Augen auf das göttliche Vorbild richten, sondern es sollte sich auch seiner vergangenen Ge­schichte und der Erfahrungen erinnern, damit ihre Herzen mit Teil­nahme und Mitleid gegen den armen, heimatlosen Fremden erfüllt

 

würden. Es war Pflicht und Vorrecht des Volkes Gottes, sich in die Situationen und Gefühle anderer zu versetzen. Sie sollten die Vertreter Gottes sein, dessen Volk sie waren und dessen Name über ihnen an­gerufen wurde. Sie sollten Ihn nachahmen, indem sie den Bedürfnissen der Witwen, Waisen und Fremden entgegenkamen und sie so erfreuten. Wenn aber das irdische Volk Gottes zu solch einer schönen Handlungs­weise berufen war, wieviel mehr wir, die wir "mit jeder geistlichen Segnung in den himmlischen Örtern gesegnet sind in Christo Jesu"!

 

Kapitel 11

 

SEGEN UND FLUCH

 

Mose fühlte, wie wichtig es war, die mächtigen Taten des HERRN dem Herzen des Volkes und seinem Gedächtnis tief einzuprägen. Der menschliche Geist ist so flüchtig und das Herz so unbeständig. Israel stand in Gefahr, die ernsten Gerichte Gottes Über Ägypten und über den Pharao zu vergessen und den Eindruck zu verlieren, den sie in ihren Herzen hinterlassen sollten (V. 1‑7).

 

Wir wundern uns vielleicht, daß Israel die eindrucksvollen Ereignisse in Ägypten jemals vergessen konnte ‑ das Hinabziehen seiner Väter, einer Handvoll Menschen, und das Wachstum des Volkes trotz der größten Schwierigkeiten und Hindernisse zu einer großen Nation, "wie die Sterne des Himmels an Menge". Wie ernst waren auch die zehn Plagen, die über Ägypten gekommen waren! Sie sollten einen Eindruck und einen Begriff von der Macht Gottes und der Ohnmacht und Nich­tigkeit des Menschen geben. Was ist der Mensch mit seiner prahleri­schen Weisheit, Stärke und Herrlichkeit, und wie töricht sind seine Anstrengungen, sich gegen den allmächtigen Gott aufzulehnen! Was war denn die ganze Macht des Pharao und Ägyptens in der Gegenwart des HERRN, des Gottes Israels? Alle Wagen Ägyptens, seine Pracht und Herrlichkeit, die Tapferkeit und Macht dieser alten, weitberühmten Nation wurde in einem Augenblick von den Wogen des Meeres ver­schlungen.

 

Und warum? Weil sie sich angemaßt hatten, in die Angelegenheiten des Volkes Gottes einzugreifen und sich dem ewigen Vorsatz und Rat­schluß des Höchsten zu widersetzen. Sie versuchten die zu unterdrük­ken, die Er zu Gegenständen Seiner Liebe gemacht hatte. Er hatte geschworen, den Samen Abrahams zu segnen. Der Pharao versuchte voll Stolz und Herzenshärtigkeit, die Wege Gottes zu durchkreuzen; aber er stürzte sich dadurch selbst ins Verderben. Sein Land wurde im Innersten erschüttert, während das Rote Meer ihn selbst und sein mäch­tiges Heer verschlang. Ein warnendes Beispiel für alle, die versuchen sollten, der Verwirklichung der Pläne des HERRN im Blick auf den Samen Seines Freundes Abraham entgegen zu treten.

 

Aber Israel sollte sich nicht nur daran erinnern, was der HERR an Ägypten und dem Pharao, sondern auch unter ihnen selbst getan hatte. Wie demütigend war für sie die Erinnerung an das Gericht, das über Dathan und Abiram und ihre Häuser ergangen war! Wie furchtbar war der Gedanke, daß die Erde ihren Mund aufgetan und sie ver­schlungen hatte, weil sie sich gegen die göttliche Verordnung empört hatten! In der Erzählung dieser Begebenheit im vierten Buche Mose spielt Korah, der Levit, die wichtigste Rolle. Hier aber wird er ausge­lassen, und es werden nur die beiden Rubeniter, zwei Glieder der Ver­sammlung, genannt, weil Mose das ganze Volk beeindrucken will, indem er ihnen die schrecklichen Folgen des Eigenwillens bei zwei Männern aus ihrer Mitte vorstellt. Dathan und Abiram waren Männer aus dem Volke, wie wir sagen würden, und nicht bevorzugte Leviten.

 

Ob die Aufmerksamkeit Israels im Blick auf das Tun Gottes nach innen oder nach außen gelenkt wurde, es geschah nur zu dem Zweck, ihnen ein tiefes Gefühl von der Wichtigkeit des Gehorsams einzuprägen. Das war das Ziel aller Wiederholungen, Erklärungen und Ermahnungen des treuen Dieners Gottes, der so bald von ihnen scheiden sollte. Des­halb überspringt er in seinen Reden, geleitet durch den Geist Gottes, Jahrhunderte ihrer Geschichte und wählt nur die Ereignisse aus, die ge­eignet waren, ihre Herzen und Gewissen zu beeindrucken. Die Reise nach Ägypten, der Aufenthalt dort, die ernsten Gerichte über Pharao, der Auszug, der Durchgang durch das Rote Meer, die Szenen der Wüste und vor allem das schreckliche Gericht über die beiden Rubeniter, alles das dient mit wunderbarer Kraft und Klarheit dazu die Ansprüche des HERRN auf den unbedingten Gehorsam des Volkes herauszu­stellen.

 

"Und so beobachtet das ganze Gebot, das ich dir heute gebiete, damit ihr stark seiet und hineinkommet und das Land besitzet, . . . das der HERR euren Vätern geschworen hat, ihnen und ihrem Samen zu geben, ein Land, das von Milch und Honig fließt" (V. 8. 9).

 

Der Leser sollte die schöne innere Verbindung dieser beiden Ausdrücke beachten: "beobachtet das ganze Gebot", und: "damit ihr stark seiet". Ein bedingungsloser Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes verleiht große Kraft. Wir sind so leicht geneigt, unter den Geboten und Vor­schriften Gottes eine Auswahl zu treffen und nur solche anzunehmen, die uns angenehm erscheinen. Aber das ist Eigenwille. Woher nehmen wir das Recht, eine Vorschrift des Wortes anzunehmen und die andere zu vernachlässigen? Tun wir es, so ist es grundsätzlich nur Eigenwille und Auflehnung gegen Gott. Kann ein Knecht bestimmen, welchen Ge­boten seines Herrn er gehorchen will? jedes Gebot trägt die Autorität seines Herrn und verpflichtet ihn deshalb, es zu beachten. je pünktlicher der Knecht gehorcht, und je ungeteilter er seine Aufmerksamkeit jedem noch so unangenehmen Auftrag seines Herrn widmet, um so mehr Vertrauen und Achtung wird er sich erwerben und seine Stellung festi­gen. Jeder Herr liebt und schätzt einen gehorsamen und ergebenen Knecht.

 

Sollten wir nicht bestrebt sein, das Herz unseres hochgelobten Herrn durch willigen Gehorsam gegen alle Seine Gebote zu erfreuen? Er hat uns geliebt und Sich Selbst für uns hingegeben! Ist es nicht wunderbar, daß arme Geschöpfe wie wir das Herz Jesu erquicken können? Es ist eine Freude für Ihn, wenn wir Seine Gebote halten, und der Gedanke daran sollte uns anspornen, Sein Wort zu erforschen, um Seine Gebote immer besser zu verstehen und zu tun.

 

Die oben angeführten Worte Moses erinnern uns an das Gebet des Apostels für die "heiligen und treuen Brüder in Christo, die in Kolossä sind" (Kap. 1, 9‑14). In beiden Fällen zeigt sich die Schönheit eines bereitwilligen Gehorsams. Ein solcher Gehorsam ist wertvoll für den Vater, für Christus und für den Heiligen Geist. Das sollte genügen, um in uns den Wunsch zu wecken oder zu kräftigen, erfüllt zu sein mit der Erkenntnis Seines Willens, um würdig des Herrn zu wandeln, zu allem Wohlgefallen, in jedem guten Werke fruchtbringend und wachsend durch die Erkenntnis Gottes. Es sollte uns zu einem fleißigeren Erfor­schen des Wortes Gottes anregen, um so die Gedanken und den Willen unseres Herrn mehr und mehr zu erkennen und, gestützt auf Seine Gnade, das vor Ihm Wohlgefällige zu tun.

 

In den Versen 10‑12 beschreibt Mose dem Volk das verheißene Land. Groß ist der Unterschied zwischen Ägypten und Kanaan. Dort gab es keinen Regen vom Himmel. Alles mußte durch menschliche Anstren­gungen erzeugt werden. Nicht so im Lande des HERRN. Dort hätte der Fuß des Menschen nichts ausrichten können, und es war auch nicht nötig; denn dort kam der segensreiche Regen des Himmels auf das Land. Der HERR Selbst wachte über das Land und tränkte es mit dem Früh‑ und Spätregen. Während das Land Ägypten auf seine eigenen Hilfsquellen angewiesen war, war das Land Kanaan ganz und gar abhängig von Gott, von dem, was vom Himmel herabkam. Die Sprache Ägyptens lautete: "Mein Strom ist mein", die Hoffnung Kanaans war "der Strom Gottes".

 

Wir finden in Psalm 65, 9‑13 eine schöne Darstellung der Verhältnisse im Lande des Herrn, wie sie der Glaube sah. Gott tränkt die Furchen der Erde und ebnet ihre Schollen. Er läßt sich herab, gleichsam das Werk eines Landmannes für Sein Volk zu tun! Es ist Seine Freude, über die Hügel und Täler Seines geliebten Volkes Seine Sonnenstrahlen und erfrischenden Regenschauer auszugießen. Und es dient zum Preise Seines Namens, wenn der Weinstock, der Feigen‑ und Olivenbaum blühen, die Täler mit wogenden Getreidefeldern und die üppigen Wei­den mit grasenden Herden bedeckt sind.

 

So hätte es immer sein sollen und sein können, wenn Israel nur im Gehorsam gegen das heilige Gesetz Gottes gelebt hätte (V. 13‑15). Es war Israels hohes und heiliges Vorrecht, den HERRN zu lieben und Ihm zu dienen, und es war des HERRN Vorrecht, Israel zu segnen und zu beglücken. Glückseligkeit und Fruchtbarkeit sollten die sicheren Folgen des Gehorsams sein. Das Volk und sein Land waren ganz von Gott abhängig. Ihre Versorgung geschah allein vom Himmel aus. So lange sie daher in willigem Gehorsam lebten, gab der Himmel seinen Tau, der Regen befeuchtete ihre Felder und Weinberge, und die Erde war voll Fruchtbarkeit und Segen.

 

Wenn Israel jedoch den HERRN vergessen und Seine kostbaren Gebote verlassen würde, so würde der Himmel zu Erz und die Erde zu Eisen werden. Dürre, Unfruchtbarkeit, Hungersnot und Elend waren die Folge des Ungehorsams. Wie hätte es anders sein können? "Wenn ihr willig seid und höret, so sollt ihr das Gute des Landes essen. Wenn ihr euch aber weigert und widerspenstig seid, so sollt ihr vom Schwerte verzehrt werden. Denn der Mund des HERRN hat geredet" (Jes. 1, 19.20).

 

Hierin liegt eine tiefe praktische Belehrung für die Kirche Gottes. Ob­wohl wir nicht unter dem Gesetz stehen, sind wir doch zum Gehorsam berufen, und wenn wir durch Gnade in einem bereitwilligen Gehorsam leben, werden wir geistlich gesegnet werden. Unsere Seelen werden er­frischt und gestärkt werden, und wir werden die Frucht der Gerechtig­keit hervorbringen, die durch Jesus Christus ist zur Herrlichkeit und zum Preise Gottes.

 

Es ist interessant und nützlich, diesen wichtigen Punkt mit Joh. 15, 1‑10 zu vergleichen. Dieser Abschnitt ist für jedes aufrichtige Kind Gottes sehr wichtig. Christus nimmt hier als der wahre Weinstock die Stelle Israels ein, das für den HERRN die ausgeartete Pflanze eines fremden Weinstocks geworden war. Der Schauplatz dieses Gleichnisses ist die Erde, denn man kann sich weder einen Weinstock noch einen Weingärtner im Himmel denken. Zudem sagt der Herr: "Ich bin der wahre Weinstock". Das Bild ist sehr deutlich. Es ist nicht die Rede von einem Haupt und seinen Gliedern, sondern von einem Weinstock und seinen Reben. Auch geht es hier nicht um das ewige Leben, sondern um das Fruchtbringen. Würde das mehr beachtet, so würde diese so oft falsch ausgelegte Stelle bedeutend besser verstanden. Das Gleichnis vom Weinstock und seinen Reben zeigt uns, daß das Geheimnis des Fruchtbringens darin besteht, in Christus zu bleiben, d. h. in ständiger Abhängigkeit von Ihm und in ununterbrochener Gemeinschaft mit Ihm zu leben. Das Geheimnis, in Christus zu bleiben, besteht darin, daß man Seine Gebote hält. "Wenn ihr meine Gebote haltet, so werdet ihr in meiner Liebe bleiben, gleichwie ich die Gebote meines Vaters gehal­ten habe und in seiner Liebe bleibe". Das macht alles so einfach. Um zur rechten Zeit Frucht zu bringen, ist es nötig, in Christus und in Seiner Liebe zu bleiben. Das geht nur, wenn wir Seine Gebote lieben, in unseren Herzen bewahren und sie in willigem Gehorsam ausführen.

 

Es herrscht viel Mißverständnis über diesen Punkt, und sicher wird vieles für Frucht gehalten, was in der Gegenwart Gottes nicht als solche anerkannt wird. Denn Gott kann nichts als Frucht anerkennen, was nicht aus der Gemeinschaft mit Christus hervorkommt. Wir mögen uns einen großen Namen unter den Menschen machen und für entschiedene und fromme Christen gelten. Wir mögen großen Fleiß im Werke des Herrn an den Tag legen und beredte Prediger sein, mögen einen Ruf als Wohltäter und Förderer christlicher und menschenfreundlicher Be­strebungen haben, ja, erhebliche Summen dafür opfern und dennoch keine Frucht hervorbringen, die für das Herz des Vaters annehmbar wäre.

 

Anderseits mag es unser Los sein, die Zeit unserer Wanderschaft auf der Erde in stiller Verborgenheit verbringen zu müssen, unbemerkt und unbeachtet von der Welt. Aber wenn wir in Christus und in Seiner Liebe bleiben, wenn wir Sein Wort in heiligem und bereitwilligem Gehorsam bewahren, werden wir zur rechten Zeit unsere Frucht brin­gen. Unser Vater wird verherrlicht werden, und wir werden wachsen in der Erkenntnis unseres Herrn und Heilandes.

 

Werfen wir nun noch einen Blick auf den Rest unseres Kapitels, wo Mose wieder in eindringlichen Worten die Versammlung zur Wachsam­keit und Sorgfalt im Blick auf die Satzungen und Rechte des HERRN auffordert. Wie unser Herr den Jüngern das ernste Gericht vorstellt, das die unfruchtbaren Reben treffen wird, so warnt auch Mose das Volk vor den schrecklichen Folgen des Ungehorsams. "Hütet euch, daß euer Herz nicht verführt werde, und ihr abweichet und anderen Göttern dienet und euch vor ihnen niederbeuget!" Welch ein trauriger Fort­schritt im Bösen! Zuerst wird das Herz verführt. Das ist der Anfang alles Abirrens von den Wegen des Herrn. Die Füge folgen sicher dem Herzen. Es ist daher vor allen Dingen nötig, über das Herz zu wachen. Es ist gleichsam die innere Burg unseres ganzen sittlichen Wesens, und so lange es für den Herrn bewahrt bleibt, kann der Feind keinen Sieg erringen. Hat es sich aber einmal durch etwas anderes einnehmen lassen, so ist alles verloren. Das geheime Abweichen des Herzens zeigt sich bald im Leben. Man dient "anderen Göttern" und beugt sich vor ihnen nieder, und mit großer Schnelligkeit geht es weiter bergab.

 

Aber beachten wir die unausbleiblichen und ernsten Folgen: . . . "und der Zorn des HERRN wider euch entbrenne, und er den Himmel ver­schließe, daß kein Regen sei, und der Erdboden seinen Ertrag nicht gebe, und ihr bald aus dem guten Lande vertilgt werdet, das der HERR euch gibt". Welch eine Unfruchtbarkeit und Verödung muß eintreten, sobald der Himmel verschlossen ist! Kein erfrischender Regen fällt, kein Tautropfen netzt das dürre Land, jede Verbindung zwischen Him­mel und Erde ist gleichsam abgebrochen. Wie oft hat Israel dies erfah­ren müssen! "Er macht Ströme zur Wüste und Wasserquellen zu dürrem Lande, fruchtbares Land zur Salzsteppe, wegen der Bosheit der darin Wohnenden" (Ps. 107, 33. 34).

 

Sehen wir nicht in dem dürren Land und in der Wüste das treffende Bild einer Seele, die wegen ihres Unglaubens gegen die Gebote Christi keine Gemeinschaft mit Ihm hat? Sie genießt nicht die aus unserer Ver­bindung mit dem Himmel hervorgehenden Segnungen, keine Erfri­schungen von oben, nichts von der Entfaltung der Herrlichkeiten Christi. Die Bibel erscheint ihr als ein versiegeltes Buch. Alles ist öde und trostlos. Nichts ist trauriger, als der Zustand einer solchen Seele.

 

"Und ihr sollt diese meine Worte auf euer Herz und auf eure Seele legen, und sie zum Zeichen auf eure Hand binden, und sie sollen zu Stirnbändern zwischen euren Augen sein. Und lehret sie eure Kinder, indem ihr davon redet, wenn du in deinem Hause sitzest, und wenn du auf dem Wege gehst, und wenn du dich niederlegst und wenn du auf­stehst, und schreibe sie auf die Pfosten deines Hauses und an deine Tore, auf daß eure Tage und die Tage eurer Kinder sich mehren in dem Lande, welches der HERR euren Vätern geschworen hat, ihnen zu ge­ben, wie die Tage des Himmels über der Erde" (V. 18‑21).

 

Wie sehr wünschte Mose, daß das Volk viele solcher Tage genießen möchte! Und wie einfach waren die Bedingungen! Den Kindern Israel wurde kein schweres Joch aufgelegt, sondern das schöne Vorrecht zu­teil, die Gebote des Herrn, ihres Gottes, in ihren Herzen aufzubewahren und die reine Luft Seines Wortes einzuatmen. Alles hing von der Er­füllung dieser Bedingung ab. Alle Segnungen Kanaans, dieses guten Landes, das von Milch und Honig floß, auf dem die Augen des HERRN mit stetem Interesse und liebender Fürsorge ruhten, seine herrlichen Früchte und seltenen Vorzüge sollten ihr bleibendes Gut sein: Es gab nur eine einfache Bedingung:. kindlicher Gehorsam gegenüber dem Wort ihres Bundesgottes. Zugleich wurde ihnen dann ein vollständiger Sieg über alle Feinde, die Bewältigung aller Hindernisse und ein Tri­umphzug in das verheißene Erbteil zugesichert (V. 22. 23).

 

„Jeder Ort, auf welchen eure Fußsohle treten wird, wird euer sein: von der Wüste und dem Libanon, und vom Strome, dem Strome Phrat, bis an das hintere Meer wird eure Grenze sein. Niemand wird vor euch bestehen; euren Schrecken und eure Furcht wird der HERR, euer Gott, auf das ganze Land legen, auf welches ihr treten werdet, so wie er zu euch geredet hat“(V. 24. 25).

 

Hier wird die göttliche Seite gezeigt. Das ganze Land lag vor ihnen. Sie sollten es einfach als die freie Gabe Gottes in Besitz nehmen. Sie brauchten nur im Glauben das schöne Erbteil zu betreten, das die Gnade für sie bestimmt hatte. In Josua 11 sehen wir alles bestätigt: "Und so nahm Josua das ganze Land, nach allem, was der HERR zu Mose gere­det hatte; und Josua gab es Israel zum Erbteil, nach ihren Abteilungen, nach ihren Stämmen. Und das Land hatte Ruhe vom Kriege" (V. 23).*)

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*) Ohne Zweifel nahm Josua das ganze Land im Glauben ein. Denn wenn es sich um den tatsächlichen Besitz handelt, Iesen wir in Josua 13, 1, daß noch viel Land in Besitz zu nehmen blieb.

 

Aber es gab auch eine menschliche Seite. Die Verheißung Kanaans durch den HERRN, sowie die Inbesitznahme des Landes durch den Glauben Josuas und die tatsächliche Inbesitznahme durch Israel waren zwei verschiedene Dinge. Daher der große Unterschied zwischen dem Buch Josua und dem Buch der Richter. Im Buche Josua sehen wir die unfehlbare Treue Gottes bezüglich Seiner Verheißung, im Buch der Richter die traurigen Fehler Israels von Anfang an. Gott hatte Sein Wort gegeben, daß niemand vor ihnen bestehen sollte, und das Schwert Josuas, der das Vorbild des großen Anführers unserer Errettung ist, bestätigte diese Verheißung. Aber das Buch der Richter berichtet uns die traurige Tatsache, daß Israel die Austreibung des Feindes unterließ und sich die göttliche Verheißung nicht zu eigen zu machen wußte.

 

Was nun? Ist die Verheißung Gottes kraftlos? Das nicht, aber die völ­lige Unfähigkeit des Menschen ist offenbar geworden. Während in Gilgal das Siegesbanner über den zwölf Stämmen mit ihrem unüber­windlichen Anführer an der Spitze wehte, beweinte Israel in Bochim seine Niederlage.

 

Der Unterschied zwischen diesen beiden Dingen ist leicht einzusehen. Sie finden sich immer wieder in der Heiligen Schrift. Der Mensch schafft es nicht, sich zu der Höhe der göttlichen Offenbarung zu er­heben, oder das in Besitz zu nehmen, was die Gnade gibt. Das bestätigt die Geschichte der Kirche ebenso sehr wie die Israels. Dieses Versagen zeigt sich auch in der Geschichte jedes einzelnen Gliedes der Kirche. Welcher Christ lebt auf der Höhe seiner geistlichen Vorrechte? Welches Kind Gottes hätte nicht über einen demütigenden Mangel in der Ver­wirklichung der Berufung Gottes zu klagen? Aber macht dies die Wahr­heit Gottes wirkungslos? Nein. Sein Wort bleibt unveränderlich in seiner ganzen göttlichen Vollkommenheit und ewigen Festigkeit beste­hen. Wie im Falle Israels das Land der Verheißung in seiner ganzen Ausdehnung und der ihm von Gott verliehenen Schönheit vor ihnen lag, und so wie das Volk bezüglich der Inbesitznahme des Landes auf die Treue und Macht Gottes rechnen konnte, ebenso ist es mit uns. Wir sind in Christo gesegnet mit jeder geistlichen Segnung in den himm­lischen Örtern. Der Genuß der mit unserer Stellung verbundenen Vor­rechte ist nur eine Frage des Glaubens, der von allem Besitz ergreift, was die Gnade Gottes uns in Christus geschenkt hat.

 

Der Christ kann und soll auf der Höhe der göttlichen Offenbarung leben. Es gibt keine Entschuldigung für oberflächliche Erfahrungen oder unangemessenes Verhalten. Auch ist die Auffassung verkehrt, daß wir den Besitz der Fülle unseres Erbes in Christus nicht verwirklichen könn­ten, daß der Maßstab und die Vorrechte zu hoch seien, als daß wir in unserem gegenwärtigen unvollkommenen Zustand diese wunderbaren Segnungen und Würden genießen könnten.

 

Eine solche Sprache verrät Unglauben. Wenn die Gnade Gottes uns diese Vorrechte geschenkt und wenn uns der Tod Christi ein Anrecht auf sie gegeben hat, warum sollten wir sie dann nicht genießen? Von Gottes Seite steht dem nichts im Wege. Es ist Sein Wunsch, daß wir die Fülle unseres Erbes in Christus genießen.

 

Das wunderbare Gebet des Apostels in Epheser 1, 15‑23 zeigt uns, wie sehr der Geist Gottes wünscht, daß wir die herrlichen Vorrechte der wahren christlichen Stellung verstehen und genießen. Er ist stets bemüht, unsere Herzen durch Seinen Dienst in dieser erhabenen Stel­lung zu bewahren; aber leider betrüben wir Ihn wie Israel durch un­seren Unglauben und berauben uns selbst unschätzbaren Segens.

 

Trotzdem wird Gott Seine Worte in jedem Punkt erfüllen, sowohl bezüglich Seines irdischen, als auch Seines himmlischen Volkes. Israel wird einmal alle ihm durch den ewigen Bund zugesicherten Segnungen vollkommen genießen, und die Kirche wird in den Genuß alles dessen gelangen, was die göttliche Liebe nach ihren ewigen Ratschlüssen in Christus für sie bestimmt hat. Aber der Heilige Geist ist fähig und bereit, jedem einzelnen Gläubigen schon jetzt den Genuß der Hoffnung der herrlichen Berufung Gottes, die praktische Kraft dieser Hoffnung, zu schenken, indem Er das Herz von den sichtbaren Dingen trennt und es für Gott in wahrer Heiligkeit und lebendiger Hingebung absondert.

 

Mit diesem Kapitel endet der erste Abschnitt unseres Buches, der die Reden Moses an die Gemeinde Israels enthält. Sie sind sozusagen die Abschiedsworte des geliebten Dieners Gottes, in denen er Seine letzten Wünsche ausdrückt und deren einziger Zweck es ist, das Volk zu einem entschiedenen Gehorsam zu ermuntern (V. 26‑32).

 

Alles wird hier noch einmal zusammengefaßt. Mit dem Gehorsam ist Segen verbunden, mit dem Ungehorsam Fluch. Der Berg Gerisim steht dem Berge Ebal gegenüber, die Fruchtbarkeit der Unfruchtbarkeit. In Kapitel 27 werden wir sehen, daß der Berg Gerisim und seine Segnun­gen gänzlich übergangen werden. Nur die Flüche Ebals tönen erschrek­kend an die Ohren Israels, während auf dem Berge Gerisim ein un­heimliches Schweigen herrscht. "So viele aus Gesetzes Werken sind, sind unter dem Fluche" (Gal. 3, 10). Der Segen Abrahams kann nur auf die kommen, die auf dem Boden des Glaubens stehen. Darauf wer­den wir später zurückkommen.

 

Kapitel 12

 

"DER ORT, DEN DER HERR ERWÄHLEN WIRD“.

 

Wir beginnen jetzt einen neuen Abschnitt unseres Buches. Während die elf ersten Kapitel den wichtigen Grundsatz des Gehorsams behan­deln, finden wir jetzt die praktische Anwendung dieses Grundsatzes auf die Gewohnheiten und Wege des Volkes, wenn es im Besitz des Landes ist. Dies sind die Satzungen und die Rechte, welche ihr beob­achten Sollt, sie zu tun in dem Lande, das der HERR, der Gott deiner Väter, dir gegeben hat, es zu besitzen alle die Tage, die ihr auf dem Erdboden lebet" (V. 1).

 

Herz und Gewissen müssen in der richtigen Stellung sein, bevor Einzel­heiten berührt werden. Wenn das Herz einmal gelernt hat, sich unter die Autorität des Wortes Gottes zu beugen, dann werden auch die Ein­zelheiten richtig behandelt. Deshalb war der Gesetzgeber so sehr be­müht, die Herzen der Israeliten dahin zu führen. Er fühlte, daß es nutzlos war, auf Einzelheiten einzugehen, so lange der große Grundsatz aller Sittlichkeit nicht genügend in der Seele verankert war. Dieser Grundsatz lautet: Es ist die Pflicht des Menschen, sich unbedingt unter die Autorität des Wortes Gottes zu beugen.

 

So lange wir diese Wahrheit nicht anerkennen, sind wir unfähig, auf Einzelheiten einzugehen. Wird dem Eigenwillen Raum gelassen oder der Vernunft zu reden erlaubt, so erheben sich endlose Fragen und Zweifel.

 

Aber sollen wir denn nicht unsere Vernunft gebrauchen? Zu welchem Zweck ist sie uns denn gegeben?

 

Zunächst ist die Vernunft nicht mehr so, wie Gott sie ursprünglich dem Menschen gegeben hat. Wir dürfen nicht vergessen, daß die Sünde eingetreten ist. Der Mensch ist ein gefallenes Geschöpf, und seine Ver­nunft, sowie sein ganzes sittliches Wesen ist dadurch ruiniert. Ein wei­terer Grund zu diesem Verfall liegt in der Vernachlässigung des Wortes Gottes.

 

Wir müssen bedenken, daß die Vernunft, wenn sie in einem gesunden Zustand wäre, ihre Gesundheit gerade dadurch beweisen würde, daß sie sich unter das Wort Gottes beugte. Aber sie ist nicht gesund, sondern blind und ganz verkehrt. Man kann ihr in geistlichen und göttlichen Dingen nicht trauen.

 

Würde man diese einfache Tatsache richtig verstehen, so würden sich unzählige Fragen und Schwierigkeiten von selbst lösen. Alle Ungläu­bigen sind durch die Vernunft erst zu solchen geworden. Satan flüstert dem Menschen zu: Du bist mit Vernunft begabt, warum sollst du sie nicht gebrauchen? Sie ist dir ja dazu gegeben. Du darfst nie deine Zu­stimmung zu etwas geben, was deine Vernunft nicht begreifen kann. Es ist dein gutes Recht als Mensch, alles der Prüfung durch deine Ver­nunft zu unterziehen; nur Toren nehmen leichtgläubig alles an, was ihnen vorgestellt wird.

 

Aber das Wort Gottes steht über der Vernunft, und wenn Gott redet, muß alle Vernunft schweigen. Wenn es sich um menschliche Worte und Meinungen handelt, hat die Vernunft sicher ein Recht zum Urteil. Aber auch dann noch bleibt der Beurteilungsmaßstab, was das Wort Gottes, die einzig vollkommene Richtschnur, sagt. Will aber die Vernunft über das Wort Gottes urteilen, so wird die Seele unweigerlich in die Finsternis des Unglaubens versinken, und es ist dann nicht mehr weit bis zur völligen Leugnung des Daseins Gottes.

 

Der einzig sichere Boden für die Seele ist also der göttlich gewirkte Glaube an die Autorität und Allgenugsamkeit des Wortes Gottes. Das war der Boden, auf dem Mose stand, um sie zur rückhaltlosen Unter­werfung unter die göttliche Autorität zu bewegen. Ohne das war alles nutzlos. Wenn alle göttlichen Satzungen und Rechte erst der Beur­teilung der menschlichen Vernunft unterworfen werden müßten, wäre es um die göttliche Autorität der Schrift, um Gewißheit und Frieden geschehen. Wird aber anderseits die Seele durch den Geist Gottes zu einer rückhaltlosen Unterwerfung unter das Wort Gottes geführt, nimmt sie alle die Gebote und Worte dieses teuren Buches als unmittel­bar von Gott kommend an, und die einfachsten Vorschriften und An­ordnungen haben dann in ihren Augen die Wichtigkeit, die Seine Autorität geben kann. Wohl mögen wir nicht immer die Bedeutung jedes Gebotes verstehen, aber das ist auch nicht wichtig. Es genügt uns zu wissen, daß Gott gesprochen hat. Das allein ist entscheidend.

 

Diese Bemerkungen erleichtern es uns, die Verbindung des vorliegen­den Kapitels mit dem vorhergehenden zu verstehen.

 

Das Land gehörte dem HERRN. Israel sollte es in Abhängigkeit von Ihm besitzen. Dies verpflichtete sie, bei der Eroberung jede Spur des alten Götzendienstes zu vernichten (V. 2. 3). Die menschliche Vernunft mag ein solches Handeln als Unduldsamkeit gegenüber den Religionen anderer Völker bezeichnen. Es war in der Tat unduldsam; aber wie könnte der wahre und lebendige Gott gegenüber falschen Göttern und falscher Anbetung sich anders verhalten? Wie hätte Er in Seinem Lande Götzendienst erlauben können? Das hätte bedeutet, Sich Selbst zu verleugnen.

 

Man darf das jedoch nicht mißverstehen. Wir leugnen nicht, daß Gott in Seiner Langmut die Welt trägt. Die fast sechstausendjährige Ge­schichte der Menschheit beweist die göttliche Geduld und Nachsicht. Gott hat die Welt in wunderbarer Langmut seit den Tagen Noahs getragen, und Er trägt sie noch heute, obwohl sie mit dem Blute Seines geliebten Sohnes befleckt ist. Dennoch bleibt der in unserem Kapitel dargelegte Grundsatz bestehen. Israel mußte lernen, daß es im Begriff stand, das Land des HERRN einzunehmen und daß es seine erste Pflicht war, als Seine Verwalter jede Spur des Götzendienstes zu entfernen. Für sie gab es nur den "einen Gott", dessen Name über ihnen angeru­fen wurde. Sie waren Sein Volk, und Er konnte nicht erlauben, daß sie Gemeinschaft mit Dämonen hatten. "Du sollst den Herrn, deinen Gott, anbeten und ihm allein dienen".

 

Die Nationen des Landes mochten sich vielleicht ihrer Freiheit und der breiten Grundlage ihrer Religion rühmen, die viele Götter und viele Herren zuließ. Sie mochten nach ihrer Anschauung ein weiteres Herz haben als die Israeliten, wenn sie es jedem überließen, zu glauben, was ihm beliebte, und sich einen Gottesdienst nach seinem eigenen Geschmack auszusuchen. Ja, man mag heute sagen, ein Volk hat eine höhere Zivilisationsstufe und Kultur erreicht, wenn es wie die Römer ein Pantheon errichtet, in dem alle Götter Platz finden können. Man mag sagen: "Es macht nichts aus, welche Form oder welchen Gegen­stand der Anbetung ein Mensch hat, wenn er es nur aufrichtig meint." Die Frage ist, was ich selbst bin, nicht, was meine Religion ist.

 

Eine solche Sprache gefällt der fleischlichen Gesinnung und ist bei der Welt sehr beliebt. Aber Israel sollte immer an das denken: "Höre, Israel: der HERR, unser Gott, ist ein einiger HERR!" und: "Du sollst keine anderen Götter haben neben mir" (5. Mose 6, 4; 5, 7). Das Volk war verpflichtet, sich vor der unbedingten Autorität des Wortes Gottes zu beugen, und dieses Wort bestand auf der vollständigen Vernichtung des Götzendienstes im Lande des HERRN.

 

Aber Israel mußte noch mehr tun. Der Gedanke konnte naheliegen, an den verschiedenen Orten, wo sie den Götzendienst abschaffen mußten, den Altar des wahren Gottes aufzurichten. Aber Gottes Gedanken wa­ren anders (V. 4‑7). Israel sollte nur einen Ort der Anbetung haben, und zwar einen Ort, den Gott und nicht der Mensch erwählt hatte. Die Wohnung Gottes, der Ort Seiner Gegenwart, sollte der große Mittel­punkt für Israel werden. Dorthin sollten sie alle ihre Opfer bringen. Dort allein sollten sie anbeten und ihre gemeinsame Freude finden. Wie hätte es auch anders sein können? Wenn Gott Sich nach Seinem Wohlgefallen einen Ort in der Mitte Seines erlösten Volkes zu Seiner Wohnung erwählte, mußte sich das Volk darauf als Ort der An­betung beschränken. Alle anderen Orte waren ausgeschlossen, und dies konnte jeder wirklich gläubigen Seele nur Freude bereiten. jeder, der den HERRN wirklich liebte, konnte nicht anders, als mit ganzem Herzen zu sagen: "HERR, ich habe geliebt die Wohnung deines Hauses und den Wohnort deiner Herrlichkeit". Und weiter: "Wie lieblich sind deine Wohnungen, HERR der Heerscharen! Es sehnt sich, ja, es schmachtet meine Seele nach den Vorhöfen des HERRN; mein Herz und mein Fleisch rufen laut nach dem lebendigen Gott ... Glückselig, die da wohnen in deinem Hause! Stets werden sie dich loben ... Denn ein Tag in deinen Vorhöfen ist besser als sonst tausend; ich will lieber an der Schwelle stehen im Hause meines Gottes, als wohnen in den Zelten der Gesetzlosen" (Ps. 26; 84).

 

Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Die Wohnung des HERRN war teuer für das Herz jedes wahren Israeliten. Ein unstetes Herz verlangte viel­leicht nach Veränderung; aber für ein Herz, das Gott liebte, war jede Entfernung aus Seiner gesegneten Gegenwart nur eine Veränderung zum Nachteil. Der wirkliche Anbeter konnte nur in der Gegenwart Gottes seine Befriedigung, Segnung und Ruhe finden. Ein solcher dachte nicht daran, woanders hinzugehen. Wohin hätte er auch gehen sollen? Es gab ja nur einen Altar, nur eine Wohnung, nur einen Gott, und dort war der Platz für jeden wirklich aufrichtigen Anbeter. Der Gedanke an einen anderen Ort der Anbetung war für ihn nicht nur ein Abweichen von dem Wort des HERRN, sondern auch eine Entfernung von Seiner heiligen Wohnung.

 

Unser ganzes Kapitel behandelt diesen großen Grundsatz. Mose erin­nert das Volk daran, daß in dem Augenblick, da sie das Land des HERRN betraten, der Eigenwille aufhören mußte, der das Volk in den Ebenen Moabs oder in der Wüste gekennzeichnet hatte (V. 8‑14). Es war in allem, ‑ und dies gilt nicht nur für den Gegenstand, sondern auch für den Ort und die Art seiner Anbetung ‑ durchaus abhängig von dem Gebote des HERRN. Alles Handeln nach eigenem Gutdünken und eigener Macht mußte in dem Augenblick ein Ende finden, da sie den Jordan, den Strom des Todes, durchschritten und als erlöstes Volk ihren Fuß auf das von Gott gegebene Erbteil setzten. Waren sie erst einmal im Genuß und in der Ruhe des Landes, dann war der Gehor­sam gegen das Wort des HERRN ihr vernünftiger und einsichtsvoller Dienst. Dinge, die Gott in der Wüste hatte durchgehen lassen, konnten in Kanaan nicht geduldet werden. je größer die Vorrechte sind, um so höher ist die Verantwortung und um so strenger die Richtschnur des Handelns.

 

Menschen, die sich für die Freiheit des Willens und Handelns, für das Recht des freien persönlichen Denkens in religiösen Dingen einsetzen, werden diese Auffassung sicher als engherzig und unwürdig für unsere aufgeklärte Zeit und für Menschen von Kenntnis und Bildung bezeich­net. Aber hat Gott nicht ein Recht, Seinem Volk vorzuschreiben, wie es Ihn anbeten soll? Hatte Er nicht ein Recht, den Ort zu bestimmen, wo Er Seinem Volk Israel begegnen wollte? Ist es etwa ein Beweis von hoher Bildung, von Herzens ‑ und Geistesgröße, wenn man Gott Seine Rechte streitig zu machen sucht?

 

Wenn Gott ein Recht hat, zu gebieten, ist es dann engherzig und starr­köpfig, wenn Sein Volk Ihm gehorcht? Wahre Herzensweite und rechte Geistesgröße zeigen sich im Gehorsam gegen die Gebote Gottes. Welch ein unaussprechliches Vorrecht war es zugleich für alle, die in der Liebe zu Gott und zueinander standen, sich da zu versammeln, wo Er Seinen Namen wohnen lassen wollte. Welch eine herablassende Gnade zeigte sich in Seinem Verlangen, Sein Volk von Zeit zu Zeit um Sich versammelt zu sehen! Aber wurden nicht ihre persönlichen Rechte dadurch beschränkt? Im Gegenteil. Sie wurden nur dadurch vermehrt. Gott sorgte in Seiner unendlichen Güte auch da. Er fand Seine Freude daran, Sein Volk im einzelnen wie auch gemeinschaftlich mit Freude und Segnungen zu überschütten (V. 20‑22). Die Güte und Barmherzig­keit Gottes ließen dem persönlichen und häuslichen Bereich einen weiten Spielraum. Nur bezüglich des Blutes bestand eine Einschrän­kung: "Nur halte fest, kein Blut zu essen, denn das Blut ist die Seele; und du sollst nicht die Seele mit dem Fleische essen; du sollst es nicht essen, du sollst es auf die Erde gießen wie Wasser; du sollst es nicht essen, auf daß es dir und deinen Kindern nach dir wohlgehe, weil du tust, was recht ist in den Augen des HERRN" (V. 23‑25).

 

Inwieweit dieser unter dem Gesetz so wichtige Grundsatz, der uns in unseren Betrachtungen über das dritte Buch Mose ausführlich beschäf­tigt hat, von Israel verstanden wurde, soll uns hier nicht beschäftigen. Das Volk sollte einfach die unumschränkten Rechte Gottes anerkennen und Seinen Geboten gehorchen, damit es ihnen und ihren Kindern nach ihnen wohlerging.

 

Nach dieser kurzen Einschaltung wendet sich der Gesetzgeber zu dem wichtigen Thema des öffentlichen Gottesdienstes Israels. "jedoch deine heiligen Dinge, die du haben wirst, und deine Gelübde, sollst du nehmen und an den Ort kommen, den der HERR erwählen wird" (V. 26).

 

Der HERR wollte von Zeit zu Zeit Sein geliebtes Volk um Sich ver­sammeln, damit es sich gemeinschaftlich vor Ihm freue, und damit Er Seine eigene, besondere Freude an ihm habe, eine kostbare Sache für alle, die den Herrn in Wahrheit lieb hatten. Wir dürfen wohl behaup­ten, daß jeder aufrichtige Israelit von Dan bis Beerseba mit Freuden zu dem Ort eilte, wohin der HERR Seinen Namen setzte und wo Er Seinem Volk begegnen wollte. In Psalm 122 sehen wir die Gefühle eines Herzens, das die Wohnung des Gottes Israels liebte, den Mittel­punkt der zwölf Stämme Israels, die geheiligte Stätte, mit der sich in den Gedanken jedes aufrichtigen Israeliten all die Herrlichkeit und Freude der Anbetung des HERRN und der Gemeinschaft Seines Volkes verband. Wir werden jedoch bei der Betrachtung des 16. Kapitels noch einmal darauf zurückkommen.

 

Kapitel 13

 

FALSCHE PROPHETEN UND VERFÜHRER

 

Dieses Kapitel enthält eine Reihe wichtiger Grundsätze. Es besteht aus drei Abschnitten, die alle unsere ganze Aufmerksamkeit fordern.

 

In den ersten fünf Versen wird die göttliche Vorsorge für alle Fälle von falscher Lehre und falschen religiösen Einflüssen herausgestellt. Es ist uns allen bekannt, wie leicht wir durch etwas irregeführt werden kön­nen, das in Form eines Zeichens oder Wunders erscheint, ganz beson­ders, wenn es mit der Religion in Verbindung steht. Das war nicht nur zur Zeit Israels so, sondern es ist überall und zu allen Zeiten festzustel­len. Alles Übernatürliche, alles, was den Naturgesetzen entgegensteht, macht immer einen tiefen Eindruck auf das menschliche Gemüt. Wenn heute ein Prophet aufträte und seine Lehre durch Zeichen und Wunder bestätigte, so würde er sicher bald großen Einfluß und Ruf erlangen.

 

Satan hat zu allen Zeiten so gewirkt und wird es noch viel mehr am Ende dieser Zeit tun, um alle zu verführen und die, die die wunder­bare Wahrheit des Evangeliums nicht annehmen wollen, ins ewige Verderben zu stürzen. "Das Geheimnis der Gesetzlosigkeit", das seit den Tagen des Apostels in der Christenheit wirksam gewesen ist, wird zur Reife gelangen in der Person des "Gesetzlosen, den der Herr Jesus verzehren wird durch den Hauch seines Mundes und vernichten durch die Erscheinung seiner Ankunft, ihn, dessen Ankunft nach der Wirk­samkeit des Satans ist, in aller Macht und allen Zeichen und Wundern der Lüge und in allem Betrug der Ungerechtigkeit denen, die verloren gehen, darum, daß sie die Liebe zur Wahrheit nicht annahmen, damit sie errettet würden. Und deshalb sendet ihnen Gott eine wirksame Kraft des Irrwahns, daß sie der Lüge glauben, auf daß alle gerichtet werden, die der Wahrheit nicht geglaubt, sondern Wohlgefallen gefun­den haben an der Ungerechtigkeit" (2. Thess. 2, 8m‑12).

 

So warnt auch der Herr Selbst Seine Jünger in Matth. 24 vor solchen Einflüssen: "Alsdann, wenn jemand zu euch sagt: Siehe, hier ist der Christus, oder hier! so glaubet nicht. Denn es werden falsche Christi und falsche Propheten aufstehen und werden große Zeichen und Wun­der tun, um so, wenn möglich, auch die Auserwählten zu verführen. Siehe, ich habe es euch vorhergesagt" (V. 23‑25).

 

Ferner lesen wir in Offenbarung 13 von dem zweiten Tier, das aus der Erde aufsteigt (dem falschen Propheten, dem Antichristen), daß es große Zeichen tut, ja sogar "Feuer vom Himmel auf die Erde herabkom­men läßt vor den Menschen; und es verführt die auf der Erde wohnen wegen der Zeichen, welche vor dem Tiere zu tun ihm gegeben wurde, indem es die, welche auf der Erde wohnen, auffordert, ein Bild dem Tiere zu machen, das die Wunde des Schwertes hat und lebte" (V. 13. 14).

 

Wir führen diese drei Stellen an, um zu zeigen, wie weit der Teufel auch Zeichen und Wunder einsetzen kann, um die Menschen von der Wahrheit abzulenken. Gottes Wort ist der einzige göttliche und deshalb vollkommene Schutz gegenüber der täuschenden Macht des Feindes.

 

Das menschliche Herz kann dem Einfluß "großer Zeichen und Wunder" einfach nicht widerstehen. Das einzige, was die Seele befestigen und sie zu diesem Widerstand gegen die Täuschungen Satans befähigen kann, ist das Wort Gottes. Wer die Wahrheit Gottes festhält, besitzt das göttliche Geheimnis, das gegen jeden Irrtum schützt, auch wenn dieser sich auf die erstaunlichsten Wunder stützt.

 

Wir sehen daher auch in der ersten der oben angeführten Stellen, daß der Betrug "des Gesetzlosen" durch Zeichen und Wunder der Lüge deshalb gelingt, weil die Menschen "die Liebe zur Wahrheit nicht ange­nommen haben, damit sie errettet würden". Nur die Liebe zur Wahrheit schützt gegen den Irrtum, so überzeugend er sein mag und so sehr er durch "Zeichen und Wunder" unterstützt wird. Die höchsten geistigen Fähigkeiten und die größte Gelehrsamkeit erweisen sich als ohnmächtig gegenüber den Listen Satans. Der scharfsinnigste menschliche Verstand fällt dem Betrug der Schlange zum Opfer.

 

Aber andererseits sind alle List und Schlauheit, alle Zeichen und Lügen­wunder Satans völlig machtlos vor einem Herzen, das von der Liebe zur Wahrheit beherrscht wird. Jeder, der die Wahrheit kennt und liebt, hat einen göttlichen Schutz vor der täuschenden Macht des Bösen. Mögen noch so viele Propheten aufstehen und nie gesehene Wunder tun, um irgendeine göttliche Wahrheit zu leugnen oder zu beweisen, daß die Bibel nicht das inspirierte Wort Gottes, daß unser Herr Jesus Christus nicht Gott über alles ist, an einem einfältigen Herzen, das durch das Wort Gottes geleitet wird, wird alles wirkungslos abprallen. ja, wenn ein Engel vom Himmel käme und etwas verkündigte, das dem Wort Gottes widerspricht, so hätten wir das von Gott gegebene Recht, ihm ohne weiteres ein "Anathema" zuzurufen.

 

Das ist eine unschätzbare Barmherzigkeit Gottes. Sie gibt dem Gläu­bigen, so einfältig und ungelehrt er auch sein mag, vollkommene Sicher­heit und Ruhe. Wir sind nicht dazu berufen, eine falsche Lehre zu untersuchen oder die Beweise zu ihrer Begründung zu prüfen, sondern sollen beides unterlassen, weil wir die Gewißheit der Wahrheit und der Liebe zu ihr in unserem Herzen haben. "Du sollst nicht hören auf die Worte dieses Propheten oder auf den, der die Träume hat; denn der HERR, euer Gott, versucht euch, um zu erkennen, ob ihr den HERRN, euren Gott, liebet mit eurem ganzen Herzen und mit eurer ganzen Seele".

 

Das war wichtig für Israel, und es ist auch für uns von entscheidender Bedeutung. Ein treuer Israelit, der den HERRN von ganzem Herzen liebte, hatte für alle falschen Propheten und Träumer immer eine schlüssige Antwort bereit: "Du sollst nicht hören". Wenn der Feind nicht angehört wird, dann kann er das Herz nicht erreichen. Die Schafe folgen dem Hirten; "denn sie kennen seine Stimme; einem Fremden aber", selbst wenn dieser Zeichen und Wunder tun sollte, ",werden sie nicht folgen, sondern werden vor ihm fliehen". Warum? Etwa weil sie fähig sind, seine Lehre zu untersuchen und zu widerlegen? Nein, sondern "weil sie die Stimme des Fremden nicht kennen". Diese Tat­sache allein ist Grund genug, sich von dem Redenden abzuwenden.

 

Wie tröstlich und beruhigend ist das für die Lämmer und Schafe der Herde Christi! Sie können die Stimme ihres liebenden, treuen Hirten hören. Sie können sich um Ihn versammeln und in Seiner Gegenwart wirklich Ruhe und völlige Sicherheit finden. "Er lagert sie auf grünen Auen und führt sie zu stillen Wassern". Das ist genug. Die Schafe mögen selbst schwach und kraftlos sein, aber das ist kein Hindernis für ihre Ruhe und Segnung, sondern wirft sie nur um so mehr auf die allmächtige Kraft ihres guten Hirten. Wir brauchen nie unsere Schwach­heit zu fürchten, wohl aber die eingebildete Kraft, das Vertrauen auf unsere eigene Weisheit, Einsicht und Schriftkenntnis. Je mehr wir unsere Schwachheit fühlen, desto besser für uns. Denn die Kraft Christi wird in Schwachheit vollbracht, und Seine Gnade genügt für alle Bedürfnisse Seiner geliebten und teuer erkauften Herde.

 

Im zweiten Abschnitt unseres Kapitels (V. 6‑11), wird das Volk Gottes vor einer anderen List des Feindes gewarnt.

 

Hier ist nicht von falschen Propheten oder Träumern die Rede. Gegen deren Einfluß mögen Tausende standhaft bleiben, während sie der Macht der natürlichen Zuneigungen zum Opfer fallen. Es ist nicht leicht, diesen zu widerstehen und erfordert völlige Hingabe, ein einfältiges Auge und einen festen Herzensentschluß, um den Gegenständen unse­rer Liebe treu zu bleiben. Die Verwerfung eines falschen Propheten oder Träumers, mit dem man nicht durch persönliche Beziehungen ver­bunden ist, steht in keinem Vergleich zu der Schwere der Probe, die sich aus der Aufforderung ergibt, der eigenen Frau, dem Bruder, der Schwester oder dem vertrauten Freund gegenüber entschieden zu wider­stehen. Trotzdem darf man keine Nachsicht walten lassen, sobald die Ansprüche Gottes, Christi und der Wahrheit auf dem Spiel stehen. Will jemand die natürlichen Zuneigungen benutzen, um uns von der Nachfolge Christi abzuhalten, so müssen wir mit aller Energie wider­stehen. "Wenn jemand zu mir kommt und haßt nicht seinen Vater und seine Mutter und sein Weib und seine Kinder und seine Brüder und Schwestern, dazu aber auch sein eigenes Leben, so kann er nicht mein jünger sein" (Luk. 14, 26).

 

Selbstverständlich wollen diese Worte nicht sagen, daß wir "ohne natürliche Liebe" sein sollen. Im Gegenteil, Gott hat Selbst natür­liche Beziehungen zwischen den Menschen eingesetzt, und jede von ihnen hat ihre charakteristischen Zuneigungen, deren Ausübung in wunderbarer Übereinstimmung mit den Gedanken Gottes steht. In den verschiedenen Briefen hat der Heilige Geist Belehrungen an Männer und Frauen, Eltern und Kinder, Knechte und Herren gerichtet, durch die Er diesen Beziehungen und den damit verbundenen Rechten und Pflich­ten den Stempel der göttlichen Bestätigung aufdrückt. Lukas 14 und 5. Mose 13 finden also nur dann Anwendung, wenn diese Beziehungen und Zuneigungen den Ansprüchen Gottes und Christi hindernd im Weg stehen. Dann müssen sie verleugnet und in den Tod gegeben werden.

 

Wir sehen im Leben des einzig vollkommenen Menschen, der je auf dieser Erde lebte, wie angemessen Er den verschiedenen Ansprüchen entsprach, die an Ihn als Mensch und Diener herantraten. Er sagte zu Seiner Mutter: "Was habe ich mit dir zu schaffen, Weib" (Joh " 2, 4) und trotzdem konnte Er zur geeigneten Zeit die zärtlichste Fürsorge für sie an den Tag legen, als Er sie der Obhut des Jüngers, den Er liebte, anvertraute. Er sagte zu Seinen Eltern: "Wußtet ihr nicht, daß ich in dem sein muß, was meines Vaters ist?" (Luk. 2, 49 b) und doch ging Er mit ihnen und unterwarf sich ihrer elterlichen Gewalt in allem. So zeigen uns die Lehren der Heiligen Schrift und die Wege Christi in den Tagen Seines Fleisches, wie wir den Ansprüchen der Natur und denen Gottes gerecht werden können.

 

Aber vielleicht findet jemand es schwierig, die Handlungsweise, die den Israeliten in unserem Kapitel eingeschärft wird, mit einem Gott der Liebe und mit der im Neuen Testament gebotenen Gnade und Güte zu vereinbaren.

 

Nun, bei der Betrachtung der ersten Kapitel dieses Buches halben wir bereits auf die Wege Gottes in Seiner Regierung mit Israel und den Nationen hingewiesen. Vor allem dürfen wir den wichtigen Unterschied zwischen Gesetz und Gnade nicht aus dem Auge verlieren. Sonst wer­den wir in Stellen wie 5. Mose 13, 9. 10 immer Schwierigkeiten finden. Der charakteristische Grundsatz des Judentunis war Gerechtigkeit, der des Christentums ist Gnade, reine, bedingungslose Gnade. Wenn man diese Tatsache verstanden hat, verschwindet jede Schwierigkeit. Es war für Israel richtig und stand im Einklang mit den Gedanken Gottes, wenn sie ihre Feinde töteten. Gott hatte es ihnen geboten. Ebenso richtig und ihrer Stellung gemäß war es für sie, jedes Glied der Ge­meinde, das sie zum Götzendienst verleiten wollte, zu töten. Dies stand in völligem Einklang mit den Grundsätzen des Gesetzes und der Regie­rung, unter die sie gemäß der Weisheit Gottes gestellt waren.

 

Das ganze Alte Testament zeigt, daß Gott über Israel und über die Welt in Verbindung mit Israel auf dem Boden der Gerechtigkeit regierte. Und wie es in der Vergangenheit war, so wird es in der Zukunft wieder sein: "Siehe, ein König wird regieren in Gerechtigkeit, und die Fürsten, sie werden nach Recht herrschen" (Jes. 32, 1).

 

Im Christentum dagegen sehen wir etwas ganz anderes. Wenn wir im Neuen Testament die Belehrungen des Sohnes Gottes sehen und Sein Handeln betrachten, fühlen wir, daß wir uns auf einem ganz anderen Boden befinden. Wir atmen die Luft einer reinen, bedingungslosen Gnade.

 

Lesen wir z. B. die Bergpredigt, diese wunderbare Zusammenstellung der Grundsätze des Reiches der Himmel, so sehen wir schon den gro­ßen Unterschied zwischen den jüdischen und christlichen Grundsätzen. was richtig und passend für einen Juden war, kann ganz falsch und unpassend für einen Christen sein. Unser Herr und Meister hat selbst gelehrt, daß die Seinigen heute nicht handeln sollen wie Sein Volk vor alters. Gerechtigkeit war der Grundsatz des alten Haushalts. Gnade ist der Grundsatz des neuen.

 

Wie Christus lehrte, so handelte Er auch. Er ging nicht vor Gericht, um Sein Recht zu suchen. Er übte nicht weltliche Macht aus oder vertei­digte Sich Selbst. Er vergalt nicht Gleiches mit Gleichem. Als Seine jünger in völliger Unwissenheit über die himmlischen Grundsätze, die Er lehrte und verwirklichte, Feuer vom Himmel auf ein Dorf der Sama­riter fallen lassen wollten, das sich weigerte, Ihn aufzunehmen, da wandte Er sich um und strafte sie mit den Worten: "Ihr wisset nicht, wes Geistes ihr seid". Gleich nachher lesen wir: "Und sie gingen nach einem anderen Dorfe" (Luk. 9, 55. 56). Die Handlungsweise des Propheten Elia, der Feuer vom Himmel auf die Abgesandten eines gott­losen Königs fallen ließ, stand in völliger Übereinstimmung mit dem Geist und den Grundsätzen des Haushalts, den er vertrat. Aber der Herr war der vollkommene Zeuge und göttliche Vertreter eines ganz anderen Haushaltes. Sein Leben war von Anfang bis Ende ein Leben völliger Hingabe für andere. Nie behauptete Er Seine Rechte. Er kam, um zu dienen und zu geben, um in jeder Weise das Bild Gottes und der vollkommene Ausdruck des Vaters zu sein. Der Charakter des Va­ters strahlte aus allen Seinen Worten und Handlungen hervor. Und Er ist unser großes Vorbild in allem. Nach Seiner Lehre und Seinem Leben muß sich das Verhalten und der Charakter des Christen bilden. Wie könnten wir sonst wissen, wie wir leben sollen, wenn nicht dadurch,

 

daß wir Seinen Worten lauschen und Seine Wege betrachten? Wenn die Grundsätze und Vorschriften des mosaischen Haushalts für uns maß­gebend wären, dann freilich wäre es am Platze, unsere Ansprüche vor Gericht geltend zu machen oder Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Aber was würde dann aus der Lehre und dem Beispiel unseres Herrn und Heilandes? Was aus den Lehren des Neuen Testaments?

 

Man könnte uns nun die alte, so oft gehörte Frage entgegenhalten: Was würde aus der Welt und ihren Einrichtungen, was aus der mensch­lichen Gesellschaft werden, wenn solche Grundsätze allgemein vorherr­schend würden? Nun, die Welt, wie sie jetzt ist, würde dann allerdings ein Ende haben. Der "gegenwärtige böse Zeitlauf" und himmlische Grundsätze können unmöglich zusammengehen. Aber offenbar waren diese Grundsätze nie für die Welt als solche bestimmt, weil diese sie weder hätte annehmen noch verwirklichen können, ohne daß dadurch zugleich ein Umsturz ihres gegenwärtigen Systems und eine Auflösung der menschlichen Gesellschaft in ihrer gegenwärtigen Form hervor­gerufen worden wäre. Himmlische Grundsätze sind eben nicht für diese Welt, sondern für die Kirche bestimmt, die nicht von der Welt ist, wie auch Christus nicht von dieser Welt war. "Wenn mein Reich von die­ser Welt wäre", sagt der Herr zu Pilatus, "so hätten meine Diener gekämpft, auf daß ich den Juden nicht überliefert würde; jetzt aber ist mein Reich nicht von hier ‑. Bald werden alle Staaten der Welt dem Herrn unterworfen sein; aber jetzt ist Er verworfen, und Seine Kirche soll Seine Verwerfung mit Ihm teilen, zu Ihm hinausgehen, außerhalb des Lagers und als Fremdlinge hier auf den Augenblick warten, wo Er wiederkommen wird, um sie dahin zu bringen, wo Er bereits ist.

 

Die Vermischung der Kirche mit der Welt hat eine solche Verwirrung erzeugt. Durch diese Vermischung wird alles auf den Kopf gestellt. Dinge werden miteinander vermengt, die ihrem Wesen nach völlig entgegengesetzt sind, und der wahre Charakter der Kirche, ihre Stel­lung, ihr Wandel und ihre Hoffnung werden verleugnet. Man hört zuweilen den Ausdruck christliche Welt". Was bedeutet er? Nichts anderes, als daß man zwei Dinge miteinander verbunden hat, die ihrer Natur und ihrem Charakter nach so völlig voneinander verschieden sind wie Licht und Finsternis. Es ist ein Versuch, ein altes Kleid mit einem neuen Lappen zu flicken. Aber der Herr sagt, daß dadurch der Riß nur um so ärger wird.

 

Es liegt nicht in der Absicht Gottes, die Welt zu christianisieren, son­dern die Seinen aus der Welt herauszurufen, damit sie ein himmlisches Volk seien, das von himmlischen Grundsätzen geleitet, durch einen himmlischen Gegenstand gebildet und durch eine himmlische Hoffnung belebt wird. Wird das nicht verstanden und die Berufung und Hoff­nung der Kirche nicht als eine lebendige Kraft in der Seele freigesetzt, so werden traurige Fehler in unserem Leben und Dienst nicht ausblei­ben. Wir wenden dann die Schriften des Alten Testaments ganz falsch an und erleiden einen großen Verlust. Der Herr gebe uns in Seiner Gnade ein wirkliches Verständnis über die Verbindung und lebendige Einheit der Kirche mit dem verworfenen, auferstandenen und verherr­lichten Christus!

 

Abschließend sei noch auf ein Beispiel verwiesen, das zeigt, wie der Heilige Geist die Schriften des Alten Testaments anführt und anwen­det. Wir lesen in Psalm 34: "Das Angesicht des HERRN ist wider die, welche Böses tun, um ihr Gedächtnis von der Erde auszurotten". Diese Stelle wird in 1. Petrus 3, 12 erwähnt. Dort aber lesen wir: "Das Angesicht des Herrn ist wider die, welche Böses tun". Kein Wort wird von dem Ausrotten der Bösen gesagt. Und warum nicht? Weil der Herr jetzt nicht richtend handelt. Er tat dies unter dem Gesetz und wird es tun in Seinem Reich. Jetzt aber handelt Er in Gnade, Langmut und Barmherzigkeit. Sein Angesicht ist noch ebenso entschieden gegen die, die Böses tun, aber jetzt nicht, um ihr Gedächtnis von der Erde auszu­rotten. Den besten Beweis dieser wunderbaren Gnade und Nachsicht, sowie von dem Unterschied zwischen den anstehenden beiden Grund­sätzen sehen wir in der Tatsache, daß denen, die im wahrsten Sinne des Wortes "Böses taten", indem sie den eingeborenen Sohn Gottes ans Kreuz schlugen, zu allererst die Botschaft der vollkommenen und freien Vergebung durch das Blut des Kreuzes verkündigt wurde.

 

Die angeführte Stelle ist eine von vielen, die alle in derselben Weise den Gegensatz zwischen den jüdischen und christlichen Grundsätzen, sowie zwischen dem Christentum und dem kommenden Reich zeigen. Gott handelt jetzt mit der Welt in Gnade, und das sollten auch die Seinen tun, wenn sie wünschen, Ihm gleich zu sein. "Ihr nun sollt voll­kommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist". ‑ "Seid nur Nachahmer Gottes, als geliebte Kinder, und wandelt in Liebe, gleichwie auch der Christus uns geliebt und sich selbst für uns hinge­geben hat als Darbringung und Schlachtopfer, Gott zu einem duftenden Wohlgeruch ‑ (Matth. 5, 48; Eph. 5, 1. 2).

 

Das ist unser Vorbild. Wir sind dazu berufen, das Beispiel unseres Vaters nachzuahmen. Er sucht jetzt nicht mit der starken Hand Seiner Macht Seinen Rechten Geltung zu verschaffen. Später wird Er das tun; aber in der jetzigen Zeit der Gnade schüttet Er den Reichtum Seiner Segnungen und Wohltaten über die aus, deren ganzes Leben nur Feindschaft und Widerstand gegen Ihn ist.

 

Man könnte nun einwenden: "Wie kann ich mit solchen Grundsätzen in der Welt vorankommen und meine Geschäfte führen? Es ist doch unmöglich, sich in dieser Welt zu behaupten, ohne seine Rechte und seine Ansprüche geltend zu machen. Wozu haben wir denn auch die Obrigkeit? Sind nicht die Regierungen gerade zu diesem Zweck von Gott verordnet, um Frieden und Ordnung unter uns aufrechtzuerhal­ten? Was sollte werden, wenn wir keine Polizeibeamten und Richter hätten?"

 

Freilich sind die Gewalten von Gott verordnet. Die Könige, Statthalter, Richter und Regierungen sind an ihrem Platz der Ausdruck der Macht Gottes. Er hat sie mit dieser Macht bekleidet und ihnen das Schwert in die Hand gegeben zur Bestrafung der 10beltäter und zum Wohl derer, die Gutes tun. Wir sollen für die Obrigkeit beten und ihr in allen Dingen unterworfen und gehorsam sein, vorausgesetzt, daß wir nicht aufgefordert werden, gegen Gott und unser Gewissen zu handeln. Aber das alles berührt keineswegs die Frage, welchen Weg der Christ durch diese Welt zu gehen hat. Das Christentum erkennt die Regierung eines Landes mit ihren Einrichtungen an, aber es ist nicht des Christen Auf­gabe, sich irgendwie in sie einzumischen. Er ist verpflichtet, sich den Anordnungen der Regierung seines Landes zu fügen, welchen Charak­ter diese auch haben mag. Er hat für sie zu beten, Steuern zu entrich­ten, die Hochgestellten in ihrer amtlichen Eigenschaft zu ehren, den Frieden des Landes zu erflehen und, soviel an ihm liegt, mit allen Menschen in Frieden zu leben.

 

Das vollkommene Beispiel hiervon sehen wir wieder in unserem hoch­gelobten Herrn. In Seiner Unterredung mit den schlauen Herodianern erkennt Er den Grundsatz der Unterwerfung unter die bestehenden Gewalten völlig an, indem Er sagt: "Gebet denn dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist" (Matth. 22, 21). Und nicht nur das. Er bezahlte Steuern, die Er persönlich nicht schuldig und die nie­mand berechtigt war, von Ihm zu fordern. Trotzdem berief Er sich nicht auf Sein Recht, sondern sagte zu Petrus: "Auf daß wir ihnen kein Ärgernis geben, gehe an den See, wirf eine Angel aus und nimm den ersten Fisch, der heraufkommt, tue seinen Mund auf, und du wirst einen Stater finden; den nimm und gib ihnen für mich und dich" (Matth. 17, 27).

 

Das zeigt uns ganz eindeutig den Weg des Christen in der Welt. Er hat seinem Herrn zu folgen und in jeder Beziehung Ihn nachzuahmen, der nie Sein Recht behauptete und sich nicht in weltliche Angelegenheiten mischte, dessen ganzes Leben bis zum Kreuz voll Selbstverleugnung war, bis Er es hingab zum Lösegeld für viele.

 

Wir hoffen, daß diese Aufforderungen dazu beitragen werden, Stellen, wie die vorliegende, richtig zu erklären. Obgleich wir ebenso entschie­den dem Götzendienst entgegenzutreten und uns von aller Art des Bösen fernzuhalten haben, wie das Volk Israel, können wir das doch nicht in derselben Weise tun. So klar die Pflicht der Kirche auch sein mag, den Bösen aus ihrer Mitte hinauszutun, war und ist es dennoch nicht ihre Aufgabe, einen Götzendiener oder Lästerer zu steinigen oder einen Zauberer zu verbrennen. Die katholische Kirche hat nach diesem Grundsatz gehandelt und sogar die Protestanten sind ihr darin gefolgt, wie die Kirchengeschichte zeigt. Wir erinnern nur an Michel Servet, der im Jahre 1553 wegen seiner Irrlehren in Genf lebendig verbrannt wurde. Die Kirche hat nicht die Berufung, das weltliche Schwert zu gebrauchen. Das ist eine offenbare Verleugnung ihrer Berufung, ihres Charakters und ihrer Sendung. Als Petrus im Eifer seiner Unwissen­heit und fleischlichen 10berstürzung das Schwert zog, um seinen gelieb­ten Herrn zu verteidigen, wurde er sofort von Jesus mit den Worten zurechtgewiesen: "Stecke dein Schwert wieder an seinen Ort; denn alle, die das Schwert nehmen, werden durchs Schwert umkommen". Nachdem der Herr dies gesagt hatte, machte Er den durch Seinen wohl­meinenden Diener angerichteten Schaden wieder gut. "Die Waffen un­seres Kampfes", sagt der Apostel, "sind nicht fleischlich, sondern gött­lich mächtig zur Zerstörung von Festungen; indem wir Vernunftschlüsse zerstören und jede Höhe, die sich erhebt wider die Erkenntnis Gottes, und jeden Gedanken gefangen nehmen unter den Gehorsam des Christus" (2. Kor. 10, 4. 5).

 

Die Christenheit hat sich von diesem wichtigen Grundsatz ganz ent­fernt. Sie hat sich mit der Welt verbunden und die Sache Christi durch fleischliche und weltliche Mittel zu fördern gesucht. Sie hat den christ­lichen Glauben durch die Verleugnung des wahren Charakters des Chri­stentums aufrechterhalten wollen. Die Verbrennung von Ketzern hat ihre Geschichte furchtbar befleckt. Wir können uns kaum eine Vor­stellung von den schrecklichen Folgen der Tatsache machen, daß die Kirche sich berufen glaubte, den Platz Israels einzunehmen und nach jüdischen Grundsätzen zu handeln.*) Nicht nur wurde ihr Zeugnis da­durch vollständig verfälscht, sondern sie beraubte sich auch ihres geist­lichen und himmlischen Charakters und betrat den Weg, dessen Ende uns in Offenbarung 17 und 18 geschildert wird.

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*) Es ist sicher das Vorrecht und die Pflicht der Kirche, aus der Geschichte Israels zu lernen; aber es ist ein verhängnisvoller Irrtum, wenn sie den Platz des irdischen Volkes Gottes einnimmt, nach dessen Grundsätzen handelt und sich dessen Verheißungen aneignet.

 

Laßt uns dies im Licht des Neuen Testaments betrachten und durch die Güte Gottes den Weg der Absonderung verstehen lernen, den wir als solche, die in der Welt, aber nicht von der Welt sind, gehen sollen.

 

Der letzte Abschnitt unseres Kapitels (v. 12‑18) gibt uns eine Beleh­rung von ernstem Charakter. Sie gründet sich zugleich auf eine Wahr­heit von großem Wert, nämlich auf die nationale Einheit Israels. Es wird hier von einem schweren Vergehen in einer Stadt Israels gespro­chen, und sehr leicht könnte die Frage gestellt werden: Sind denn alle Städte Israels an der Sünde einer einzigen beteiligt?**) ja, alle waren daran beteiligt, da das Volk eine unauflösliche Einheit bildete. Die Städte und Stämme waren nicht unabhängig voneinander, sondern verbunden durch ein heiliges Band nationaler Einheit, deren Mittel­punkt die Stätte der Gegenwart Gottes war. Die zwölf Brote auf dem goldenen Tisch im Heiligtum waren das ausdrucksvolle Bild dieser unauflöslichen Einheit, und jeder treue Israelit erkannte sie an und erfreute sich darüber. Die zwölf Steine im Flußbett des Jordan, die zwölf Steine an seinem Ufer und die später durch Elia auf dem Berge Karmel aufgerichteten zwölf Steine bezeugten dieselbe Wahrheit, daß die zwölf Stämme Israels unauflöslich miteinander verbunden waren.

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**)Man muß hier bemerken, daß das beschriebene Verhalten deshalb so ernst war, weil es der Versuch war, das Volk von dem lebendigen und wahren Gott abzuziehen. Das tastete die Grundlage des nationalen Bestehens Israels an. Es war nicht nur eine örtliche, sondern eine nationale Frage.

 

Der fromme König Hiskia erkannte dies ebenfalls an, als er gebot, das Brandopfer und das Sündopfer für ganz Israel zu bringen (2. Chron. 29, 24). Der gottesfürchtige König Josia dehnte auf Grund dieser Wahr­heit seine reformatorische Tätigkeit auf alle Länder aus, die zu Israel gehörten (2. Chron. 34, 33). Paulus bekundet diese Wahrheit auch in seiner Rede vor dem König Agrippa, wenn er sagt: "Zu welcher (Hoffnung) unser zwölfstämmiges Volk, unablässig Nacht und Tag Gott dienend hinzugelangen hofft" (Apg. 26, 7). Wir finden sie auch in Offb. 7, wo wir die zwölf Stämme versiegelt und für die ewige Segnung und Herrlichkeit abgesondert sehen, und zwar in Verbindung mit einer zahllosen Menge aus den Nationen. Und schließlich ersehen wir aus Offb. 21, daß die Namen der zwölf Stämme auf die Tore des neuen Jerusalem geschrieben sind, des himmlischen Sitzes und Mittel­punktes der Herrlichkeit Gottes und des Lammes.

 

Von dem goldenen Tisch im Heiligtum bis zu der goldenen Stadt, die aus dem Himmel herabkommt von Gott, besteht eine ununterbrochene Kette von Beweisen für die Wahrheit der unauflöslichen Einheit der zwölf Stämme Israels.

 

Fragt man nun. "WO ist diese Einheit zu sehen? Wie konnten Elia, Hiskia, Josia und Paulus sie erkennen?", so gibt es darauf nur eine Antwort: "Sie sahen sie durch den Glauben". Sie schauten in das Heiligtum Gottes und sahen dort die zwölf Brote, die die zwölf Stämme in ihrer Verschiedenheit und zugleich in ihrer vollkommenen Einheit darstellten. Die Wahrheit Gottes muß ewig bestehen. Israels Einheit ist in der Vergangenheit gesehen worden und wird in der Zukunft gesehen werden. Wenn sie auch jetzt, gleich der höheren Einheit der Kirche, dem menschlichen Auge unsichtbar ist, hält dennoch der Glaube an ihr fest und bekennt sich dazu.

 

Beschäftigen wir uns jetzt noch einen Augenblick mit der praktischen Anwendung der in unserem Abschnitt dargestellten Wahrheit. Nehmen wir an, zu einer Stadt im Norden des Landes Israel wäre die Nachricht gebracht worden, daß in einer anderen, südlich gelegenen Stadt ein Irrtum gelehrt würde, der die Einwohner dieser Stadt von dem wahren Gott zu entfernen drohte. Was mußte in einem solchen Falle die Stadt im Norden tun? Das Gebot lautete klar und deutlich: "Du sollst genau untersuchen und nachforschen und fragen".

 

"Aber", so hätten einige Bürger sagen können, "was haben wir hier im Norden mit den Irrtümern zu tun, die im Süden gelehrt werden? Ist nicht jede Stadt für die Aufrechterhaltung der Wahrheit innerhalb ihrer eigenen Mauern verantwortlich? Wir verurteilen ganz entschieden die Irrlehre und werden jedem, der sie uns bringen will, unsere Tore verschließen, aber wir fühlen uns nicht verpflichtet, alle Irrtümer zu unter­suchen, die irgendwo im Lande auftauchen."

 

Was hätte ein treuer Israelit auf diese Einwendungen, die dem mensch­lichen Verstand so richtig und annehmbar erscheinen, geantwortet? Zweifellos, daß dadurch die Einheit Israels geleugnet würde. Wenn jede Stadt und jeder Stamm einen so unabhängigen Standpunkt ein­genommen hätte, dann hätte der Hohepriester die zwölf Brote vor dem Angesicht des Herrn wegnehmen können, denn dann hätten sie ihre Bedeutung als Sinnbild der Einheit Israels verloren. Doch Israel war ein Ganzes! Eine Sünde, die in Dan geschehen war, mußte deshalb auch die Bewohner Beersebas berühren. Wer also seine Hände gleichgültig in den Schoß legte, machte sich auf diese Weise eins mit jenem Bösen.

 

Wenn dies damals für Israel galt, so gilt es erst recht für die Kirche Got­tes in der heutigen Zeit. Jede Gleichgültigkeit in einer Sache, die Christus betrifft, ist hassenswürdig vor Gott. Es ist Sein ewiger Vorsatz und Ratschluß, Seinen Sohn zu verherrlichen. Jedes Knie soll sich vor Ihm beugen und jede 2~unge bekennen, daß Er Herr ist, zur Verherrlichung Gottes, des Vaters,. Er will, "daß alle den Sohn ehren, wie sie den Vater ehren".

 

Wenn daher Christus verunehrt wird, wenn Lehren aufgestellt und ver­breitet werden, die die Herrlichkeit Seiner Person, die Auswirkung Seines Werkes oder die Kraft Seines Dienstes schmälern, dann haben wir die ernste Pflicht, mit aller Entschiedenheit dagegen Stellung zu be­ziehen. Gleichgültigkeit in Dingen, die den Sohn Gottes betreffen, ist Verrat an der Sache Gottes. Wenn wir schon über unseren Ruf, unseren Charakter oder unser Eigentum nicht gleichgültig hinwegsehen, wieviel weniger sollten wir es tun, wenn die Herrlichkeit und Ehre, der Name und die Sache Dessen angetastet werden, dem wir für Zeit und Ewig­keit alles verdanken.

 

Aber wie kann denn der schlechte Zustand eines Gläubigen solche be­einflussen, die gar nichts davon wissen? Die Antwort lautet: "Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit", nicht nur die Glieder der Versammlung am gleichen Orte, die die betreffende Person näher kennt

 

Mit der Herrlichkeit des Hauptes ist aber die große Wahrheit von der Einheit des Leib4es, der Kirche, unmittelbar verbunden. Wenn Israel eins war, wieviel mehr ist es dann der Leib Christi! Wenn in Israel jede Unabhängigkeit falsch war, wieviel mehr gilt das von der Kirche Gottes 1 So wenig man sagen kann, daß die Hand vom Fuß oder das Auge vom Ohr unabhängig ist, ebensowenig kann man behaupten, daß die Glieder des Leibes Christi unabhängig voneinander seien (vgl. 1. Kor. 12, 12‑27).

 

In diesem Kapitel wird uns also klar und eindringlich gezeigt, daß der Gläubige ein Glied des Leibes Christi ist. Das bedeutet nicht nur Vor­rechte für den Christen, sondern weist uns auch auf die höchste Verantwortlichkeit hin. Der Christ kann sich nicht als unabhängige Person verstehen, die keine Verbindung mit anderen hat, sondern er ist in lebendiger Weise verbunden mit allen Kindern Gottes, allen wahren Gläubigen, allen Gliedern des Leibes Christi auf der Erde.

 

"In einem Geiste sind wir alle zu einem Leibe getauft". Die Kirche Gottes ist nicht einfach eine Gesellschaft oder eine Vereinigung. Sie ist ein Leib, der durch den Heiligen Geist mit seinem Haupt im Himmel vereinigt ist, und dessen Glieder auf der Erde unauflöslich miteinander verbunden sind. Daraus folgt notwendigerweise, daß alle Glieder des Leibes von dem Zustand und Wandel jedes einzelnen Gliedes betrof­fen werden. "Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit". Ist der Fuß nicht in Ordnung, dann fühlt das die Hand, und zwar wie? Durch das Haupt. So verhält es sich auch bei der Kirche Gottes. Wenn es mit einem einzelnen Gliede nicht gut steht, dann fühlen das alle Glieder mit, und zwar durch das Haupt, mit dem alle durch den Heiligen Geist lebendig verbunden sind.

 

Viele finden es schwer, diese Wahrheit anzunehmen. Aber sie ist im Worte klar geoffenbart. Sie ist eine göttliche Offenbarung. Kein menschlicher Verstand hätte je einen solchen Gedanken ausdenken können; aber Gott offenbart es, und der Glaube ergreift es und lebt in der daraus entspringenden gesegneten Kraft.

 

und unmittelbar mit ihr in Verbindung steht, sondern alle Glieder des ganzen Leibes, wo sie auch sein mögen. So haben wir bei Israel ge­sehen, (und dort handelte es sich nur um eine nationale Einheit), daß es alle betraf, wenn in irgendeiner ihrer Städte etwas Böses geschehen war. Obgleich Tausende des Volkes nichts von der Tatsache wissen mochten daß Achan gesündigt hatte, sagte dennoch der Herr: Israel hat gesündigt", und das ganze Volk erlitt eine schmähliche Niederlage.

 

Kapitel 14

 

VORSCHRIFTEN BEZOGLICH DER REINEN UND UNREINEN TIERE ‑ DER ZEHNTE

 

"Ihr seid Kinder des HERRN, eures Gottes; ihr sollt euch nicht wegen eines Toten Einschnitte machen und euch nicht kahl scheren zwischen euren Augen. Denn ein heiliges Volk bist du dem HERRN, deinem Gott; und dich hat der HERR erwählt, ihm ein Eigentumsvolk zu sein, aus allen Völkern, die auf dem Erdboden sind" (V. 1. 2).

 

Die ersten Verse unseres Kapitels zeigen uns die Grundlage aller Vorrechte und Verantwortlichkeiten des Volkes Gottes. Es ist oft gesagt worden, daß man erst dann die mit einer bestimmten Stellung verbun­denen Zuneigungen kennen und die daraus hervorgehenden Pflichten erfüllen kann, wenn man selbst in dieser Stellung steht. Wenn jemand nicht selbst Vater ist, können ihm auch die eingehendsten Erklärungen kein Verständnis über die Gefühle oder Zuneigungen eines Vaterher­zens vermitteln. Sobald er aber in dieses Verhältnis eintritt, kennt er sie ganz genau. So ist es mit jedem irdischen Verhältnis, mit jeder Stellung, und so ist es auch in den Dingen Gottes. Man kann nicht die Zuneigun­gen oder Pflichten eines Kindes Gottes verstehen, wenn man kein Kind Gottes ist, und man kann nicht die christlichen Pflichten erfüllen, ohne zuvor ein wirklicher Christ geworden zu sein. Allerdings benötigt man auch dann noch die Kraft des Heiligen Geistes zu deren Erfüllung.

 

Offenbar ist es Gottes Sache, Seinen Kindern Vorschriften für ihr Ver­halten zu geben, während es ihr Vorrecht und ihre Verantwortlichkeit ist, Seine gnädige Zustimmung in allen Dingen zu suchen. "Ihr seid Kinder des HERRN, eures Gottes; ihr sollt euch nicht Einschnitte machen." Israel gehörte dem HERRN und nicht mehr sich selbst, und daher hatte kein Glied der Gemeinde ein Recht, sich wegen eines Toten Einschnitte zu machen oder sein Angesicht zu entstellen. Die armen und unwissenden Nationen ringsum mochten sich Einschnitte machen, da sie Gott nicht kannten und in keiner Beziehung zu Ihm standen. Aber Israel stand auf dem hohen und heiligen Boden einer nahen Verbindung mit Gott und das mußte alle ihre Gewohnheiten kenn­zeichnen.

 

"Denn ein heiliges Volk bist du dem HERRN, deinem Gott." Gott sagte nicht: "Du sollst ein heiliges Volk werden". Unmöglich hätten sie sich zu einem heiligen Volke des HERRN machen können. Alle dahin­gehenden Anstrengungen wären vergeblich gewesen. Aber Gott hatte sie in Seiner unumschränkten Gnade und wegen Seines Bundes mit ihren Vätern zu Seinem Eigentumsvolk aus allen Völkern der Erde gemacht. Das war das unerschütterliche Fundament, auf dem Israel stand. Ihre Sitten und Gebräuche, ihr Leben und Handeln, ihre Nah­rung und Kleidung, alles mußte darauf basieren, daß sie Gottes Eigen­tum und das Volk Seiner Wahl waren. Darum konnten sie so wenig ändern wie an ihrer natürlichen Geburt.

 

Müssen wir es nicht als eines unserer höchsten Vorrechte ansehen, daß der Herr uns so nahe ist und Sich für alle unsere Gewohnheiten und Wege interessiert? Für einen Menschen freilich, der den Herrn nicht kennt und in keiner Beziehung zu Ihm steht, ist der Gedanke an Seine heilige Nähe unerträglich. Aber für den Gläubigen, für jeden, der Gott wirklich liebt, ist es wunderbar zu wissen, daß Er uns nahe ist und an den kleinsten Einzelheiten unseres persönlichen und täglichen Lebens Anteil nimmt. Er nimmt Kenntnis von dem, was wir essen und womit wir uns kleiden. Er sieht nach uns bei Tag und Nacht, ob wir wachen oder schlafen, ob wir zu Hause oder auf der Reise sind. Er interessiert sich und sorgt mehr für uns als eine Mutter. Würden wir das alles nur mehr verstehen, wie ganz anders würde dann unser Leben sein, wie­viel herrliche Erfahrungen würden wir dann machen!

 

In den Versen 3‑20 finden wir Vorschriften bezüglich der reinen und unreinen Tiere, der Fische und Vögel. Zu den leitenden Grundsätzen dieser Vorschriften verweisen wir auf unsere Ausführungen zu 3. Mose 11. Doch es besteht ein sehr wichtiger Unterschied zwischen diesen beiden Schriftabschnitten. Während im 3. Buch Mose diese Vorschriften zunächst nur Mose und Aaron gegeben werden, wird in unserem Ka­pitel das Volk selbst angesprochen. Das ist charakteristisch für         die beiden Bücher. Das 3. Buch Mose könnte man als ein "Lehrbuch für den Priester" bezeichnen, wohingegen im 5. Buch Mose die Priester mehr zurücktreten und das Volk im Vordergrund steht. Dieser Unter­schied ist durch das ganze Buch hindurch leicht zu erkennen.

 

Im 21. Vers unseres Kapitels wird uns der Unterschied zwischen dem Israel Gottes und dem Fremdling gezeigt: "Ihr sollt kein Aas essen; dem Fremdling, der in deinen Toren ist, magst du es geben, daß er es esse, oder verkaufe es einem Fremden; denn ein heiliges Volk bist du dem HERRN, deinem Gott". Seine Verbindung mit dem HERRN unter­schied Israel von allen Völkern der Erde. Nicht daß sie an sich besser oder heiliger gewesen wären als andere, aber der HERR war heilig, und sie waren Sein Volk: "Seid heilig, denn ich bin heilig".

 

Die Kinder dieser Welt nennen die Christen oft Pharisäer, weil die Gläubigen sich von ihnen trennen und nicht an ihren Vergnügungen und Ergötzungen teilnehmen wollen. Aber sie verstehen nicht, was sie sagen. Wenn ein Christ sich an den wertlosen Dingen und Torheiten dieser Welt beteiligen würde, so wäre das, bildlich gesprochen, nichts anderes, als wenn ein Israelit Aas gegessen hätte. Der Christ hat, Gott sei Dank! eine bessere Speise, als die Welt ihm bieten kann. Er nährt sich von dem lebendigen Brot, das aus dem Himmel ist, von dem wah­ren Manna, und er ißt von dem "Erzeugnis des Landes Kanaan", dem Bild des auferstandenen und verherrlichten Menschen im Himmel. Von diesen herrlichen Dingen kennt das arme, unbekehrte Weltkind über­haupt nichts. Es muß sich daher auf das beschränken, was die Welt ihm zu bieten hat. Die Frage ist nicht, inwiefern solche Dinge an sich gut oder schlecht sind. Kein Israelit hätte wissen können, daß es unrecht sei, von einem Aas zu essen, wenn Gott es nicht gesagt hätte.

 

Das ist der wichtige Punkt auch für uns. Wir können nicht erwarten, daß die Welt denkt und urteilt wie wir. Unsere Aufgabe ist es, alles vom göttlichen Standpunkt aus zu sehen. Für einen Weltmenschen mag vieles richtig und passend sein, was einem Christen nicht geziemt, aus dem einfachen Grund, weil er ein Christ ist. Für den wirklich Gläu­bigen gilt nur die eine Frage: "Dient dies zur Verherrlichung Gottes? Kann ich es mit dem Namen Christi verbinden?"

 

Für den Christen gibt es in allen Dingen nur einen Prüfstein, nur eine Richtschnur, nämlich Christus. Was Seiner unwürdig ist, ist auch des Christen unwürdig.

 

Bevor wir weitergehen, möchten wir noch auf den Schluß des 21. Verses aufmerksam machen: "Du sollst ein Böcklein nicht kochen in der Milch seiner Mutter". Dieses Gebot gewinnt dadurch eine besondere Bedeu­tung, daß es dreimal in verschiedenen Verbindungen gegeben wird. Fra­gen wir nach dem Sinn und der für uns darin enthaltenen Lehre, so glauben wir, alles das zu vermeiden, was widernatürlich ist. Offenbar war es widernatürlich, ein Böcklein in dem zu kochen, was ihm zur Nahrung dienen sollte. Das Wort Gottes redet viel von dem, was natur­gemäß, und somit passend ist. So schrieb der Apostel an die Korinther: "Oder lehrt euch nicht selbst die Natur?" Es gibt gewisse, vom Schöpfer eingepflanzte Gefühle und Instinkte, die man nie unterdrücken darf. Gott kann keine Handlung billigen, die das natürliche Zartgefühl ver­letzt. Der Geist Gottes leitet uns zwar oft in übernatürlicher, aber nie in widernatürlicher Weise.

 

Der letzte Abschnitt unseres Kapitels gibt uns einige schöne und prak­tische Belehrungen (V. 22‑29). Er stellt uns mit besonderer Einfachheit die Grundlage, den Mittelpunkt und die Charakterzüge der nationalen und häuslichen Religion Israels vor. Die Grundlage des israelitischen Gottesdienstes bestand darin, daß Israel und sein Land dem HERRN gehörten. Sie waren sozusagen Seine Pächter, und es war daher ihre Pflicht, dies zu bestimmten Zeiten durch eine gewissenhafte Verzehn­tung ihres Landes zu bezeugen. "Du sollst treulich verzehnten allen Ertrag deiner Saat, die aus dem Felde erwächst, Jahr für Jahr." Sie mußten auf diese praktische Weise das Eigentumsrecht des HERRN anerkennen und durften es nie aus dem Auge verlieren. Sie hatten nie­mand anders als den HERRN, ihren Gott, als Herrn anzuerkennen. Sie gehörten mit allem, was sie besaßen, dem HERRN an. Das war die Grundlage ihrer nationalen Religion.

 

Wie die Grundlage, so war auch der Mittelpunkt ihrer Religion be­stimmt. Sie hatten sich an dem Orte zu versammeln, wo der HERR Seinen Namen hinsetzen wollte. Welch ein Vorrecht für alle, die diesen herrlichen Namen wirklich liebten! Wir sehen an dieser und vielen anderen Stellen des Wortes, welchen Wert Gott darauf legte, daß Sein Volk sich immer wieder um Ihn versammelte. Es war Seine Freude, Sein geliebtes Volk in Seiner Gegenwart versammelt zu sehen, wobei es sich an Ihm und an der Gemeinschaft untereinander erfreute und sich ge­meinschaftlich von der Frucht des Landes des HERRN nährte. "Und du sollst essen vor dem HERRN, deinem Gott, an dem Orte, den er er­wählen wird, um seinen Namen daselbst wohnen zu lassen, den Zehn­ten deines Getreides . . . , auf daß du den HERRN, deinen Gott, fürch­ten lernest alle Tage."

 

Kein anderer Ort konnte nach dem Urteil eines treuen Israeliten mit diesem verglichen werden. Jeder, der den Herrn liebte, zog mit Freuden zu diesem geheiligten Ort, wo Gott Seinen Namen wohnen ließ. Nur denen, die diesen Gott nicht kannten, mochte der Weg des Volkes zum Hause Gottes, um ihren Zehnten dorthin zu bringen, merkwürdig er­scheinen, und das um so mehr, je weiter der Weg war, den viele unter ihnen zurückzulegen hatten. Sie mochten denken: Warum sich soviel Mühe und Beschwerde machen? Warum kann man nicht genauso gut zu Hause essen? Aber das Wort Gottes hatte einen triftigen Grund für seine Reise zu dem von Gott bestimmten Ort, und dieser Grund lag in dem einfachen, aber inhaltsreichen Wort: "Der Herr ist da!" Wenn ein Israelit im Eigenwillen zu Hause geblieben oder an einen selbstgewähl­ten Ort gegangen wäre, so wäre er dort weder in Gemeinschaft mit dem HERRN noch mit seinen Brüdern gewesen. Er hätte allein essen müssen. Auch hätte er sich das Gericht Gottes zugezogen, da ein solches Verhalten für den HERRN ein Greuel gewesen wäre. Es gab nur einen Mittelpunkt, und diesen hatte nicht der Mensch, sondern Gott erwählt. Der König Jerobeam war vermessen genug, um aus selbstsüchtigen politischen Zwecken in die göttliche Ordnung einzugreifen, indem er zwei Kälber zu Bethel und Dan aufstellte. Aber alle, die dort opferten, dienten den Dämonen und nicht Gott. Es war eine Handlung gottloser Vermessenheit, wodurch Jerobeam das gerechte Gericht Gottes über sich und sein Haus brachte. In der späteren Geschichte Israels wird "Jero­beam, der Sohn Nebats" öfter erwähnt als ein trauriges Beispiel der Ungerechtigkeit für alle gottlosen Könige.

 

Aber Gott hatte nicht nur einen Ort der Anbetung bestimmt, sondern auch dafür gesorgt, Seinem anbetenden Volk den Weg dahin so leicht wie möglich zu machen. "Und wenn der Weg zu weit für dich ist, daß du es nicht hinbringen kannst, weil der Ort fern von dir ist, den der HERR, dein Gott, erwählen wird, um seinen Namen dahin zu setzen, wenn der HERR, dein Gott, dich segnet: so sollst du es um Geld geben; und binde das Geld in deine Hand zusammen, und gehe an den Ort, den der HERR, dein Gott erwählen wird ... und iß daselbst vor dem HERRN, deinem Gott, und freue dich, du und dein Haus."

 

Der Herr hatte in Seiner Fürsorge und Liebe acht auf alles. Er räumte Seinem Volk jede Schwierigkeit aus dem Weg, um es ihm möglich zu machen, in Seiner Gegenwart glücklich zu sein. Mußten nicht alle, die den HERRN liebten, den Wunsch haben, Seinen Herzenswunsch zu er­füllen, Sein erlöstes Volk an dem von Ihm bestimmten Ort versam­melt zu sehen? Hätte nicht ein Israelit, der die Gelegenheit vernachläs­sigte, dadurch bewiesen, daß er kein Herz für Gott und Sein Volk hatte, und daß er nach seinem eigenen Willen handelte, was noch schlimmer war? Hätte er eingewandt, er könne auch zu Hause oder anderswo als gerade an dem vom Herrn bestimmten Ort glücklich sein, so wäre das ein falsches Glück gewesen, weil es auf dem Weg des Ungehorsams und der eigenwilligen Vernachlässigung des göttlichen Gebots gemacht wurde.

 

Dies alles enthält eine ernste Belehrung für die Kirche Gottes in der heutigen Zeit. Heute wie damals ist es der Wille Gottes, daß sich die Seinen in Seiner Gegenwart versammeln sollen, auf dem von Gott bestimmten Platz und um einen von Gott bestimmten Mittelpunkt. Das kann kaum ein Christ in Frage stellen, der noch etwas göttliches Licht besitzt. Denn die Instinkte der göttlichen Natur, die Weisungen des Heiligen Geistes und die Belehrungen der Schrift leiten die Gläu­bigen dahin, sich zum Gottesdienst, zur Gemeinschaft und zur Auf­erbauung zu versammeln. So sehr auch der jüdische und der christliche Haushalt sich voneinander unterscheiden, es gibt doch gewisse Grund­sätze und Kennzeichen, die immer gelten und zu diesen gehört sicher auch das Zusammenkommen. Denn es ist eine göttliche Einrichtung, sowohl im neuen als auch im alten Haushalt.

 

Aber dabei geht es doch zunächst nicht um unser Glück, obwohl gewiß alle echten Christen glücklich sein werden, wenn sie an dem göttlich bestimmten Platz sind; denn in der Gegenwart des Herrn ist stets Freude und Segen, so daß man unmöglich anders als wirklich glücklich dort sein kann. Aber, wie gesagt, unsere Glückseligkeit kommt dabei erst in zweiter Linie in Betracht. Vielmehr ist es der in Seinem heiligen Wort geoffenbarte Wille Gottes, der uns in diesem wie in allem ande­ren leiten muß. Wir sollten uns nur fragen: Ist es nach den Gedanken Gottes, daß die Gläubigen sich zur Anbetung und zur gegenseitigen Erbauung versammeln sollen? Wenn das der Fall ist ' wie groß ist dann die Verantwortung aller, die in Eigenwillen, aus Trägheit oder aus irgendeinem anderen Grund zurückbleiben! Sie tun das nicht nur zum großen Schaden für ihre eigene Seele, sondern sie verunehren auch Gott, betrüben Seinen Geist und verachten die Versammlung Gottes.

 

Das sind sehr ernste Folgen, die wir unbedingt beachten sollten. In Hebr. 10 werden wir ermahnt, unser Zusammenkommen nicht zu ver­säumen, und das zeigt uns den besonderen Wert und die Wichtigkeit dieses Zusammenkommens. Die erste Erwähnung dieser Wahrheit im Neuen Testament finden wir in Matth. 18, 20: "Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte". Der göttliche Mittelpunkt ist: "Mein Name". Dies entspricht dem im 5. Buch Mose so oft erwähnten "Ort, den der HERR erwählen wird, Seinen Namen daselbst wohnen zu lassen".

 

Genau so ist es mit der Versammlung Gottes. Auch dort ist alles gött­lich, und jede menschliche Wahl, Meinung und Einrichtung ist völlig ausgeschlossen. Die Grundlage, auf der wir zusammenkommen, ist göttlich, denn es ist die vollbrachte Erlösung. Der Mittelpunkt, um den wir uns versammeln, ist göttlich, denn es ist der Name Jesu. Die Macht, durch die wir versammelt werden, ist göttlich, denn es ist die Macht des Heiligen Geistes. Die Autorität zu unserem Zusammenkommen ist schließlich ebenfalls göttlich, denn es ist die Autorität des Wortes Gottes.

 

Alles das ist klar und wertvoll, und wir brauchen nur einen einfältigen Glauben, um es zu erfassen und danach zu handeln. Fangen wir aber an, unsere Vernunft zu Rate zu ziehen oder auf menschliche Meinungen zu hören, stürzen wir uns in hoffnungslose Verwirrung, da wir dann alle Lehren und Meinungen der zahllosen christlichen Parteien zu prü­fen haben. Das Wort Gottes ist unsere einzige Zuflucht, Hilfsquelle, Kraft und Autorität. Nimmt man uns dieses, so haben wir nichts. Besitzen wir aber das Wort, so brauchen wir weiter nichts. Wie tröstlich und beruhigend ist das! Wie könnten wir auch sonst mit Sicherheit wissen, daß wir um den göttlichen Mittelpunkt versammelt sind, als nur durch das Wort Gottes?

 

Wie konnte Israel damals Gewißheit über den Ort bekommen, den Gott für das Zusammenkommen bestimmt hatte? Durch Sein ausdrückliches Gebot. Sein Wort war in bezug auf diesen Punkt ebenso klar wie be­züglich aller anderen. Hat Gott die Christen etwa über den Ort ihrer Anbetung, den Mittelpunkt und Boden ihres Zusammenkommens in Zweifel und im unklaren gelassen? Muß hier jeder tun, was er für richtig hält? Unmöglich! So wie damals bei Israel kein Zweifel über den Ort des Zusammenkommens aufkommen konnte, es sei denn aus schuldhafter Unwissenheit oder aus ganz bewußtem Ungehorsam, eben­so bestimmt wird auch heute den Christen die Art und Weise ihres Zusammenkommens im Wort Gottes mit einer Klarheit und Einfach­heit geschildert, die ihnen jeden Vorwand der Unwissenheit nimmt.

 

Nun gibt es allerdings heute für die Christen keinen besonderen Ort mehr, an dem sie sich alle von Zeit zu Zeit versammeln Sollten, wie es für das irdische Volk Gottes angeordnet war und wie es bald wieder der Fall sein wird für das wiederhergestellte Israel und alle Nationen (Vergl. Jes. 2; Sach. 14, 16. 17 u. a. St.). Gegenwärtig, das heißt seit Pfingsten, als der Heilige Geist herabkam, um die Kirche, den Leib Christi, zu bilden, bis zu dem Augenblick, wenn der Herr Jesus Chri­stus wiederkommen wird, um die Kirche aus dieser Welt wegzuneh­men, gibt es keine Stadt, keinen geweihten Ort, keinen irdischen Mittelpunkt für das Volk Gottes. Zu Christen von heiligen Orten oder von einem geweihten Boden zu reden, ist diesen ebenso fremd ‑ oder sollte es wenigstens sein ‑, als wenn man einem Israeliten hätte sagen wollen, der Ort seiner Anbetung sei im Himmel (Vergl. hierzu Joh. 4, 19‑24; Apg. 7, 48‑50; 17, 24. 25).

 

Die Lehre des Neuen Testaments ist bezüglich der christlichen An­betung vom Anfang bis zum Ende klar und deutlich. Die Kirche hat von der ersten Zeit ihrer Geschichte an eine starke Neigung zur Rückkehr zum Judaismus gezeigt, und zwar nicht nur hinsichtlich der Rechtferti­gungslehre, sondern auch im Blick auf den Gottesdienst. Man hat die Christen nicht nur unter das Gesetz zurückgeführt zur Erlangung des Lebens und der Gerechtigkeit, sondern auch unter den levitischen Ritus bezüglich der Gestaltung ihres Gottesdienstes. Den ersten Punkt haben wir bereits im vierten und fünften Kapitel dieses Buches behandelt, und der letzte ist nicht weniger ernst in seinen Wirkungen auf den ganzen Charakter des christlichen Lebens und Wandels.

 

Die Absicht Satans ist immer, die Kirche von dem erhabenen Platz herabzuziehen den sie i Blick auf ihre Stellung, ihren Wandel und ihre Anbetung einnimmt. Kaum war sie am Tage der Pfingsten ins Dasein gerufen worden, als er auch schon sein Werk der Zerstörung und Untergrabung begann, und er hat es mit teuflischer Beharrlichkeit schon mehr als neunzehnhundert lange Jahre fortgeführt. Angesichts der klaren Weisungen der Schrift über den Charakter der christlichen An­betung, wie der Vater sie jetzt sucht, und trotz der Tatsache, daß Gott nicht in Tempeln wohnt, die mit Händen gemacht sind, durchzieht all die Jahrhunderte der christlichen Geschichte ein starkes Streben, zu dem Zustand der Dinge zurückzukehren, wie sie unter der mosaischen Haus­haltung waren. Daher auch die Einführung prächtiger Gebäude, glän­zender Zeremonien und dergleichen ‑ Dinge, die alle zu der Gesinnung Christi und der Lehre des Neuen Testaments in Widerspruch stehen. Sie liefern den Beweis, wie weit die christliche Kirche von dem Geist und der Autorität des Herrn abgewichen ist, und doch werden sie als Vorwand für einen angeblich erstaunlichen Fortschritt des Christentums gewertet. Manche der hervorragendsten Führer der Kirche gehen sogar so weit zu sagen, daß der Apostel Paulus nur eine schwache Vorstellung von der Größe gehabt habe, die die Kirche hier einmal erlangen sollte. Aber wenn Paulus jetzt einen unserer berühmten Dome mit ihren hohen Hallen, ihren himmelanstrebenden Säulen, ihrem Schnitz‑ und Bildwerk, ihren buntverglasten Fenstern sehen und den Klängen der Orgel und dem Gesang der Chöre lauschen könnte, was würde er sagen?

 

Nehmen wir z. B. an, der Apostel käme jetzt an einem Sonntag in eine unserer Städte, wo könnte er dort finden, was er vor beinahe neun­zehnhundert Jahren in Troas fand? (Vergl. Apg. 20, 7). Wo würde er eine Gemeinschaft von Gläubigen antreffen, die durch die Macht des Heiligen Geistes einfach im Namen Jesu versammelt wären, um das Brot zu brechen zu Seinem Gedächtnis und Seinen Tod zu verkündigen, bis Er kommt? Das war damals die göttliche Ordnung und muß es auch heute noch sein. Der Apostel würde gewiß nichts anderes aner­kennen. Er würde nach dem forschen, was göttlich ist, und das allein bejahen. Aber wo würde er es jetzt finden? Wo ist der Tisch des Herrn anzutreffen, wie ihn Christus in der Nacht, in der Er überliefert wurde, Selbst angeordnet hat?

 

Würde der Apostel nicht darauf bestehen, daß der Tisch des Herrn heute derselbe wie damals ist, als er die Wahrheit hierüber unmittelbar von dem Herrn der Herrlichkeit empfangen und durch den Geist den Gläubigen in Korinth in einem Brief überliefert hatte, der zugleich an alle gerichtet war, "die an jedem Ort den Namen unseres Herrn Jesus Christus anrufen, sowohl ihres als unseres Herrn"? Unmöglich könnte Paulus im ersten Jahrhundert die Ordnung Gottes lehren und im zwan­zigsten die Unordnung des Menschen annehmen. Der Mensch hat kein Recht, an einer göttlichen Einrichtung zu rütteln. Es steht ihm ebenso­wenig zu, ein Jota an der göttlichen Verordnung über die Feier des Abendmahls zu ändern, wie etwa ein Israelit berechtigt gewesen wäre, ein Wort aus dem Gesetz über das Passah zu streichen.

 

Wo anders könnte der Apostel Paulus heute seinen Platz am Tisch des Herrn einnehmen als in einer Gemeinschaft von Gläubigen, die einfach versammelt sind auf der Grundlage der Einheit des Leibes, um den einen Mittelpunkt, den Namen Jesu, durch die Macht des Heiligen Geistes und auf die Autorität des Wortes Gottes hin? Wo könnte er eine Gemeinschaft finden, in der er mit seinen Gaben dienen könnte, unabhängig von jeder menschlichen Bevollmächtigung oder Ernennung? Wir richten diese Fragen an das Herz und Gewissen des Lesers, weil wir überzeugt sind, daß es solche Gemeinschaften an verschiedenen Orten gibt, wo Paulus die Ausführung dieser Dinge finden könnte, wenn auch verbunden mit viel Schwachheit und Versagen. Leider stehen sie oft klein und vereinzelt da im Vergleich zu der großen Menge der Christen, die sich anders versammeln.

 

Man wird uns vielleicht erwidern, daß man Paulus gern erlauben würde zu dienen, wenn man wüßte, daß er es auch wäre. Aber Paulus würde um diese Erlaubnis weder bitten noch sie annehmen. Er sagt uns in Gal. 1 klar und deutlich, daß er seinen Dienst empfangen habe "nicht von Menschen, noch durch einen Menschen, sondern durch Jesum Christum und Gott, den Vater, der ihn auferweckt hat aus den Toten" (V. 1). überdies würde der Apostel darauf bestehen, daß der Tisch des Herrn auf der göttlichen Grundlage der Einheit des Leibes und nach der göttlichen Anordnung des Neuen Testaments aufgerichtet würde. Er würde sagen: "Entweder das oder gar nichts". Eine menschliche Ein­mischung in die göttlichen Anordnungen, eine neue Grundlage für das Zusammenkommen, ein menschliches System würde er nicht anerken­nen. Er würde im Gegenteil seine Worte wiederholen: "Da ist ein Leib und ein Geist", und "Denn ein Brot, ein Leib, sind wir, die Vielen, denn wir alle sind des einen Brotes teilhaftig". Diese Worte richten sich an alle, die an irgendeinem Ort den Namen des Herrn anrufen, und sie behalten ihre ganze Kraft, solange die Kirche auf dieser Erde ist.

 

Gottes Grundsätze bezüglich des Zusammenkommens und der Einheit der Gläubigen dürfen um keinen Preis aufgegeben werden. Sobald man anfängt, Kirchen und Gemeinden zu bilden, handelt man im Wider­spruch zu dem Wort Gottes, den Gedanken Christi und der Wirkung des Heiligen Geistes. Der Mensch könnte sich ebensogut darangeben, eine Welt zu erschaffen, wie eine Kirche zu bilden. Das ist jedoch ein ganz und gar göttliches Werk. Der Heilige Geist kam am Pfingsttag herab, um die Kirche Gottes, den Leib Christi, zu bilden, und dies ist die einzige Kirche und der einzige Leib, den die Schrift anerkennt. Alles andere steht mit Gott im Widerspruch, wenn es auch durch Tau­sende von wirklichen Christen anerkannt und verteidigt werden mag.

 

Doch der Leser möge uns nicht mißverstehen. Es geht hier nicht um die Errettung, die Rechtfertigung oder dergleichen, sondern um den gött­lichen Grundsatz, nach dem die Gläubigen sich am Tisch des Herrn versammeln sollen und nach dem dieser Tisch aufgerichtet werden sollte. Tausende von Gläubigen haben z. B. in der Gemeinschaft der katholischen Kirche gelebt und sind darin gestorben; aber die katho­lische Kirche ist nicht die Kirche Gottes, und das sogenannte Meßopfer ist nicht des Herrn Abendmahl. Wenn der Leser deshalb meint, er dürfe solange in einem falschen System bleiben, wie dieses der Errettung seiner Seele keinen Schaden tue, ist es nutzlos, weiter mit ihm über diesen Gegenstand zu sprechen.

 

Aber was hätte man von einem Israeliten gedacht, der sich damit be­gnügt hätte, ein Kind Abrahams zu sein, der sich an seinen Weinstock, seinen Feigenbaum und an seinen Viehherden gefreut hätte, ohne je daran zu denken, den HERRN an dem Ort anzubeten, an dem Er Seinen Namen wohnen ließ? Gab es einen treuen Juden, der diesen Ort nicht liebte? "HERR, ich habe geliebt die Wohnung deines Hauses und den Wohnort deiner Herrlichkeit" (Ps. 26, 8).

 

Und als Israel wegen seiner Sünden in die Gefangenschaft geführt worden war, gaben die Treuen unter ihnen ihren Gefühlen in rühren­den Klagen Ausdruck: "An den Flüssen Babels, da saßen wir und wein­ten, indem wir Zions gedachten. An die Weiden in ihr hängten wir unsere Lauten. Denn die uns gefangen weggeführt hatten, forderten daselbst von uns die Worte eines Liedes, und die uns wehklagen mach­ten, Freude: Singet uns eines von Zions Liedern. Wie sollten wir ein Lied des HERRN singen auf fremder Erde? Wenn ich dein vergesse, Jerusalem, so vergesse meine Rechte! Es klebe meine Zunge an meinem Gaumen, wenn ich deiner nicht gedenke, wenn ich Jerusalem nicht er­hebe über die höchste meiner Freuden!" (Ps. 137).

 

Ebenso sehen wir, wie Daniel, dieser treue und "vielgeliebte" Knecht Gottes, dreimal am Tag in seinem Zimmer niederkniete, das nach Jerusalem. hin geöffnete Fenster hatte. Er tat das, obwohl er wußte, daß darauf die Strafe stand, in die Löwengrube geworfen zu werden. War es jüdischer Aberglaube, daß er nach Jerusalem betete? Bestimmt nicht. Es war die Entfaltung des göttlichen Banners inmitten der schmachvol­len und demütigenden Folgen von Israels Torheit und Sünde. Zwar lag Jerusalem in Trümmern, aber Gottes Gedanken über Jerusalem waren nicht verändert. Jerusalem war und blieb Sein Mittelpunkt für Sein irdisches Volk (Ps. 122).

 

Wie Jerusalem der von Gott erwählte Mittelpunkt auf der Erde war und sein wird, so sollte jetzt die Kirche Gottes keinen anderen Mittel­punkt anerkennen als nur den herrlichen und unendlich kostbaren Namen Jesu. "Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte". Kostbarer Mittelpunkt! Auf ihn allein weist das Neue Testament hin, und um ihn allein sammelt der Heilige Geist. Es ist nicht entscheidend, wo wir versammelt sind, ob in Jerusalem oder Rom, Paris, London oder Berlin, sondern darum, wie wir versammelt sind.

 

Vergessen wir jedoch nicht, daß es eine göttliche Wirklichkeit sein muß. Das bloße Bekenntnis, im Namen Jesu (oder zu diesem Namen hin) versammelt zu sein, ist nutzlos, wenn es nicht wirklich und tat­sächlich so ist. Das Wort, das Jakobus über den Glauben ausspricht, läßt sich mit gleicher Kraft auf den Mittelpunkt unseres Zusammen­kommens anwenden. "Was nützt es, meine Brüder, wenn jemand sagt": Ich versammle mich im Namen Jesu? Gott will Wirklichkeit haben. Und obgleich es wahr ist, daß kein Gläubiger, der Christus treu sein will, einen anderen Mittelpunkt als den Namen Jesu anerkennen kann, so ist es doch möglich, daß viele auf diesem heiligen Boden zu stehen bekennen, während ihr Geist und Wandel, ihre Gewohnheiten und Wege, ihr ganzer Verkehr und Charakter beweisen, daß sie nicht in der Kraft dieses Bekenntnisses stehen.

 

Der Apostel sagt zu den Korinthern, daß er "nicht das Wort der Auf­geblasenen, sondern die Kraft" erkennen würde. Ein wichtiges Wort für alle Zeiten, besonders aber im Blick auf unser vorliegendes Thema. Wir möchten den christlichen Leser mit allem Ernst auf seine Verantwortung hinweisen, diesen Gedanken in der Gegenwart des Herrn und im Licht des Neuen Testaments zu prüfen. Möchte er es nicht als etwas Unwesentliches betrachten! Es ist im Gegenteil insofern eine sehr wichtige Sache, weil es sich dabei um die Ehre des Herrn und die Aufrechterhaltung Seiner Wahrheit handelt. Das ist der einzige Maßstab, nach dem wir beurteilen können, ob eine Sache richtig oder unrichtig ist. Wehe dem Israeliten, der in Gleichgültigkeit seine eigenen Wege gegangen und seinen eigenen Gedanken gefolgt wäre! Und sollte ein Christ heute weniger verantwortlich sein, wenn er dem klar geoffenbarten Willen Gottes zuwider handelt und die Belehrungen des Neuen Testaments über das Zusammenkommen der Gläubigen, die Einheit des Leibes Christi, die Feier des Abendmahls usw. unbeachtet läßt?

 

Werfen wir nun noch einen Blick auf den letzten Abschnitt des 14. Ka­pitels, der einige Belehrungen von großem praktischen Werte enthält“. "Am Ende von drei Jahren sollst du allen Zehnten deines Ertrages in jenem Jahre aussondern und ihn in deinen Toren niederlegen; und der Levit ‑ denn er hat kein Teil noch Erbe mit dir ‑ und der Fremdling und die Waise und die Witwe, die in deinen Toren sind, sollen kom­men und essen und sich sättigen; auf daß der HERR, dein Gott, dich segne in allem Werke deiner Hand, das du tust".

 

Hier haben wir eine wunderschöne häusliche Szene, eine rührende Ent­faltung des göttlichen Charakters und eine herrliche Offenbarung der Gnade und Güte des Gottes Israels. In welch einem schroffen Gegen­satz steht diese Stelle zu der kalten Selbstsucht, die uns überall umgibt! Gott wollte Sein Volk belehren, an die Armen zu denken. Der Zehnte gehörte Ihm, aber Er wollte ihnen das Vorrecht schenken, durch ihn die Herzen anderer zu erfreuen.

 

Es liegt eine besondere Schönheit in den Worten: "Sie sollen kommen und essen und sich sättigen". Sie entsprechen ganz unserem immer gnädigen Gott. Er freut sich, wenn Er die Bedürfnisse aller stillen kann. Er öffnet Seine Hand und stillt das Begehren jedes lebendigen Wesens. Und nicht nur das. Es ist auch Seine Freude, die Seinen zu Kanälen zu machen, durch die Seine Gnade und Güte zu allen ausströmen können.

 

Kapitel 15

 

DAS ERLASSJAHR. DER HEBRÄISCHE KNECHT

 

Es ist wirklich wunderbar zu beobachten, wie der Gott Israels immer bemüht war, das Herz Seines Volkes durch die verschiedenen Opfer, Feierlichkeiten und Einrichtungen des Levitendienstes an sich zu ziehen. jeden Tag wurde morgens und abends ein Lamm geopfert, jede Woche war der heilige Sabbath, jeden Monat das Fest des Neumondes, jedes Jahr das Passahfest, alle drei Jahre die Einbringung des Zehnten, alle sieben Jahre das Erlaßjahr und alle fünfzig Jahre das Jubeljahr.

 

Das alles enthält wertvolle Belehrungen für uns. Das morgens und abends dargebrachte Lamm war, wie wir wissen, ein ständiger Hinweis auf "das Lamm Gottes, welches die Sünde der Welt wegnimmt". Der Sabbath war das Bild der Ruhe, die dem Volke Gottes bleibt. Der Neu­mond stellte die Zeit vor, wo das wiederhergestellte Volk Israel die hellen Strahlen der Sonne der Gerechtigkeit auf die Nationen zurück­werfen wird. Das Passah war die ständige Erinnerung an die Befreiung Israels aus der Knechtschaft Ägyptens. Das Jahr des Zehnten rief dem Volk immer wieder das Eigentumsrecht des HERRN über das Land ins Gedächtnis zurück, sowie die Art und Weise, wie Seine Einkünfte für die Bedürfnisse Seiner Arbeiter und Seiner Armen verwendet werden sollten. Das Sabbathjahr redete von der herrlichen Zeit, wo alle Schul­den gelöscht und alle Darlehen erlassen sein werden. Das Jubeljahr war das herrliche Vorbild der Zeiten der Wiederherstellung aller Dinge, wenn der Gefangene in Freiheit gesetzt und der Verbannte in seine langersehnte Heimat und zu seinem Erbteil zurückkehren wird, wenn das Land Israel und die ganze Erde sich der segensreichen Regierung des Sohnes Davids erfreuen werden.

 

In all diesen Verordnungen entdecken wir zwei besondere Charakter­züge, nämlich die Verherrlichung Gottes und die Segnung des Men­schen. Diese beiden Dinge sind durch ein göttliches und ewiges Band miteinander verbunden. Gott hat es so geordnet, daß Seine eigene Ver­herrlichung und die Segnung des Geschöpfes untrennbar miteinander verbunden sind. Das ist eine große Freude für das Herz und läßt uns die Kraft und Schönheit des bekannten Wortes besser verstehen: "Wir rühmen uns in der Hoffnung der Herrlichkeit Gottes". Wenn diese Herrlichkeit in ihrem vollen Glanz erstrahlen wird, dann werden auch die Segnung, Ruhe und Glückseligkeit des Menschen ihre ewige Vollen­dung erreichen.

 

Im siebenten Jahr (V. 1‑6) sehen wir ein schönes Vorbild hiervon. Es war "ein Erlaß des HERRN", und deshalb erfuhr jeder Schuldner von Dan bis Beerseba seinen gesegneten Einfluß. Der HERR wollte Seinem Volke das hohe und heilige Vorrecht geben, Gemeinschaft mit Ihm in einer Sache zu haben, die das Herz des Schuldners mit Freude und Jubel erfüllte. Er wollte sie die tiefe Segnung einer völlig freien Vergebung lehren, denn das ist es, woran Er Selbst Seine Freude findet.

 

Aber das arme Menschenherz ist so wenig fähig, sich zu dieser Höhe zu erheben. Es ist nicht bereit, diesen himmlischen Weg zu betreten und fühlt sich durch seine Selbstsucht beengt und behindert, nach diesem göttlichen Prinzip der Gnade zu handeln. Es fühlt sich nicht heimisch in dieser himmlischen Atmosphäre und ist nicht geneigt, das Gefäß und der Kanal der Gnade zu sein, die in so herrlichem Glanz aus allen Wegen Gottes strahlt. Dies geht deutlich aus den Warnungen der fol­genden Verse hervor (Lies V. 7‑11). Die geheimen Quellen des selbst­süchtigen Herzens werden hier bloßgelegt und verurteilt. Nichts könnte die verborgenen Wurzeln des Bösen in der menschlichen Natur besser aufdecken als die Gnade. Der Mensch muß in den verborgensten Tiefen seines sittlichen Wesens erneuert werden, ehe er ein Gefäß der gött­lichen Liebe sein kann. Selbst solche, die durch die Gnade erneuert worden sind, haben ständig gegen die versteckten und häßlichen For­men der Selbstsucht zu wachen, in die unsere gefallene Natur sich klei­det. Nur die Gnade kann das Herz für die vielfältigen menschlichen Bedürfnisse offen halten. Wir müssen nahe bei der Quelle der gött­lichen Liebe bleiben, wenn wir Segenskanäle mitten in der Not und dem Elend sein wollen, die uns umgeben.

 

Der Herr gebe, daß wir alle, die wir Christen zu sein bekennen, im täg­lichen Leben ein Brief Christi sind, gekannt und gelesen von allen Men­schen! Dann würde wenigstens der Unglaube eines seiner triftigsten Gründe und Einwürfe gegen das Christentum beraubt werden. Denn nichts bestärkt ihn mehr, als das mit ihrem Bekenntnis im Widerspruch stehende Leben der Christen. Nicht, daß ein solcher Einwand stichhaltig

 

Wie liebevoll klingen die Worte: "Du sollst ihm deine Hand weit auf tun!" Sie atmen himmlische Luft aus. Ein offenes Herz und eine weit geöffnete Hand entsprechen Gottes Wesen. "Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb", weil Er Selbst einer ist. Er ist ein Gott, "der allen willig gibt und nichts vorwirft" (Jak. 1, 5). Er möchte uns gern das Vorrecht schenken, Seine Nachahmer zu sein. Eine wunderbare Gnade! Der bloße Gedanke daran erfüllt schon das Herz mit Bewunderung, Liebe und Anbetung. Wir sind nicht nur durch die Gnade errettet, sondern wir stehen auch in der Gnade, leben unter ihrer Herrschaft und atmen ihre Luft. Wir sind berufen, lebendige Zeugen der Gnade zu sein, und zwar nicht nur für unsere Brüder, sondern auch dem ganzen Menschenge­schlecht gegenüber. "Also nun, wie wir Gelegenheit haben, laßt uns das Gute wirken gegen alle, am meisten aber gegen die Hausgenossen des Glaubens!" (Gal. 6, 10).

 

Diese göttlichen Belehrungen sind wohl wertvoll, aber ihre Werte kön­nen nur dann wirklich von uns gefühlt werden, wenn wir sie praktisch verwirklichen. Das menschliche Elend umgibt uns in tausenderlei For­men. Überall finden wir gebrochene Herzen, gebeugte Seelen, unglück­liche Familien. Witwen und Waisen begegnen uns täglich auf unseren wegen. Wie verhalten wir uns ihnen gegenüber? Verhärten wir unsere Herzen und verschließen wir unsere Hände vor ihnen? Oder suchen wir nach jenem "Erlaß des HERRN zu handeln? Bedenken wir wohl, daß wir nicht berufen sind, für uns selbst zu leben ‑ das wäre eine traurige Verleugnung aller Charakterzüge und Grundsätze des Chri­stentums, zu dem wir uns bekennen ‑ sondern daß es unser hohes und heiliges Vorrecht, ja, unser ausdrücklicher Auftrag ist, das Licht des Himmels, dem wir angehören, nach allen Seiten hin leuchten zu lassen. Wo wir auch sein mögen, überall sollten wir denen, die mit uns in Kontakt kommen, ein Zeugnis von der Gnade Jesu in Werk und Wort sein. Und wo wir eine Not feststellen, da sollten wir unsere Teilnahme zu erkennen geben, und wäre es auch nur durch ein Wort des Trostes, wenn es nicht in unserer Macht steht, mehr zu tun wäre oder vor dem Richterstuhl Christi auch nur erwähnt werden würde, denn jeder wird nach dem Wort Gottes gerichtet werden, selbst wenn kein einziger Christ auf der Erde treu gewesen wäre. Trotzdem sind die Christen verantwortlich, ihr Licht leuchten zu lassen vor den Menschen, damit diese ihre guten Werke sehen und ihren Vater im Himmel preisen. Wir sind verpflichtet, in unserem täglichen Leben die himmlischen Prinzipien, wie sie das Wort Gottes entfaltet, zu offen­baren, um so jeden geringsten Einwand und jedes Argument der Un­gläubigen zu entkräften.

 

Wir kommen jetzt zu dem Gebot über den hebräischen Knecht. Wenn dein Bruder, ein Hebräer oder eine Hebräerin, sich dir verkauft, so soll er dir sechs Jahre dienen; und im siebenten sollst du ihn frei von dir entlassen. Und wenn du ihn frei von dir entlässest, so sollst du ihn nicht leer entlassen: du sollst ihm reichlich aufladen von deinem Klein­vieh und von deiner Tenne und von deiner Kelter; von dem, womit der HERR, dein Gott, dich gesegnet hat, sollst du ihm geben" (V. 12‑14).

 

Wie schön ist das! Gott wollte nicht, daß der Bruder leer ausgehen Sollte, denn Freiheit und Armut harmonieren nicht miteinander. Er sollte nicht nur frei ausgehen, sondern auch reichlich ausgestattet und völlig befriedigt werden im Hinblick auf seine Bedürfnisse. Das ist wirklich göttlich. Wir haben nicht nötig, zu fragen, in welcher Schule solch ausgezeichnete Lehren erteilt werden. Sie tragen das Gepräge des Himmels und verbreiten den Wohlgeruch des Paradieses Gottes. Hat nicht Gott genau so mit uns gehandelt? Er hat uns nicht nur Leben und Freiheit gegeben, sondern uns auch großzügig mit allem beschenkt, was wir für Zeit und Ewigkeit brauchen. Er hat uns die unermeßlichen Schatzkammern des Himmels geöffnet. Er hat den Sohn Seiner Liebe nicht nur für uns gegeben, um uns zu erretten, sondern Er hat Ihn uns auch als Gabe geschenkt, um uns zu erfreuen. Er hat uns "alles ge­schenkt in betreff des Lebens und der Gottseligkeit". Alles in betreff „des jetzigen und des zukünftigen Lebens" ist uns zugesichert durch die freigebige Hand unseres Vaters.

 

Wie rührend ist schon die Ausdrucksweise, in der Gott die Behandlung des hebräischen Knechtes vorschreibt! "Du sollst ihm reichlich auf­laden", nicht wenig oder ungern, sondern so wie es Gott entspricht. Er will daß wir Seine Nachahmer sind in einer Welt, die Seinen Sohn gekreuzigt hat. Er hat uns nicht nur diese erhabene Würde übertragen, sondern uns auch mit einem fürstlichen Vermögen versehen, um sie zeigen zu können. Er hat uns die unerschöpflichen Quellen des Him­mels zur Verfügung gestellt. "Denn alles ist unser" durch Seine unend­liche Gnade.

 

in Vers 15 wird dem Volk ein Motiv vorgestellt, das darauf abzielte, ihre Zuneigungen und Mitgefühle zu wecken. "Und du sollst gedenken, daß du ein Knecht gewesen bist im Lande Ägypten, und daß der HERR, dein Gott, dich erlöst hat; darum gebiete ich dir heute diese Sache". Die Erinnerung an die Gnade des HERRN, als Er sie aus Ägypten erlöste, sollte das bleibende und mächtige Motiv ihres Handelns mit dem armen Bruder bilden. Dieser Grundsatz allein wird standhalten. Wenn wir den Ursprung unserer Motive woanders als in Gott Selbst und in Seinem Handeln mit uns suchen, wird unser praktisches Leben bald scheitern. Nur wenn wir das lebendige Wissen um die wunderbare Gnade be­wahren, die Gott in der Erlösung in Christus Jesus uns geoffenbart hat, können wir in echtem, tätigen Wohlwollen sowohl gegen unsere Brüder, als auch gegen die, die draußen sind, beharren. Bloße freund­liche Gefühle, die in unseren Herzen aufwallen, oder die durch den Kummer, die Not und das Leiden anderer angeregt werden, verschwin­den bald wieder. Unversiegbare Quellen finden sich nur in dem leben­digen Gott.

 

In Vers 16 wird der Fall behandelt, wo ein Knecht es vorzieht, bei sei­nem Herrn zu bleiben. "Und es soll geschehen, wenn er zu dir spricht: Ich will nicht von dir weggehen ‑ weil er dich und dein Haus liebt, weil ihm wohl bei dir ist ‑ so sollst du eine Pfrieme nehmen und sie durch sein Ohr in die Tür stechen, und er wird dein Knecht sein für immer".

 

Diese Stelle zeigt im Vergleich zu 2. Mose 21, 1‑6, einen bemerkens­werten Unterschied. Während dort der bildliche Charakter vorherrscht, tritt hier mehr der sittliche in den Vordergrund. Deshalb erwähnt der Schreiber hier nichts von der Frau und den Kindern des Knechtes, da dies seinem Zweck nicht entsprechen würde, während ihre Erwähnung im 2. Buch Mose die Schönheit und Vollkommenheit des Bildes erhöht. Dies ist ein weiterer treffender Beweis dafür, daß das fünfte Buch Mose mehr ist als eine bloße Wiederholung der vorhergehenden Bücher.

 

Wir haben also hier mehr die sittliche Seite dieser Anordnung. Der Knecht liebt seinen Herrn und fühlt sich glücklich bei ihm. Er zieht deshalb eine lebenslängliche Knechtschaft einer Freiheit vor, die ihn von seinem geliebten Herrn trennen würde, und will lieber für immer die ,Zeichen der Knechtschaft tragen, als die mit der Freiheit verbundenen Segnungen fern von seinem Herrn genießen. Solch ein gutes Verhältnis zwischen Herr und Knecht wirft auf beide ein gutes Licht. Die Herren unter uns sollten sich wohl fragen, inwieweit sie das Wohl und das Glück ihrer Untergebenen im Auge haben. Sie sollten nie vergessen, daß sie im Blick auf sie an weit mehr zu denken haben, als an die Menge der Arbeit, die sie ihnen leisten können. Schon nach dem einfachen Prinzip: "Leben und leben lassen" sind sie verpflichtet, ihre Angestellten glücklich und zufrieden zu machen und ihnen das Bewußt­sein zu vermitteln, daß nicht nur ihre Dienstleistungen, sondern auch die Liebe ihrer Herzen gesucht werden.

 

Aber ein christlicher Herr sollte nach einem höheren Prinzip handeln. Er hat das Vorrecht, ein Nachahmer Christi, seines Herrn, zu sein. Die Erinnerung daran wird sein ganzes Verhalten gegen seine Unter­gebenen regeln und ihn anspornen, dem göttlichen Vorbild gemäß in allen praktischen Einzelheiten des täglichen Lebens zu handeln.

 

Dasselbe gilt auch für den christlichen Knecht hinsichtlich seiner Stel­lung und seines Verhaltens. Wie sein Herr, so hat auch er das große Vorbild zu betrachten, das ihm in dem Weg und Dienst des einzig vollkommenen Dieners, der je auf der Erde gelebt hat, vorgestellt ist. Er sollte in Seinen Fußstapfen wandeln, Seinen Geist offenbaren und Sein Wort erforschen. Es ist wichtig, daß der Heilige Geist der Unter­weisung der im Dienstverhältnis Stehenden mehr Aufmerksamkeit gewidmet hat, als allen übrigen Beziehungen zusammen. Man kann dies mit einem Blick in den Briefen an die Epheser, die Kolosser und an Titus feststellen. Der christliche Knecht kann die Lehre seines Heiland-­Gottes zieren, indem er nichts veruntreut und nicht widerspricht. Er kann dem Herrn Christus in den einfachsten Verrichtungen des häuslichen Lebens ebenso wirksam dienen wie der, der vor einem großen Publi­kum die frohe Botschaft des Heils verkündigt.

 

Wenn beide, Herr und Knecht, durch himmlische Prinzipien beherrscht werden und versuchen, ihrem gemeinschaftlichen Herrn zu dienen und Ihn zu verherrlichen, dann wird es ein glückliches Zusammenleben beider zur Folge haben.

 

im Vers ‑18 finden wir eine Ermahnung, die sehr zart eine im Men­schenherzen verborgene böse Wurzel aufdeckt. "Es soll nicht schwer sein in deinen Augen, wenn du ihn frei von dir entlässest; denn das Doppelte des Lohnes eines Tagelöhners hat er dir sechs Jahre lang gedient; und der HERR, dein Gott, wird dich segnen in allem, was du tust".

 

Es ist rührend, daß Gott Sich herabläßt, um für die Ansprüche eines armen Knechtes einzutreten und sie seinem Herrn ans Herz zu legen, als handle es sich um ihn Selbst. Er läßt nichts ungesagt, was der Sache des Knechtes dienen könnte. Er erinnert den Herrn an den Wert einer sechsjährigen Dienstzeit und sucht ihn durch die Verheißung größerer Segnungen als Lohn für sein edelmütiges Handeln zu ermutigen. Gott wollte nicht nur, daß die edle Tat geschähe, sondern daß sie auch in einer Weise vollzogen würde, die das Herz des Knechtes erfreuen mußte. Er denkt nicht nur an die Handlung selbst, sondern auch an die Art, wie sie auszuführen ist. Wir mögen uns manchmal aus einem ge­wissen Pflichtgefühl heraus zu einer edlen Tat aufraffen; aber weil wir sie mit schwerem Herzen tun, berauben wir sie ihres ganzen Wertes. Es ist das edelmütige Herz, das eine edelmütige Tat ziert. Wir sollten eine Freundlichkeit immer so erweisen, daß der Empfänger fühlt, wie sehr unser eigenes Herz dadurch erfreut wird.

 

Der letzte Abschnitt dieses interessanten Kapitels enthält in den Ver­sen 19‑23 die Verfügung, nur etwas Vollkommenes zu opfern: das Männliche und Untadelige vom Erstgeborenen, das passende Bild des fleckenlosen, am Kreuz geopferten Lammes Gottes, das die unerschüt­terliche Grundlage unseres Friedens und die Speise unserer Seelen in der Gegenwart Gottes geworden ist. Die Versammlung ist um den gött­lichen Mittelpunkt geschart und nährt sich in der Gegenwart Gottes von dem, was ein bekanntes Bild von Christus ist, von Ihm, der zu gleicher Zeit unser Opfer, unser Mittelpunkt und die Quelle aller unserer Freuden ist.

 

Kapitel 16

 

DIE DREI HAUPTFESTE DES JÜDISCHEN JAHRES

 

Wir haben jetzt einen der inhaltsreichsten und umfassendsten Ab­schnitte des 5. Buches Mose erreicht, der die drei Hauptfeste des jü­dischen Jahres beschreibt: das Passahfest, das Pfingstfest und das Laub­hüttenfest und damit die Erlösung, das Herniederkommen des Heiligen Geistes und die Herrlichkeit. Die Feste werden hier kürzer zu­sammengefaßt als in 3. Mose 23, wo wir, wenn wir den Sabbath nicht mitzählen, sieben Feste finden, nämlich das Passah, das Fest der unge­säuerten Brote, das Fest der Erstlingsgarbe, das Pfingstfest, das Fest des Posaunenhalls, den Versöhnungstag und das Fest der Laubhütten.

 

Das ist die Ordnung der Feste in dem Buch, das wir als "den Führer des Priesters" bezeichnen können. Im fünften Buch Mose dagegen, das mehr das Buch des Volkes ist, finden wir weniger von den zeremoniellen Einzelheiten, und der Gesetzgeber beschränkt sich mehr auf die großen sittlichen und nationalen Marksteine, die dem Volk in der einfachsten Weise die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ins Gedächtnis riefen.

 

Da wir in unseren "Gedanken zum zweiten Buch Mose" die leitenden Prinzipien des grundlegenden Passahfestes, mit dem sich die ersten acht Verse des vorliegenden Kapitels beschäftigen, ausführlich behandelt haben, begnügen wir uns hier mit einem Hinweis darauf und zeigen im Übrigen einige besondere, dem 5. Buch Mose eigentümliche Züge auf. Zunächst wird besonders nachdrücklich der Ort, wo das Fest gefeiert werden mußte, bezeichnet. Das ist äußerst interessant und bedeutsam. Nach menschlicher Meinung mochte es nebensächlich erscheinen, wo das Fest gefeiert wurde. Aber Gottes Gedanken waren anders. Mensch­liche Meinungen gelten nichts, wenn es sich um die Gedanken und die Autorität Gottes handelt. Dreimal nacheinander heißt es in unserem Abschnitt: "an dem Orte, den der HERR, dein Gott, erwählen wird".

 

Das ist sicher keine einfache Wiederholung. Der Nachdruck war wegen unserer Unwissenheit, Gleichgültigkeit und unseres Eigenwillens durch­aus notwendig. Gott ist in Seiner Güte bemüht, dem Herzen, Gewis­sen und Verständnis Seines Volkes den Ort einzuprägen, wo das be­deutungsvolle Fest des Passah gefeiert werden sollte. Und wir machen nochmals darauf aufmerksam, daß nur im fünften Buch Mose auf die­sem Ort der Feier bestanden wird, während wir im zweiten keine Vor­schriften darüber finden, weil es dort in Ägypten gefeiert wurde. Auch im vierten Buch wird nichts über den Ort gesagt, weil es sich dort um eine Feier in der Wüste handelt. Aber im fünften wird er mit aller Bestimmtheit und Autorität festgestellt, weil hier die Unterweisungen für das Land gegeben werden. Wieder ein schlagender Beweis dafür, daß dieses Buch seinen eigenen besonderen Platz und Zweck erfüllt.

 

Soviel über den Ort. Werfen wir jetzt noch einen Blick auf die Art und Weise der Feier. Auch diese ist, wie zu erwarten, kennzeichnend für unser Buch. Der hervorragendste Charakterzug ist hier das "unge­säuerte Brot", und zwar wird es bemerkenswerterweise das Brot des Elends" genannt. Und warum? Bekanntlich ist das ungesäuerte Brot ein Bild der inneren und äußeren Heiligkeit, die so wesentlich für den Genuß einer wahren Gemeinschaft mit Gott ist. Wir sind nicht errettet durch persönliche Heiligkeit, wohl aber für sie. Sie bildet nicht die Grundlage unserer Errettung, aber ein wesentliches Element unserer Gemeinschaft. Eine bewußte Zulassung von Sauerteig bedeutet das Ende jeder Gemeinschaft und Anbetung.

 

Wir dürfen dieses wichtige Prinzip nie aus dem Auge verlieren, so lange wir auf der Erde leben und unserer ewigen Ruhe in den Himmeln ent­gegengehen. Von Gemeinschaft und Anbetung reden, während man in einer erkannten Sünde lebt, ist nur ein trauriger Beweis dafür, daß man weder das eine noch das andere kennt. Um wirklich uns der Gemeinschaft mit Gott oder mit den Heiligen zu erfreuen und um Gott in Geist und Wahrheit anbeten zu können, müssen wir ein Leben persönlicher Heiligkeit und wirklicher Trennung von allem Bösen führen. Wollten wir unseren Platz in der Versammlung Gottes einnehmen und an der Gemeinschaft und Anbetung der Gläubigen teilnehmen, während wir in geheimen Sünden lebten oder das Böse bei anderen stillschweigend zu­ließen, so würden wir dadurch die Versammlung verunreinigen, den Heiligen Geist betrüben gegen Christus sündigen und uns selbst unter das Gericht Gottes bringen, der Sein Haus jetzt richtet und Seine Kin­der züchtigt, damit sie nicht mit der Welt verurteilt werden.

 

Alles das ist ernst und verlangt eingehende Beachtung von allen, die wirklich mit Gott wandeln und Ihm mit Ehrfurcht und Frömmigkeit dienen wollen. Ein Verständnis über die Belehrungen in diesen Vorbil­dern zu haben und ihre großen moralischen Lektionen ins Herz aufzu­nehmen und im Leben zu verwirklichen, sind zwei verschiedene Dinge. Möchten alle, die bekennen, mit dem Blut des Lammes besprengt zu sein, das Fest der ungesäuerten Brote zu halten suchen! (l. Kor. 5, 6‑8).

 

Aber was haben wir unter dem "Brot des Elends" zu verstehen? Sollten wir in Verbindung mit einem Fest, das zur Erinnerung an die Befreiung aus der Knechtschaft und dem Elend Ägyptens gefeiert wurde, nicht eher Freude und Lobgesänge erwarten? Ohne Zweifel ist die Verwirk­lichung unserer Befreiung von unserem früheren Zustand und seinen Folgen mit wirklicher Freude, mit Dank und Anbetung verbunden. Aber offenbar waren das nicht die vorherrschenden Charakterzüge des Passahfestes, ja, diese Dinge werden nicht einmal genannt. Wir hören von dem "Brot des Elends", aber kein Wort von Freude oder von Lob ­und Triumphgesängen. In dieser Tatsache liegt eine wichtige Belehrung für uns. Sie deutet auf die tiefen Herzensübungen hin, die der Heilige Geist durch die Erinnerung in uns bewirkt, daß unser Herr und Heiland für uns gelitten hat, um uns von unseren Sünden und dem Gericht über sie zu befreien. Auch in 2. Mose 12 sind diese Übungen vorbildlich durch die "bitteren Kräuter" dargestellt, und wieder und wieder werden sie uns in der Geschichte der Gläubigen des Alten Bundes gezeigt, wenn diese durch die mächtige Wirkung des Geistes und des Wortes Gottes dahin geführt wurden, in der Gegenwart Gottes "ihre Seelen zu kasteien".

 

Diese heiligen Übungen waren also nicht etwa eine Folge von Gesetz­lichkeit oder Unglauben. Bei weitem nicht! Drückte ein Israelit dadurch, daß er von dem Brot des Elends und dem gebratenen Fleisch des Passahlammes aß, irgendwelche Zweifel oder Befürchtungen über seine Befreiung aus Ägypten aus? Unmöglich! Er war ja bereits im Lande der Verheißung und war mit dem Volk in der Gegenwart Gottes versam­melt. Wie hätte er daher an seiner Befreiung aus Ägypten e In können?

 

Dennoch war das "Brot des Elends" ein wesentliches Kennzeichen des Passahfestes, und die Israeliten mußten es essen zur Erinnerung an ihren Auszug aus Ägypten. "Denn in Eile bist du aus dem Lande Ägyp­ten herausgezogen ‑ auf daß du gedenkest der Tage deines Auszugs aus dem Lande Ägypten alle Tage deines Lebens . Dieser Auszug durfte auch in dem verheißenen Land nie vergessen werden. Durch alle Geschlechter hindurch sollten sie ihn feiern, und zwar durch ein Fest, das die heiligen Übungen beinhaltete, die stets eine wahre christliche Frömmigkeit kennzeichnen.

 

Laßt uns die in dem "Brot des Elends" dargestellte Wahrheit unsere ganze Aufmerksamkeit schenken! Wir halten das besonders nötig für die, die sich rühmen, mit der sogenannten Lehre von der freien Gnade gut bekannt und vertraut zu sein. Besonders für junge Christen besteht die Gefahr, daß sie, um einer gesetzlichen Haltung aus dein Wege zu gehen, in das entgegengesetzte Extrem verfallen und leichtfertig wer­den. Alte, erfahrene Christen sind dieser gefährlichen Schlinge Satans nicht so sehr ausgesetzt. Aber die jungen unter uns kann man nicht genug davor warnen. Sie hören vielleicht sehr viel von der Errettung durch Gnade, von der Rechtfertigung aus Glauben, der Befreiung vom Gesetz, und von all den besonderen Vorrechten der christlichen Stel­lung. Es erübrigt sich, zu sagen, daß dies alles von größter Wichtigkeit ist. Sicher hört niemand zu viel darüber, und es wäre zu wünschen, daß noch viel mehr darüber gesprochen, geschrieben und gepredigt würde, weil viele Gläubige wegen ihrer Unwissenheit über diese Grund­wahrheiten ihr Leben im Dunkeln und in einer knechtischen Stellung zubringen. Aber leider gibt es doch viele, die, nach ihrem ganzen Lebenswandel und Verhalten zu urteilen, die Grundsätze der Gnade nur mit ihrem Verstand erfaßt haben, aber deren heiligende Kraft für das Herz und das praktische Leben nur wenig zu kennen scheinen. In Israel wurde es nicht geduldet, und es war auch nicht nach den Gedanken Gottes, das Passah ohne die ungesäuerten Brote, das "Brot des Elends", diesen wesentlichen Bestandteil des Festes, zu feiern. Und sicher kön­nen auch wir das Fest, das wir als Christen feiern dürfen, nicht nach den Gedanken Gottes halten ohne einen Seelenzustand, der in den bitteren Kräutern oder in dem Brot des Elends vorgestellt ist, sowie ohne die Verwirklichung persönlicher Heiligkeit. Es herrscht ein großer N4angel unter uns bezüglich dieser geistlichen Gefühle und Zuneigun­gen, dieser tiefen Übung der Seele, die der Heilige Geist in uns wek­ken möchte, indem Er unsere Herzen auf die Leiden Christi hinweist, d. h., was es Ihn gekostet hat, unsere Sünden zu tilgen, was Er für uns erduldet hat, als die Wogen und Wellen des gerechten Zornes Gottes wegen unserer Sünden über Ihm zusammenschlugen. Ja, uns fehlt die tiefe Zerknirschung des Herzens, die aus der Beschäftigung mit den Lei­den und dem Tod unseres teuren Heilandes hervorgeht. Es ist eine Sache, das Gewissen mit dem Blute Christi besprengt zu haben, und eine andere, den Tod Christi in geistlicher Weise dem Herzen nahe zu bringen und Sein Kreuz in praktischer Weise auf unseren ganzen Wandel und Charakter anzuwenden.

 

Woher kommt es, daß wir so leicht in Gedanken, Worten und Werken sündigen? Woher kommt es, daß sich unter uns so viel Leichtfertigkeit, ungebrochenes Wesen und fleischliche Freiheit, so viel bloßer Schein und Oberflächlichkeit finden? Kommt es nicht daher, daß der in dem "Brot des Elends" vorgebildete Bestandteil in unserer Festfeier fehlt? Unserem Christentum fehlt die Tiefe und der wahre Ernst. Es gibt bei uns zu viel oberflächliches Reden über die tiefen Geheimnisse des christlichen Glaubens, zu viel Kopferkenntnis ohne innere Kraft.

 

Wir sollten uns sicher vor Gesetzlichkeit hüten, aber vielmehr noch vor Leichtfertigkeit. Das erste ist schon ein Übel, aber das zweite noch weit mehr. Gnade ist das göttliche Heilmittel für das erste, Wahrheit das­jenige für das zweite. Leider ist es nicht zu leugnen, daß sich heute viel Leichtfertigkeit unter den Christen findet. Es ist, um in der Sprache unseres Bildes zu reden, eine große Neigung vorhanden, das Passah von dem Fest der ungesäuerten Brote zu trennen, zu ruhen in dem Wis­sen um eine vollbrachte Erlösung, während man das gebratene Lamm, das Brot der Heiligkeit und das Brot des Elends vergißt. Gott selbst hat beides unzertrennlich miteinander verbunden, und deshalb kann nie­mand wirklich diese kostbare Wahrheit genießen, daß "unser Passah, Christus, geschlachtet ist", wenn er nicht auch "Festfeier hält mit unge­säuertem Brot der Lauterkeit und Wahrheit". Wenn der Heilige Geist etwas von dem Wert des Todes unseres Herrn Jesus zu erkennen und zu genießen gibt, leitet Er uns zugleich an, über das Geheimnis Seiner Leiden und über das nachzudenken, was Er gelitten hat, um uns von den ewigen und schrecklichen Folgen der Sünde zu befreien, von der wir uns oft so leicht umstricken lassen. Möge der Geist Gottes uns durch Seine mächtige Wirkung mehr und mehr in die wirkliche Bedeutung des gebratenen Lammes, der ungesäuerten Brote und des Brotes des Elends einführen!

 

Dem Passah folgt das Fest der Wochen (V. 9‑12), das schöne und bekannte Bild von dem Tag der Pfingsten in Apg. 2. Während das Passah den Tod Christi darstellt, ist die Erstlingsgarbe das treffende Vorbild des auferstandenen Christus. In dem Fest der Wochen sehen wir ein Bild der Herniederkunft des Heiligen Geistes fünfzig Tage nach der Auferstehung.

 

Wir sprechen hier natürlich nicht davon, inwieweit Israel die Bedeutung dieser Feste verstand, sondern betrachten sie in ihrer Bedeutung für uns nach den Gedanken Gottes. Wir können alle diese vorbildlichen An­ordnungen im Licht des Neuen Testaments betrachten, und wenn wir das tun, werden wir mit Bewunderung und Freude erfüllt werden bei der Entdeckung ihrer göttlichen Vollkommenheit, Schönheit und Ord­nung. Wir sehen aber auch (und das ist von unermeßlichem Wert), wie die Schriften des Neuen und Alten Testaments in engster Verbindung miteinander stehen, wie sie eine harmonische Einheit bilden und wie ein Geist das Ganze vom Anfang bis zum Ende durchweht. Diese Ent­deckungen werden uns in unserer Oberzeugung von der göttlichen Ein­gebung der Heiligen Schrift befestigen und uns gegen die Angriffe der Ungläubigen wappnen. Wir werden gleichsam auf den Gipfel eines Ber­ges geführt, wo uns die Herrlichkeiten des göttlichen Buches in ihrem vollen himmlischen Glanz umstrahlen und von wo aus wir auf die Wolken und düsteren Nebel der ungläubigen Meinungen und Lehren herabblicken können, die zu weit von dem erhabenen Standpunkt ent­fernt sind, auf den uns die Gnade gestellt hat, als daß sie uns berüh­ren könnten.

 

In unserem Abschnitt fällt uns auf den ersten Blick der Unterschied zwischen dem Fest der Wochen und dem Pfingstfest und dem Fest der ungesäuerten Brote auf. Zunächst lesen wir von einer "freiwilligen Gabe" und finden darin ein Bild von der Kirche, die durch den Heiligen Geist gebildet und Gott dargebracht wird als eine gewisse Erstlings­frucht seiner Geschöpfe" (Jak. 1, 18).

 

Da wir aber auch diesen Gegenstand schon in unseren "Gedanken zum 3. Buch Mose" behandelt haben, beschränken wir uns hier nur auf das, was im fünften Buch charakteristisch ist. Das Volk sollte eine freiwillige Gabe darbringen, jenachdem der HERR, sein Gott, es gesegnet hatte. Davon finden wir nichts bei dem Passahfest, weil es Christus als Den vorstellt, der sich selbst als Opfer für uns darbringt. Wir sind dort nicht die Opfernden, sondern erinnern uns an unsere Befreiung von der Sünde und der Macht Satans. Wir denken an das, was unsere Befreiung den Herrn gekostet hat, und beschäftigen uns mit der Tiefe Seiner Lei­den, wie sie in dem gebratenen Lamm vorgebildet werden. Das Bewußt­sein, daß Er wegen unserer Ungerechtigkeit zerschlagen wurde, erfüllt uns mit Schmerz und Betrübnis, und diese Betrübnis ist nicht nur eine vorübergehende Bewegung, sondern ein bleibender Zustand des Chri­sten im Blick auf das Kreuz und die Leiden unseres Herrn Jesus Christus.

 

Im Pfingstfest hingegen sehen wir die Macht des Heiligen Geistes mit den verschiedenen Wirkungen Seiner Gegenwart in und unter uns. Er befähigt uns, unsere Körper und alles, was wir haben, als eine frei­willige Gabe Gott darzubringen, jenachdem Er uns gesegnet hat. Daß dies nur durch die Macht des Heiligen Geistes geschehen kann, braucht wohl nicht gesagt werden. Er befähigt uns, auf die Ansprüche einzu­gehen, die Gott an uns hat ‑ diese Ansprüche richten sich nach dem Maß der uns zuteil gewordenen göttlichen Segnungen ‑ und läßt uns verstehen, daß alles, was wir sind und haben, Gott gehört. Er schenkt auch die Fähigkeit, sich als eine "freiwillige Gabe", freudig nach Geist, Seele und Leib Gott zu übergeben, ohne eine Spur von Knechtschaft, denn "wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit".

 

Wir finden hier den Geist und die Kennzeichen des ganzen christlichen Lebens und Dienstes. Ein gesetzlicher Christ kann nichts von der Kraft und Schönheit dieser Dinge verstehen, denn ein gesetzlicher Zustand ist mit der Leitung des Heiligen Geistes unvereinbar. Der Apostel ruft daher den verführten Galatern zu: "Dies allein will ich von euch lernen. Habt ihr den Geist aus Gesetzeswerken empfangen, oder aus der Kunde des Glaubens? ... Der euch nun den Geist darreicht und Wunderwerke unter euch wirkt, ist es aus Gesetzeswerken, oder aus der Kunde des Glaubens?" (Kap. 3, 2. 5). Die wertvolle Gabe des Heiligen Geistes folgte dem Tode, der Auferstehung, der Himmelfahrt und Verherr­lichung Christi und ist auf diese Dinge gegründet. Sie hat daher nichts mit "Gesetzeswerken" zu tun. Die Gegenwart des Heiligen Geistes auf der Erde und Sein Wohnen in allen wirklichen Gläubigen ist eine cha­rakteristische Wahrheit des Christentums, die weder in alttestament­lichen Zeiten, noch den Jüngern zur Zeit des Herrn bekannt war. Er Selbst sagte zu ihnen kurz vor Seinem Weggang: "Doch ich sage euch die Wahrheit: Es ist euch nützlich, daß ich weggehe; denn wenn ich nicht weggehe, wird der Sachwalter nicht zu euch kommen; wenn ich aber hingehe, werde ich ihn zu euch senden" (Joh. 16, 7). Das beweist deutlich, daß sogar diejenigen, die das Vorrecht des persönlichen Um­gangs mit dem Herrn auf der Erde genossen hatten, durch Seinen Hin­gang und durch das Kommen des Sachwalters eine noch höhere Stellung erlangen sollten. So lesen wir ferner: "Wenn ihr mich liebet, so haltet meine Gebote; und ich werde den Vater bitten, und er wird euch einen anderen Sachwalter geben, daß er bei euch sei in Ewigkeit, den Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, weil sie ihn nicht sieht, noch ihn kennt. Ihr aber kennet ihn, denn er bleibt bei euch und wird in euch sein" (Joh. 14, 15‑17).

 

Bezüglich des Festes der Wochen müssen wir uns auf einige besonders interessante Gesichtspunkte beschränken. Wie wir gesehen haben, ist der Heilige Geist die lebendige Quelle und Macht eines Lebens persön­licher Hingabe an Gott, vorgebildet in der "freiwilligen Gabe". Das Opfer Christi ist die Grundlage und die Gegenwart des Heiligen Gei­stes die Kraft dieser Hingabe des Christen nach Geist, Seele und Leib. "Ich ermahne euch nun, Brüder, durch die Erbarmungen Gottes, eure Leiber darzustellen als ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Schlachtopfer, welches euer vernünftiger Dienst ist" (Röm. 12, ‑1).

 

Dann finden wir in dem 11. Vers einen anderen sehr wichtigen Punkt: "Und du sollst dich freuen vor dem HERRN, deinem Gott". Einem solchen Ausdruck begegnen wir weder bei dem Passahfest noch bei ein Fest der ungesäuerten Brote. Er würde mit keiner der beiden Festlich­keiten in Übereinstimmung stehen. Sicher bildet das Passah die Grund­lage aller Freude, die wir je genießen können, aber wir werden dabei stets an den Tod Christi erinnert, an Seine Leiden und Schmerzen, an alles, was Er durchgemacht hat, als die Wogen und Wellen des ge­rechten Zornes Gottes über Seine Seele gingen. Und unsere Herzen sollten sich besonders mit diesen tiefen Geheimnissen Seiner Leiden beschäftigen, wenn wir um Seinen Tisch versammelt sind und Seinen Tod verkündigen.

 

Es muß jedem geistlichen und nachdenklichen Christen einleuchten, daß die zu einer solch heiligen und feierlichen Anordnung passenden Gefühle keinen fröhlichen Charakter haben können. Sicher können wir uns darüber freuen, daß die Leiden unseres geliebten Herrn, die schrecklichen Stunden der Finsternis, vorüber sind und nie wieder zu­rückkehren werden. Aber am Tisch des Herrn erinnern wir uns nicht in erster Linie daran, sondern vielmehr an das, was Er gefühlt hat, als Er für uns diese Stunden durchlebte. Wir "verkündigen den Tod des Herrn", und die Betrachtung dieses Todes kann uns unter der Wirkung des Heiligen Geistes nur ernst stimmen, so gesegnet auch seine Folgen für uns sein mögen. Die Worte des Herrn lauten: "Dies tut zu meinem Gedächtnis". Unsere Erinnerung gilt dem Herrn, der für uns litt und starb. Was wir verkündigen, ist Sein Tod. Und wenn dies in der Kraft des Heiligen Geistes geschieht, so wird heiliger Ernst und eine demütige Stimmung die Folge sein.

 

Im Pfingstfest hingegen ist die Freude das vorherrschende Kennzeichen. Hier ist keine Rede von "bitteren Kräutern" oder dem "Brot des Elends", weil es das Bild der Sendung des Heiligen Geistes ist, der, ausgegangen vom Vater, von dem verherrlichten Haupte im Himmel gesandt wurde, um die Herzen der Gläubigen mit Dank, Anbetung und triumphierender Freude zu erfüllen und sie einzuführen in die völlige Gemeinschaft mit ihrem verherrlichten Haupt in Seinem Tri­umph über die Sünde, Tod, Hölle, Satan und die ganze Macht der Finsternis. Die Gegenwart des Heiligen Geistes ist mit Freiheit, Licht, Macht und Freude verbunden. "Die Jünger aber wurden mit Freude und Heiligem Geiste erfüllt" (Apg. 13, 52). Zweifel, Befürchtungen und Gesetzlichkeit können vor den mächtigen Wirkungen Seiner Gegenwart nicht bestehen.

 

Doch müssen wir zwischen Seiner Wirkung und Seiner Innewohnung unterscheiden. Er macht lebendig, und Er versiegelt. Der Beginn einer Überführung im Herzen eines Sünders ist die Frucht des Wirkens des Heiligen Geistes, und diese leitet auch weiter zur wahren Buße. Aber das bewirkt keine Freude in dem Herzen des Sünders, sondern vielmehr tiefe Betrübnis, und das ist gut und nötig. Wenn wir dann durch die Gnade an einen auferstandenen und verherrlichten Heiland glauben, dann kommt der Heilige Geist als das Siegel unserer Annahme und das Unterpfand unseres Erbes und macht Wohnung in uns. Dies erfüllt uns mit "unaussprechlicher und verherrlichter" Freude, und so werden wir die Segenskanäle für andere. "Wer an mich glaubt, gleichwie die Schrift gesagt hat, aus dessen Leibe werden Ströme lebendigen Wassers fließen. Dies aber sagte er von dem Geiste, welchen die an ihn Glau­benden empfangen sollten; denn noch war der Geist nicht da, weil Jesus noch nicht verherrlicht worden war" (Joh. 7, 38. 39). Der Geist ist die Quelle der Kraft und Freude in dem Herzen des Gläubigen. Er macht uns passend, erfüllt und gebraucht uns als Gefäße im Dienst für arme, dürstende und bekümmerte Seelen. Er verbindet uns mit Christus, dem verherrlichten Menschen, erhält uns in lebendiger Gemeinschaft mit Ihm und befähigt uns ‑ wenn auch nur schwach ‑, der Ausdruck dessen zu sein, was Er ist. Das ganze Verhalten des Christen sollte den Wohl­geruch Christi ausströmen. Wer bekennt, ein Christ zu sein, und dabei in Selbstsucht, Geiz, Habsucht, weltlicher Gesinnung, Neid und Hoch­mut lebt, der straft sein Bekenntnis Lügen, verunehrt den heiligen Namen Christi und häuft Schmach auf das Christentum, das in dem Fest der Wochen so schön vorgebildet ist, jenem Fest, das vornehmlich den Charakter einer Freude trägt, die ihre Quelle in der Güte Gottes hat und deren gesegneter Einfluß sich weit und breit ausdehnt bis zu jedem Dürftigen hin. "Und du sollst dich vor dem HERRN, deinem Gott, freuen, du und dein Sohn und deine Tochter, und dein Knecht und deine Magd, und der Levit, der in deinen Toren ist, und der Fremd­ling und die Waise und die Witwe, die in deiner Mitte sind."

 

Wie schön ist das alles! Möchte das Gegenbild sich völlig unter uns offenbaren! Möchte der Geist Gottes in unseren Herzen ein aufrichtiges Verlangen wecken, dem Bild Christi in allen Dingen gleichförmig zu sein! Möchte Er das Wort Gottes, das wir in unseren Händen und Häu­sern haben, mit Seiner göttlichen Kraft ausstatten, damit es zu unseren Herzen und Gewissen redet und uns dahin leitet, uns selbst und unsere Wege in Seinem Licht zu richten und als treue Zeugen Jesu Seine An­kunft zu erwarten!

 

Wir kommen jetzt zu dem Fest der Laubhütten, das den Kreis der Wahrheiten schließt, die uns in unserem Kapitel vorgestellt werden.

 

"Das Fest der Laubhütten sollst du dir sieben Tage feiern, wenn du den Ertrag von deiner Tenne und von deiner Kelter einsammelst; und du sollst dich an deinem Feste freuen, du und dein Sohn und deine Tochter, und dein Knecht und deine Magd, und der Levit und der Fremdling und die Waise und die Witwe, die in deinen Toren sind. Sieben Tage sollst du dem HERRN, deinem Gott, das Fest feiern an dem Orte, den der HERR erwählen wird; denn der HERR, dein Gott, wird dich segnen in all deinem Ertrag und in allem Werke deiner Hände, und du sollst nur fröhlich sein. ‑ Dreimal im Jahr sollen alle deine Männlichen vor dem HERRN, deinem Gott, erscheinen, an dem Orte, den er erwählen wird: am Fest der ungesäuerten Brote und am Feste der Wochen und am Feste der Laubhütten; und man soll nicht leer vor dem HERRN erscheinen: ein jeder nach dem, was seine Hand geben kann, nach dem Segen des HERRN, deines Gottes, den er dir gegeben hat“ (V. 13‑17).

 

Das ist ein treffendes Vorbild von der Zukunft Israels. Das Gegenbild des Laubhüttenfestes ist noch nicht geoffenbart. Während das Passah­fest und das Pfingstfest ihre Erfüllung in dem Tod Christi und dem Herniederkommen des Heiligen Geistes gefunden haben, deutet das dritte große Fest hin auf die "Zeiten der Wiederherstellung aller Dinge, wovon Gott durch den Mund seiner heiligen Propheten von jeher ge­redet hat" (Apg. 3, 21).

 

Die Zeit der Feier dieses Festes verdient Beachtung. Es fand statt nach der Ernte und der Weinlese. Wenn wir die bildliche Bedeutung dieser beiden Dinge untersuchen, werden wir bald erkennen, daß zwischen beiden ein bemerkenswerter Unterschied besteht, da das erste von Gnade, das zweite von Gericht redet. Am Ende der Zeiten wird Gott den Weizen in Seine Scheunen sammeln, und nach diesem wird "die große Kelter des Grimmes Gottes" getreten werden. Das 14. Kapitel der Offenbarung bezieht sich hierauf mit folgenden Worten: "Und ich sah: und siehe, eine weiße Wolke, und auf der Wolke saß einer gleich dem Sohne des Menschen, welcher auf seinem Haupte eine goldene Krone und in seiner Hand eine scharfe Sichel hatte. Und ein anderer Engel kam aus dem Tempel hervor und rief dem, der auf der Wolke saß, mit lauter Stimme zu: Schicke deine Sichel und ernte; denn die Stunde des Erntens ist gekommen, denn die Ernte der Erde ist überreif geworden. Und der auf der Wolke saß, legte seine Sichel an die Erde, und die Erde wurde geerntet" (V. 14‑16).

 

Das ist die Ernte. Dann lesen wir weiter: "Und ein anderer Engel kam aus dem Tempel hervor, der in dem Himmel ist, und auch er hatte eine scharfe Sichel. Und ein anderer Engel, der Gewalt über das Feuer hatte, kam aus dem Altar hervor, und er rief dem, der die scharfe Sichel hatte, mit lautem Geschrei zu und sprach: Schicke deine scharfe Sichel und lies die Trauben des Weinstocks der Erde, denn seine Beeren sind reif geworden. Und der Engel legte seine Sichel an die Erde und las die Trauben des Weinstocks der Erde und warf sie in die große Kelter des Grimmes Gottes. Und die Kelter wurde außerhalb der Stadt getreten, und das Blut ging aus der Kelter hervor bis an die Gebisse der Pferde, tausend sechshundert Stadien weit" ‑ eine Entfernung, die der ganzen Länge von Palästina entspricht.

 

Die Offenbarung zeigt uns in diesen Bildern die Ereignisse, welche der Feier des Laubhüttenfestes vorausgehen werden. Christus wird Seinen Weizen auf Seinen Speicher sammeln und danach die Christenheit heimsuchen mit einem vernichtenden Gericht. Die ganze Bibel bezeugt uns von Anfang bis Ende die unwiderlegbare Tatsache, daß die Welt nicht durch das Evangelium bekehrt werden und sie nicht einer allmäh­lichen Besserung entgegengeht, sondern sich im Gegenteil mehr und mehr verschlimmert. Das Treten "der Kelter des Weines des Grimmes des Zornes Gottes, des Allmächtigen", muß der herrlichen Zeit des Laubhüttenfestes vorausgehen.

 

Aber trotz der offenkundigen göttlichen Beweise, die sich in jedem Buch der Bibel für die Wahrheit dieser Ausführungen finden, geben sich die Menschen der trügerischen Hoffnung hin, die Welt durch das Evan­gelium bekehren zu können. Aber welche Bedeutung hat dann das "Sammeln des Weizens und das Treten der Kelter"? Kann man da noch von einer bekehrten Welt reden?

 

Vielleicht wird man einwenden, daß man sich nicht unbedingt auf mo­saische Bilder und apokalyptische Symbole stützen könne. Das könnte vielleicht wahr sein, wenn wir nichts anderes als Vorbilder und Symbole hätten. Aber wenn das Licht des Wortes Gottes diese Vorbilder und Symbole beleuchtet und uns ihre tiefe Bedeutung Offenbart, finden wir, daß sie in vollkommenem Einklang mit den Stimmen der Propheten und Apostel und den Belehrungen des Herrn selbst stehen. Alle sagen dasselbe, alle geben derselben ernsten Wahrheit Zeugnis, daß am Ende dieses Zeitalters statt einer bekehrten, für ein geistliches (wie man es nennt) tausendjähriges Reich zubereiteten Welt, ein Weinstock sein wird, schwer beladen mit schrecklichen Trauben, die für die Kelter des Zornes Gottes, des Allmächtigen, reif sind.

 

Bevor wir diesen Abschnitt schließen, möchten wir noch einmal daran erinnern, daß wir unser tägliches Leben unter den gesegneten Einfluß der Wahrheiten stellen sollten, die in den drei Vorbildern unseres Ka­pitels enthalten sind. Das Christentum wird gekennzeichnet durch diese drei großen Tatsachen: die Erlösung, die Gegenwart des Heiligen Geistes und die Hoffnung der Herrlichkeit. Erlöst durch das Blut Christi und versiegelt mit dem Heiligen Geist, wartet der Christ auf die An­kunft des Herrn. Das sind nicht bloß Grundsätze oder Meinungen, son­dern göttliche Wirklichkeiten, die als eine lebendige Kraft in unserem Herzen wirken sollen. Wir sehen, von welch praktischer Wichtigkeit diese Feste für Israel waren. Preis, Dank und Anbetung stiegen zu Gott auf, wenn das Volk um den HERRN an dem Ort versammelt war, den Er erwählt hatte, und die Ströme der Wohltätigkeit erreichten alle Be­dürftigen. "Dreimal im Jahre sollen alle deine Männlichen vor dem HERRN, deinem Gott, erscheinen ... und man soll nicht leer vor dem HERRN erscheinen: ein jeder nach dem, was seine Hand geben kann, nach dem Segen des HERRN, deines Gottes, den er dir gegeben hat".

 

Der Israelit sollte nicht leer vor dem HERRN erscheinen, sondern mit dankerfülltem Herzen und vollen Händen, um die Diener und Armen des HERRN zu erfreuen. Es war der Wunsch Gottes, Sein Volk um Sich versammelt zu sehen, um ihre Herzen mit überströmender Freude zu erfüllen und sie zugleich zu Segenskanälen für andere zu machen. Sie sollten nicht nur unter ihrem Weinstock und Feigenbaum bleiben, um sich dort über ihre Segnungen zu freuen, sondern dreimal im Jahr soll­ten sie sich an dem bestimmten Ort versammeln und dort ihr Halleluja zu Gott aufsteigen lassen und freigebig die Segnungen spenden, mit denen Er selbst sie überschüttet hatte. Gott fand Seine Wonne darin, das Herz des Leviten, des Fremdlings, der Witwe und der Waise zu erfreuen, und Er wünschte, daß Sein Volk an Seiner Freude teilnahm. Wenn aber diese Bilder und Schatten unserer Segnungen schon mit solchen Danksagungen und freigebigen Spenden verbunden waren, wie­viel mächtiger sollten bei uns die Wirkungen und Segnungen selbst sein!

 

Die Bedeutung des Laubhüttenfestes verstehen leider nur wenige. Zwar ist dessen Erfüllung noch nicht gekommen, aber der Christ sollte in der Kraft dessen leben, was ihm vorgestellt wird. "Der Glaube aber ist eine Verwirklichung dessen, was man hofft, eine Überzeugung von Dingen, die man nicht sieht" (Hebr. 11, 1). Der vereinigte Einfluß der "Gnade", in der wir stehen, und der "Herrlichkeit", die wir erwarten, sollte unser Leben beherrschen und uns kennzeichnen. Wenn aber jemand nicht in der Gnade befestigt ist, ja nicht einmal weiß, daß seine Sünden ver­geben sind ‑ wenn er belehrt wird, daß die Gewißheit der Errettung Anmaßung sei, daß Zweifel und Befürchtungen hingegen als wahre

 

Demut und Frömmigkeit betrachtet werden müßten, und daß man seiner Errettung nicht eher gewiß sein könne, als bis man vor dem Richterstuhl Christi stehe ‑, wie kann man dann erwarten, daß er die christliche Stellung einnimmt, die Früchte des christlichen Lebens offen­bart und die Kraft der christlichen Hoffnung kennt? Wie hätte ein Israelit das Fest der ungesäuerten Brote, das Pfingst‑ oder Laubhütten­fest feiern können, wenn er in Ungewißheit darüber gewesen wäre, ob er ein Kind Abrahams, ein Kind der Gemeinde des HERRN und wirk­lich im Land Kanaan sei? Wir dürfen kühn behaupten, daß keinem Israeliten je etwas so Törichtes in den Sinn gekommen ist.

 

Doch wie viele gibt es, die wirklich Kinder Gottes sind und trotzdem ihre Tage in Zweifel, Befürchtungen.. Dunkel und Ungewißheit zubrin­gen! Ihre religiösen Übungen und ihr ganzer Gottesdienst sind mehr die Erfüllung einer gesetzlichen Pflicht und einer Vorbereitung für das zukünftige Leben, als der Ausfluß eines Lebens, das man bereits besitzt und genießt. Auch die "glückselige Hoffnung", die uns die Gnade gegeben hat, um unsere Herzen zu beleben und uns von den zeitlichen Dingen loszumachen, ist ihnen völlig unbekannt. Sie halten sie für Schwärmerei und warten auf den Tag des Gerichts, anstatt auf den "glänzenden Morgenstern". Anstatt sich an dem Besitz des ewigen Le­bens der göttlichen Gerechtigkeit und des Geistes der Sohnschaft zu erfreuen, bitten sie Gott täglich um Vergebung ihrer Sünden und um Seinen Heiligen Geist.

 

Wir brauchen kaum zu sagen, daß das im offenbaren Widerspruch zu den klaren Belehrungen des Neuen Testaments steht. Es ist dem Cha­rakter und Geist des Christentums völlig fremd und zerstört den Frie­den und die Freiheit des Christen sowie allen wirklichen christlichen Gottesdienst, ja, jeden wirkungsvollen Dienst, jedes Zeugnis für Christum. Unmöglich können Seelen, die sich in einem solchen Zustand befinden, mit dankbarem Herzen, mit segenerfülltem Herzen vor dem Herrn erscheinen, denn sie haben den Segen selbst nie genossen.

 

Der Herr wolle in Seiner Gnade die Aufmerksamkeit aller wahren Christen auf diesen wichtigen Gesichtspunkt lenken! Möchten sie die Schriften untersuchen, ob sie darin einen Anhaltspunkt finden, daß Seelen beständig in Ungewißheit, Zweifel und Knechtschaft gehalten werden. Zwar enthält das Wort Gottes ernste Ermahnungen und War­nungen, und wir danken Gott dafür, denn wir brauchen sie und soll­ten sie tief in unsere Herzen einprägen! Aber man sollte doch nicht außer acht lassen, daß es das kostbare Vorrecht gerade der Kindlein in Christus ist, zu wissen, daß alle ihre Sünden vergeben sind, daß sie in dem auferstandenen Christus angenommen, mit dem Heiligen Geist versiegelt und Erben der ewigen Herrlichkeit sind. Das sind die Seg­nungen, die ihnen durch eine unendliche und unumschränkte Gnade geschenkt worden sind, wozu sie die Liebe Gottes berufen und das Blut Christi passend gemacht hat, und die ihnen das Zeugnis des Heiligen Geistes zusichert. Möchte der große Erzhirte und Aufseher unserer Seelen alle Lämmer und Schafe Seiner bluterkauften Herde dahin leiten, daß sie durch die Belehrung des Heiligen Geistes die Dinge kennen, die ihnen von Gott geschenkt sind!

 

Andererseits ist sehr zu befürchten, daß viele unter uns, die sich rüh­men, diese herrlichen Wahrheiten zu kennen, in ihrem praktischen Wandel ihrem hohen Bekenntnis nicht entsprechen. Wir handeln dann nicht nach dem Grundsatz des 17. Verses unseres Kapitels: "Man soll nicht leer vor dem HERRN erscheinen: ein jeder nach dem was seine Hand geben kann, nach dem Segen des HERRN, deines Gottes, den er dir gegeben hat". Obwohl wir nichts für unsere Errettung zu tun, nichts für sie zu geben haben, vergessen wir so leicht, daß es vieles gibt, was wir für den Herrn, für Seine Arbeiter und die Armen tun können. Wenn wir in den Tagen unserer Unwissenheit und Gesetzlichkeit man­ches nach falschen Grundsätzen und zu einem verkehrten Zweck getan und gegeben haben, so sollten wir jetzt wirklich nicht weniger tun und geben, nachdem wir durch die Gnade erkannt haben, daß wir nicht nur errettet, sondern auch mit allen geistlichen Segnungen in dem aufer­standenen und verherrlichten Christus gesegnet sind. Hüten wir uns, diese herrlichen Wahrheiten bloß mit dem Verstand zu erfassen und mit dem Mund zu bekennen, während Herz und Gewissen von ihren Wirkungen nichts fühlen und unser Leben nicht unter ihrem mächtigen und heiligenden Einfluß steht!

 

Laßt uns diese Gedanken unter Gebet vor dem Herrn erwägen. Wir möchten keinen Stein auf andere werfen, die Gläubigen aber im Wis­sen um die Gegenwart Gottes vor einer Gefahr warnen, die uns allen gemeinsam droht. Wir glauben, daß die heutigen Zustände uns drin­gend mahnen, unsere Wege zu prüfen, uns vor dem Herrn wegen des bei uns herrschenden Mangels an Treue und Wachsamkeit zu demüti­gen und Gnade bei Ihm zu suchen, um aufrichtiger, ergebener und ent­schiedener in unserem Zeugnis für Ihn in diesen düsteren und bösen Tagen zu sein.

 

Kapitel 17

 

DIE RICHTER UND IHRE TÄTIGKEIT. DAS KÖNIGTUM

 

Bevor wir auf den Inhalt dieses Kapitels eingehen, sei zunächst daran erinnert, daß die Einteilung der Schrift in Kapitel und Verse mensch­licher Zusatz ist, der ohne Zweifel zum Nachschlagen sehr bequem, oft aber ganz unsachgemäß und mit dem Zusammenhang unvereinbar ist. Wir sehen hier zum Beispiel, daß der letzte Abschnitt des 16. Kapitels mehr mit dem Folgenden als mit dem Vorhergehenden in Verbindung steht:

 

"Richter und Vorsteher sollst du dir einsetzen, nach deinen Stämmen, in allen deinen Toren, die der HERR, dein Gott, dir gibt, damit sie das Volk richten mit gerechtem Gericht. Du sollst das Recht nicht beugen, du sollst die Person nicht ansehen und kein Geschenk nehmen, denn das Geschenk blendet die Augen der Weisen und verkehrt die Worte der Gerechten. Der Gerechtigkeit, der Gerechtigkeit sollst du nachjagen, auf daß du lebest und das Land besitzest, welches der HERR, dein Gott, dir gibt" (Kap. 16, 18‑20).

 

Diese Worte zeigen uns zwei Dinge. Zunächst schildern sie die unpar­teiische Gerechtigkeit und Wahrheit, die die Regierung Gottes kenn­zeichnen. Jeder Fall wird für sich beurteilt auf Grund der Tatsachen, die mit ihm zusammenhängen. Andererseits lernen wir, welchen Wert das Urteil des Menschen hat, wenn er sich selbst überlassen bleibt. Es ist völlig unzuverlässig. Man kann ihm keinen Augenblick Vertrauen schenken. Der Mensch ist fähig, das Recht zu beugen, Geschenke zu nehmen oder die Person anzusehen. Sonst wäre eine solche Warnung nicht nötig. Wenn Gott dem Menschen befiehlt, nicht zu stehlen, so beweist das, daß diese Neigung in der menschlichen Natur steckt.

 

Menschliche Regierung und menschliches Urteil sind daher den gröbsten Mißgriffen ausgesetzt, weil Regierende und Richter ‑ wenn sie nicht unter dem unmittelbaren Einfluß göttlicher Grundsätze stehen, sondern sich selbst überlassen bleiben ‑, fähig sind, aus Gewinnsucht und um eines Vorteils willen das Recht zu verdrehen.

 

Es ist überflüssig, als Beweis hierfür auf Pilatus, Herodes oder Felix hinzuweisen. Die obige Stelle sagt uns zur Genüge, was der Mensch ist, selbst wenn er, bekleidet mit der Robe der Amtswürde, auf einem Thron oder auf einem Richterstuhl sitzt.

 

Vielleicht finden manche das übertrieben. Doch sollten sie sich dann daran erinnern, daß das menschliche Herz die Brutstätte jeder Sünde, die Quelle alles Unwürdigen und der abscheulichsten Verbrechen ist, die je in dieser Welt verübt worden sind. Den unwiderleglichen Beweis dafür liefern die Gebote und Verbote, die wir im Wort Gottes finden und die aufgezeichnet sind, damit wir in ihnen wie in einem göttlichen Spiegel sehen können, aus welchem Stoff wir gemacht und wozu wir fähig sind. Es ist zum Beispiel nützlich und gut, wenn wir in einigen Stellen unseres Buches erfahren, daß die menschliche Natur (also auch wir) zu Dingen fähig ist, die uns unter das Tier erniedrigen. Wie gut wäre es für manchen, der in Selbstgefälligkeit und Einbildung dahin­geht, wenn er diese tief demütigende Unterweisung beherzigte!

 

Wie schön und erhaben waren andererseits die göttlichen Vorschriften für die Israeliten! Sie sollten das Recht nicht beugen, sondern ohne Rücksicht auf die Person richten. Dem armen Mann im dürftigen Kleid sollte dieselbe unparteiische Gerechtigkeit widerfahren, wie dem Rei­chen in seinem glänzenden Gewand. Das Urteil des Richters durfte nicht durch Parteinahme oder Vorurteile beeinträchtigt, und sein richterliches Gewand mit dem Schandfleck der Bestechlichkeit besudelt werden.

 

Was wird es sein, wenn diese unterdrückte und seufzende Schöpfung durch die erhabenen Gesetze der göttlichen Gerechtigkeit beherrscht werden wird, wenn "ein König regieren wird in Gerechtigkeit, und die Fürsten nach Recht herrschen werden!" (Jes. 32, 1). "0 Gott, gib dem Könige deine Gerichte und deine Gerechtigkeit dem Sohne des Königs! Er wird dein Volk richten in Gerechtigkeit, und deine Elenden nach Recht, (Ps. 72, 1‑2). ‑ Dann wird es weder Bestechung, noch Partei­lichkeit, noch Beugung des Rechts geben. "Es werden dem Volke Frie­den tragen die Berge (oder die hohen Würdenträger) und die Hügel (oder die niederen Würdenträger) durch Gerechtigkeit. Er wird Recht schaffen den Elenden des Volkes; er wird retten die Kinder des Armen, und den Bedrücker wird er zertreten. Man wird dich fürchten von Geschlecht zu Geschlecht, so lange Sonne und Mond bestehen. Er wird herabkommen wie ein Regen auf die gemähte Flur, wie Regenschauer, Regengüsse auf das Land. In seinen Tagen wird der Gerechte blühen, und Fülle von Frieden wird sein, bis der Mond nicht mehr ist. Und er wird herrschen von Meer zu Meer, und vom Strom bis an die Enden der Erde. . . . Denn erretten wird er den Armen, der um Hilfe ruft, und den Elenden, der keinen Helfer hat; er wird sich erbarmen des Ge­ringen und des Armen, und die Seelen der Armen wird er retten. Von Bedrückung und Gewalttat wird er ihre Seelen erlösen, und ihr Blut wird teuer sein in seinen Augen" (Ps. 72).

 

Wohl mögen unsere Herzen sich nach dieser herrlichen Zeit sehnen, wenn alles dies in Erfüllung gehen und die Erde voll sein wird der Erkenntnis des HERRN, wie die Wasser den Meeresgrund bedecken. Dann wird der Herr Jesus Seine große Macht und Herrschaft annehmen und die Kirche in den Himmeln Seine Herrlichkeit auf die Erde zurück­strahlen lassen. Dann werden die zwölf Stämme Israels in ihrem Land ruhen, jeder unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum, und alle Nationen der Erde werden glücklich sein unter dem Friedens ­und Segenszepter des Sohnes Davids. Alles wird in kurzer Zeit erfüllt werden nach den ewigen Vorsätzen und unerschütterlichen Verheißun­gen Gottes. Bis dahin wolle der Herr uns geben, in einer gottlosen Welt in der ständigen und gläubigen Erwartung dieser gesegneten Zeit zu leben, als Fremde und Wanderer, die hier auf der Erde keinen Besitz und kein Erbe haben, sondern rufen: "Komm, Herr Jesus!"

 

In den letzten Versen des 16. Kapitels wird Israel vor jeder Nach­ahmung der religiösen Gewohnheiten der Völker Kanaans gewarnt: "Du sollst dir keine Aschera pflanzen, irgendein Holz, neben dem Altar des HERRN, deines Gottes, den du dir machen wirst. Und du sollst dir keine Bildsäule aufrichten, die der HERR, dein Gott, haßt". Sie mußten alles vermeiden, was sie von dem lebendigen und wahren Gott abziehen und mit dem finsteren Götzendienst der Nationen in Kontakt bringen konnte. Der Altar Gottes mußte klar und deutlich getrennt bleiben von den Hainen und schattigen Orten, wo die falschen Götter angebetet wurden und wo Dinge geschahen, die man kaum er­wähnen möchte.*)

_________________

*) Vielleicht ist der Hinweis interessant, daß der Heilige Geist im Neuen Testament zur Bezeichnung des Altars Gottes ein Wort gebraucht, das nicht zur Bezeichnung eines heidnischen Altars verwandt wurde und das in den Schriften weltlicher Schriftsteller unbekannt ist. Das Wort für den heid­nischen Altar heißt bomds, das für den Altar Gottes thysiasfirion. Das erste kommt nur einmal vor (Apg. 17, 23), das letzte dreiundzwanzigmal. So wird die Anbetung des allein wahren Gottes geschützt gegen jede verunreinigende Berührung mit der heidnischen Abgötterei. Die Menschen könnten fragen, inwiefern der Altar Gottes durch einen Namen befleckt werden könne. Der Heilige Geist verwendet das heidnische Wort nicht für den Altar des allein wahren und lebendigen Gottes, obwohl es kürzer und weit gebräuchlicher war.

 

Aber nur eine äußere Form aufrechtzuerhalten genügte nicht. Israel konnte vielleicht die Ascherim und die Bildsäulen abschaffen und die Lehre von der Einheit der Gottheit festhalten, dabei aber doch einen großen Mangel an wirklicher Herzenshingabe in seinem Gottesdienst zeigen. Darum lesen wir: "Du sollst dem HERRN, deinem Gott, kein Rind‑ oder Kleinvieh opfern, an welchem ein Gebrechen ist, irgend etwas Schlimmes; denn es ist ein Greuel für den HERRN, deinen Gott".

 

Nur etwas ganz Vollkommenes war für den Altar passend und ent­sprach den Gedanken Gottes. Die Darbringung eines fehlerhaften Opfers zeigte, daß das Herz nicht völlig für Gott schlug und bewies den Mangel an Verständnis darüber, was des HERRN würdig war. Der Versuch, ein solches Opfer zu bringen, war gleichbedeutend mit Gottes­lästerung, da man dadurch gleichsam sagte: Für Gott ist alles gut genug.

 

Mit tiefer Entrüstung erhebt der Geist Gottes durch den Mund des Propheten Maleachi Einspruch gegen ein solch gottloses Verhalten (Mal. 1, 7‑14).

 

Aus den Worten des Propheten klingt auch ein ernster Mahnruf an die Kirche, ein Mahnruf an den Schreiber und Leser dieser Zeilen. Können wir von unserem häuslichen und öffentlichen Gottesdienst immer sagen, daß wir ihn von Herzen, in wirklicher Gottesfurcht und Aufrichtigkeit ausüben? Findet sich darin nicht manches, was an die Darbringung

 

eines lahmen, blinden oder kranken Opfertieres erinnert? Offenbart sich nicht in unseren Gebeten oft so viel kaltes Formen ‑ und Gewohn­heitswesen? Welche Zerstreuung und Dürre zeigt sich sogar am Tisch des Herrn unter uns! Wie oft kommt es vor, daß wir wohl körperlich dort sind, unsere Herzen aber mit ganz anderen Dingen erfüllt sind und unsere Gedanken wer weiß wo umherschweifen! Wie oft sprechen unsere Lippen Worte aus, die nicht der echte Ausdruck unseres geist­lichen Zustandes sind! Wie oft gehen unsere Gesänge weit über unsere wirklichen Gefühle und Erfahrungen hinaus! Und welch eine herzlose Förmlichkeit zeigt sich, wenn die Gelegenheit an uns herantritt, unsere Gaben in den Schatzkasten des Herrn zu werfen! Wie wenig geschieht das nach der apostolischen Regel: Jenachdem er Gedeihen hat", oder in der Gesinnung der armen Witwe, die nichts besaß, als nur zwei Scherflein und die, anstatt eins davon für ihren Lebensunterhalt zu be­halten, alle beide, d. h. alles was sie hatte, gern in den Schatzkasten warf! Wir verschwenden vielleicht im Laufe der Woche manche Mark für unsere eigenen Interessen, für überflüssige Dinge. Aber wie zurück­haltend zeigen wir uns, wenn am Sonntagmorgen die Ansprüche des Werkes des Herrn oder der Armen an uns herantreten!

 

Möchten wir doch daran denken, daß wir nicht uns selbst gehören, son­dern um einen Preis erkauft sind! Wir schulden nicht nur das Beste, sondern alles, was wir sind und haben, Dem, der sich selbst für uns hingegeben hat. Müssen wir das nicht alle von ganzem Herzen aner­kennen? Laßt es uns auch in unserem Leben verwirklichen. Laßt uns durch Wandel und Verhalten offenbaren, wem wir gehören und wem wir dienen! Möge Herz und Hand, ja, unser ganzes Sein dem Dienste unseres Herrn geweiht sein!

 

Auf den großen Grundsatz in den Versen 2‑7 unseres Kapitels ist be­reits an anderer Stelle hingewiesen worden. Er besagt: „Fälle nie ein Urteil, bevor ein hinlängliches Zeugnis und ausreichendes Beweis­material vorhanden ist". Die Nichtbeachtung dieser Regel zieht immer ernste Folgen nach sich. Wir sollten uns nie ein Urteil bilden und es noch viel weniger aussprechen, es sei denn auf die Aussage zweier oder dreier Zeugen hin. So vertrauenswürdig und zuverlässig auch ein ein­zelner Zeuge sein mag, so bietet er doch keine genügende Grundlage für ein Urteil. Wir mögen innerlich von der Wahrheit einer Sache über­zeugt sein, weil sie von jemand bestätigt wird, dem wir unser Vertrauen schenken. Es mag auch sein, daß der einzelne Zeuge aufrichtig und wahrheitsliebend ist und um keinen Preis ein falsches Zeugnis gegen jemand abgeben möchte, dennoch müssen wir an der göttlichen Regel festhalten: "Aus zweier oder dreier Zeugen Mund wird jede Sache bestätigt werden".

 

Er, wäre gut, wenn diese Regel in der Versammlung Gottes mehr Be­achtung fände. Es würde hinsichtlich der Zucht, sowie in allen Fällen, in denen es sich um den Charakter oder den Ruf eines Menschen han­delt, von unschätzbarem Wert sein. Eine Versammlung sollte immer auf der Erbringung genügender Beweise bestehen, ehe sie einen Be­schluß faßt. Sind keine genügenden Beweise vorhanden, so sollten alle geduldig und vertrauensvoll auf den Herrn warten. Er wird sicher geben, was nötig ist.

 

Was hat z. B. eine Versammlung zu tun, in der sich etwas sittlich Böses oder eine Irrlehre eingeschlichen hat und dies nur einem einzigen be­kannt ist? Sie muß, selbst wenn dieser eine vollkommen gewiß und völlig überzeugt ist, warten, bis Gott weitere Zeugen gibt, denn sonst handelt sie einem klaren göttlichen Grundsatz zuwider. Sollte sich nun ein einzelner Zeuge verletzt fühlen, wenn die Versammlung nicht nach seinem Zeugnis handelt? Nein, er sollte dies gar nicht erwarten und in seinen Worten sehr vorsichtig sein, solange sein Zeugnis nicht durch einen oder zwei andere Zeugen bestätigt werden kann. Ebensowenig darf man eine Versammlung deshalb gleichgültig oder nachlässig nen­nen, weil sie sich weigert, auf das Zeugnis eines einzelnen hin zu han­deln. Sie befolgt damit nur ein bestimmtes göttliches Gebot.

 

Dieser wichtige Grundsatz hat allgemeine Gültigkeit. Wir alle sind nur zu sehr geneigt, voreilige Schlüsse zu ziehen, gewissen Eindrücken Raum zu geben, uns auf Vermutungen zu stützen und durch Vorurteile einnehmen zu lassen. Wir brauchen Wachsamkeit, Ruhe, Ernst und eine besonnene Überlegung, wenn wir solche Dinge richtig beurteilen wol­len. Dies gilt vor allem, wenn es sich um Personen handelt, da wir durch die Äußerung eines falschen Eindrucks oder einer unbegründeten Beschuldigung unserem Freund, Bruder oder Nachbarn leicht großes Unrecht zufügen können. Wir müssen sehr aufpassen, daß wir uns nicht zum Werkzeug einer grundlosen Anklage mißbrauchen lassen und dadurch vielleicht den Ruf des anderen sehr schädigen. So etwas ist äußerst sündhaft in Gottes Augen, und wir sollten es entschieden ver­werfen, wo es sich auch zeigen mag. Wenn uns jemand eine Beschuldi­gung über einen anderen hinter dessen Rücken zuträgt, sollten wir ent­weder auf den Beweis oder auf die Zurücknahme seiner Aussage beste­hen. Auf diese Weise würde viel übles Nachreden vermieden werden, das nicht allein schädlich, sondern auch äußerst schlecht ist.

 

Andererseits liefert uns die Schrift auch mehr als ein Beispiel dafür, daß ein gerechter Mensch unter dem Schein der Beobachtung des gött­lichen Gebots in 5. Mose 17, 6 und 7 verurteilt worden ist. So geschah es z. B. bei Naboth (l. Kön. 21), bei Stephanus (Apg. 6. und 7) und vor allein bei dem einzig Vollkommenen, der je auf dieser Erde war. Der Mensch versteht manchmal sehr gut, sich den Schein einer genauen Befolgung des Wortes Gottes zu geben, wenn dies seinen gottlosen Zwecken entspricht. Er weiß die heiligen Aussprüche zur Verteidigung der schreiendsten Ungerechtigkeit und der gröbsten Unsittlichkeit anzuführen. Naboth, der treue Israelit, verlor sein Erbteil und sein Leben auf das Zeugnis zweier Lügner hin, die von einer grausamen, gottlosen Frau gedungen waren und bezeugten, daß er Gott und den König gelästert habe. Stephanus, ein Mann voll Heiligen Geistes, wurde wegen Lästerung auf die Aussage falscher Zeugen hin gesteinigt, die die obersten religiösen Führer des Volkes "heimlich vorgeschoben ­hatten, um sich wenigstens zum Schein auf die Autorität des Wortes Gottes stützen zu können.

 

Wir sehen also, was der Mensch und bloße menschliche Religiosität ohne Gewissen ist; aber die Regel unseres Kapitels bleibt trotzdem bestehen. Eine Religion ohne Gewissen und Gottesfurcht ist das Schlechteste, was es unter dem Himmel geben kann. Nichts kann den Menschen mehr entwürdigen, verrohen lassen und verhärten, und es ist eine ihrer häßlichsten Eigenschaften, daß der Mensch unter ihrem Ein­fluß sich nicht schämt oder fürchtet, die Worte der Heiligen Schrift als Deckmantel für die schrecklichste Bosheit zu gebrauchen.

 

Gott sei Dank, daß Sein Wort in seiner himmlischen Reinheit und gött­lichen Kraft bestehen bleibt und daß es den Mißbrauch, den der Feind mit ihm treibt, in dessen Angesicht zurückschleudert!

 

Der zweite Abschnitt unseres Kapitels enthält eine Belehrung, die in unserer Zeit des Eigenwillens und des Strebens nach Unabhängigkeit äußerst wichtig ist.

 

"Wenn dir eine Sache zu schwierig ist zum Urteil zwischen Blut und Blut, zwischen Rechtssache und Rechtssache, und zwischen Verletzung und Verletzung, irgendwelche Streitsachen in deinen Toren, So sollst du dich aufmachen und hinaufziehen an den Ort, den der HERR, dein Gott, erwählen wird. Und du sollst zu den Priestern, den Leviten, kom­men und zu dem Richter, der in jenen Tagen sein wird, und dich erkun­digen; und sie werden dir den Rechtsspruch kundtun. Und du sollst dem Spruch gemäß tun, welchen sie dir kundtun werden, von jenem Orte aus, den der HERR erwählen wird, und sollst darauf achten, zu tun nach allem was sie dich lehren werden. Dem Gesetz gemäß, das sie dich lehren, und nach dem Rechte, das sie dir sagen werden, sollst du tun; von dem Spruche, den sie dir kundtun werden, sollst du weder zur Rechten noch zur Linken abweichen. Der Mann aber, der mit Vermes­senheit handeln würde, daß er auf den Priester, der dasteht, um den Dienst des HERRN, deines Gottes, daselbst zu verrichten, oder auf den Richter nicht hörte: selbiger Mann soll sterben. Und du sollst das Böse aus Israel hinwegschaffen. Und das ganze Volk soll es hören und sich fürchten und nicht mehr vermessen sein" (V. 8‑13).

 

Das ist die göttliche Richtschnur zur Regelung aller Schwierigkeiten, die in der Gemeinde Israel auftreten konnten. Sie sollten geregelt wer­den in der göttlichen Gegenwart, an dem göttlichen Mittelpunkt und durch göttliche Autorität, so daß auf diese Weise dem Eigenwillen und jeder Vermessenheit wirksam vorgebeugt wurde. Alle Streitsachen soll­ten endgültig geschlichtet werden nach dem Urteil Gottes, das ausge­sprochen wurde von dem von Gott verordneten Priester oder Richter. Es war also ganz und gar eine Sache der Autorität Gottes. Eine eigen­willige, vermessene Auflehnung des einen gegen den anderen durfte in der Versammlung Gottes nicht stattfinden. jeder mußte seine Sache einem göttlichen Gerichtshof unterbreiten und sich dessen Entscheidung unbedingt fügen. Eine Berufung an eine höhere Instanz gab es nicht, da kein höherer Gerichtshof vorhanden war. Der Priester oder Richter gab den Ausspruch Gottes.

 

Es leuchtet ein, daß kein Israelit je daran gedacht haben wird, seine Sache vor ein heidnisches Gericht zu bringen. Das wäre eine direkte Beleidigung des HERRN gewesen, der in ihrer Mitte wohnte, um jede auftretende Schwierigkeit zu regeln. Er kannte genau die Entstehung und die Motive, den Anfang und das Ende jeder Streitsache, so ver­wickelt und schwierig sie auch sein mochte. Alle mußten auf Ihn sehen und ihre Angelegenheiten an den Ort bringen, den Er erwählt hatte, und nirgendwo anders hin. Der Gedanke, daß zwei Glieder der Ge­meinde Israels, die uneins geworden waren, vor ein heidnisches Gericht gehen könnten, war jedem treuen Israeliten fremd, denn damit wären die göttlichen Anordnungen für die Gemeinde als unzureichend bezeich­net worden.

 

Hierin liegt auch für uns Christen eine Belehrung. Wie sollten wir unsere Rechtssachen ordnen? Sollten wir uns an ein weltliches Gericht wenden? Ist in der Versammlung Gottes keine Vorkehrung getroffen worden, um solche Angelegenheiten zu ordnen? Lesen wir doch, was der Apostel in dieser Beziehung an die Korinther schreibt! (i. Kor. 6, 1‑9). Das ist die göttliche Belehrung für die Kirche Gottes zu allen Zeiten, denn wir dürfen nie aus dem Auge verlieren, daß die Bibel' das Buch für jeden Zeitabschnitt in der Geschichte der Kirche während ihres irdischen Daseins ist. Nie können die in 1. Kor. 6 ausgesprochenen Grundsätze aufhören, bindend für die Kirche Gottes zu sein. Nie kann das, was im ersten Jahrhundert falsch war, im zwanzigsten gut und richtig sein. Wohl mag es heute schwierig sein, nach diesen Grund­sätzen zu handeln. Trotzdem dürfen wir sie nie aufgeben oder einen niedrigeren Maßstab als den anlegen, den das Wort Gottes uns gibt. Es ist heute noch ebenso falsch wie in den Tagen des Apostels, wenn Bruder mit Bruder vor den Ungläubigen rechtet. Zwar ist die sichtbare Einheit der Kirche wie auch viele ihrer Gaben verschwunden, und sie ist von ihrem normalen Zustand abgewichen, aber die Grundsätze des Wortes Gottes können so wenig ihre Kraft verlieren, wie das Blut Christi seinen Wert oder das Priestertum Christi seine Wirksamkeit verlieren kann.

 

Außerdem sollten wir uns erinnern, daß trotz aller unserer Schwachheit, aller unserer Mängel und unserer Fehler alle Schätze der Weisheit, Gnade, Macht und geistlichen Gaben für die Kirche in Christus, ihrem Haupt, vorhanden und stets bereit sind für alle, die sie im Glauben zu benutzen verstehen. Wir sind in unserem anbetungswürdigen Haupt nicht verkürzt und brauchen deshalb nicht zu warten, daß der Leib zu seinem normalen Zustand auf der Erde zurückgeführt werde. Vielmehr ist es unser Vorrecht und unsere Pflicht, die wirkliche Stellung des Leibes zu erkennen und keine andere einzunehmen. Die Folge davon ist eine wunderbare Veränderung in unserem ganzen Zustand, in unseren Anschauungen und Gedanken über uns selbst und unsere Umgebung.

 

Alles scheint verändert zu sein, und wir sehen alles in einem neuen Licht. Die Bibel erscheint uns wie ein neues Buch, und gewisse Teile, die wir seit Jahren ohne Interesse oder Nutzen gelesen haben, gewinnen einen göttlichen Glanz und erfüllen uns mit Erstaunen, Liebe und An­betung. Wir sind der finsteren Atmosphäre, die die ganze bekennende Kirche einhüllt, entronnen und können Umschau halten und alle Dinge klar im himmlischen Licht der Schrift sehen. Es kommt uns tatsächlich so vor, als sei eine neue Bekehrung mit uns vorgegangen. Die Schrift ist uns viel verständlicher, da wir jetzt den göttlichen Schlüssel dazu gefunden haben. Wir sehen, daß Christus der Mittelpunkt und das Ziel aller Gedanken, Vorsätze und Ratschlüsse Gottes ist, und befinden uns daher in dem wunderbaren Bereich der Gnade und Herrlichkeit, die der Heilige Geist in dem kostbaren Wort Gottes vor uns entfaltet.

 

Möchten wir durch das Wirken des Heiligen Geistes zum vollen Ver­ständnis all dieser Dinge kommen! Möchten wir die Schriften ein­gehend erforschen und uns rückhaltlos ihrer Belehrung und Autorität unterwerfen! Möchten wir nicht mit Fleisch und Blut zu Rate gehen, sondern uns kindlich auf den Herrn werfen und suchen, an geistlichem Verständnis und praktischer Übereinstimmung mit den Gedanken Christi zuzunehmen!

 

Wir wollen noch einen Blick auf den letzten Abschnitt unseres Kapitels werfen, der im voraus von der Zeit redet, wenn Israel einen König verlangen würde.

 

"Wenn du in das Land kommst, das der HERR, dein Gott, dir gibt, und es besitzest und darin wohnst und sagst: Ich will einen König über mich setzen, gleich allen Nationen, die rings um mich her sind: so sollst du nur den König über dich setzen, den der HERR, dein Gott, erwählen wird; aus der Mitte deiner Brüder sollst du einen König über dich setzen; du sollst nicht einen fremden Mann über dich setzen, der nicht dein Bruder ist. Nur soll er sich die Rosse nicht mehren und soll das Volk nicht nach Ägypten zurückführen, um sich die Rosse zu meh­ren; denn der HERR hat euch gesagt: Ihr sollt fortan nicht wieder dieses Weges zurückkehren. Und er soll die Weiber nicht mehren, da?, sein Herz nicht abwendig werde; und Silber und Gold soll er sich nicht

mehren" (V. 14‑17).

 

Es ist auffällig, daß gerade die drei Dinge, welche die Könige Israels nicht tun sollten, von ihnen getan wurden, und zwar besonders von den größten und weisesten unter ihnen. Wir lesen in 1. Kön. 9, 10 und 11: "Und der König Salomo machte eine Flotte zu Ezjon‑Geber, das bei Eloth, am Ufer des Schilfmeeres, im Lande Edom liegt. Und Hiram sandte auf der Flotte seine Knechte, Schiffsleute, die des Meeres kundig waren, mit den Knechten Salomos. Und sie kamen nach Ophir und holten von dort Gold, vierhundert und zwanzig Talente (über fünfzig Millionen Mark), und brachten es zu dem König Salomo ... Und sie (die Königin von Scheba) gab dem König hundert und zwanzig Talente Gold ... Und das Gewicht des Goldes, welches dem Salomo in einem Jahre einkam, war sechshundert sechsundsechzig Talente Gold (nahezu neunzig Millionen Mark), außer dem, was von den Krämern und dem Handel der Kaufleute und von allen Königen Arabiens und den Statt­haltern des Landes einkam. Und der König machte das Silber in Jeru­salem den Steinen gleich ... Und die Ausfuhr der Rosse für Salomo geschah aus Ägypten . . . Und der König Salomo liebte viele fremde Weiber . . . Und er hatte an Weibern siebenhundert Fürstinnen, und dreihundert Kebsweiber; und seine Weiber neigten sein Herz."

 

Welch eine treffende Schilderung dessen, was der Mensch ist, selbst in der bevorzugtesten und höchsten Stellung! Wir haben in Salomo einen Menschen vor uns, der ausgestattet war mit Weisheit, mehr als alle Menschen, umgeben von beispiellosen Segnungen, Würden, Ehren und Vorrechten. Sein Becher war bis zum Rande gefüllt. Nichts fehlte ihm von den Freuden und Genüssen, die die Erde bieten kann. Und nicht nur das, sein bemerkenswertes Gebet bei der Einweihung des Tempels berechtigt auch zu den kühnsten Hoffnungen hinsichtlich seiner Person und seiner Stellung. Aber leider kam er in bedauernswerter Weise in all den Einzelheiten zu Fall, über die das Gesetz Gottes sich so klar und bestimmt ausgesprochen hatte. Es besagte, Silber und Gold nicht sehr zu mehren, und dennoch tat er es. Es verbot ihm nach Ägypten zurückzukehren, um die Rosse zu mehren, und gerade aus Ägypten ließ er seine Rosse holen. Es verwehrte ihm, viele Frauen zu nehmen, und doch hatte er tausend ‑ und sie neigten sein Herz! Das ist der Mensch! Wie wenig ist ihm zu trauen! "Alles Fleisch ist wie Gras, und alle seine Herrlichkeit wie des Grases Blume. Das Gras ist verdorrt, und seine Blume ist abgefallen" (i. Petr. 1, 24). "Lasset nun ab von dem Menschen, dessen Odem in seiner Nase ist! Denn wofür ist er zu achten?" (Jes. 2, 22).

 

Doch was war der eigentliche Grund für Salomos traurigen und de­mütigenden Fall? Wir finden die Antwort in den letzten Versen unseres Kapitels: "Und es soll geschehen, wenn er auf dem Throne seines Königtums sitzt, so soll er sich eine Abschrift des Gesetzes in ein Buch schreiben, aus dem, was vor den Priestern, den Leviten, liegt. Und es soll bei ihm sein, und er soll darin lesen alle Tage seines Lebens, auf daß er den HERRN, seinen Gott, fürchten lerne, um zu beobachten alle Worte dieses Gesetzes und diese Satzungen, sie zu tun; damit sein Herz sich nicht über seine Brüder erhebe, und damit er von dem Gebote weder zur Rechten noch zur Linken abweiche, auf daß er die Tage in seinem Königtum verlängere, er und seine Söhne, in der Mitte Israels" (V. 18‑20).

 

Hätte Salomo auf die wichtigen und kostbaren Worte geachtet, so hätte sein Geschichtsschreiber ganz andere Dinge von ihm schreiben können. Aber er tat es nicht. Wir hören nichts davon, daß er sich eine Abschrift des Gesetzes machen ließ, und wenn er es getan hat, so hat er wenig­stens nicht darauf geachtet, da er gerade das tat, was im Gesetz ver­boten war. Die Vernachlässigung des Wortes Gottes war die Ursache des Verfalls, der den Glanz der Regierung Salomos so bald ein Ende macht.

 

So ist es heute noch Die Vernachlässigung des Wortes Gottes ist die Ursache aller Irrtümer, Verwirrungen, Ketzereien, Parteiungen und Spaltungen, die es in der Welt gibt oder je gegeben hat. Wir dürfen hinzufügen: das einzig wahre Heilmittel für alle diese übel liegt in der Umkehr jedes einzelnen zu der rückhaltlosen Unterwerfung unter die Autorität des Wortes Gottes. Demütigen wir uns daher unter die mäch­tige Hand Gottes wegen unserer gemeinsamen Sünde. Kommen wir in wahrem Selbstgericht zu Ihm, damit Er uns gnädig heile und segne und uns leite auf dem gesegneten Weg des Gehorsams, der jedem wirklich demütigen Jünger offensteht.

 

Kapitel 18

 

DAS "RECHT DER PRIESTER‑. DER WAHRE PROPHET

 

Wie generell im fünften Buch Mose, so werden auch in diesem Kapitel (lies V. 1‑8) die Priester mit den Leviten als eine Klasse gesehen. Wir haben bereits darauf aufmerksam gemacht, daß auch das ein be­sonderer Charakterzug unseres Buches ist. In den drei vorhergehenden Büchern ist es anders. Der Grund dieser Verschiedenheit mag darin liegen, daß Gott in diesem Buch die Versammlung Israels als solche mehr in den Vordergrund stellen will. Deshalb werden die Priester in ihrer amtlichen Eigenschaft seltener erwähnt. Der große Gedanke, der durch das ganze 5. Buch Mose hindurchgeht ist, daß Israel in unmittel­barer Beziehung zu dem HERRN steht.

 

Im 18. Kapitel sehen wir die Priester und Leviten zusammen geschildert als Diener des HERRN, ganz abhängig von Ihm und völlig eins mit Seinem Altar und Seinem Dienst. Das ist sehr bedeutsam und eröffnet uns ein weites Feld von praktischen, für die Versammlung Gottes be­achtenswerten Wahrheiten.

 

Ein Blick auf die Geschichte Israels zeigt uns, daß dann, wenn alles in einem verhältnismäßig guten Zustand war, dem Altar Gottes die ge­bührende Aufmerksamkeit geschenkt wurde und daher die Priester und Leviten gut versorgt waren. Wenn der HERR Sein Teil hatte, hatten Seine Diener auch das ihrige. Wurde Er vernachlässigt, wurden sie es auch. Beide waren untrennbar miteinander verbunden. Das Volk mußte Gott seine Opfer darbringen, und Er teilte sie mit Seinen Die­nern. Die Priester und die Leviten sollten sie nicht von dem Volk for­dern, dessen Vorrecht es war, seine Gaben zu dem Altar Gottes ZU bringen. Gott erlaubte Seinen Dienern, sich von der Frucht der Hingabe Seines Volkes an Ihn zu nähren.

 

Das war damals der göttliche Gedanke bezüglich der Diener des HERRN. Sie sollten von den freiwilligen Opfern leben, die die ganze Versammlung Gott darbrachte. Leider finden wir in den bösen Tagen der Söhne Elis eine traurige Abweichung von dieser klaren Ordnung (vergl. 1. Sam. 2, 13‑17). Was uns in dieser Stelle berichtet wird, ist schrecklich, und das Ergebnis war das Gericht Gottes über das Haus Elis. Es konnte auch nicht anders sein. Wenn die Diener des Altars sich solcher Ungerechtigkeit und Gottlosigkeit schuldig machten, so mußte das Gericht folgen.

 

Aber der Normalfall, wie unser Kapitel ihn beschreibt, stand im schroff­sten Gegensatz zu der Bosheit der Söhne Elis. Wie bereits bemerkt, wollte der HERR die freiwilligen Opfer Seines Volkes um sich haben und mit ihnen auch die Diener Seines Altars unterhalten. Ihr Anteil war daher immer abhängig davon, wie der HERR und Sein Altar be­handelt wurden. Sie waren innig mit der Anbetung und dem Dienst für den Gott Israels verbunden.

 

Wirklich erfrischend und ermutigend ist, was uns in dieser Hinsicht von den herrlichen Tagen des Königs Hiskia berichtet wird, von einer Zeit also, da der Gottesdienst in Juda wiederhergestellt wurde und die Her­zen glücklich und dem HERRN treu ergeben waren (vergl. 2. Chron. 31, 2‑10). Die Hingabe an den Altar Gottes war so groß und wurde so in der Praxis bewiesen, daß nicht nur alle Bedürfnisse der Diener des HERRN befriedigt wurden, sondern auch "Mengen" übrigblieben. Sicher war das eine Freude für das Herz des Gottes Israels und für die Herzen derer, die sich auf Seinen Ruf hin und Seiner Bestimmung ge­mäß, dem Dienst Seines Altars und Seines Heiligtums geweiht hatten.

 

Besonders sollten wir die folgenden Worte beachten: "Wie es im Gesetz des HERRN vorgeschrieben ist". Das war die Autorität, auf die Hiskia sich stützte, die feste Grundlage seines Verhaltens von Anfang bis Ende. Zwar war die sichtbare Einheit des Volkes Israel nicht mehr vorhanden, und die Gesamtsituation war in Hiskias Tagen sehr ent­mutigend. Aber das Wort des HERRN war ebenso wahr und anwend­bar wie in den Tagen Davids oder Josuas. Hiskia fühlte sehr wohl, daß die Worte in 5. Mose 18, 1‑‑8 auf seine Zeit und sein Gewissen anzu­wenden waren und daß er und das Volk verantwortlich seien, ihrer Fähigkeit entsprechend danach zu handeln. Sollten die Priester und Leviten Not leiden, weil die nationale Einheit verschwunden war? Sicher nicht. Sie standen oder fielen mit dem Wort, der Anbetung und dem Werk Gottes. Die Situation mochte sich verändern und der Israelit in einer Lage sein, die es ihm unmöglich machte, allen Einzelheiten der levitischen Satzungen nachzukommen. Aber nie konnte er sich in einer Lage befinden, in der es nicht sein Vorrecht gewesen wäre, der Hin­gebung seines Herzens in bezug auf den Dienst, den Altar und das Gesetz des HERRN Ausdruck zu geben.

 

So ergibt sich aus der ganzen Geschichte Israels, daß dann, wenn alles in einem guten Zustand war, auch an den Altar des HERRN und an Seine Diener gedacht wurde. Waren aber die Herzen gleichgültig und kalt, waren Selbstsucht und das Suchen des eigenen Willens und der eigenen Interessen vorherrschend, so wurden auch das Werk des HERRN und Seine Arbeiter vernachlässigt. Ein Beispiel dafür ist das 13. Kapitel des Buches Nehemia. Als Nehemia, der treue Diener Gottes, nach einer kurzen Abwesenheit wieder in Jerusalem eintraf, fand er zu seinem tiefen Schmerz, daß während dieser Zeit viele verkehrte Dinge geschehen und unter anderem auch die Leviten vernachlässigt worden waren. "Und ich erfuhr, daß die Teile der Leviten nicht gegeben wor­den, und daß die Leviten und die Sänger, welche das Werk taten, ent­flohen waren, ein jeder auf sein Feld." In dieser traurigen Zeit gab es keine "Mengen" von Erstlingsfrüchten, und es ist sicher nicht leicht für einen Menschen, zu arbeiten und zu singen, wenn er nichts zu essen hat. Das entsprach weder dem Gesetz des HERRN, noch der Liebe Seines Herzens. Es war eine große Schmach für das Volk, daß wegen seiner groben Nachlässigkeit die Diener des HERRN genötigt wurden, den Dienst und das Werk des HERRN zu verlassen, um sich vor Hun­9,er zu schützen.

 

Das war in der Tat eine beklagenswerte Situation, und Nehemia rügte das Volk scharf, denn wir lesen: 013a zankte ich mit den Vorstehern und sprach: Warum ist das Haus Gottes verlassen worden? Und ich versammelte sie und stellte sie an ihre Stelle. Und ganz Juda brachte den Zehnten vom Getreide und Most und Öl in die Vorratskammern. Und ich bestellte zu Schatzmeistern über die Vorräte . . . ; denn sie wurden für treu geachtet, und ihnen lag es ob, ihren Brüdern auszu­teilen" (Neh. 13, 10‑13). Es war eine Anzahl erprobter, treuer Männer nötig, um die kostbare Frucht der Hingebung des Volkes unter ihre Brüder zu verteilen, Männer, die fähig waren, die Schätze des HERRN treu nach Seinem Wort zu verwalten und die Bedürfnisse Seiner Arbei­ter vorurteilslos und unparteiisch zu befriedigen.

 

Das war die Anordnung des Gottes Israels, die von treuen Israeliten, wie Hiskia und Nehemia, mit Freuden befolgt wurde. Der reiche Strom der Segnungen ergoß sich von dem HERRN aus zu Seinem Volk hin und floß von diesem zurück zu dem HERRN, und Seine Diener sollten daraus zur vollen Befriedigung all ihrer Bedürfnisse schöpfen. Es war eine Verunehrung des HERRN, wenn die Leviten zu ihren Feldern zu­rückkehren mußten. Es bewies, daß Sein Haus vernachlässigt wurde und daß es für Seine Diener dort keinen Unterhalt gab.

 

Was hat die Versammlung Gottes aus dem vorliegenden Abschnitt zu lernen? Die Beantwortung dieser Frage finden wir in 1. Kor. 9, wo der Apostel das so wichtige Thema der Unterstützung des christlichen Dien­stes behandelt (vergl. V. 7‑~‑18). Mit Entschiedenheit und Klarheit stellt Paulus in seinen Ausführungen das göttliche Gesetz hierzu fest: "Also hat auch der Herr denen, die das Evangelium verkündigen, verordnet, vom Evangelium zu leben". Wie Priester und Leviten damals von den Opfern lebten, die das Volk darbrachte, so haben auch jetzt einen Anspruch auf zeitliche Unterstützung, die wirklich von Gott berufen, durch Christus begabt und durch den Heiligen Geist fähig gemacht sind, das Evangelium zu predigen, und die sich diesem wertvollen Werk widmen. Nicht daß sie mit solchen, denen sie mit ihrer Gabe dienen, ein Abkommen treffen sollten über einen bestimmten Betrag. Ein sol­cher Gedanke ist dem Neuen Testament fremd. Der Arbeiter hat be­züglich seiner Bedürfnisse auf den Herrn und nur auf Ihn zu warten. Die Priester und die Leviten hatten ihr Besitz in und von dem HERRN. Er war ihr Erbe. Allerdings erwartete Er, daß das Volk Ihm durch Seine Arbeiter diene. Er sagte ihnen, was sie geben sollten, und segnete sie, wenn sie es taten. Es war zugleich ihr Vorrecht und ihre Pflicht, zu geben. Hätten sie dies verweigert oder vernachlässigt, so wären Dürre und Unfruchtbarkeit ihrer Felder und Weinberge die Folge gewesen (vergl. Hagg. 1, 5‑11).

 

Aber die Priester und Leviten hatten nur auf den HERRN zu sehen. Sie konnten nicht vor Gericht gehen, wenn das Volk die Darbringung der Zehnten und Opfer versäumte. Sie mußten auf den Gott Israels warten, der sie zu Seinem Werk berufen hatte. Ebenso ist es mit den Arbeitern des Herrn heute. Sie müssen auf Ihn allein warten. Sie müs­sen vor allem überzeugt sein, daß Er sie zu Seinem Werk berufen und fähig gemacht hat, ehe sie von dem Ufer der äußeren Sicherheit, wenn wir es so bezeichnen dürfen, abstoßen und sich ganz der Predigt des Wortes widmen. Ihr Blick muß von Menschen, sowie von allen natürlichen Hilfsmitteln und menschlichen Stützen auf den lebendigen Gott hin gelenkt werden. Wir haben mehr als einmal traurige Folgen bei denen gesehen, die in dieser ernsten Sache aus einem falschen An­trieb handelten, ohne von Gott berufen und befähigt zu sein, ihre Be­schäftigung aufgaben, um, wie sie sagten, aus Glauben zu leben und sich dem Werk des Herrn zu widmen. Kläglicher Schiffbruch war die unausbleibliche Folge.

 

Auf Grund vierzigjähriger Erfahrung ist es unsere Überzeugung, daß die Fälle selten sind, wo es geraten ist, seinen Broterwerb völlig aufzu­geben, um sich dem Werk des Herrn zu widmen. Die Sache muß dem Betreffenden selbst so klar und unzweifelhaft sein, daß er wie Luther sagen kann: "Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir! Amen." Aber dann darf er völlig sicher sein, daß Gott ihn in dem Werk, zu dem Er ihn berufen hat, auch unterstützen und für alle seine Bedürfnisse Sorge tragen wird "nach seinem Reichtum in Herrlichkeit in Christo Jesu".

 

Doch finden wir in der oben erwähnten Stelle, daß der Apostel, wäh­rend er einerseits seine wohlberechtigten Ansprüche auf Unterstützung nachweist, sie andererseits aber doch ganz aufgibt, wenn er sagt: "Ich habe von keinem dieser Dinge Gebrauch gemacht". Er arbeitete mit seinen eigenen Händen und bemühte sich Tag und Nacht, um niemand lästig zu werden. "Ich habe konnte er sagen, "niemandes Silber oder Gold oder Kleidung begehrt. Ihr selbst wisset, daß meinen Bedürfnissen und denen, die bei mir waren, diese Hände gedient haben." Er reiste, er predigte, er machte Besuche von Haus zu Haus, er war der tätige Apostel, der ernste Evangelist, der treue Hirte, er trug Sorge für alle Versammlungen ‑ hatte er nicht berechtigte Ansprüche auf Unterstüt­zung? Ganz sicher. Mit Freuden hätte die Versammlung Gottes für alle seine Bedürfnisse Sorge tragen sollen. Aber er bestand nie darauf. Vielmehr verzichtete er freiwillig auf alles und unterstützte noch andere mit seiner Arbeit, und er tat dies als ein Vorbild für andere, wie er zu den Ältesten von Ephesus sagt: "Ich habe euch alles gezeigt, daß man, also arbeitend, sich der Schwachen annehmen und eingedenk sein müsse der Worte des Herrn Jesus, der selbst gesagt hat: Geben ist seli­ger als nehmen" (Apg. 20).

 

Wunderbar ist es, diesen geliebten und geschätzten Diener Christi zu sehen, der bei seinem weiten Wirkungskreis von Jerusalem an und ringsumher bis nach Illyrikum, bei seinen riesenhaften Arbeiten als Evangelist, Hirte und Lehrer, noch Zeit fand, die Bedürfnisse für sich und andere mit eigenen Händen zu bestreiten. Wirklich, er nahm eine hohe sittliche Stellung ein. Er predigte niemals um Lohn.

 

Aber doch erkannte er dankbar die Gabe derer an, die in rechter Weise zu geben wußten. Verschiedene Male hatten die Philipper ihm etwas für seine Notdurft gesandt. Und sie haben wohl daran getan, denn nie wird ihnen dies vergessen werden. Millionen haben seitdem den herr­lichen Bericht ihrer Aufopferung gelesen und sind durch den Duft ihres Opfers erfrischt worden. In den Himmeln ist es verzeichnet, wo nichts derartiges vergessen wird. ja, es ist eingegraben in das Herz Christi Selbst (vergl. Phil. 4, 10‑19). Es war ein seltenes Vorrecht, das Herz eines so geliebten Dieners Christi am Ende seiner Laufbahn, in der Einsamkeit seines Gefängnisses zu Rom, beleben zu dürfen, und die Freude der Philipper, des Apostels dankbare Anerkennung zu empfan­gen, war sicher groß. Wie wertvoll war die Versicherung, daß ihr Dienst wie ein angenehmer Duft unmittelbar zu Gottes Thron und Herz auf­gestiegen sei! Welch ein krasser Unterschied zwischen ihnen, die den Bedürfnissen des Apostels dienten, und den Korinthern, die seinen Dienst in Frage stellen, oder den Galatern, die sein Herz zutiefst betrüb­ten! Der Zustand der Versammlung in Korinth erlaubte dem Apo­stel nicht, etwas von ihnen zu nehmen. Es gab nur einzelne dort, die sein Herz durch ihren Dienst belebten, und dieser Dienst ist in der Schrift verzeichnet und wird einmal seine herrliche Belohnung im Reich finden. "Ich freue mich aber über die Ankunft des Stephanas und Fortunatus und Achaikus, denn diese haben erstattet, was eurer­seits mangelte. Denn sie haben meinen Geist erquickt und den eurigen; erkennet nun solche an" (l. Kor. 16, 17. 18).

 

Wie unter dem Gesetz, so entspricht es also auch unter dem Evangelium dem geoffenbarten Willen Gottes, denen unsere Anerkennung und Un­terstützung zukommen zu lassen, die Er zu Seinem Werk berufen hat und die sich ihm von ganzem Herzen mit Fleiß und Treue widmen. Allen, die den Herrn lieben, wird es eine hohe Freude sein, Ihm in der Person Seiner Arbeiter zu dienen. Er Selbst nahm hier auf der Erde den Dienst derer an, die Ihn liebten und die die Frucht Seines kostbaren Dienstes genossen hatten (Luk. 8, 2. 3).

 

Anderseits sei noch einmal daran erinnert, wie nötig es für alle ist, die im Werk des Herrn, sei es innerhalb oder außerhalb der Versamm­lung, tätig sind, von allen menschlichen Einflüssen und von dem Blick auf Menschen frei zu sein. Wenn die Gemeinde sie vernachlässigt, so wird diese einen ernsten Verlust erleiden. Wenn aber die Arbeiter sich mit ihren eigenen Händen ihren Lebensunterhalt verdienen können, ohne dadurch ihrem Dienst für Christus Abbruch zu tun, so ist es um so besser. Es ist ohne Frage der ausgezeichnetere Weg. Es gibt nichts Schöneres als einen wirklich begabten Diener Christi, der für sich und seine Familie arbeitet und sich zu gleicher Zeit dem Werk des Herrn treu und fleißig widmet. Aber es läßt sich nicht immer beides vereini­gen, und wir möchten daher keine Regel aufstellen oder das Herz eines aufrichtigen Arbeiters beschweren. Ein jeder ist seinem Herrn allein verantwortlich.

 

Wenn wir jetzt zu unserem Kapitel zurückkehren und die Verse 9‑14 lesen, so könnte die Frage entstehen, in welcher Beziehung dieser. Ab­schnitt Anwendung auf bekennende Christen finden kann. Aber gibt es denn unter diesen nicht Solche, die den Vorstellungen von Wahr­sagern, Zauberern und Schwarzkünstlern gern und oft beiwohnen? Gibt es nicht Solche, die sidi mit Tischrücken, Geisterklopfen oder Hell­sehen beschäftigen? Wenn es der Fall ist, so findet der obige Abschnitt gerade auf sie Anwendung, denn wir glauben sicher, daß alle diese Dinge eine Wirkung des Seelenfeindes sind, so schroff und hart diese Behauptung auch manchem klingen mag. Wir sind überzeugt, daß alle, die sich damit beschäftigen, die Geister der Abgeschiedenen zu be­fragen, sich dadurch einfach den Händen des Feindes ausliefern, um durch seine Lügen betrogen zu werden. Brauchen Christen, die die voll­kommene Offenbarung Gottes in Händen halten, Tischrücken und Geisterklopfen? Wahrlich nicht! Und was haben sie anders zu erwar­ten, wenn sie, nicht zufrieden mit dem wertvollen Wort Gottes, sich zu den Geistern ihrer abgeschiedenen Freunde oder anderer hinwenden, als daß Gott sie dahingibt, um durch böse Geister geblendet und be­trogen zu werden, die sich als die Geister der Abgeschiedenen darstellen und ihnen die gröbsten Lügen und vielfach die albernsten Dinge auf­tischen?

 

Doch möchten wir hier nicht weiter auf diesen Gegenstand eingehen. Nur halten wir es für unsere ernste Pflicht, den Leser vor einer Teil­nahme an derartigen Dingen zu warnen, da sie äußerst gefährlich sind. Die Frage, ob abgeschiedene Seelen in diese Welt zurückkehren kön­nen, lassen wir unberührt. Ohne Zweifel kann es Gott zulassen, wenn Er es für gut findet. Doch es ist nicht unsere Sache, diese Frage zu entscheiden. Wichtig für uns ist, daß wir die ausreichende Fülle der göttlichen Offenbarung stets vor unserem Herzen bewahren. Wir haben nicht nötig, die Geister der Abgeschiedenen zu befragen. Der reiche Mann glaubte, daß, wenn Lazarus auf die Erde zurückkehren und mit seinen fünf Brüdern reden würde, dies eine große Wirkung haben müßte (vergl. Luk. 16, 27‑31). Aber er mußte hören, daß der, der das Wort Gottes und seine Aussprüche über den gegenwärtigen Zustand des Menschen und seine ewige Bestimmung nicht hören und glauben will, auch nicht überzeugt werden wird, wenn tausend Abgeschiedene zurückkehren und ihm erzählen würden, was sie gesehen, gehört und gefühlt haben. Es würde keine rettende oder bleibende Wirkung auf ihn ausüben. Wohl würde es großes Aufsehen erregen, eine Zeitlang das allgemeine Tagesgespräch bilden und die Zeitungen füllen, aber damit wäre es getan. Die Menschen würden nach wie vor in ihrer Dummheit und Eitelkeit, bei ihrer Gewinn‑ und Vergnügungssucht, bei ihrer Selbstgefälligkeit und Leichtfertigkeit bleiben. Wenn sie Mose und die Propheten und Christus und Seine heiligen Apostel nicht hören, so werden sie auch nicht überzeugt werden, wenn einer aus den Toten auf­ersteht. Wer sich der Heiligen Schrift nicht unterwirft, wird sich auch nicht durch etwas anderes überzeugen lassen. Der wirklich Gläubige findet in der Schrift alles, was er braucht, so daß er kein Bedürfnis fühlt, sich nach Geisterklopfern und Zauberern umzusehen. "Und wenn sie zu euch sprechen werden: Befraget die Totenbeschwörer und die Wahrsager, die da flüstern und murmeln, so sprechet: Soll nicht ein Volk seinen Gott befragen? soll es für die Lebenden die Toten befra­gen? Zum Gesetz und zum Zeugnis 1 Wenn sie nicht nach diesem Worte sprechen, so gibt es für sie keine Morgenröte" (Jes. 8, 19. 20).

 

Das ist göttliche Quelle für das Volk Gottes in allen Zeiten und an allen Orten, und das ist es auch, was Mose der Versammlung im letzten Ab­schnitt unseres Kapitels (V. 15‑22) vorstellt. Ein Blick auf Apg. 3 zeigt Uns, wer der in diesen Versen zuerst erwähnte Prophet ist. Es ist unser anbetungswürdiger Herr und Heiland Jesus Christus (V. 19‑23).

 

Wie groß ist das Vorrecht, auf die Stimme eines solchen Propheten hören zu können! Es ist die Stimme Gottes, die durch den Mund des Menschen Christus Jesus redet, nicht im Donner, Blitz und flammen­dem Feuer, sondern mit einer zarten, sanften Stimme der Liebe und Barmherzigkeit, die mit besänftigender Kraft auf das zerbrochene Herz und auf den betrübten Geist herabkommt, wie die Tautropfen es Himmels auf eine dürre Landschaft. Doch vergessen wir nie, daß diese Stimme uns aus den Heiligen Schriften entgegenklingt, aus dieser wert­vollen Offenbarung, auf die uns das fünfte Buch Mose ständig und in deutlicher Sprache aufmerksam macht. Die Stimme der Schrift ist die Stimme Christi, und die Stimme Christi ist die Stimme Gottes.

 

Sonst brauchen wir nichts. Wenn jemand sich anmaßen sollte, eine neue Offenbarung zu bringen, eine Lehre, die sich nicht in der Heiligen Schrift findet, müssen wir ihn nach der Richtschnur des göttlichen Wortes prüfen und alles verwerfen, was nicht damit im Einklang steht, "Fürchte dich nicht vor ihm." Falsche Propheten kommen gewöhnlich mit großer Anmaßung, hochtrabenden Worten und scheinheiligen Ge­bärden. Dazu suchen sie sich mit einer gewissen Würde und Autorität zu umgeben, wodurch sie die Unwissenden täuschen. Aber vor der alles erforschenden Kraft des Wortes Gottes können sie nicht standhalten. Oft genügt eine einzige Schriftstelle, um sie in ihren Anschauungen bloßzustellen und ihren schwärmerischen "Offenbarungen" jeden Bo­den zu entziehen. Wer die Stimme des echten Propheten kennt, wird nicht auf eine andere hören. Alle, die die Stimme des guten Hirten ge­hört haben, werden einem Fremden nicht folgen.

 

Kapitel 19

 

DIE ZUFLUCHTSSTÄDTE. DER BLUTRÄCHER

 

In den ersten drei Versen dieses Kapitels zeigt sich eine schöne Ver­bindung von Güte und Strenge. Wir finden einerseits die Ausrottung der Kanaaniter wegen ihrer Gottlosigkeit, die den Gipfelpunkt erreicht hatte und geradezu unerträglich geworden war und andererseits eine rührende Entfaltung der göttlichen Güte in den Vorkehrungen, die für den Totschläger getroffen wurden, um es ihm während seiner Bedräng­nis möglich zu machen, sein Leben vor dem Bluträcher in Sicherheit zu bringen. Sowohl die Regierung als auch die Güte Gottes sind voll­kommen. Es gibt Fälle, wo Güte nichts anderes wäre als Duldung offen­barer Gottlosigkeit und Empörung, aber das wäre unvereinbar mit der Regierung Gottes. Alle, die sich einbilden, auf Kosten der Güte Gottes in der Sünde verharren zu können, werden früher oder später ihren Irrtum einsehen müssen.

 

"Siehe nun", sagt der Apostel, "die Güte und die Strenge Gottes!" Gottes Gericht wird unfehlbar alle Übeltäter treffen, die Seine Güte und Langmut verachten. Er ist langsam zum Zorn und groß an Güte. Hunderte von Jahren hat Er die sieben Nationen Kanaans ertragen, bis ihre Gottlosigkeit zum Himmel schrie und das Land sie nicht länger ertragen konnte. Lange Zeit ertrug Er die himmelschreiende Gottlosig­keit Sodoms und Gomorras und selbst als die Stunde des Gerichts ge­kommen war, hätte Er, wenn Er zehn Gerechte dort gefunden hätte, um ihretwillen die Städte verschont. Aber Er fand sie nicht, und der schreckliche Tag der Rache fegte die Städte vom Erdboden weg.

 

So wird es bald mit der schuldigen Christenheit gehen. Auch sie "wird ausgeschnitten werden" (Röm. 11, 22). Der Tag der Rechenschaft wird kommen, und welch ein Tag wird es sein! Das Herz zittert schon bei dem bloßen Gedanken daran.

 

Doch beachten wir, wie wunderbar die Güte Gottes im Anfang unseres Kapitels hervorstrahlt. Sehen wir die gnädige Bemühung Gottes, eine Zufluchtsstätte für den Totschläger zu bereiten, und zwar so günstig gelegen wie möglich. Mitten im Land sollten die drei Städte sein, nicht an entlegenen oder schwer zugänglichen Orten. Und nicht nur das. Es heißt auch: "Du sollst dir den Weg dahin zurichten und das Gebiet deines Landes ... in drei Teile teilen!" Alles mußte getan werden, was dem Totschläger sein Entrinnen erleichtern konnte. Der HERR dachte in Seiner Gnade an die Gefühle des Bedrängten, der seine "Zuflucht ge­nommen hatte zum Ergreifen der vor ihm liegenden Hoffnung". Die Zufluchtsstätte sollte "nahe gebracht" sein, wie "die Gerechtigkeit Gottes" dem armen, verlorenen und hilflosen Sünder nahe gebracht ist, so nahe, daß sie jedem zuteil wird, "der nicht wirkt, sondern an den glaubt, der den Gottlosen rechtfertigt".

 

Besonders schön ist der Ausdruck: "Du sollst dir den Weg dahin zu­richten". Wie entspricht das unserem stets gnädigen Gott, „dem Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus"! Dennoch war der Gott, der diese gnädigen Vorkehrungen für den Totschläger traf, derselbe, der durch Sein gerechtes Gericht die Nationen Kanaans ausrottete. "Siehe nun die Güte und die Strenge Gottes".

 

In den folgenden vier Versen finden wir die ausführliche Beschreibung des Menschen, für den diese göttliche Vorsorge getroffen war. Ent­sprach er dieser Beschreibung nicht, so war die Zufluchtsstätte nicht fÜr ihn da. Im anderen Fall aber durfte er ganz sicher sein, daß ein gnaden­reicher Gott an ihn gedacht und einen Zufluchtsort für ihn bereitet hatte, so sicher, wie nur die Hand Gottes ihn machen konnte. Einmal hinter den Mauern dieser Zufluchtsstadt, konnte er frei aufatmen und sich ungestörter Ruhe erfreuen. Das Racheschwert konnte ihn dort nicht mehr erreichen. Kein Haar seines Hauptes durfte ihm gekrümmt werden. Er war völlig sicher, und er war sich seiner Rettung auch ganz gewiß. Er war in der Stadt, und das genügte. Bevor er dort ankam, konnte es in seinem Herzen schwere Kämpfe und viele Zweifel und Befürchtungen geben. Er floh ja um seines Lebens willen. Aber wenn er einmal innerhalb der schützenden Tore war, war er sicher, und er wußte es auch. Durch seine Gefühle? Durch seine Erfahrungen? Nein, allein durch das Wort Gottes. Ohne Zweifel hatte er Gefühle und Er­fahrungen, und diese waren nach den durchlebten schweren Kämpfen UM SO Wertvoller für ihn. Aber sie bildeten keineswegs die Grundlage seiner Ruhe und seines Friedens. Er wußte sich sicher, weil Gott es gesagt hatte. Die Gnade Gottes hatte ihn errettet, und das Wort Gottes gab ihm völlige Gewißheit.

 

Wir können uns nicht vorstellen, daß ein Totschläger innerhalb der Mauern der Zufluchtsstadt sich ähnlich ausgedrückt hätte, wie es heute so manche Gläubige tun bezüglich ihrer Sicherheit und Gewißheit. Es wäre ihm nicht eingefallen, die Gewißheit seiner Errettung für An­maßung zu halten. Wenn ihn jemand gefragt hätte: Bist du deiner Rettung gewiß? so hätte er verwundert gefragt: Gewiß? Wie wäre es anders möglich? Bin ich nicht in der Freistadt? Hat nicht der HERR, unser Gott, Sein Wort gegeben, daß, "wer dahin flieht, am Leben bleibe?" Ja, Gott sei Dank! ich bin vollkommen gewiß. Ich kann mich in vollkommener Ruhe an diesem gesegneten Ort aufhalten und mei­nen Gott für die große Güte preisen, daß Er eine solche Zufluchtsstätte für mich bereitet hat.

 

Ist sich der Leser seiner Sicherheit in Christus ebenso bewußt? Ist er errettet, und weiß er, daß er es ist? Wenn nicht, dann möge der Geist Gottes das einfache Bild des Totschlägers innerhalb der Mauern der Zufluchtstadt in lebendiger Kraft seinem Herzen nahe bringen! Möchte er den "starken Trost" kennen, der das sichere, göttlich bestimmte Teil all derer ist, die ihre "Zuflucht genommen haben zum Ergreifen der vor ihnen liegenden Hoffnung" (Hebr. 6, 18).

 

Doch finden wir bei der weiteren Betrachtung unseres Kapitels, daß es bei den Zufluchtstädten nicht allein um die Sicherheit des Totschlä­gers ging. Auch die Ehre Gottes, die Reinheit Seines Landes und die makellose Vollkommenheit Seiner Regierung spielten dabei eine Rolle. Wären diese Dinge angetastet worden, so hätte die Sicherheit von allem übrigen in Frage gestanden. Dieser wichtige Grundsatz findet sich in der ganzen Geschichte der Wege Gottes mit dem Menschen wieder. Die Segnung des Menschen und die Ehre Gottes sind unauflöslich mit­einander verbunden, und beide zusammen ruhen auf derselben uner­schütterlichen Grundlage: auf Christus und Seinem kostbaren Werk.

 

In den Versen 8‑13 sehen wir, daß sowohl bei der Gnade für den Totschläger als auch bei dem Gericht des Mörders die Ehre Gottes und die Ansprüche Seiner Regierung aufrechterhalten werden mußten. Wer ohne Wissen und Vorsatz einen Menschen erschlagen hatte, erfuhr rettende Barmherzigkeit. Der schuldige Mörder fiel jedoch dem stren­gen Urteil einer unbeugsamen Gerechtigkeit anheim. Wir dürfen nie die ernste Wirklichkeit der göttlichen Regierung aus dem Auge verlieren. Sie begegnet uns überall, und ihre Anerkennung würde uns von allen einseitigen Anschauungen über den göttlichen Charakter befreien. Be­trachten wir zum Beispiel die Worte: "Dein Auge soll seiner nicht scho­nen". Wer sprach sie aus? Der HERR. Wer schrieb sie nieder? Der Heilige Geist. Was drücken sie aus? Ein ernstes Gericht über die Gott­losigkeit. Wir sollten uns hüten, mit solch ernsten Dingen zu spielen, und mögen wir bewahrt bleiben vor allen törichten Überlegungen über Dinge, die völlig außerhalb unseres Bereiches liegen. Eine falsche Gefühlsduselei geht oft Hand in Hand mit frechem Unglauben, der die ernsten Beschlüsse der Regierung Gottes in Frage stellt. Dieser Ge­danke ist sehr ernst. Der Übeltäter hat das Gericht eines Gottes, der die Sünde haßt, zu erwarten. Wenn ein Mörder sich die Vorsorge zunutze machen wollte, die Gott für den Totschläger getroffen hatte, wurde er aufgrund der Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit getötet. So war die Regierung Gottes in Israel damals, und so wird sie sich offenbaren an dem Tag, der nahe bevorsteht. Heute handelt Gott mit der Welt in langmütiger Gnade. Es ist der Tag des Heils, die Zeit der Annehmung. Aber der Tag der Rache ist nahe! Möchte jeder, anstatt über die Ge­rechtigkeit der Handlungen Gottes bezüglich der Übeltäter zu grübeln, seine Zuflucht zu dem Heiland nehmen, der am Kreuz starb, um uns von den ewigen Qualen der Hölle zu erretten!*)

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*) Weitere Einzelheiten über die Zufluchtsstädte enthalten die "Gedanken zum vierten Buch Mose". Kap. 35.

 

In Vers 14 finden wir einen Beweis von der Fürsorge Gottes für Sein Volk sowie von Seiner gnädigen Anteilnahme an allem, was es mittel­bar oder unmittelbar betrifft. "Du sollst nicht die Grenze deines ä ‑sten verrücken, welche die Vorfahren in deinem Erbteil gesetzt haben, das du erben wirst in dem Lande, welches der HERR, dein Gott, dir gibt, es zu besitzen".

 

Diese Stelle macht uns, wenn wir sie zunächst in ihrem buchstäblichen Sinn betrachten, mit dem liebevollen Herz Gottes vertraut und zeigt uns, wie Er auf alle Umstände Seines geliebten Volkes einging. Er hatte Israel nicht nur das Land gegeben, sondern auch jedem Stamm und jedem Geschlecht sein eigenes, genau bestimmtes und abgegrenztes Teil zugewiesen, so daß keine Verwirrung entstehen konnte, und kein Grund zu Grenz‑ und Eigentumsstreitigkeiten vorhanden war. Jeder war gleichsam ein Pächter des Gottes Israels, der das kleine Pachtgut jedes einzelnen genau kannte, dessen Auge darüber wachte und dessen Hand es gegen jeden Eindringling schützte. Jeder konnte daher in Frie­den unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen und sich an dem erfreuen, was ihm von dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs gegeben worden war.

 

Doch hat diese Stelle auch eine geistliche Bedeutung. Gibt es nicht auch geistliche Grenzsteine für die Kirche Gottes und jedes einzelne Glied, Grenzsteine, die mit göttlicher Genauigkeit die Grenzen unseres himmlischen Erbes bezeichnen und einst durch die Apostel unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus gesetzt worden sind? Ganz sicher. Das Auge Gottes wacht über sie, und Er wird ihr Verrücken nicht ungestraft lassen. Doch wollen wir hier nicht weiter auf die Frage eingehen, worin diese Grenzsteine bestehen, weil wir uns schon in früheren Abschnitten unserer Betrachtungen damit auseinandergesetzt haben. Jeder Christ sollte aber denen entschieden antworten, die unter dem Vorwand des Fortschritts und der Entwicklung die Grenzsteine der Kirche Gottes verrücken und uns anstatt der wertvollen Lehre Christi und Seiner Apostel, ihr sogenanntes Licht der Wissenschaft und die Hilfe der Philosophie anbieten wollen! Wir brauchen sie nicht. Wir haben Christus und Sein Wort. Was könnte dem noch hinzugefügt werden? Benötigen wir den menschlichen Fortschritt oder die Entwicklung, wenn wir das haben, "was von Anfang war"? Was kann die Wissenschaft oder die Philosophie für die tun, die die ganze "Wahrheit" besitzen? Ohne Zweifel sollten wir Fortschritte in der Erkenntnis Christi machen, und danach trachten, das Leben Christi in unserem täglichen Leben immer vollkommener darzustellen, aber dazu können uns Wissenschaft und Philosophie nichts nützen.

 

In den letzten Versen unseres Kapitels sehen wir, wie Gott falsche Zeu­gen haßt. Obgleich wir nicht unter Gesetz stehen, zeigt uns das doch, wie verabscheuungswürdig auch heute ein falscher Zeuge vor Gott ist. Ja, je mehr wir in die Gnade eindringen, in der wir stehen, um so mehr werden wir falsches Zeugnis, Verleumdung und übles Nachreden ver­abscheuen.

 

Kapitel 20

 

KRIEGSREGELN

 

Wunderbar ist es, in diesem Kapitel den HERRN als Krieger im Kampf gegen Israels Feinde zu sehen. Manchem fällt es schwer zu verstehen, wie ein gütiges Wesen in einem solchen Charakter auftreten kann. Aber die Schwierigkeit rührt hauptsächlich daher, daß man nicht zwi­schen den verschiedenen Haushalten unterscheidet. Es entspricht dem Charakter des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs ebenso, gegen Seine Feinde zu kämpfen, wie es dem Charakter des Gottes und Vaters unseres Herrn Jesus Christus entspricht, ihnen zu vergeben. Und da der geoffenbarte Charakter das Muster ist, nach dem Sein Volk sich bilden und nach dem es handeln soll, war es für Israel ebenso passend, seine Feinde zu erschlagen wie es für uns passend ist, sie zu lieben, für sie zu beten und ihnen Gutes zu tun.

 

Würde man diesen einfachen Grundsatz mehr beachten, so würde manches Mißverständnis und manche unweise Diskussion vermieden werden. Es ist ohne Zweifel ganz verkehrt, wenn die Kirche Gottes zum Schwert greift und Krieg führt. Wer das Neue Testament ohne Vorurteil liest, wird dem ohne Zögern zustimmen. Der Herr sagt zu Petrus: "Stecke dein Schwert wieder an seinen Ort, denn alle, die das Schwert nehmen, werden durch das Schwert umkommen" (Matth. 26, 52). In einem anderen Evangelium lesen wir: "Da sprach Jesus zu Petrus: Stecke das Schwert in die Scheide! Den Kelch, den mir der Vater gegeben hat, soll ich den nicht trinken?" (Joh. 18, 11). Weiter sagt der Herr zu Pilatus: "Mein Reich ist nicht von dieser Welt; wenn mein Reich von dieser Welt wäre, so hätten meine Diener gekämpft", ‑ das wäre dann vollkommen recht gewesen ‑ "jetzt aber ist mein Reich nicht von hier". Daher hätten die Diener ganz verkehrt gehandelt, wenn sie versucht hätten, ihren Herrn mit Gewalt zu befreien.

 

Alles das ist so klar, daß wir nur zu fragen brauchen ‑ "Wie liesest du?" Unser geliebter Herr kämpfte nicht, sondern unterwarf sich geduldig allen Schmähungen und Mißhandlungen. Dadurch hat Er uns ein Vor­bild hinterlassen, damit wir Seinen Fußstapfen nachfolgen. Wenn wir uns nur immer die Frage stellten: "Wie würde Jesus handeln?" so würden wir nie um eine Antwort verlegen sein.

 

Ebenso klar ist die Belehrung des Heiligen Geistes: "Rächet nicht euch selbst, Geliebte, sondern gebet Raum dem Zorn; denn es steht geschrie­ben: Mein ist die Rache; ich will vergelten, spricht der Herr. Wenn nun deinen Feind hungert, so speise ihn; wenn ihn dürstet, so tränke ihn; denn wenn du dieses tust, wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln. Laß dich nicht von dem Bösen überwinden, sondern über­winde das Böse mit dem Guten" (Röm. 12, 19‑21).

 

Das ist die herrliche Ethik für die Kirche Gottes, die Grundsätze des himmlischen Reiches, zu dem alle wirklichen Christen gehören. Aber wür­den sie auf das Volk Israel damals anwendbar gewesen sein? Ganz sicher nicht. Denken wir uns nur, Josua hätte nach den Grundsätzen von Röm. 12 mit den Kanaanitern verfahren wollen! Es wäre ebenso ver­kehrt und widersinnig gewesen, als wenn wir heute nach den Grund­sätzen von 5. Mose 20 handeln wollten. Dieser Unterschied kommt einfach daher, daß Gott zur Zeit Josuas in Gerechtigkeit Gericht aus­übte, während Er jetzt in unumschränkter Gnade handelt.

 

Wir dürfen selbstverständlich nicht erwarten, daß die Welt nach dem Grundsatz der Gnade handeln könnte. Der Versuch, die Grundsätze der Gnade mit den Völkerrechten oder den Geist des Neuen Testamen­tes mit den politischen Systemen der Welt zu vermischen, würde die menschliche Gesellschaft ganz sicher in Verwirrung bringen. Gerade in diesem Punkte haben viele vortreffliche und wohlmeinende Männer geirrt, wenn sie die Nationen der Welt zur Annahme eines Grund­satzes bringen wollten, der die Zerstörung ihres nationalen Bestehens zur Folge gehabt hätte. Die Zeit ist noch nicht gekommen, wo die Völ­ker den Krieg nicht mehr lernen, sondern ihre Schwerter zu Pflugscha­ren und ihre Spieße zu Sicheln machen werden. Sie wird kommen, wenn diese seufzende Erde voll sein wird der Erkenntnis des HERRN, wie die Wasser den Meeresgrund bedecken. Aber wenn man jetzt die Völker auffordern würde, nach den Grundsätzen der Gnade zu handeln, könnte man ihnen ebensogut sagen: "Hört auf zu bestehen!" Zudem sind wir als Christen nicht berufen, die Welt in Ordnung zu bringen, sondern sie einfach als Fremde und Wanderer zu durchlaufen. Der Herr Jesus kam nicht in diese Welt, um sie zu verbessern, sondern um zu suchen und zu erretten, was verloren ist. Bald wird Er wiederkommen, um dann alles in Ordnung zu bringen. Er wird Seine Macht und Herr­schaft annehmen und Sich mit der Welt beschäftigen im Gericht, indem Er alle Ärgernisse und alle, die Böses tun, aus Seinem Reich entfernt. Dann werden die Reiche dieser Welt die Reiche des HERRN und Seines Christus werden. Aber bis zu dieser Zeit müssen wir warten.

 

Israel jedoch sollte den Krieg des HERRN führen. Mit seinem Eintritt in das Land Kanaan begann ein Krieg ohne Schonung mit den verur­teilten Bewohnern dieses Landes. "jedoch von den Städten dieser Völ­ker, die der HERR, dein Gott, dir als Erbteil gibt, sollst du nichts leben lassen was Odem hat". So lautete der bestimmte und ausdrückliche Befehl des HERRN. Der Same Abrahams sollte nicht nur das Land Kanaan besitzen, sondern auch das Werkzeug Gottes in der Voll­streckung des gerechten Gerichts über seine schuldigen Bewohner bil­den, deren Sünden sich aufgehäuft hatten bis zum Himmel. Es war, dies eine große Ehre für Israel, deren sie sich allerdings nicht würdig erwie­sen, weil sie ihren Auftrag nicht vollständig ausführten. Sie ließen viele von denen am Leben, die sie hätten umbringen sollen, und gerade die, die sie verschonten, wurden schließlich zu Werkzeugen ihres eigenen Verderbens, da sie durch sie zu den Sünden verführt wurden, die das göttliche Gericht herausgefordert hatten.

 

Laßt uns jetzt die Eigenschaften betrachten, die die Krieger des HERRN kennzeichnen sollten. Der vorliegende Abschnitt ist voll wert­voller Belehrungen hierüber, im Blick auf den geistlichen Kampf, zu dem wir berufen sind. Das Volk mußte zunächst vor Beginn des Kampfes durch den Priester und dann durch die Vorsteher angespro­chen werden. Diese Ordnung ist sehr schön. Der Priester mußte das Volk an seine hohen Vorrechte erinnern, und die Vorsteher mußten von seiner heiligen Verantwortung reden. Das ist die göttliche Ordnung: zuerst die Vorrechte, dann die Verantwortung. "Und es soll gesche­hen ... , so soll der Priester herzutreten und zu dem Volke reden und zu ihnen sprechen: Höre, Israel! Ihr rücket heute zum Streite heran wider eure Feinde; euer Herz verzage nicht, fürchtet euch nicht und ängstigt euch nicht und erschrecket nicht vor ihnen; denn der HERR, euer Gott, ist es, der mit euch zieht, um für euch zu streiten mit euren Feinden, um euch zu retten" (V. 3. 4).

 

Was für ermutigende Worte! Sie waren dazu angetan, alle Furcht und Mutlosigkeit zu verbannen und das verzagte Herz mit Mut und Ver­trauen zu erfüllen. Der Priester war der Ausdruck der Gnade Gottes selbst. Eine Fülle reichen Trostes strömte durch seinen Dienst aus dem Herzen des Gottes Israels zu jedem einzelnen Krieger. Seine liebevollen Worte waren geeignet, den schwächsten Arm für den Kampf zu stärken und die Lenden der Gesinnung zu umgürten. Er versicherte ihnen, daß Gott mit ihnen sein würde. Da gab es keinen Zweifel, keine Bedingung, kein "Wenn" und kein Aber". Jehova‑Elohim war mit ihnen, und das war genug. Ob es viele oder wenige Feinde sein mochten, ob sie mäch­tig oder schwach waren, tat nichts zur Sache. In der Gegenwart des HERRN der Heerscharen, des Gottes der Schlachtreihen Israels, waren sie wie Spreu vor dem Wind.

 

Dann kamen die Vorsteher an die Reihe (V. 5‑9). Zwei Dinge hatten sie jedem vorzustellen, der in den Schlachtreihen Israels kämpfen wollte: ein Herz, das frei war von den natürlichen und irdischen Din­gen, und ein zuversichtliches Vertrauen auf Gott. "Niemand, der Kriegs­dienste tut, verwickelt sich in die Beschäftigungen des Lebens, auf daß er dem gefalle, der ihn angeworben hat‑ (2. Tim. 2, 4). Es liegt nun ein wesentlicher Unterschied darin, ob jemand mit den Dingen dieses Lebens beschäftigt oder in sie verwickelt ist. Ein Israelit konnte ein Haus, einen Weinberg und eine Frau haben und doch ein guter Krieger sein. Diese Dinge waren an sich kein Hindernis hierfür, aber sie wur­den es, sobald er sie in Situationen besaß, die geeignet waren, sein Herz in sie zu verwickeln.

 

Das sollten wir beachten. Wir sind als Christen berufen, einen stän­digen geistlichen Kampf zu führen und uns jeden Zollbreit Boden in den himmlischen Örtern zu erkämpfen. Was die Kanaaniter für Israel waren, das sind die geistlichen Mächte der Bosheit in den himmlischen Örtern für uns. Wir haben nicht um die Erlangung des ewigen Lebens zu kämpfen, denn das besitzen wir schon vor Beginn des Kampfes als eine freie Gabe Gottes. Wir sollen auch nicht unsere Errettung erkämpfen, denn wir sind errettet, ehe wir uns in den Kampf einlassen. Es ist wichtig, zu verstehen, wofür und mit wem wir zu kämpfen ha­ben. Der Zweck unseres Kampfes ist, unsere himmlische Stellung und unseren himmlischen Charakter praktisch zu verwirklichen und von Tag zu Tag in allen Situationen des Lebens aufrechtzuerhalten. Unsere Feinde sind, wie schon bemerkt, die geistlichen Mächte der Bosheit, denen es gegenwärtig noch erlaubt ist, sich in den himmlischen Örtern aufzuhalten. "Denn unser Kampf ist nicht wider Fleisch und Blut", wogegen Israel in Kanaan zu kämpfen hatte, "sondern wider die Für­stentümer, wider die Gewalten, wider die Weltbeherrscher dieser Finsternis, wider die geistlichen Mächte der Bosheit in den himmlischen Örtern" (Eph. 6, 12).

 

Was haben wir nun zu tun, um diesen Kampf zu führen? Müssen wir unseren irdischen Beruf aufgeben? Müssen wir unsere Beziehungen, die naturgegeben und von Gott bestätigt sind, auflösen und Einsiedler werden? Ganz und gar nicht! Würde ein Christ so etwas tun, dann würde er dadurch nur beweisen, daß er seine Berufung als "ein Kriegs­mann Jesu Christi" nicht versteht. Es ist unsere Pflicht, "mit unseren Händen das Gute zu wirken", damit wir dem Dürftigen helfen können. Und nicht nur das, sondern wir finden im Neuen Testament auch aus­führliche Anleitungen über unsere verschiedenen natürlichen Beziehun­gen, die Gott Selbst gegeben und geheiligt hat. Nein, unser irdischer Beruf und unsere natürlichen Beziehungen sind an und für sich kein Hindernis für einen erfolgreichen geistlichen Kampf.

 

Was hat denn ein christlicher Krieger nötig? Einerseits darf sein Herz nicht in diese irdischen und natürlichen Dinge verwickelt werden, und andererseits muß es mit völligem Vertrauen auf Gott erfüllt bleiben. Zu diesem Zweck bedarf er der ganzen Waffenrüstung Gottes.

 

In Eph. 6, 13‑18 stellt uns der Heilige Geist die Dinge vor, die zu einem erfolgreichen Kampf nötig sind. Die "Wahrheit" muß unseren inneren Menschen beherrschen, damit unser Leben durch wirkliche praktische "Gerechtigkeit" charakterisiert wird, damit unsere Gewohn­heiten und Wege das Gepräge des "Friedens" des Evangeliums an sich tragen, damit wir ganz und gar mit dem Schild des »Glaubens‑ bedeckt sind, damit der Sitz des Verstandes, der Kopf, durch die volle Gewißheit des "Heils" geschützt ist, und damit endlich das Herz durch anhalten­des Gebet und Flehen unterstützt, gestärkt und dahin geführt wird, ernste Fürbitte zu tun für alle Heiligen, besonders für die Arbeiter und für das Werk des Herrn. Das sind die Bedingungen, unter denen das geistliche Volk Gottes die geistlichen Mächte der Bosheit in den himm­lischen Örtern erfolgreich bekämpfen kann.

 

Der Schluß des 20. Kapitels enthält die Grundsätze, die Israel in seiner Kriegsführung beherrschen sollte. Sie hatten einen Unterschied zwischen den weiter entfernten Städten und denen der sieben verurteilten Na­tionen zu machen. Den ersteren sollten sie zunächst Friedensvorschläge unterbreiten, während sie sich mit den letzteren auf keine Bedingungen einlassen durften (V. 10‑15).

 

Israel sollte nicht rücksichtslos und unterschiedslos niedermetzeln und vernichten. War eine Stadt geneigt, den angebotenen Frieden anzu­nehmen, dann sollte sie das Vorrecht haben, dem Volk Gottes fron­pflichtig zu werden. Nahm sie den Frieden nicht an, dann sollte alles, was irgendwie verwendet werden konnte, verschont bleiben.

 

Es gibt natürliche und irdische Dinge, die für Gott gebraucht werden können, wenn sie durch Gottes Wort und durch Gebet geheiligt werden. Wir werden ermahnt, uns Freunde zu machen mit dem ungerechten Mammon, damit wir, wenn es mit uns zu Ende geht, aufgenommen werden in die ewigen Hütten. Das will einfach sagen, daß ein Christ die ihm zufallenden Güter dieser Welt fleißig und treu im Dienst Christi verwenden soll: zum Wohle der Armen, für die Arbeiter und das Werk des Herrn. Auf diese Weise wird ihm dieser Reichtum, an­statt unter den Händen zu verderben oder sich wie ein Rost an seine Seele zu setzen, einen weiten Eingang in das ewige Reich unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus verschaffen.

 

Vielen macht die oben angeführte Stelle (Luk. 16, 9) große Schwierig­keiten, doch ihre praktische und wichtige Belehrung ist klar und ein­dringlich. 1. Tim. 6 enthält eine ganz ähnliche Lehre: "Den Reichen in dem gegenwärtigen Zeitlauf gebiete, nicht hochmütig zu sein, noch auf die Ungewißheit des Reichtums Hoffnung zu setzen, sondern auf Gott.. der uns alles reichlich darreicht zum Genuß; Gutes zu tun, reich zu sein in guten Werken, freigebig zu sein, mitteilsam, indem sie sich selbst eine gute Grundlage auf die Zukunft sammeln, auf daß sie das wirk­liche Leben ergreifen" (V. 17‑19).*) Auch das Geringste, was wir einfältig für Christus verwendet haben, wird an jenem Tag in Erinnerung gebracht werden. Obgleich der Gedanke daran nicht unser Motiv sein sollte, kann er uns doch ermutigen, alles, was wir sind und haben, in den Dienst unseres Herrn und Heilandes zu stellen.

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*) Wirkliches Leben ist ein Leben für Christus, ein Leben im Licht der Ewigkeit, ein Benutzen alles dessen, was wir besitzen, zur Ehre Gottes und im Blick auf die ewigen Wohnungen. Das, und nur das, ist wirkliches Leben.

 

Die letzten Verse unseres Kapitels zeigen uns sehr schön, wie Gott nach den kleinsten Dingen sieht und dafür sorgt, daß nichts umkommt (V. 19. 20).

 

Kapitel 21

 

BLUTSCHULD UND SCHNUNG. DER "WIDERSPENSTIGE SOHN“

 

Die ersten neun Verse des 21. Kapitels sollten wir sehr aufmerksam betrachten, denn dieser Abschnitt ist sehr interessant und anregend. Eine Sünde ist begangen, denn ein Mensch ist erschlagen im Lande gefunden worden, aber niemand weiß etwas Näheres darüber, kein Mensch kann sagen, ob Mord oder Totschlag vorliegt oder wer die Tat begangen hat. Die Zusammenhänge, die zu diesem Tatbestand geführt haben, sind unbekannt. Eine Blutschuld befleckt das Land des HERRN, und der Mensch steht der Sache ratlos gegenüber. Was ist zu tun? Die Herrlichkeit Gottes und die Reinheit Seines Landes müssen gewahrt werden. Ihm ist alles bekannt, und Er allein weiß, was zu tun ist. Und wirklich, sein Handeln hat uns viel zu sagen.

 

Zuerst treten die Ältesten und Richter auf. Die Ansprüche der Wahrheit und Gerechtigkeit müssen gebührlich beachtet werden. Gerechtigkeit und Gericht müssen aufrecht erhalten werden. Die Sünde muß gerichtet werden, ehe Sünden vergeben oder Sünder gerechtfertigt werden kön­nen. Der Gerechtigkeit muß entsprochen, der Thron Gottes gerechtfer­tigt und der Name Gottes verherrlicht werden, ehe die Stimme der Barmherzigkeit reden kann. Die Gnade Gottes kann nur durch Gerech­tigkeit herrschen. Gott sei Dank, daß es so ist! Welch eine herrliche Wahrheit für alle, die den ihnen zukommenden Platz als Sünder ein­genommen haben! Gott ist in bezug auf die Sünde verherrlicht worden und kann jetzt in Gerechtigkeit dem Sünder vergeben und ihn recht­fertigen.

 

In der vorliegenden Stelle nun wird uns ohne Zweifel die große Grund­wahrheit der Versöhnung vorgestellt, aber es geschieht mit besonderer Beziehung auf Israel. Der Tod Christi wird hier von seinen beiden Seiten betrachtet, nämlich als Ausdruck der Schuld des Menschen und als Entfaltung der Gnade Gottes. jene sehen wir in dem Erschlagenen, der auf dem freien Feld gefunden, diese in der Färse, die in dem un­beackerten Tal getötet wurde. (Vergl. die Anm. zu 4. Mose 13, 23) Die Ältesten und Richter machen die dem Erschlagenen am nächsten gele­gene Stadt ausfindig, und nur das Blut eines fleckenlosen Opfers kann dieser Stadt helfen, ‑ ein Hinweis auf das Blut dessen, Der in der schuldigen Stadt Jerusalem getötet wurde.

 

Von dem Augenblick an, wo den Ansprüchen der Gerechtigkeit durch den Tod des Opfers Genüge geschehen ist, tritt ein neues Element auf. Die Priester, die Söhne Levis, müssen herzutreten: ein Bild der Gnade, die auf der Grundlage der Gerechtigkeit handelt. Die Priester sind die Kanäle der Gnade, wie die Richter die Hüter der Gerechtigkeit sind. Erst nachdem das Blut vergossen war, konnten die Diener der Gnade herzutreten. Der Tod der Färse veränderte alles, "Und die Priester, die Söhne Levis, sollen herzutreten; denn sie hat der HERR, dein Gott, erwählt, ihm zu dienen und im Namen des HERRN zu segnen; und nach ihrem Ausspruch soll bei jedem Rechtsstreit und bei jeder Verlet­zung geschehen." Alles soll nach dem herrlichen und ewigen Grundsatz der Gnade geordnet werden, die durch Gerechtigkeit herrscht.

 

Die Zeit nähert sich, wo Gott mit Israel in dieser Weise handeln wird. Wir dürfen bei der Betrachtung der Verordnungen in diesem Buch nie deren nächstliegende Anwendung aus dem Auge verlieren. Ohne Zwei­fel liegen in diesen Verordnungen wertvolle Lehren für uns. Aber wir können sie doch nur dann verstehen und schätzen, wenn wir die wirk­liche und eigentliche Bedeutung der Verordnungen erkennen. Wie wert­voll und tröstlich ist z. B. die Tatsache, daß nach dem Ausspruch des Dieners der Gnade bei jedem Rechtsstreit und bei jeder Verletzung gehandelt werden soll. Es ist wertvoll sowohl für das bußfertige Volk Israel in der Zukunft, als auch für jede bußfertige Seele jetzt!

 

"Und alle Ältesten jener Stadt, die dem Erschlagenen am nächsten sind, sollen ihre Hände über der Färse waschen, welcher das Genick im Tal gebrochen worden ist.*) "Ich wasche in Unschuld meine Hände, und umgehe deinen Altar, HERR" (Ps. 26, 6). Nur da, wo das Sühnungs­blut unsere Schuld für immer gesühnt hat, ist der Platz, wo wir unsere Hände waschen können. "Und sie sollen anheben und sprechen: Unsere Hände haben dieses Blut nicht vergossen, und unsere Augen haben es nicht gesehen; vergib, HERR, deinem Volk Israel, was du erlöst hast, und lege nicht unschuldiges Blut in deines Volkes Israel Mitte. Und die Blutschuld wird ihnen vergeben werden."

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*) Welch ein bedeutungsvolles Bild gibt uns dieses "unbeackerte Tal" von dem, was diese Welt und insbesondere das Land Israel für unseren Herrn und Heiland war! Wahrhaftig, es war für Ihn ein Ort der tiefsten Erniedri­gung, ein Land, das nie bearbeitet noch besät worden war. Aber durch Seinen Tod, den Er dort erlitt, hat Er dieser Erde und dem Land Israel für die Dauer des tausendjährigen Reiches eine reiche Segensernte verschafft, .um Preise Seiner erlösenden Liebe. Und Er kann jetzt vorn Thron der Majestät des Himmels aus zurückblicken (und wir im Geiste mit Ihm) auf jenen öden finsteren Ort, an dem das Werk vollbracht wurde, das die unerschüt­terliche Grundlage der Herrlichkeit Gottes, der Segnungen der Kirche, der völligen Wiederherstellung Israels, der Freude unzähliger Nationen und end­lich der glorreichen Befreiung dieser seufzenden Schöpfung bildet.

 

 „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun!" (Luk. 23, 34a). "Euch zuerst hat Gott, als er seinen Knecht erweckte, ihn gesandt, euch zu segnen, indem er einen jeden von euren Bosheiten abwendet" (Apg. 3, 26). Entsprechend wird ganz Israel einmal errettet und ge­segnet werden nach den ewigen Vorsätzen Gottes und wegen Seiner Verheißung und des Eides, den Er Abraham geschworen hat und der durch das Blut Christi auf ewig bestätigt worden ist.

 

Die Verse 10‑17 beziehen sich ausschließlich auf Israel und auf sein Verhältnis zu dem HERRN. Wir wollen uns hierbei nicht länger auf­halten. Man wird in den Propheten zahlreiche Stellen finden, die mit der vorliegenden in Verbindung stehen, und in denen der Heilige Geist Sich in rührender Weise an das Gewissen des Volkes wendet und ihm jenes wunderbare Verhältnis ins Gedächtnis ruft, in das der HERR es zu Sich Selbst gebracht hatte, in dem es aber in so offenbarer und trauriger Weise versagt hat. Israel hat sich dem HERRN gegenüber als eine untreue Frau erwiesen und ist darüber beiseitegesetzt worden. Aber die Zeit nähert sich, wo dieses lange verworfene, aber nie ver­gessene Volk nicht nur wiederhergestellt, sondern auch Segnungen, Vorrechte und Herrlichkeiten empfangen wird, die es nie vorher ge­kannt hat. Wir dürfen dies nicht aus dem Auge verlieren. Wie ein glänzender goldener Faden zieht es sich durch alle prophetischen Bücher hindurch, von Jesaja bis Maleachi, und das Neue Testament nimmt dieses schöne Thema wieder auf und ergänzt es.

 

Der nächste Abschnitt zeigt uns Israel von einem anderen Gesichts­punkt. Wir lesen von einem "unbändigen und widerspenstigen Sohn", dem treffenden Bild jenes abtrünnigen Geschlechts, für das es keine Vergebung gibt (V. 18‑21). Wir machen hier den Leser auf den inter­essanten Unterschied zwischen der Handlung des Gesetzes und der gött­lichen Regierung bezüglich des unbändigen Sohnes einerseits und dem ergreifenden Gleichnis von dem verlorenen Sohn in Luk. 15 anderer­seits aufmerksam. Ist es nicht eine wunderbare Sache, daß in 5. Mose 21 und in Luk. 15 derselbe Gott redet und handelt? Wie verschieden ist die Sprache! Wie verschieden die Handlungsweise! Unter dem Gesetz wird der Vater aufgefordert, seinen Sohn zu nehmen und ihn den Ältesten seiner Stadt zu übergeben, damit er gesteinigt werde. Unter der Gnade eilt der Vater dem zurückkehrenden Sohn entgegen, fällt ihm um den Hals und küßt ihn. Er bekleidet ihn mit der vornehmsten Kleidung, gibt ihm einen Ring an seine Hand und Schuhe an seine Füße. Er läßt das gemästete Kalb für ihn schlachten, und das ganze Haus ist mit Freude und Jubel erfüllt.

 

Welch ein Gegensatz! Im ersten Fall übt die Hand Gottes in gerechter Regierung das Gericht über den Widerspenstigen aus, im zweiten Fall offenbart sich das Herz Gottes in ergreifender Zärtlichkeit gegenüber dem armen Bußfertigen, dem Er versichert, daß Er Selbst innige Freude über seine Umkehr empfindet. Den Verstockten treffen die Steine des Gerichts. Der bußfertig Zurückkehrende empfängt den Kuß der Liebe.

 

Werfen wir schließlich noch einen Blick auf die letzten Verse unseres Kapitels, auf die der Apostel im dritten Kapitel des Galaterbriefes an­spielt. "Christus hat uns losgekauft von dem Fluche des Gesetzes, indem er ein Fluch für uns geworden ist; denn es steht geschrieben: "Verflucht ist jeder, der am Holze hängt!"

 

Diese Anspielung ist besonders deshalb so interessant und wertvoll, weil sie uns nicht nur die Gnade unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus verstehen läßt, der ein Fluch für uns geworden ist, damit der Segen Abrahams auf uns arme Sünder aus den Nationen käme, sondern auch weil sie uns zeigt, wie der Heilige Geist auf die Schriften Moses und besonders auf das fünfte Buch Mose Sein Siegel drückt. Derselbe Geist weht durch alle Schriften des Alten und Neuen Testaments.

 

Kapitel 22‑25

 

ANORDNUNGEN UND VORSCHRIFTEN. IHRE WICHTIGKEIT UND SCHÖNHEIT

 

wenn auch die einfachen Darstellungen dieser Kapitel nicht vieler Er­klärungen bedürfen, enthalten sie doch zwei sehr wichtige praktische Lehren für uns. Zunächst liefern uns die hier mitgeteilten Anordnungen und Vorschriften einen schlagenden Beweis für die schrecklichen Ver­dorbenheiten des rnenschlichen Herzens. Sie zeigen uns, wozu der Mensch fähig ist, wenn er sich selbst überlassen bleibt. Beim Lesen die­ser Abschnitte mögen wir uns in unserer eingebildeten Weisheit viel­leicht versucht fühlen, zu fragen: Warum sind solche Worte geschrie­ben worden? Sollte der Heilige Geist sie wirklich eingegeben haben? Welchen Wert können sie für uns haben?

 

Unsere Antwort lautet: Alle diese Stellen, die am wenigsten auf den Blättern der Inspiration erwartet werden, belehren uns in ihrer eigenen besonderen Art, aus welchem Holz wir in moralischer Hinsicht ge­schnitzt sind, und in welche Tiefen des Verderbens wir fallen können. Ist eine solche Belehrung nicht von besonderer Wichtigkeit? Ist es nicht gut, einen Spiegel zu haben, der uns alle Züge unseres sittlichen Zu­standes getreu und vollkommen wiedergibt? Man redet heute so viel von der Würde der menschlichen Natur, und viele bestreiten, daß sie fähig sind, solche Sünden zu begehen, wie sie in den vor uns liegenden Kapiteln und an anderen Stellen der Schrift erwähnt werden. Aber Gott würde uns sicher nicht vor einer Sünde warnen, wenn wir nicht fähig wären, sie zu begehen. Die göttliche Weisheit wird niemals einen Damm bauen, wenn nicht eine Strömung vorhanden ist, die ihn nötig macht. Einem Engel zu sagen: "Du sollst nicht stehlen", wäre unnötig. Der Mensch aber ist diebisch veranlagt und hat darum jenes Gebot nötig. Ebenso verhält es sich mit jeder anderen verbotenen Sache. Das Verbot ist der Beweis dafür, daß die Neigung im Menschen vorhanden ist, das Verbotene zu tun.

 

Es mag hierauf erwidert werden, daß die in der Schrift erwähnten schrecklichen Verbrechen in der Geschichte der Menschheit wohl vor­gekommen sein mögen, daß man aber doch nicht alle Menschen dazu für fähig halten dürfe. Aber das ist ein großer Irrtum. Hören wir, was der Heilige Geist in Jer. 17, 9 sagt: "Arglistig ist das Herz, mehr als alles, und verderbt ist es; wer mag es kennen?" Von wessen Herzen ist hier die Rede? Von dem eines schweren Verbrechers oder eines rohen Wilden? Nein, von dem menschlichen Herzen überhaupt, dem Herzen des Schreibers und dem des Lesers dieser Zeilen. So sagt auch der Herr Jesus: "Aus dem Herzen kommen hervor böse Gedanken. Mord, Ehebruch, Hurerei, Dieberei, falsche Zeugnisse, Lästerungen" (Matth. 15). Redet der Herr hier von dem Abschaum der menschlichen Gesellschaft? 0 nein, sondern von mir und dir.

 

Wenn Gott nur einen Augenblick Seine bewahrende Gnade von uns zurückzöge, so würden wir alle zu den schrecklichsten Verbrechen fähig sein. Wir dürfen wirklich sagen ‑ und tun es mit dankerfülltem Her­zen ‑ daß es Seine gnädige Hand ist, die uns jeden Augenblick be­wahrt, damit wir nicht nach Leib und Seele Schiffbruch erleiden.

 

Wie bereits bemerkt, enthalten die vor uns liegenden Kapitel noch eine andere Lehre. Sie zeigen uns in einer besonderen Art, wie Gott für alles sorgte, was irgendwie mit Seinem Volk zusammenhing. Nichts ent­ging Ihm, nichts war zu gering für Ihn. Keine Mutter könnte besorgter für ihr Kind sein, als es der allmächtige Schöpfer und Beherrscher des Weltalls in bezug auf die geringsten Dinge im täglichen Leben Seines Volkes war. Er wachte über sie Tag und Nacht, ob sie wachten oder schliefen, zu Hause oder unterwegs waren. Ihre Kleidung, ihre Nah­rung, ihr Verhalten untereinander, das Bauen ihrer Häuser, das Pflü­gen und Besäen ihrer Felder, ihr Verhalten im intimsten Bereich ihres persönlichen Lebens, alles überwachte Er mit einer Sorgfalt, die uns mit Bewunderung, Liebe und Anbetung erfüllt. Wir sehen daraus, daß für unseren Gott nichts zu nebensächlich ist, wenn es sich um Sein Volk handelt. Mit einem zärtlichen und väterlichen Interesse denkt Er an die geringfügigsten Angelegenheiten. Der Höchste, der Erhalter des ganzen Weltalls, läßt sich herab, über ein Vogelnest Bestimmungen zu treffen. Und doch, warum sollten wir uns darüber wundern, da wir ja wissen, daß es für Ihn gleich ist, ob Er täglich Millionen von Men­schen oder einen einzigen Sperling ernährt?

 

Eine Tatsache aber mußte wegen ihrer Bedeutung von jedem Mitglied der Versammlung Israels immer beachtet werden: die göttliche Gegen­wart in ihrer Mitte. Das Wissen um diese Gegenwart mußte ihr ganzes Verhalten bestimmen und sie in all ihrem Tun leiten. Denn der HERR, dein Gott, wandelt inmitten deines Lagers, um dich zu erretten und deine Feinde vor dir dahinzugeben; und dein Lager soll heilig sein, daß er nichts Schamwürdiges unter dir sehe und sich von dir abwende­(Kap. 23, 14).

 

Welch ein Vorrecht war es für Israel, zu wissen, daß der HERR Sich in ihrer Mitte aufhielt! Welch ein Motiv zur Reinheit des Wandels und zur gewissenhaften Prüfung aller ihrer persönlichen und häuslichen Gewohnheiten! Der HERR war mitten unter ihnen, um ihnen den Sieg über ihre Feinde zu sichern, aber Er war auch da, um ein heiliges Leben von ihnen zu fordern. Nie durften sie die erhabene Person vergessen, die in ihrer Mitte einherging. Konnte der Gedanke an Seine Gegen­wart jemand lästig sein? Nur solchen, die Heiligkeit, Reinheit und sitt­liche Ordnung nicht liebten. jeder treue Israelit mußte sich über den Gedanken freuen, daß sich da Einer unter ihnen aufhielt, der das Un­heilige, Ungeziemende und Unreine nicht dulden konnte.

 

Die Kraft und Anwendbarkeit des heiligen Grundsatzes ist leicht zu verstehen. Alle wirklich Gläubigen besitzen den Vorzug, Gott den Heiligen Geist sowohl in ihrer Mitte, als auch persönlich in sich woh­nen zu haben. Wir lesen in 1. Kor. 6, 19: "Oder wisset ihr nicht, daß euer Leib der Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch wohnt, den ihr von Gott habt, und daß ihr nicht euer selbst seid?" Das ist persönlich; Jeder Gläubige ist ein Tempel des Heiligen Geistes, und auf diese herrliche und wertvolle Wahrheit gründet sich die Ermahnung in Eph. 4, 30: "Und betrübet nicht den Heiligen Geist Gottes, durch wel­chen ihr versiegelt worden seid auf den Tag der Erlösung".

 

Wie überaus wichtig ist es, immer daran zu denken! Welch ein kraft­volles Motiv zur fleißigen Pflege der Reinheit des Herzens und der Heiligkeit des Lebens! Welch ein kräftiger Zügel ist die Verwirklichung der Tatsache, daß der Heilige Geist in unserem Leib als in Seinem Tempel wohnt, für jede falsche Richtung der Gedanken und Gefühle, für alle unwürdigen Redensarten und jedes ungeziemende Verhalten! Viele unbedachte Äußerungen und törichte Handlungen würden vermieden werden, wenn wir uns dieser Tatsache immer bewußt wären.

 

Aber der Heilige Geist wohnt nicht nur in jedem einzelnen Gläubigen, sondern auch in der Kirche als solcher. "Wisset ihr nicht, daß ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt?" (i. Kor. 3, 16). Auf diese Tatsache gründet der Apostel seine Ermahnung in 1. Thess. 5, 19: "Den Geist löschet nicht aus". Wie göttlich vollkommen ist die Schrift! Wie wunderbar ist sie zusammengefügt! Der Heilige Geist wohnt in uns persönlich, und deshalb sollen wir Ihn nicht betrüben. Er wohnt in der Versammlung, und deshalb werden wir ermahnt, Ihn nicht aus­zulöschen, sondern Ihm Seinen gebührenden Platz zu geben und Seinem Wirken freien Raum zu lassen.

 

Wir möchten jetzt noch auf einige Stellen in den vor uns liegenden Kapiteln aufmerksam machen, die uns ein treffendes Bild von der Weisheit und Güte, aber auch von der Heiligkeit und Gerechtigkeit der Wege und Handlungen Gottes mit Seinem damaligen Volk geben. "Du sollst nicht das Rind deines Bruders oder sein Kleinvieh irregehen sehen und dich ihnen entziehen; du sollst sie deinem Bruder jedenfalls zurückbringen. Wenn aber dein Bruder nicht nahe bei dir ist, und du kennst ihn nicht, so sollst du sie in dein Haus aufnehmen, daß sie bei dir seien, bis dein Bruder sie sucht; dann gib sie ihm zurück. Und ebenso sollst du mit seinem Esel tun, und ebenso sollst du mit seinem Gewande tun, und ebenso sollst du mit allem Verlorenen deines Bru­ders tun, das ihm verloren geht, und das du findest; du kannst dich nicht entziehen. Du sollst nicht den Esel deines Bruders oder sein Rind auf dem Wege fallen sehen und dich ihnen entziehen; du sollst sie jedenfalls mit ihm aufrichten" (Kap. 22, 1‑4).

 

Hier begegnen wir wieder den beiden Lehren, von denen wir weiter oben gesprochen haben. Welch ein demütigendes Bild des menschlichen Herzens geben uns die Worte: "Du kannst dich nicht entziehen"! Wir sind fähig, uns aus niedriger und häßlicher Selbstsucht den Ansprüchen zu entziehen, die unser Bruder auf unseren Beistand hat, fähig, uns der heiligen Verpflichtung zu entledigen, seine Interessen zu wahren, und zwar unter dem Vorwand, diese nicht gekannt zu haben. So ist der Mensch!

 

Wie herrlich strahlt dagegen das Wesen Gottes aus der vorliegenden Stelle hervor! Niemand sollte seines Bruders Rind, Kleinvieh oder Esel für etwa angerichteten Schaden als Pfand zurückbehalten, sondern viel­mehr in sein Haus führen, versorgen und unversehrt dem Eigentümer wieder zustellen, ohne irgendwelchen Schadenersatz zu beanspruchen. Ebenso sollte es mit der Kleidung des Bruders und mit allem gesche­hen, was ihm verloren gehen mochte. Wie schön ist das! Wir atmen hier die Luft der Gegenwart Gottes, die Atmosphäre göttlicher Güte und Liebe. Welch ein hohes und heiliges Vorrecht für ein Volk, so auserlesene Satzungen und Rechte zu besitzen, durch die sein Leben und Charakter beherrscht und gebildet wurden!

 

Diese an alles denkende Liebe tritt uns in der folgenden Stelle ent­gegen: "Wenn du ein neues Haus baust, so sollst du ein Geländer um dein Dach machen, damit du nicht eine Blutschuld auf dein Haus bringest, wenn irgend jemand von demselben herabfiele". Der HERR wollte, daß Sein Volk stets an das Wohl anderer dachte. Beim Bauen ihrer Häuser sollten sie daher nicht bloß sich und ihre Bequemlichkeit, sondern auch die Sicherheit anderer berücksichtigen. Kann der Christ nicht etwas daraus lernen? Wie sind wir so geneigt, immer nur an uns, an unsere eigenen Interessen, Bequemlichkeiten und Vorteile zu den­ken! Wie selten geschieht es, daß wir Rücksicht auf andere nehmen! Wir tun alles nur für uns selbst, weil leider meistens das "Ich" Ursache und Ziel unserer Unternehmungen bildet. Und es kann nicht anders sein, wenn nicht das Herz unter der leitenden Kraft der dem Christen­tum eigenen Motive und Ziele steht. Wir müssen in der reinen und himmlischen Luft der neuen Schöpfung leben, um von der niedrigen Selbstsucht frei zu bleiben, die die gefallene Menschheit charakterisiert. jeder unbekehrte Mensch, wer er auch sei, wird in der einen oder ande­ren Form durch das "Ich" beherrscht. Es bildet den Mittelpunkt, Zweck und Beweggrund all seiner Handlungen.

 

Wohl ist es wahr, daß der eine Mensch liebenswürdiger, anspruchsloser, uneigennütziger und angenehmer ist als der andere. Aber unmöglich kann der "natürliche Mensch" durch geistliche Motive geleitet oder durch himmlische Einflüsse belebt werden. Leider müssen wir, die wir uns rühmen, himmlische und geistliche Menschen zu sein, mit Scham und Schmerz bekennen, daß auch wir nur zu geneigt sind, uns selbst zu leben, unsere eigenen Interessen und unsere eigene Bequemlichkeit zu suchen. Wir sind tätig und lebendig, sobald es sich um das "Ich" in irgendeiner Form handelt.

 

Das ist traurig und demütigend. Es wäre anders, wenn wir einfältiger und ernster auf Christus als unser großes Vorbild in allen Dingen sähen. Die beständige Beschäftigung des Herzens mit Christus ist das Geheimnis alles wirklichen praktischen Christentums. Bloße Regeln und Vorschriften machen uns in unserer Gesinnung und unserem Verhalten nie Christus gleichförmig. Nur wenn wir Seinen Geist in uns wirken lassen, in Seine Fußstapfen treten und uns mit den Herrlichkeiten in Seiner Menschheit beschäftigen, werden wir Seinem Bild mehr und mehr gleichförmig werden. "Wir alle aber, mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden verwandelt nach dem­selben Bilde von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, als durch den Herrn, den Geist" (2. Kor. 3, 18).

 

Die folgenden wichtigen Belehrungen sind voll von Anleitungen für jeden christlichen Arbeiter. "Du sollst deinen Weinberg nicht mit zweierlei Samen besäen, damit nicht die Fülle des Samens, den du gesät hast, und der Ertrag des Weinbergs geheiligt werden" (Kap. 22, 9).

 

Ein sehr wichtiges Prinzip! Wir fürchten, daß in der heutigen Zeit viel von diesem "vermischten Samen" gesät wird. Vielfach wird in der Christenheit die Predigt des Wortes vermischt mit "Philosophie und eitlem Betrug", mit "der fälschlich sogenannten Kenntnis" und mit den "Elementen der Welt"! Selten wird der reine, unverfälschte Same des Wortes Gottes, der "unverwesliche Same" des Evangeliums Christi in unseren Tagen auf dem weiten Feld der Christenheit ausgestreut, und die Zahl derer ist verhältnismäßig klein, denen die Bibel genügt, um aus ihr den Stoff für ihren Dienst zu schöpfen. Wer durch die Gnade Gottes treu genug ist, es zu tun, wird als einseitiger, engherziger Mensch ange­sehen. Er gehört, wie man sagt, zu der alten Schule und ist weit hinter seiner Zeit zurückgeblieben.

 

Wir können Gott nur von ganzem Herzen bitten, daß Er diese einsei­tigen Männer aus der guten alten apostolischen Schule segnen möge. Wir beglückwünschen sie von ganzem Herzen, daß sie so engherzig sind und so weit hinter der gegenwärtigen Zeit des Unglaubens und der ]Finsternis zurückbleiben. Wir sind überzeugt, daß jeder wirkliche Die­ner Christi ein Mann, beseelt von einem Gedanken sein muß, und dieser Gedanke ist Christus. Er muß so engherzig sein wie die Wahr­heit Gottes und darf kein Haarbreit von ihr abweichen. Wir können uns der Überzeugung nicht verschließen, daß die Anstrengungen der Prediger und Lehrer der Christenheit, mit der zeitgenössischen Literatur Schritt zu halten, zum großen Teil Schuld sind an den schnellen Fort­schritten des Vernunftglaubens und des Unglaubens. Sie haben sich von den Heiligen Schriften entfernt und ihren Dienst mit dem, was Philo­sophie, Wissenschaft und Literatur ihnen boten, zu schmücken gesucht, Auf diese Weise haben sie mehr auf den Verstand als auf das Herz und Gewissen ihrer Zuhörer gewirkt. Die reinen und wertvollen Leh­ren der Heiligen Schrift, die unverfälschte Milch des Wortes, das Evan­gelium von der Gnade Gottes und der Herrlichkeit Christi hielt man für ungenügend, um große Gemeinden aufzuziehen und zusammenzu­halten. Wie Israel damals das Manna verachtete, seiner überdrüssig wurde und es eine lose Speise nannte, so ist die bekennende Kirche der reinen Lehre des herrlichen Christentums, die im Neuen Testament entfaltet wird, überdrüssig geworden und hat nach Nahrung für den Verstand und die Einbildungskraft gelechzt. Die Lehre vom Kreuz, dessen sich der Apostel rühmte, hat ihren Reiz für sie verloren, und jeder, der noch in persönlicher Treue daran festhält und seinen Dienst darauf beschränkt, diese Lehre zu verkündigen, kann ruhig jeden Ge­danken an Volkstümlichkeit und Beliebtheit aufgeben.

 

Möchten dagegen alle wirklichen treuen Diener Christi unbeirrt und mit unwandelbarer Energie an dem oben angeführten Grundsatz fest­halten, nicht "zweierlei Samen" auszustreuen! Möchten sie in der Aus­übung ihres Dienstes nicht von dem "Bild gesunder Worte" abweichen, und das "Wort der Wahrheit recht teilen", damit sie sich nicht zu schä­men brauchen, sondern vollen Lohn empfangen an dem Tag, an dem das Werk jedes einzelnen geprüft wird! (2. Tim. 1, 13; 2, 15). Unbe­streitbar ist der reine Same des Wortes Gottes das einzige Material, das sich zum Gebrauch für den geistlichen Arbeiter eignet. Wir sind weit davon entfernt, die Gelehrsamkeit verachten zu wollen. Wir schät­zen sie vielmehr an ihrem Platz sehr hoch. Die Ergebnisse der Wissen­schaft und die Hilfsmittel der gesunden Philosophie können sicher zur Entfaltung und Erläuterung der Wahrheiten der Heiligen Schrift nütz­lich verwandt werden. Unser Herr Selbst und Seine Apostel haben in ihren öffentlichen Lehrreden von den Tatsachen der Geschichte und der Natur Gebrauch gemacht, und welcher vernünftige Mensch würde z. B. den Wert und die Wichtigkeit einer gründlichen Kenntnis der hebräischen und griechischen Sprache, sowohl für die persönliche Erforschung, als auch für die Verkündigung und Auslegung des Wortes Gottes be­zweifeln?

 

Aber bei alledem bleibt doch der große praktische, für die Gläubigen und besonders für die Arbeiter des Herrn unumgänglich notwendige Grundsatz unangetastet, daß der Heilige Geist die einzige Kraft und die Heilige Schrift die einzige Grundlage für jeden Dienst bilden, sei es im Werk des Evangeliums oder in der Versammlung Gottes. Würde dieser Grundsatz besser verstanden und treuer befolgt, so würden wir bald ganz andere Verhältnisse im Weinberg Christi feststellen.

 

Wir schließen diesen Abschnitt, da wir uns mit dem "ungleichen Joch“ ­bereits an anderer Stelle beschäftigt haben. Ein Israelit durfte nicht mit einem Rinde und einem Esel zugleich pflügen, noch durfte er sich mit verschiedenartigem Stoff, mit Wolle und Leinen zugleich bekleiden. Die geistliche Anwendung dieser beiden Dinge ist einfach, aber auch wichtig. Der Christ darf sich nicht mit einem Ungläubigen ‑ zu wel­chem Zweck auch immer ‑ verbinden, noch darf er sich durch gemischte Grundsätze beherrschen lassen. Vielmehr müssen die erhabenen und reinen Grundsätze des Wortes Gottes seinen Charakter formen und sein Leben beherrschen.

 

Kapitel 26

 

DIE DARBRINGUNG DER ERSTLINGSFRÜCHTE

 

In der Verordnung über die Darbringung der Erstlingsfrüchte in den ersten vier Versen dieses Kapitels gibt es einige Grundsätze von tief­ster Bedeutung und praktischer Wichtigkeit. Natürlich konnte Israel erst dann die Früchte des Landes der Verheißung darbringen, wenn der HERR sie dorthin geführt hatte. Erst dann konnte der Anbeter sagen: "Ich tue heute dem HERRN, deinem Gott, kund, daß ich in das Land gekommen bin, welches der HERR unseren Vätern geschworen hat, uns zu geben".

 

Auf dieser Tatsache beruht die Stellung des Anbeters. Er sagt nicht: "Ich werde kommen", oder "Ich hoffe oder sehne mich danach, zu kom­men", sondern: "Ich bin gekommen in das Land der Verheißung". Wir müssen wissen, daß wir errettet sind, ehe wir die Früchte einer gekann­ten Erlösung darbringen können. Wir mögen aufrichtig nach Erlösung verlangen und uns ernstlich anstrengen, ihrer teilhaftig zu werden, aber offenbar sind diese Anstrengungen ganz etwas anderes, als die Früchte einer bewußten und verwirklichten Erlösung. Der Israelit brachte nicht den Korb mit den Erstlingsfrüchten, um dadurch in das Land zu kommen, sondern weil er sich tatsächlich darin befand. Er sagte gleichsam: "ich tue heute kund, daß ich in das Land gekommen bin, und hier ist die Frucht davon". Damit aber konnte von einem Irrtum, von einem Zweifel oder von einer Hoffnung keine Rede mehr sein.

 

Die folgenden Verse enthalten ein schönes Bild von wirklicher Anbe­tung. "Ein umherirrender Aramäer war mein Vater". Das war der Ursprung des israelitischen Anbeters. Da gab es für die Natur keinen Anlaß zum Rühmen. In welchem Zustand hatte ihn die Gnade gefunden? In der Sklaverei Ägyptens, in den Ziegelbrennereien und unter der Geißel der ägyptischen Treiber. Aber was dann? "Da schrien wir zu dem HERRN." Das war alles, was sie tun konnten, aber es war genug. Dieser Schrei der Hilflosigkeit und Not drang zu Gottes Thron und Herz und bewirkte, daß Er herabkam zu den Ziegelöfen Ägyptens. Hören wir die Worte, die Er zu Mose sprach: "Gesehen habe ich das Elend meines Volkes, das in Ägypten ist, und kenne seine Schmerzen. Und ich bin herabgekommen, um es aus der Hand der Ägypter zu er­retten und es aus diesem Lande hinaufzuführen in ein gutes und geräu­miges Land, in ein Land, das von Milch und Honig fließt ... Und nun siehe, das Geschrei der Kinder Israel ist vor mich gekommen; und ich habe auch den Druck gesehen, womit die Ägypter sie drücken" (2. Mose 3, 7‑9). So lautet die unmittelbare Antwort des HERRN auf das Schreien Seines Volkes. "Ich bin herabgekommen, um es zu erretten." ja, Er kam in Seiner freien und unumschränkten Gnade herab, um Sein Volk zu befreien, und keine Macht der Menschen oder der Teufel hätte die Israeliten über die bestimmte Zeit hinaus festhalten können. In unserem Kapitel nun finden wir das große Ergebnis des Eingreifens des HERRN in den Worten des Anbeters und in seinem gefüllten Korb. "Ich tue heute ... kund, daß ich in das Land gekommen bin, welches der HERR unseren Vätern geschworen hat, uns zu geben! ... Und nun siehe, ich habe die Erstlinge der Frucht des Landes gebracht, das du, HERR, mir gegeben hast." Der HERR hatte nach der Liebe Seines Her­zens und nach der Treue Seines Wortes alles erfüllt. Nicht ein Jota, nicht ein Strichlein war unverwirklicht geblieben. "Ich bin gekommen“ und: "ich habe die Frucht gebracht". Die Frucht wovon? Von Ägypten? Nein; sondern "von dem Lande, das du, HERR, mir gegeben hast". Die Lippen des Anbeters verkündeten die Vollständigkeit des Werkes des HERRN, und sein Korb enthielt die Frucht des Landes des HERRN. Nichts konnte einfacher, nichts wirklicher sein. Da gab es keinen Raum für Zweifel oder Ungewißheit. Der Anbeter hatte nur das Werk des HERRN zu verkünden und die Frucht zu zeigen. Alles war von Gott, von Anfang bis Ende. Er hatte sie aus Ägypten geführt und nach Kanaan gebracht. Er hatte ihre Körbe mit den saftigen Früchten Seines Landes und ihre Herzen mit Seinem Lob gefüllt.

 

War es Anmaßung, wenn ein Israelit so sprach? War es richtig, be­scheiden und demütig von ihm, zu sagen: "Ich bin in das Land gekom­men?" Wäre ein unbestimmtes Hoffen, früher oder später einmal dort­hin zu kommen, nicht passender für ihn, und wären Zweifel und Un­gewißheit über seine Stellung und sein Besitz nicht ehrender für den Gott Israels gewesen? Mancher meint vielleicht: "Das läßt sich doch mit unserer gegenwärtigen Stellung als Christen nicht vergleichen". Warum nicht? Wenn ein Israelit damals sagen konnte: "Ich bin in das Land gekommen, das der HERR unseren Vätern geschworen hat, uns zu geben", sollte dann ein Gläubiger heute nicht sagen können: "Ich bin zu Jesus gekommen"? Zwar war es bei ihnen ein Schauen, während es bei uns Glaube ist. Aber beeinträchtigt das die Wirklichkeit? Sagt nicht der Apostel zu den Hebräern: "Ihr seid gekommen zu dem Berge Zion"? und: "Deshalb, da wir ein unerschütterliches Reich empfangen, laßt uns Gnade haben, durch welche wir Gott wohlgefällig dienen mö­gen mit Frömmigkeit und Furcht"? (Hebr. 12, 22. 28). Wenn wir uns nicht sicher sind, ob wir "zum Berge Zion gekommen sind“, oder ob wir "ein unerschütterliches Reich empfangen", dann können wir un­möglich Gott anbeten oder Ihm wohlgefällig dienen. Nur dann, wenn wir in dem bewußten Besitz unserer Stellung und unseres Teiles in Christus stehen, kann wirkliche Anbetung zum Thron Gottes aufstei­gen und ein wirksamer Dienst in dem Weinberg des Herrn hier auf der Erde ausgeübt werden.

 

Worin besteht denn nun wirkliche Anbetung? Darin, daß man in der Gegenwart Gottes von dem redet, was Er ist und was Er getan hat. Das Herz ist beschäftigt mit Ihm, erfreut sich an Ihm und an allen Sei­nen wunderbaren Handlungen und Wegen. Wie aber können wir Ihn anbeten, wenn wir Ihn nicht kennen und nicht an das glauben, was Er getan hat? "Denn wer Gott naht, muß glauben, daß er ist, und denen, die ihn suchen, ein Belohner ist" (Hebr. 11, 6). Gott erkennen ist ewi­ges Leben (Joh. 17, 3). Man kann Gott nicht wirklich anbeten, wenn man Ihn nicht kennt, und man kann Ihn nicht kennen, ohne das ewige Leben zu haben. Die Athener hatten "dem unbekannten Gott" einen Altar errichtet, und Paulus sagt ihnen, daß sie in Unwissenheit anbe­teten, und verkündigt ihnen dann den wirklichen Gott, wie Er sich in der Person und dem Werk des Menschen Christus Jesus geoffenbart hat.

 

Es ist wichtig, daß hierüber Klarheit herrscht. Ich muß Gott kennen, ehe ich Ihn anbeten kann. Ich mag Gott suchen, ob ich Ihn "wohl ta­stend fühlen und finden möchte", aber nach einem Gott suchen, den man noch nicht gefunden hat, und sich an einem Gott erfreuen und einen Gott anbeten, den man gefunden hat, sind zwei ganz verschiedene Dinge. Gott hat sich geoffenbart. Er hat uns das Licht der Erkenntnis Seiner Herrlichkeit in dem Angesicht Christi geschenkt. Er ist uns nahe gekommen in der Person des Gesegneten, so daß wir Ihn kennen und lieben, uns an Ihm erfreuen und Ihm vertrauen können in all unseren Schwachheiten und Nöten. Wir brauchen nicht länger nach Ihm zu tappen mitten in der Finsternis der Natur und des Nebels einer falschen Religion. Nein, Gott hat Sich uns durch eine so klare Offenbarung bekanntgemacht, daß selbst Einfältige nicht irregehen können. Der Christ kann sagen: "Ich weiß, wem ich geglaubt habe". Das ist die Grundlage aller wirklichen Anbetung. Ein Mensch kann viel fleischliche Frömmigkeit besitzen und unzählige Formen beobachten, ohne eine Spur von echter geistlicher Anbetung zu kennen. Diese entspringt einzig und allein der Erkenntnis Gottes.

 

Nachdem wir gesehen haben, daß die Anbetung das Erste war, was der Israelit tat, sobald er das Land besaß, kommen wir jetzt zu einem ande­ren, sehr wichtigen praktischen Ergebnis dieser Besitznahme. Es heißt: Wohltätigkeit.

 

"Wenn du fertig bist mit dem Abtragen alles Zehnten deines Ertrages im dritten Jahre, dem Jahre des Zehnten, und du ihn dem Leviten, dem Fremdling, der Waise und der Witwe gegeben hast, damit sie in deinen Toren essen und sich sättigen: so sollst du vor dem HERRN, deinem Gott, sprechen: Ich habe das Heilige aus dem Hause weggeschafft und habe es auch dem Leviten und dem Fremdling, der Waise und der Witwe gegeben, nach all deinem Gebot, das du mir ge­boten hast; ich habe deine Gebote nicht übertreten noch vergessen" (V. 12. 13).

 

Die innere Ordnung dieser Dinge gleicht genau dem, was wir in Hebr. 13 finden: "Durch ihn nun laßt uns Gott stets ein Opfer des Lobes darbringen, das ist die Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen“. Das ist die Anbetung. "Des Wohltuns aber und Mitteilens vergesset nicht, denn an solchen Opfern hat Gott Wohlgefallen". Das ist Wohl­tätigkeit. Man könnte beides zusammen die obere und untere Seite des christlichen Charakters nennen: Gott loben und den Menschen Gutes tun. Wertvolle Kennzeichen! Möchten wir sie treuer darstellen! Eins ist sicher, daß beide immer zusammengehen. Ein Mensch, dessen Herz wirklich mit Lob und Dank zu Gott erfüllt ist' hat auch ein mit­fühlendes Herz und eine offene Hand für die verschiedenen mensch­lichen Nöte. Er mag vielleicht nicht reich sein an rnenschlichen Gütern. Es mag sein, daß er mit Petrus sagen muß: "Silber und Gold habe ich nicht", aber er wird Mitgefühl, einen freundlichen Blick, ein tröstendes Wort haben, und diese Dinge reden stärker zu dem Herzen als das öffnen der Geldbörse. Unser Herr und Meister, unser großes Vorbild in allem, "ging umher, wohltuend und heilend", aber wir lesen nie, daß Er jemand Geld gegeben hätte. Ja, wir glauben, daß Er nie einen Pfen­nig besaß. Als Er den Herodianern auf ihre Frage wegen der Steuer­zahlung zu antworten hatte, mußte Er sie bitten, Ihm eine Münze zu zeigen, und als Er aufgefordert wurde, die Tempelsteuer zu entrich­ten, sandte Er Petrus an den See, um einen Stater herbeizuholen. Er führte, wie es scheint, nie Geld bei sich, und in der Reihe der Gaben, die Er Seinen Dienern geschenkt hat, wird das Geld nicht erwähnt. Dennoch ging Er umher und tat Gutes. Wir sollten danach trachten, in unserem geringen Maße dasselbe zu tun.

 

Beachten wir auch die göttliche Ordnung, die uns in Hebr. 13 vorge­stellt und in 5. Mose 26 erläutert wird. Die Anbetung hat den ersten und höchsten Platz. Wir mögen in unserer Klugheit meinen, Gutes zu tun, sich der menschlichen Gesellschaft nützlich zu erweisen und der­gleichen mehr sei das Höchste. Aber das ist ein Irrtum. Wer Lob opfert, verherrlicht mich". Gott wohnt unter den Lobgesängen Seines Volkes. Es ist Seine Freude, solche um Sich zu haben, deren Herzen von dem Wissen um Seine Güte, Größe und Herrlichkeit erfüllt sind, und darum sollen wir Ihm stets die Opfer des Lobes darbringen. Der Psalmist sagt: "Den HERRN will ich preisen allezeit, beständig soll sein Lob in meinem Munde sein" (Ps. 34, 1), nicht nur dann und wann, oder wenn alles um uns her freundlich und heiter ist, wenn unser Lebens­schiff glatt und leicht über die Wellen dahingleitet, sondern "allezeit" ‑ "beständig". Der Strom der Danksagung sollte ohne Unterbrechung fließen und kein Raum übrigbleiben für Murren und Klagen, Unmut oder Unzufriedenheit, Trübsinn oder Kleinmut. Wir sollten immer den Geist der Anbetung pflegen. Jeder Atemzug sollte gleichsam ein Halle­luja sein. Die Zeit ist nicht mehr fern, wo es so sein wird. Alle Ewig­keiten hindurch wird unser Lob schallen. Wenn das "Wohltun und Mit­teilen" aufgehört hat, wenn niemand mehr unsere Hilfe und unser Mitgefühl braucht, wenn wir für immer Abschied genommen haben von dieser Szene des Kummers und der Leiden, des Todes und des Verder­bens, dann werden wir ohne müde zu werden Gott in Seinem Heilig­tum droben preisen.

 

"Des Wohltuns aber und Mitteilens vergesset nicht." Die Art und Weise, wie diese Ermahnung gegeben wird, ist von besonderem Inter­esse. Es heißt nicht: Vergesset nicht, "die Opfer des Lobes darzubrin­gen". Nein, wir sind in Gefahr, bei dem völligen und glückseligen Genuß unserer Stellung und unseres Teiles in Christus zu "vergessen", daß wir von einer Welt des Mangels und der Not, der Prüfung und Schwierigkeiten umgeben sind, und darum fügt der Apostel diese heil­same und notwendige Ermahnung hinzu. Der geistliche Israelit sollte sich nicht nur des Guten erfreuen, das ihm sein Gott gegeben hatte, sondern er sollte sich auch an den Leviten, den Fremdling, die Waise und die Witwe erinnern, d. h. an alle, die kein irdisches Erbe hatten und sich ganz und gar dem Werk des HERRN gewidmet hatten, und an die, die keine Heimat, keinen natürlichen Beschützer und keine irdische Stütze besaßen. So sollte es auch bei uns sein. Der reiche Strom der Gnade fließt aus dem Herzen Gottes, erfüllt unsere Herzen bis zum Oberströmen und erfrischt und erfreut so unsere ganze Umgebung. Würden wir nur mehr genießen, was uns in Gott geschenkt ist, dann würde jede Bewegung und Handlung, jedes Wort, ja, jeder Blick wohl­tuend auf unsere Umgebung wirken. Nach den Gedanken Gottes ist der Christ ein Mensch, dessen eine Hand erhoben ist, um Gott die Opfer des Lobes darzubringen, während die andere mit den Früchten echten Mitgefühls gefüllt ist, um den menschlichen Nöten zu begegnen.

 

Wenn wir jetzt noch einen kurzen Blick auf den dritten Punkt werfen, den unser Kapitel enthält (V. 14‑19), finden wir persönliche Heiligkeit, praktische Heiligkeit und völlige Trennung von allem, was nicht im Einklang mit der heiligen Stellung und Beziehung stand, in die Israel durch die unumschränkte Gnade und Barmherzigkeit Gottes gebracht worden war. Trauer, Unreinheit und tote Werke sollten sich nicht unter ihnen finden. Auch wir haben weder Raum noch Zeit für derartige Dinge. Sie gehören nicht in die gesegnete Sphäre, in der wir leben dür­fen. Es gibt nur dreierlei für uns zu tun: Gott die Opfer des Lobes darzubringen, wohlzutun inmitten einer armen Welt und uns selbst von ihr unbefleckt zu erhalten (vergl. Jak. 1, 27).

 

Ob Mose, Paulus oder Jakobus zu uns reden, immer ist es derselbe Geist, der sich kundtut, und immer sind es dieselben Aufgaben, die wir zu lernen haben, Aufgaben von unschätzbarem Wert und moralischer Wichtigkeit, ganz besonders wichtig in unserer Zeit, in der die Lehre der Gnade so viel mit dem Verstand aufgefaßt und mit aller Art von Weltlichkeit und Egoismus verbunden wird.

 

Eine eindringlichere und mehr ins praktische gehende Betätigung tut unter uns not. Unserem Dienst fehlt so oft das prophetische und seel­sorgerliche Element. Wir meinen mit dem prophetischen Element den Charakter des Dienstes, der sich mit dem Gewissen beschäftigt und es in die Gegenwart Gottes bringt. Diese Art des Dienstes benötigen wir vor allen Dingen. Der Dienst in unserer Mitte richtet sich zu viel an den Verstand und zu wenig an Herz und Gewissen. Der Lehrer wendet sich an den Verstand, der Prophet an das Gewissen,*) der Hirte an das Herz. Wir sprechen allgemein, da es sein kann, daß alle drei Elemente in dem Dienst eines Mannes vereinigt sind. Dennoch sind sie durchaus voneinander verschieden. Wo die Propheten ‑ und Hirtengabe in einer Versammlung fehlt, da sollten die Lehrer ernstlich auf den Herrn blik­ken und Ihn um Kraft und Befähigung bitten, sich mit den Herzen und Gewissen der Gläubigen beschäftigen zu können. Der Herr sei geprie­sen, daß Er für Seine Diener alle nötigen Gaben, alle Kraft und Gnade besitzt! Alles, was uns nottut, ist, wirklich ernst und aufrichtig auf Ihn zu warten. Er wird uns sicher die nötige Gnade und Fähigkeit für jeden Dienst geben, zu dem wir in Seiner Versammlung berufen sein mögen.

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*) Man denkt sehr oft, daß nur der ein Prophet sei, der zukünftige Ereignisse vorhersage, aber eine solche Beschränkung jenes Ausdrucks ist falsch. 1. Kor. 14, 28‑32 gibt den Worten: "Prophet" und "weissagen" eine viel weitere Bedeutung. Lehrer und Prophet stehen eng und in schöner Weise miteinander in Verbindung. Der eine entfaltet die Wahrheiten des Wortes Gottes der andere wendet sie auf das Gewissen an. Der Hirte untersucht, ob und in­wieweit der Dienst beider auf das Herz und Leben der einzelnen Gläubigen einwirkt.

 

Kapitel 27

 

EBAL UND GERISIM

 

Der Anfang und der Schluß des 27. Kapitels bilden einen auffallenden Gegensatz. In den ersten dreizehn Versen sehen wir Israel in das Land der Verheißung ziehen, in das schöne und fruchtbare Land, das von Milch und Honig floß. Wir sehen es auf dem Berge Ebal einen Altar errichten, um Brandopfer zu opfern. Doch lesen wir hier nichts von Sünd ‑ und Schuldopfern. Das Gesetz mußte in seinem vollen Wortlaut "deutlich" auf die mit Kalk bestrichenen Steine geschrieben werden, und das Volk mußte im Bewußtsein des Bundesverhältnisses auf dem Altar Opfer lieblichen Geruchs als Ausdruck der Anbetung und der heiligen Gemeinschaft darbringen. Es ist hier keine Rede von dem Übertreter oder dem Sünder von Natur, der mit einem Schuld‑ oder Sündopfer dem ehernen Altar naht, sondern vielmehr von einem Volk, daß völlig befreit, angenommen und gesegnet, tatsächlich seine Be­ziehung und sein Erbteil genießt.

 

Zwar waren sie Übertreter und Sünder und brauchten als solche den ehernen Altar. Aber es ist ebenso klar, daß dies nicht der Gegenstand unseres Abschnittes ist. Der Leser wird den Grund dafür verstehen. Wenn wir das Volk Gottes in völligem Bewußtsein des Bundesverhält­nisses den Besitz seines Erbes antreten sehen, während der geoffen­barte Wille seines Bundesgottes klar und deutlich vor ihm aufgeschrie­ben und es selbst von den reichen Segnungen des Landes umgeben ist, so müssen wir daraus schließen, daß jede Frage bezüglich der Sün­den und Übertretungen geklärt war, und daß für ein so bevorzugtes und gesegnetes Volk nichts anderes übrigblieb, als sich um den Altar ihres Gottes zu scharen und Ihm die Opfer lieblichen Geruchs darzu­bringen, Opfer, die Ihm wohlgefällig und für sie passend waren.

 

Die ganze Szenerie, die die erste Hälfte unseres Kapitels vor unseren Blicken entfaltet, ist von vollendeter Schönheit. Israel besitzt den HERRN als seinen Gott, und der HERR hat Israel zu Seinem Eigen­tumsvolk gemacht und über alle Nationen erhoben zum Ruhm, zum Namen und zum Schmuck. Es ist ein heiliges Volk dem HERRN, seinem Gott, im vollen Besitz des herrlichen Landes und der Gebote Gottes. Was hätten sie anderes tun können, als in Anbetung gemein­schaftlich die Opfer des Lobes und der Danksagung darzubringen?

 

Aber die letzte Hälfte unseres Kapitels zeigt uns etwas ganz anderes, Mose bestimmt jeweils sechs Stämme, von denen die einen auf dem Berge Gerisim stehen sollten, um das Volk zu segnen, und die anderen auf dem Berge Ebal zum Fluchen. Aber wenn wir die Tatsachen be­trachten, hören wir kein Wort von den Segnungen, sondern nur von zwölf schrecklichen Flüchen, deren jeder durch ein feierliches "Amen" von der ganzen Gemeinde bestätigt wurde.

 

Welch ein trauriger Gegensatz! Er erinnert uns an 2. Mose 19 und lie­fert die beste Erklärung zu den Worten des Apostels in Gal. 3, 10: "Denn so viele aus Gesetzeswerken sind" ‑ so viele auf dem Boden des Gesetzes stehen ‑ "sind unter dem Fluche; denn es steht geschrie­ben:" ‑ und hier führt er 5. Mose 27, 26 an ‑ "Verflucht ist jeder, der nicht bleibt in allem, was im Buche des Gesetzes geschrieben ist, um es zu tun".

 

mit diesen Worten wird der wirkliche Sachverhalt deutlich gemacht. Israel stand nach seinem tatsächlichen Zustand auf dem Boden des Gesetzes, und daher zeigen uns, obgleich der Anfang unseres Kapitels ein liebliches Bild der Gedanken Gottes über Israel bildet, die Schluß­verse das traurige und demütigende Ergebnis dieses wirklichen Zustan­des Israels vor Gott. Nicht ein Laut, nicht ein Wort der Segnung ertönt von dem Berg Gerisim her. Statt dessen dringt Fluch auf Fluch an die Ohren des Volkes.

 

Wie hätte es auch anders sein können? Mag der Mensch es noch so sehr bestreiten, stets bleibt es eine ewige Wahrheit, daß der Fluch über alle kommt, die "aus Gesetzeswerken sind". Es heißt nicht nur: "So viele das Gesetz nicht halten, sind unter dem Fluche", obgleich das völlig zutrifft. Nein, der Heilige Geist erklärt, daß alle, seien es Juden, Heiden oder Namenchristen, alle, die auf dem Boden der Gesetzeswerke stehen, nichts anderes als den Fluch zu erwarten haben.

 

Es fällt uns deshalb nicht schwer, das tiefe Schweigen zu verstehen, das auf dem Berge Gerisim in den Tagen von 5. Mose 27 herrschte. Denn wäre auch nur ein einziger Segen von dort gehört worden, so stünde das im Widerspruch mit der ganzen Lehre der Heiligen Schrift bezüg­lich des Gesetzes.

 

Kapitel 28

 

SEGEN UND FLUCH

 

Der Inhalt dieses Kapitels darf nicht mit dem des vorhergehenden ver­mengt werden. Einige Ausleger haben, um das Fehlen der Segnungen in Kapitel 27 zu erklären, sie hier gesucht. Aber das ist ein großer Irr­tum, der für das wirkliche Verständnis der beiden Kapitel äußerst ver­hängnisvoll ist. Die beiden Kapitel sind, sowohl was ihre Grundlage als auch was ihren Zweck und ihre praktische Anwendung betrifft, ganz und gar verschieden. Kapitel 27 behandelt den sittlichen Zustand des Menschen als eines ganz verderbten Sünders, der völlig unfähig ist, Gott auf dem Boden des Gesetzes zu begegnen. Kapitel 28 dagegen betrachtet Israel als eine Nation unter der Regierung Gottes. Ein Ver­gleich der beiden Kapitel wird den Unterschied bald zeigen. Welche Verbindung könnte zum Beispiel zwischen den sechs Segnungen un­seres Kapitels und den zwölf Flüchen des vorhergehenden gefunden werden? Keine. Es ist nicht möglich, irgendeine Beziehung der beiden Kapitel zueinander festzustellen, während selbst ein Kind die innere Verbindung zwischen den Segnungen und den Flüchen des 28. Kapitels erkennen kann.

 

Wir führen einige Stellen zum Beweis hierfür an: "Und es wird ge­schehen, wenn du der Stimme des HERRN, deines Gottes, fleißig ge­horchst", ‑ das ist der Schlüssel zum 5. Buch Mose, ein wichtiges, immer wiederkehrendes Stichwort ‑ daß du darauf achtest, zu tun alle seine Gebote, die ich dir heute gebiete, so wird der HERR, dein Gott, dich zur höchsten über alle Nationen der Erde machen; und alle diese Segnungen werden über dich kommen und werden dich erreichen, wenn du der Stimme des HERRN, deines Gottes, gehorchst." Das ist der einzige Schutz, das tiefe Geheimnis der Glückseligkeit, der Sicher­heit, des Segens und der Kraft. "Gesegnet wirst du sein in der Stadt, und gesegnet wirst du sein auf dem Felde. Gesegnet wird sein die Frucht deines Leibes und die Frucht deines Landes und die Frucht deines Viehes, das Geworfene deiner Rinder und die Zucht deines Kleinviehes. Gesegnet wird sein dein Korb und dein Backtrog. Gesegnet wirst du sein bei deinem Eingang, und gesegnet wirst du sein bei deinem Ausgang."

 

Ist es nicht einleuchtend, daß das nicht die Segnungen sind, die durch die sechs Stämme vom Berg Gerisim aus verkündigt werden sollten? Was uns hier vorgestellt wird, ist Israels nationale Würde, Wohlfahrt und Herrlichkeit, gegründet auf die fleißige Beobachtung aller Gebote dieses Buches. Nach dem ewigen Vorsatz Gottes sollte Israel auf der Erde vor allen Völkern den ersten Platz einnehmen, und dieser Vorsatz wird sicher erfüllt werden, wenn Israel auch in trauriger Weise in der Erfüllung jenes vollkommenen Gehorsams gefehlt hat, der die Grund­lage seiner nationalen Vorrangstellung bilden sollte.

 

Wir dürfen diese Wahrheit nie aus dem Auge verlieren. Einige Aus­leger haben versucht, die Segnungen Israels zu vergeistlichen und auf die Kirche zu übertragen. Das ist aber ein verhängnisvoller Fehler. Allerdings lesen wir in Gal. 3: "Auf daß der Segen Abrahams in Christo Jesu zu den Nationen käme". Aber wie heißt es dann weiter? ‑ "auf daß wir empfingen" ‑ Segnungen in der Stadt und auf dem Land? oder Segnungen in unserem Korb und in unserem Backtrog? Nein, sondern „die Verheißung des Geistes durch den Glauben" (V. 14). Ebenso entnehmen wir dem Kapitel 4, daß es dem wiederhergestellten Israel gestattet sein wird, alle die zu seinen Kindern zu zählen, die während des christlichen Zeitalters nach dem Geiste geboren sind. "Aber das Jerusalem droben ist frei, welches unsere Mutter ist. Denn es steht geschrieben: "Sei fröhlich, du Unfruchtbare, die du nicht ge­bierst; brich in Jubel aus und schreie, die du keine Geburtswehen hast!. denn die Kinder der Einsamen sind zahlreicher als derjenigen, die den Mann hat" (Vers 26. 27).

 

Aber so wahr das auch ist, so gibt es uns doch keine Berechtigung, die Verheißungen Israels auf die Gläubigen des Neuen Testaments zu über­tragen. Gott hat Sich Selbst durch einen Eid verbürgt, den Samen Abra­hams, Seines Freundes, zu segnen, und zwar mit allen irdischen Segnun­gen im Land Kanaan. Die Segnungen Israels sind eben irdischer, die der Kirche aber himmlischer Natur. "Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns gesegnet hat mit jeder geistlichen Segnung in den himmlischen Örtern in Christo!" (Eph. 1, 3).

 

Zum vorliegenden Kapitel muß nach der Feststellung, daß es sich von dem vorhergehenden durchaus unterscheidet, nichts Ausführliches mehr gesagt werden. Es zerfällt ganz natürlich und leicht erkennbar in zwei Teile. Der erste enthält eine ausführliche Darstellung der Ergebnisse des Gehorsams (V. 1‑15), der zweite eine ernste und ergreifende Schil­derung der schrecklichen Folgen des Ungehorsams (V. 16‑68), wobei der zweite Teil dreimal so lang ist wie der erste. Die Segnungen füllen nur 15 Verse, die Flüche dagegen 53. Welch eine Sprache redet das zu unseren Herzen! Das ganze Kapitel ist eine eindringliche Erklärung der Regierungswege Gottes und eine Erläuterung der Tatsache, daß "unser Gott ein verzehrendes Feuer ist". Die wunderbare Geschichte Israels steht vor allen Völkern der Erde als ein Zeugnis da, daß Gott den Un­gehorsam bestrafen muß, und zwar zunächst an den Seinen. Und wenn Er Sein eigenes Volk nicht verschont hat, was wird das Ende derer sein, die Ihn nicht kennen? "Es werden zum Scheol umkehren die Gesetz­losen, alle Nationen, die Gottes vergessen." Js ist furchtbar, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen" (Ps. 9, 17; Hebr. 10, 31). Es ist der Gipfel der Dummheit, wenn ein Mensch versucht, der Kraft solcher Stellen auszuweichen. Es wird ihm nie gelingen. Ein Vergleich des vorliegenden Kapitels mit der tatsächlichen Geschichte Israels wird ihm zeigen, daß, so sicher ein Gott auf dem Thron der Majestät in den Himmeln sitzt, so sicher auch die Übeltäter ihre Bestrafung finden werden, sowohl hier, als auch in der Ewigkeit. Es kann nicht anders sein. Eine Regierung, die das Böse ungerichtet und ungestraft hingehen lassen könnte oder wollte, wäre keine vollkommene Regierung, wäre nicht die Regierung Gottes. Gewiß ist Gott gütig, barmherzig, gnädig, von großer Langmut und Treue. Aber Er ist auch heilig, gerecht und n Erdkreis wahrhaftig. Und Er hat "einen 'lag gesetzt, an welchem er de richten wird in Gerechtigkeit durch einen Mann, den er dazu bestimmt hat, und hat allen den Beweis davon gegeben, indem er ihn auferweckt hat aus den Toten" (Apg. 17, 31).

 

Abschließend sei noch auf einen sehr interessanten Punkt hingewiesen, der mit dem 13. Vers unseres Kapitels in Verbindung steht. "Und der HERR wird dich zum Haupte machen und nicht zum Schwänze, und du wirst nur immer höher kommen und nicht abwärts gehen, wenn du den Geboten des HERRN, deines Gottes, gehorchst, die ich dir heute zu beobachten und zu tun gebiete."

 

Diese Worte beziehen sich ohne Zweifel auf Israel als Nation. Israel ist bestimmt, das Haupt aller Völker der Erde zu sein. Das ist der un­wandelbare und ewig sichere Vorsatz Gottes. Mag das Volk auch jetzt tief gesunken sein, mag es zerstreut sein unter die Nationen, mag es die schrecklichen Folgen seines Ungehorsams tragen und "im Staube der Erde schlafen“, wie wir in Daniel 12 lesen, so wird es dennoch als Nation zu einer größeren Herrlichkeit erwachen, als unter Salomo.*)

 

*) Dies wurde im 19. Jhdt. geschrieben (Anmerkung des Herausgebers).

 

Alles das ist unzweideutig festgestellt durch eine Menge von Aus­sprüchen in den Büchern Moses, in den Psalmen, Propheten und dem Neuen Testament. Wenn wir die Geschichte Israels betrachten, werden wir einige treffende Beispiele finden, wo Personen durch die Gnade Gottes befähigt werden, sich die wertvolle Verheißung von Vers 13 an­zueignen, und zwar gerade in den düstersten und niederdrückendsten Zeiten, ais Israel den Schwanz und nicht mehr das Haupt der Nationen bildete. Diese Beispiele veranschaulichen zugleich einen Grundsatz von größter praktischer Wichtigkeit.

 

Wenden wir uns für einige Augenblicke dem interessanten, aber so wenig verstandenen und geschätzten Buch Esther zu, das einen beson­deren Platz einnimmt und eine Lehre für uns enthält, die wir vielleicht in keinem anderen Buch finden. Es gehört einer Zeit an, in der Israel wahrhaftig nicht das Haupt, sondern der Schwanz war. Trotzdem zeigt es uns einen Sohn Abrahams, der sich durch sein Verhalten die höchste Stellung erwarb und einen glänzenden Sieg über die erbittertsten Feinde Israels erzielte.

 

Israels Zustand war zur Zeit Esthers so tief gesunken, daß Gott Sein Volk nicht mehr öffentlich anerkennen konnte. Deshalb wird auch Sein Name in dem ganzen Buch Esther nicht ein einziges Mal erwähnt. Die Heiden herrschten über Israel, und das Verhältnis zwischen dem HERRN und Israel konnte nicht länger öffentlich anerkannt werden. Aber der HERR konnte Sein Volk nie vergessen, und wir dürfen hinzu­fügen, auch das Herz eines treuen Israeliten konnte weder den HERRN, noch Sein heiliges Gesetz vergessen. Diese beiden Tatsachen sind es, die dieses Buch besonders kennzeichnen. Gott handelt für Israel gleich­sam hinter der Szene, und Mordokai handelt für Gott frei und öffent­lich. Es ist bemerkenswert, daß weder Israels bester Freund, noch sein schlimmster Feind auch nur einmal in diesem Buch genannt werden, und doch ist das ganze Buch voll von den Handlungen beider. Während sich einerseits der Finger Gottes in der wunderbaren Kette der Ereig­nisse deutlich zeigt, tritt andererseits die bittere Feindschaft Amaleks in dem grausamen Anschlag des hochmütigen Agagiters zutage.

 

Wie wertvoll und wichtig ist die persönliche Treue, wenn alles im Ver­fall ist und in Trümmern liegt! Mordokai stand felsenfest für die Wahrheit Gottes ein und weigerte sich entschieden, Amalek anzuerken­nen. Er versuchte das Leben des Ahasveros zu retten und beugte sich vor der Autorität des heidnischen Königs als dem Ausdruck der Macht Gottes, aber er wollte sich nicht vor Haman bücken. Sein Verhalten in dieser Sache wurde durch das Wort Gottes geleitet und gerechtfertigt, denn wir lesen in 5. Mose 25, 17‑19: "Gedenke dessen, was Amalek dir getan hat auf dem Wege, als ihr aus Ägypten zoget, wie er dir auf dem Wege entgegentrat und deinen Nachtrab schlug, alle Schwachen hinter dir her, als du matt und müde warst; und er fürchtete Gott nicht". ‑ Hierin liegt das Geheimnis ‑ "Und wenn der HERR, dein Gott, dir Ruhe geschafft hat vor allen deinen Feinden ringsum, in dem

Lande, welches der HERR, dein Gott, dir als Erbteil gibt, es zu besit­zen, so soll es geschehen, daß du das Gedächtnis Amaleks unter dem Himmel austilgest. Vergiß es nicht!"

 

Das war deutlich genug für ein "beschnittenes" Ohr und ein gehor­sames Herz. Und ebenso deutlich ist die Sprache in 2. Mose 17, 14‑16: "Und der HERR sprach zu Mose: Schreibe dieses zum Gedächtnis in ein Buch, und lege in die Ohren Josuas, daß ich das Gedächtnis Amaleks gänzlich unter dem Himmel austilgen werde. Und Mose baute einen Altar und gab ihm den Namen: Der HERR, mein Panier! Und er sprach: Denn die Hand ist am Throne des HERRN: Krieg hat der HERR wider Amalek von Geschlecht zu Geschlecht!"

 

Diese Stellen enthalten die Norm für das Verhalten Mordokais gegen­über dem Agagiter. Konnte ein treuer Israelit sich vor dem Glied eines Hauses bücken, mit dem der HERR Krieg führte? Unmöglich! Er konnte für sein Volk trauern, weinen und in Sack und Asche fasten, aber er konnte und durfte sich nicht vor einem Amalekiter niederbeugen. Wohl mochte man ihn deshalb der Anmaßung und Hartnäckigkeit beschuldi­gen, aber das kümmerte ihn nicht. Es mochte unverantwortlich dumm erscheinen, dem höchsten Würdenträger im Reich die gewöhnliche Ehr­erbietung zu verweigern, aber dieser Würdenträger war ein Amalekiter, und das war genug für Mordokai. Seine scheinbare Dummheit war Gehorsam, und gerade das macht sein Verhalten so interessant und wichtig für uns. Nichts kann unsere Verantwortung, dem Wort Gottes zu gehorchen, aufheben. Für Mordokai genügte das Wort des HERRN: "Gedenke dessen, was Amalek dir getan hat ... vergiß es nicht," Wie lange war dieses Wort gültig? "Von Geschlecht zu Geschlecht." Der Krieg des HERRN mit Amalek sollte nicht aufhören, bis dessen Name und Gedächtnis unter dem Himmel ausgetilgt war. Wie hätte nun ein treuer Israelit sich jemals vor einem Amalekiter niederbeugen können? Unmöglich! Hätte Josua es tun können? Nein. Tat es Samuel? Nein, "er hieb Agag in Stücke vor dem HERRN zu Gilgal". So konnte sich auch Mordokai nicht vor ihm beugen, auch wenn selbst ein Galgen schon für ihn aufgerichtet war. Man konnte ihn hängen, aber niemals dahin brin­gen, Amalek zu huldigen.

 

Und was war das Ergebnis? Ein herrlicher Triumph! Als der Nächste am Thron sonnte sich der stolze Amalekiter in den Strahlen der könig­lichen Gunst. Sich seiner Reichtümer, seiner Größe und Herrlichkeit rühmend, war er dabei, den Samen Abrahams in den Staub zu treten. Der arme Mordokai dagegen lag in Sack und Asche am Boden. Was konnte er tun? Nichts anderes als Gott gehorchen. Er hatte weder Schwert noch Spieß, aber er besaß das Wort Gottes, und durch den einfachen Gehorsam zu diesem Wort errang er einen Sieg über Amalek, der auf seine Art ebenso entscheidend und glänzend war, wie der Sieg Josuas nach 2. Mose 17. Es war ein Sieg, den Saul zu seiner Zeit nicht erreichen konnte, obgleich er über die Kriegsheere der zwölf Stämme Israels verfügte. Haman versuchte Mordokai an den Galgen zu bringen, aber statt dessen wurde er gezwungen, wie ein Diener den verhaßten Israeliten in königlichem Glanz und Gepränge durch die Straßen der Stadt zu führen (Vergl. Esther 6, 7‑12).

 

Hier war Israel eindeutig das Haupt und Amalek der Schwanz; nicht Israel als Nation, aber in der Person Mordokais. Doch das war nur der Anfang von Amaleks Niederlage und Israels Herrlichkeit. Haman wurde gerade an dem Galgen aufgehängt, den er für Mordokai errichtet

 

hatte. "Und Mordokai ging von dem König hinaus in königlicher Kleidung von purpurblauer und weißer Baumwolle, und mit einer gro­ßen goldenen Krone, und in einem Mantel von Byssus und Purpur; und die Stadt Susan jauchzte und war fröhlich" (Esther 8, 15).

 

Die Wirkung von Mordokais wunderbarem Sieg breitete sich weit und breit über die hundertsiebenundzwanzig Provinzen des Reiches aus. „Und in jeder einzelnen Landschaft und in jeder einzelnen Stadt, über­all wohin das Wort des Königs und sein Befehl gelangte, war Freude und Wonne bei den Juden, Gastmahl und Festtag. Und viele aus den Völkern des Landes wurden Juden, denn die Furcht vor den Juden war auf sie gefallen." Und als des Ganzen Krönung lesen wir: "Denn Mor­dokai, der Jude, war der Zweite nach dem König Ahasveros, und groß bei den Juden, und wohlgefällig der Menge seiner Brüder; er suchte das Wohl seines Volkes und redete zur Wohlfahrt seines ganzen Ge­schlechts" (Esther 8, 17; 10, 3).

 

Sind das nicht schlagende Beweise für die unermeßliche Wichtigkeit der persönlichen Treue? Sollte uns das nicht anspornen, um jeden Preis für die Wahrheit Gottes einzustehen? Betrachten wir nur die wunder­baren Ergebnisse der Handlungen eines einzigen Mannes, dessen Ver­halten von so vielen in der schärfsten Weise verurteilt worden sein mag. Aber Gott erkannte es an und schenkte Mordokai einen Sieg, dessen herrliche Früchte von seinen Brüdern nah und fern geerntet wurden.

 

Einen weiteren Beleg für diese Zusammenhänge liefern die Kapitel 3 und 4 des Propheten Daniel. Auch sie zeigen dem Leser die segens­reichen Folgen persönlicher Treue gegen den wahren Gott zu einer Zeit, da die Herrlichkeit Israels verschwunden war und Jerusalem mit seinem Tempel in Trümmern lag. Die drei treuen Männer Sadrach, Mesach und Abednego weigerten sich, das goldene Bild Nebukadnezars anzubeten, trotz des Zornes des Königs und trotz der allgemeinen Stimme des Rei­ches. ja, sie wollten lieber in den brennenden Ofen geworfen werden als dem Gebot ihres Gottes nicht zu gehorchen. Sie konnten ihr Leben preisgeben, aber nicht die Wahrheit Gottes.

 

Auch hier war ein glänzender Sieg das Ergebnis. Sie gingen mit dem Sohn Gottes in dem Feuerofen umher und entstiegen ihm als Zeugen und Knechte des höchsten Gottes. Alles das war die Folge ihres Ge­horsams. Welch ein Verlust wäre es für sie gewesen, wenn sie sich der Menge angeschlossen und sich ver dem Götzenbild gebeugt hätten, um dem glühenden Feuerofen zu entgehen! Aber sie bekamen Kraft, an dem Bekenntnis des einen wahren Gottes festzuhalten, an einer Wahr­heit, die selbst während der herrlichen Regierung Salomos mit Fügen getreten wurde. Und das Zeugnis von ihrer Treue ist uns durch den Heiligen Geist bewahrt worden, um uns zu ermutigen, ebenfalls mit festem Schritt den Weg der Treue zu gehen, angesichts einer Welt, die Gott haßt und Christus verworfen hat, und angesichts einer Chri­stenheit, die die Wahrheit vernachlässigt.

 

Die gleiche Wirkung muß das Lesen des 6. Kapitels des Propheten Daniel erzeugen, das ein eingehendes Studium wert ist. Auch dieses Kapitel enthält eine gesegnete Lehre für die Zeit eines oberflächlichen, selbstgefälligen Bekenntnisses, wo man ohne viel Selbstverleugnung den Wahrheiten des Christentums zustimmen kann, aber so wenig bereit ist, mit ganzem Herzen dem verworfenen Christus zu folgen.

 

Wie belebend erscheint einer solchen Gleichgültigkeit gegenüber die Treue Daniels! Unerschrocken hielt er an seiner Gewohnheit fest, täg­lich dreimal zu seinem Gott zu beten, während die Fenster seines Zim­mers nach Jerusalem hin geöffnet waren, obgleich er wußte, daß er sich deshalb der Gefahr aussetzte, den Löwen vorgeworfen zu werden. Leicht hätte er die Fenster schließen, sie mit Vorhängen zuziehen, sich in ein verborgenes Gemach zurückziehen oder warten können bis Mit­ternacht, so daß niemand ihn gesehen oder gehört hätte. Aber nein, dieser geliebte Diener Gottes wollte sein Licht nicht unter das Bett oder unter den Scheffel stellen. Es ging um einen wichtigen Grundsatz.

 

Daniel wollte nicht nur zu dem einen lebendigen und wahren Gott beten, sondern er wollte es auch tun mit Fenstern, die nach Jerusalem hin geöffnet waren, weil Jerusalem der von Gott erwählte Mittelpunkt für Sein irdisches Volk war. Aber Jerusalem lag doch in Trümmern! Vom menschlichen Standpunkt aus betrachtet, war es allerdings mit Jerusalem vorbei. Aber für den Glauben und von dem göttlichen Stand­punkt aus gesehen, war und blieb Jerusalem der von Gott erwählte Mittelpunkt für Sein Volk. Ja, selbst sein Schutt ist wertvoll für Gott. Daniel handelte daher in vollkommenem Einklang mit den Gedanken und dem Wort Gottes, wenn er seine Fenster öffnete und nach Jerusalem hin betete. Er hatte das Wort Gottes für sich, wie wir es in 2. Chron 6, 38 finden: " . . . und sie kehren zu dir um mit ihrem gan­zen Herzen und mit ihrer ganzen Seele in dem Lande ihrer Gefangen­schaft, wohin man sie gefangen weggeführt hat, und sie beten nach ihrem Lande hin, das du ihren Vätern gegeben, und der Stadt, die du erwählt hast, und nach dem Hause hin, das ich deinem Namen erbaut habe... "

 

Das war die Norm, nach der Daniel handelte, ohne Rücksicht auf menschliche Meinungen und Drohungen, ja, selbst ungeachtet der Aus­sicht auf einen qualvollen Tod. Er wollte lieber in die Löwengrube ge­worfen werden, als die Wahrheit Gottes preisgeben, lieber mit einem guten Gewissen zum Himmel gehen, als mit einem bösen Gewissen auf der Erde bleiben.

 

Und wieder war das Ergebnis ein glänzender Triumph. "Und Daniel wurde aus der Grube herausgeholt; und keine Verletzung wurde an ihm gefunden, weil er auf seinen Gott vertraut hatte".

 

Welch ein gesegneter Diener und edler Zeuge! Auch er war bei dieser Gelegenheit das Haupt und seine Feinde waren der Schwanz, und wodurch? Nur durch den Gehorsam gegen das Wort Gottes. Sicher können wir die ernste Bedeutung dieser für unsere Zeit so wichtigen Tatsachen nicht genug hervorheben und nicht zu oft auf solche Beweise persönlicher Treue hinweisen, die zu einer Zeit geliefert wurden, in der die nationale Herrlichkeit Israels im Staub lag. Ist es nicht überaus ermunternd und anregend, gerade in den düstersten Zeiten der Ge­schichte Israels die glänzendsten Beispiele persönlichen Glaubens und hingebender Treue zu finden? Möchten sie uns anspornen, auch jetzt der Wahrheit entschieden zu folgen, wo der allgemeine Zustand der bekennenden Kirche so entmutigend auf uns wirkt! Wir sind in großer Gefahr, wegen des allgemeinen Zustandes um uns her das Banner persönlicher Treue sinken zu lassen und den göttlichen Maßstab zu erniedrigen. Aber das ist ein verhängnisvoller Fehler und das Werk des Feindes Christi und Seiner Sache.

 

Kapitel 29

 

DER"BUND IM LAND MOAB“

 

Dieses Kapitel schließt den zweiten großen Abschnitt unseres Buches ab. Es enthält einen ernsten Appell an das Gewissen der Gemeinde und ist sozusagen eine Zusammenfassung und praktische Anwendung aller vorhergehenden Ermahnungen.

 

"Das sind die Worte des Bundes, welche der HERR im Lande Moab dem Mose geboten hat, mit den Kindern Israel zu machen, außer dem Bunde, den er am Horeb mit ihnen gemacht hatte." Wir haben bereits früher darauf hingewiesen, daß diese Stelle einen der vielen Beweise für den Unterschied zwischen diesem und den vorhergehenden Büchern Mose liefert. Doch sie erfordert auch nach einer anderen Seite hin un­sere Aufmerksamkeit. Sie redet von einem besonderen Bund, der mit den Kindern Israel im Land Moab gemacht wurde und kraft dessen sie in das Land gebracht werden sollten. Dieser Bund unterscheidet sich von dem am Sinai geschlossenen Bund ebenso wie von dem, der einmal mit Abraham, Isaak und Jakob errichtet worden war. Wir begegnen hier weder nur dem Gesetz, noch der reinen Gnade, sondern vielmehr einer in unumschränkter Barmherzigkeit ausgeübten Regierung.

 

Es liegt auf der Hand, daß Israel auf Grund des am Sinai oder Horeb geschlossenen Bundes nicht in das Land eintreten konnte, da es ihn durch die Anbetung des goldenen Kalbes völlig gebrochen hatte. Es hatte alle Rechte und Ansprüche auf das Land verloren und wurde nur auf Grund einer unumschränkten Barmherzigkeit vor der augenblick­lichen Vernichtung bewahrt, und zwar durch die Vermittlung und ernste Fürbitte Moses. Ebenso klar ist es, daß die Kinder Israel nicht durch den mit Abraham gemachten Gnadenbund in das Land gekommen sind, denn dann würden sie auch im Land geblieben sein. Weder die Ausdehnung noch die Dauer ihrer Besitznahme entsprachen dem mit ihren Vätern gemachten Bunde. Vielmehr sind es die Bedingungen des "Bundes im Land Moab", durch die sie in den nach Zeit und Raum begrenzten Besitz des Landes eingetreten sind. Und da sie unter diesem Bund ebenso versagt haben, wie unter demjenigen vom Berg Horeb, unter der Regierung ebensosehr wie unter dem Gesetz, sind sie nach den Wegen der Regierung Gottes aus dem Land vertrieben und über die ganze Erde zerstreut worden.

 

Aber doch wird der Same Abrahams, des Freundes Gottes, einmal das Land Kanaan nach dem herrlichen Wortlaut des ursprünglichen Bundes besitzen. "Denn die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind un­bereubar." Gnadengaben und Berufung dürfen niemals mit Gesetz und Regierung vermengt, und der Berg Zion darf nie dem Berge Horeb oder dem Land Moab gleichgestellt werden. Der neue und ewige Bund der Gnade, bestätigt durch das kostbare Blut des Lammes, wird allen Mäch­ten der Erde und der Hölle zum Trotz buchstäblich erfüllt werden (Vergl. Hebr. 8, 8‑13).

 

"Und Mose berief ganz Israel und sprach zu ihnen: Ihr habt alles ge­sehen, was der HERR vor euren Augen im Lande Ägypten getan hat, an dem Pharao und an allem seinen Knechten und an seinem ganzen Lande: die großen Versuchungen, welche deine Augen gesehen haben, jene großen Zeichen und Wunder. Aber der HERR hat euch nicht ein Herz gegeben, zu erkennen, und Augen, zu sehen, und Ohren, zu hö­ren, bis auf diesen Tag" (V. 1‑4).

 

Das ist eine ernste Sprache. Die erstaunlichsten Zeichen und Wunder können vor uns geschehen und das Herz doch unberührt lassen. Viel­leicht üben sie eine vorübergehende Wirkung auf unser Gemüt und unsere Gefühle aus. Aber wenn das Gewissen nicht in das Land der göttlichen Gegenwart und das Herz nicht durch die Macht des Geistes Gottes unter den Einfluß der Wahrheit gebracht wird, so werden keine bleibenden Ergebnisse erzielt werden. Nikodemus folgerte aus den Wundern, die der Herr getan hatte, daß Er ein Lehrer sein müsse, der von Gott gekommen war. Aber das genügte nicht. Er mußte die tiefe und wunderbare Bedeutung der wichtigen Worte kennenlernen: "Ihr müsset von neuem geboren werden". Ein auf Wunder gegründeter Glaube macht den Menschen ohne Zweifel verantwortlich, aber er läßt ihn ungerettet und ungesegnet. Wir lesen in Joh. 2, 23. 24: "Es glaub­ten viele an seinen Namen, als sie seine Zeichen sahen, die er tat. Jesus selbst aber vertraute sich ihnen nicht an." Da war kein göttlich gewirkter Glaube vorhanden. Es bedarf eines neuen Lebens, einer neuen Natur, und diese Dinge können nicht durch Zeichen und Wunder erzeugt werden. Wir müssen durch das Wort und den Geist Gottes wiedergeboren werden. Das neue Leben wird durch den unverweslichen Samen des Wortes Gottes mitgeteilt, der durch die Macht des Heiligen Geistes in das Herz eingepflanzt wird. Aber das ist nicht ein auf Wunder gegründeter Kopfglaube, sondern ein Glaube des Herzens an den Sohn Gottes, und dieser Glaube war weder unter dem Gesetz noch unter der Regierung bekannt. "Die Gnadengabe Gottes aber ist ewiges Leben in Christo Jesu unserem Herrn" (Röm. 6, 23).

 

"Und ich habe euch vierzig Jahre in der Wüste geführt: eure Kleider sind nicht an euch zerfallen, und dein Schuh ist nicht abgenutzt an dei­nem Fuße." Das waren in der Tat wunderbare Kleider und bemerkens­werte Schuhe! Gott Selbst hatte sie haltbar und dauerhaft gemacht. Brot habt ihr nicht gegessen, und Wein und starkes Getränk habt ihr nicht getrunken; auf daß ihr erkänntet, daß ich der HERR, euer Gott, bin." Die gnädige Hand Gottes selbst ernährte und bekleidete sie wäh­rend dieser ganzen Zeit. "Der Mensch aß Brot der Starken" (Ps. 78, 25). Sie brauchten keinen Wein, keine starken Getränke oder Reizmittel. "Denn sie tranken aus einem geistlichen Felsen, der sie begleitete. Der Fels aber war der Christus" (l. Kor. 10, 4). Dieser reine Strom erfrischte sie in der dürren Wüste, und Tag für Tag nährte sie das himmlische Manna. Das einzige, was sie benötigten, war die Fähigkeit, das zu ge­nießen, was Gott für sie bereitet hatte.

 

Aber ach! darin haben sie in der traurigsten Weise versagt, wie auch wir es leider so oft tun. Sie wurden der himmlischen Speise über­drüssig und gelüsteten nach anderen Dingen. Wie traurig, daß wir ihnen darin gleichen, und wie demütigend, daß wir Den so wenig zu schätzen wissen, den Gott uns als unser Leben, unser Teil, ja, als unser Alles gegeben hat! Wie betrübend, daß unsere Herzen nach den Eitel­keiten und Torheiten dieser armen, vergänglichen Welt verlangen, nach ihren Schätzen, Ehren und Vergnügungen, die alle vergehen und, selbst wenn sie bleibend wären, nie mit "dem unausforschlichen Reichtum des Christus" verglichen werden könnten. Möge Gott in Seiner unend­lichen Güte auch uns geben, "nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit mit Kraft gestärkt zu werden durch seinen Geist an dem inneren Men­schen; daß der Christus durch den Glauben in unseren Herzen wohne, indem wir in Liebe gewurzelt und gegründet sind, auf daß wir völlig zu erfassen vermögen mit allen Heiligen, welches die Breite und Länge und Tiefe und Höhe sei, und zu erkennen die die Erkenntnis über­steigende Liebe des Christus, auf daß wir erfüllt sein mögen zu der ganzen Fülle Gottes"! (Eph. 3, 16‑19).

 

"Und als ihr an diesen Ort kamet, da zogen Sihon, der König von Hes­bon, und Og, der König von Basan, aus, uns entgegen zum Streit, und wir schlugen sie." Das waren mächtige und schreckliche Feinde, aber wenn sie auch noch tausendmal mächtiger und schrecklicher gewesen wären, so würden sie doch wie Spreu vor der Gegenwart Gottes und den Heerscharen Israels gewesen sein. "Und wir nahmen ihr Land ein und gaben es den Rubenitern und den Gaditern und dem halben Stamme der Manassiter zum Erbteil." Wer wollte sich erdreisten, einen Vergleich zu ziehen zwischen dieser Einnahme und der gewaltsamen Eroberung eines Landes durch ein Volk der Erde, wie sie im Laufe der Geschichte so oft stattgefunden hat? Israel handelte mit Sihon und Og nach dem unmittelbaren Gebot Gottes. Das verändert alles. Die Ein­führung Gottes und Seiner Autorität beantwortet jede Frage vollkom­men und löst in göttlicher Weise jede Schwierigkeit.

 

"So beobachtet denn die Worte dieses Bundes (von Moab) und tut sie, auf daß ihr Gelingen habet in allem, was ihr tut." Ein einfältiger Ge­horsam gegen das Wort Gottes bleibt das Geheimnis jedes wirklichen Gedeihens. Es geht bei dem Christen in dieser Beziehung selbstver­ständlich nicht um irdische und materielle, sondern um himmlische und geistliche Dinge. Aber es ist töricht, an Gedeihen oder an Fort­schritt im göttlichen Leben ohne entschiedenen Gehorsam gegen die Gebote unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus zu denken. "Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, so werdet ihr bitten was ihr wollt, und es wird euch geschehen. Hierin wird mein Vater verherrlicht, auf daß ihr viel Frucht bringet, und ihr werdet meine Jünger werden. Gleichwie der Vater mich geliebt hat, habe auch ich euch geliebt; bleibet in meiner Liebe. Wenn ihr meine Gebote haltet, so werdet ihr in meiner Liebe bleiben, gleichwie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe" (Joh. 15, 7‑‑10). Das ist wirkliches christliches Gedeihen.

 

Die folgenden Worte (V. 10‑17) enthalten neben der allgemeinen auch eine ganz persönliche Anwendung. Das ist beachtenswert, weil wir nur zu leicht geneigt sind, die Wahrheit zu verallgemeinern und so ihrer Anwendung auf unser persönliches Gewissen zu entgehen. Das muß unserer Seele sehr schaden. jeder von uns ist persönlich verantwortlich, den Geboten des Herrn unbedingt zu gehorchen, wenn er sein Ver­hältnis zu Ihm wirklich genießen will, wie Mose zu dem Volke sagt: "auf daß er dich heute als sein Volk bestätige, und dein Gott sei".

 

Nichts kann wertvoller, aber auch nichts kann einfacher sein. Was wir zu tun haben, ist, das Wort Gottes in unseren Herzen zu bewahren auf unsere Gewissen einwirken zu lassen und im täglichen Leben zu verwirklichen. Das ist das Geheimnis, wie wir unser Verhältnis zu unserem Vater und unserem Herrn und Heiland Jesus Christus ge­nießen können. Wenn jemand meint, dieses innige Verhältnis genießen zu können, während er die Gebote des Herrn vernachlässigt, so gibt er sich einer groben Täuschung hin. "Wenn ihr meine Gebote haltet, so werdet ihr in meiner Liebe bleiben." Und weiter steht geschrieben: "Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr, Herr! wird in das Reich der Him­mel eingehen, sondern wer den Willen meines Vaters tut, der in den Himmeln ist". "Denn wer irgend den Willen meines Vaters tun wird, der in den Himmeln ist, derselbe ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter." "Die Beschneidung ist nichts, und die Vorhaut ist nichts, sondern das Halten der Gebote Gottes" (Joh. 15, 10; Matth. 7, 21; 12, 50; 1. Kor. 7, 19).

 

Das sind sehr zeitgemäße Worte. Indem wir dem Geist der Gesetzlich­keit aus dem Wege zu gehen suchen, sind wir in großer Gefahr, der Leichtfertigkeit Raum zu geben. Die erwähnten Schriftstellen, deren Zahl leicht vermehrt werden könnte, geben uns das göttliche Mittel gegen diese beiden verderblichen Irrtümer in die Hand. Es ist eine gesegnete Wahrheit, daß wir durch die unumschränkte Gnade Gottes in das heilige Verhältnis von Kindern gebracht worden sind ‑ und dies reißt das verderbliche Unkraut der Gesetzlichkeit mit der Wurzel aus ‑aber dieses Verhältnis bringt auch Pflichten und Verantwortung mit sich, und ihre gewissenhafte Anerkennung bildet das sichere Heilmittel gegen jede Leichtfertigkeit und Gefühllosigkeit. Wenn wir von Gesetzes­werken befreit sind ‑ und wir sind es, Gott sei Dank! wenn wir wirk­liche Christen sind ‑, so ist das nicht geschehen, damit wir träge und sorglos dahinleben oder uns selbst gefallen sollten, sondern um "lebendige Werke" in uns zu bewirken zur Verherrlichung Dessen, nach dem wir genannt sind, dem wir angehören und dem zu gehorchen und zu dienen wir verpflichtet sind.

 

Mose fährt jetzt fort, das Volk zu warnen: "Daß kein Mann oder Weib, oder Geschlecht oder Stamm unter euch sei, dessen Herz sich heute von dem HERRN, unserem Gott, abwende, um hinzugehen, den Göttern jener Nationen zu dienen; daß nicht eine Wurzel unter euch sei, die Gift und Wermut trage" (V. 18).

 

Der Apostel führt diese Worte in seinem Brief an die Hebräer an: "Achtet darauf, daß nicht jemand an der Gnade Gottes Mangel leide, daß nicht irgendeine Wurzel der Bitterkeit aufsprosse und euch beun­ruhige, und viele durch diese verunreinigt werden" (Kap. 12, 15). Welche eindringlichen Worte! Sie zeigen uns die ernste Verantwortung aller Christen. Wir alle sind zur Ausübung einer heiligen und göttlichen Sorge füreinander berufen, was leider so wenig verstanden und aner­kannt wird. Nicht alle sollen lehren und predigen, aber alle sollen in Liebe aufeinander achthaben. Leider herrscht in der Kirche Gottes gro­ßer Mangel an treuen Hirten. Der Heilige Geist ist durch die bedauerns­werten Spaltungen unter uns, sowie durch unsere Weltförmigkeit und Untreue tief betrübt. Dürfen wir uns daher über unsere geistliche Armut wundem?

 

Doch der Herr ist voll von Gnade und Erbarmen gegen uns, selbst an­gesichts unseres Verfalls und unserer geistlichen Armut. Wenn wir uns nur wirklich unter Seine mächtige Hand demütigen, so wird Er uns aufrichten und befähigen, in Liebe aufeinander achtzuhaben und einan­der in gesegneter Weise zu dienen. Damit wollen wir nicht einem un­befugten Sicheinmischen in die Sachen anderer Vorschub leisten. Aber so entschieden wir jene häßlichen Dinge verwerfen, so ernstlich sollten wir in treuer Sorge, heiliger Wachsamkeit und liebender Teilnahme für einander jedes Aufkeimen einer Wurzel der Bitterkeit zu verhindern suchen. Auf diese Weise würde der Mangel an Hirten in unserer Mitte ‑ wir reden dabei von wirklichen Hirten, die von dem Haupt der Kirche gegeben sind, von Männern mit dem Herzen eines Hirten, mit wirk­licher Hirtengabe und ‑kraft ausgerüstet ‑ sehr geholfen und der an alle Christen gerichteten Ermahnung in Hebr. 12, 15 mehr entsprochen werden. Ist es erforderlich, darauf hinzuweisen, wie notwendig ein solch treuer Hirtendienst ist? Wie gefährlich sind Wurzeln der Bitterkeit!

 

Wie weit verbreiten sich zuweilen ihre verderbenbringenden Folgen, und welch einen Schaden richten sie an! Wie viele werden durch sie verunreinigt, wie manche innigen Bande zerrissen, und wie viele Herzen gebrochen! Sicher würde oft nur ein wenig einsichtsvolles Entgegen­kommen oder brüderliche Fürsorge, oft nur ein einziger, in herzlicher Liebe erteilter Rat das Böse im Keime erstickt und somit einen uner­meßlichen Schaden und große Betrübnis abgewandt haben. Möchten wir uns doch diese Dinge zu Herzen nehmen und ernstlich um Gnade flehen, damit wir fähiger werden, das Aufkeimen solcher Wurzeln der Bitterkeit zu verhindern und ihren verderblichen Einflüssen vorzu­beugen.

 

Die weiteren Worte des Gesetzgebers geben ein ernstes Bild von dem Ende des Mannes, durch den das Aufkeimen einer Wurzel der Bitterkeit verursacht wird. "Und es geschehe, wenn er die Worte dieses Eidschwu­res hört, daß er sich in seinem Herzen segne und spreche: Ich werde Frieden haben, wenn ich auch in der Verstocktheit meines Herzens wandle! damit zu Grunde gehe das Getränkte mit dem Durstigen." Welch eine verhängnisvolle Täuschung, Friede! Friede! zu rufen, wenn kein Friede da ist, sondern im Gegenteil Zorn und Gericht unmittelbar drohen! "Nicht wird der HERR ihm vergeben wollen, sondern alsdann wird der Zorn des HERRN und sein Eifer" ‑ anstatt des "Friedens" den er sich selbst vorspiegelte ‑ "rauchen wider selbigen Mann; uni der ganze Fluch, der in diesem Buche geschrieben ist, wird auf ihm ruhen, und der HERR wird seinen Namen unter dem Himmel aus­tilgen." Welch eine schreckliche Warnung für alle, die unter dem Volk Gottes als eine Wurzel der Bitterkeit wirken, sowie für alle, die ihnen in ihrem traurigen Werk helfen! (Vergl. auch V. 21‑28).

 

Diese Worte sind ernst. Sie bilden eine kraftvolle Erläuterung der Worte des Apostels: "Es ist furchtbar, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen!" und: "Denn auch unser Gott ist ein verzehrendes Feuer!" (Hebr. 10, 31; 12, 29). Es sind ernste Warnungen für die Christenheit. Welche Lehren sollte sie aus den Wegen Gottes mit Sei­nem Volk Israel ziehen! Das sehen wir klar aus Römer 11, wo der Apo­stel ' nachdem er von dem Gericht über die ungläubigen Zweige des Ölbaums gesprochen hat, sich warnend an die Christenheit wendet (V. 17‑22).

 

Wenn man die Geschichte der Christenheit im Licht der Heiligen Schrift liest, sieht man auf den ersten Blick, daß sie nicht an der "Güte Gottes“ geblieben ist. Sie ist weit abgewichen und hat daher nichts anderes als den Zorn des allmächtigen Gottes zu erwarten. Die Glieder des Leibes Christi, die leider noch vielfach mit der verderbten Masse der Bekenner vermischt sind, werden entrückt werden zu der für sie bereiteten Stätte im Hause des Vaters, und dann, wenn nicht früher, werden sie einsehen, welches Unrecht sie dadurch begangen haben, daß sie in Verbindung mit Dingen geblieben waren, die den Gedanken Christi, die mit göttlicher Klarheit und Einfachheit in den Heiligen Schriften geoffenbart sind, genau entgegengesetzt waren.

 

Aber die sogenannte Christenheit wird "ausgespieen", "ausgeschnitten" und kräftigen Irrtümern anheimgegeben werden, "daß sie der Lüge glauben, auf daß alle gerichtet werden, die der Wahrheit nicht geglaubt, sondern Wohlgefallen gefunden haben an der Ungerechtigkeit" (2. Thess. 2, 11. 12). Schreckliche Worte! Möchten sie in den Ohren Tausender widerhallen, die von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, von Jahr zu Jahr dahingehen, zufrieden mit dem bloßen Namen, mit einer Form der Gottseligkeit zu leben, während sie deren Kraft verleugnen und "mehr das Vergnügen lieben als Gott" (2. Tim. 3). Welch ein er­schreckendes Bild geben uns diese Worte von den sogenannten christ­lichen Völkern! Wie furchtbar ist der Zustand und das Endschicksal von Millionen, die in sorgloser und blinder Vergnügungssucht auf abschüssiger Bahn dahineilen, einem hoffnungslosen und ewigen Ver­derben entgegen!

 

Abschließend sei noch auf den letzten Vers unseres Kapitels verwiesen, der vielfach mißverstanden und falsch angewandt wird. "Das Verbor­gene ist des HERRN, unseres Gottes; aber das Geoffenbarte ist unser und unserer Kinder ewiglich, damit wir alle Worte dieses Gesetzes tun." Man hat diese Stelle häufig dazu benutzt, die Seelen von einer fortschreitenden Erforschung der "Tiefen Gottes" zurückzuhalten. Aber ihre wirkliche Bedeutung ist leicht zu begreifen: Das "Geoffenbarte" ist das, was wir in den vorhergehenden Kapiteln dieses Buches betrachtet haben, während sich das "Verborgene" auf die Hilfsquellen der Gnade bezieht, die Gott für den Fall vorgesehen hatte, daß Israel darin ver­sagen würde, "alle Worte dieses Gesetzes zu tun". Das "Geoffenbarte" ist das, was Israel hätte tun sollen, aber nicht getan hat. Das "Ver­borgene" ist das, was Gott trotz des traurigen und schmählichen Ver­falls Israels tun wollte, und was in den folgenden Kapiteln mitgeteilt wird. Diese enthalten die Vorsätze der Gnade Gottes, die Vorkehrungen der unumschränkten Barmherzigkeit, die sich entfalten Sollten, wenn Israel sein völliges Versagen unter den beiden Bündnissen (im Land Moab und am Berg Horeb) eingesehen haben wird.

 

Wenn diese Stelle recht verstanden wird, stützt sie daher in keiner Weise die Deutung, die man ihr oft beilegt, sondern ermutigt uns viel­mehr, die Dinge zu erforschen, die dem Volk Israel in den Ebenen Moabs allerdings "verborgen" waren, uns aber völlig "geoffenbart ­sind zu unserem Nutzen und Trost und zur Auferbauung unserer See­len. Der Heilige Geist kam am Pfingsttage herab, um die Jünger in die ganze Wahrheit zu leiten. Die Heilige Schrift ist vollendet, und die Vor­sätze und Ratschlüsse Gottes sind völlig geoffenbart worden. Das Ge­heimnis der Kirche schließt den ganzen Kreis der göttlichen Wahrheiten. Der Apostel Johannes konnte zu allen Kindern Gottes sagen: "Ihr habt die Salbung von dem Heiligen und wisset alles".

 

Kapitel 30

 

LEBEN UND GLÜCK. TOD UND UNGLÜCK

 

Dieses Kapitel ist prophetisch und zeigt uns etwas von dem „Verbor­genen", wovon wir am Schluß des vorigen Kapitels gesprochen haben, von der Entfaltung der Quellen der Gnade in dem Herzen Gottes für Israel, wenn es wegen seiner Untreue unter dem Gesetz bis an die Enden der Erde zerstreut wird.

 

Schön sind die ersten drei Verse. Hier geht es nicht mehr um die Be­obachtung des Gesetzes, sondern um etwas, was weit größer und wert­voller ist: um die Umkehr des ganzen Herzens und der ganzen Seele, zu dem HERRN in einer Zeit, wo ein buchstäblicher Gehorsam gegen das Gesetz zur Unmöglichkeit geworden ist. Ein zerbrochenes und zer­knirschtes Herz kehrt um zu Gott, und Gott begegnet diesem Herzen in Seinem tiefen und unendlichen Erbarmen. Das ist ein wirklicher Segen, wenn Gott Selbst, unabhängig von Zeit und Ort, in der Fülle dessen, was Er ist, einer bußfertigen Seele begegnet. Sobald dieses Zusammen­treffen erfolgt, wird alles göttlich und ewig geordnet.

 

Es handelt sich in dem vorliegenden Abschnitt nicht um die Beobach­tung des Gesetzes oder um das Aufstellen einer menschlichen Gerech­tigkeit. Der erste Vers erklärt eindeutig, daß das Volk in einem Zustand betrachtet wird, in dem die Ausführung der gesetzlichen Vorschriften einfach unmöglich geworden ist. Aber es gibt nicht ein Fleckchen auf dem ganzen Erdboden, wo das Herz nicht zu Ihm umkehren könnte. Wenn auch die Hände nicht fähig sein mögen, ein Opfer auf den Altar niederzulegen, oder die Füße nicht zu dem Ort der Anbetung gehen können, so kann doch das Herz zu Gott gelangen. ja, das arme, ge­beugte, zerschlagene und zerbrochene Herz kann unmittelbar zu Gott nahen, und Gott in Seiner großen Barmherzigkeit und Seinem tiefen Mitgefühl kann einem solchen Herzen begegnen, es aufrichten und bis zum Überströmen mit den reichen Tröstungen Seiner Liebe und der vol­len Freude Seines Heils bringen.

 

Doch hören wir weiter, was von dem "Verborgenen" des HERRN gesagt wird, von Dingen, die jeden menschlichen Verstand übersteigen und über alle Vorstellungen hinaus wertvoll sind. "Wenn deine Ver­triebenen am Ende des Himmels wären, so wird der HERR, von dannen dich sammeln und von dannen dich holen; und der HERR, dein Gott, wird dich in das Land bringen, welches deine Väter besessen haben, und du wirst es besitzen; und er wird dir wohltun und dich mehren über deine Väter hinaus" (V. 4. 5).

 

Das sind wunderbare Worte. Aber es gibt hier noch etwas Höheres und Besseres. Gott will sie nicht nur sammeln und mehren, nicht nur Seine Macht für sie offenbaren, sondern Er will auch ein mächtiges Werk der Gnade in ihnen tun, was weit mehr wert ist, als alle äußere Glückselig­keit, so wünschenswert diese auch sein mag. "Und der HERR, dein Gott, wird dein Herz" ‑ den Mittelpunkt des Wesens, die Quelle aller charakterbildenden Einflüsse ‑ "und das Herz deiner Kinder beschnei­den, damit du den HERRN, deinen Gott, liebest mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele, auf daß du am Leben bleibest. Und der HERR, dein Gott, wird alle diese Flüche auf deine Feinde und auf deine Hasser legen, die dich verfolgt haben". Ein ernstes Wort für alle Völker, die die Juden unterdrückt haben! "Und du, du wirst um­kehren und der Stimme des HERRN gehorchen, und wirst alle seine Gebote tun, die ich dir heute gebiete".

 

Nichts könnte herrlicher sein als alle diese Dinge. Ein Volk, gesammelt, geholt von den Enden der Erde, gemehrt, gesegnet und beschnittenen Herzens, dem Herrn völlig ergeben in einem willigen Gehorsam gegen Seine wertvollen Gebote!

 

Die folgenden Verse (9‑14) sind besonders interessant. Sie sind der Schlüssel zu dem "Verborgenen des HERRN" und stellen die großen Grundsätze der göttlichen Gerechtigkeit in einen lebendigen Gegensatz der gesetzlichen Gerechtigkeit in jeder möglichen Form. Nach der Wahrheit, die hier entfaltet wird, ist "das Wort" unabhängig vom Ort. Es tut also gar nichts zur Sache, wo sich jemand aufhält, denn „sehr nahe ist dir das Wort". Was könnte eine größere Nähe aus­drücken als die Feststellung: "in deinem Mund und in deinem Her­zen"? Wenn es sich um etwas handeln würde, was außer unserem Bereich läge, so könnten wir wohl bezweifeln, ob wir es erreichen. Aber nein, wir brauchen hierzu weder Hand noch Fuß zu regen. Herz und Mund sind es, die aktiv werden müssen.

 

Das zehnte Kapitel des Römerbriefes enthält (V. 1‑11) eine sehr schöne Anspielung auf die oben erwähnte Stelle. Der elfte Vers lautet: "Denn die Schrift sagt: jeder, der an ihn glaubt, wird nicht zu Schanden wer­den!".

 

Beachten wir das schöne Wort: "Jeder"! Sicher bezieht es sich zunächst auf den Juden, der, vertrieben aus seinem Land und in Situationen ge­kommen, in denen der Gehorsam gegen das Gesetz für ihn unmöglich geworden ist, trotz allem die reiche Gnade Gottes und Seine Errettung in der Tiefe der Not erfahren kann. Kann er auch dort das Gesetz nicht beachten, so kann er doch mit seinem Mund den Herrn Jesus bekennen und in seinem Herzen glauben, daß Gott Ihn aus den Toten auferweckt hat. Das aber ist Errettung.

 

Wenn die Schrift sagt: „jeder“, dann kann diese Errettung sich unmög­lich auf die Juden beschränken, ja, es kann überhaupt keine Beschrän­kung geben. Darum fährt der Apostel auch fort: "Denn es ist kein Unterschied zwischen Jude und Grieche". Unter dem Gesetz bestand der größtmögliche Unterschied zwischen beiden. Der Gesetzgeber selbst hatte die schärfste Grenze zwischen ihnen gezogen. Doch allein diese Grenze ist aus einem doppelten Grund beseitigt worden, zunächst weil "alle gesündigt haben und die Herrlichkeit Gottes nicht erreichen­(Röm. 3, 23), sodann aber, weil “derselbe Herr von allen reich ist für alle, die ihn anrufen; "denn jeder, der irgend den Namen des Herrn anrufen wird, wird errettet werden" (Kap. 10, 92. 13).

 

Welch eine herrliche Gnade strahlt aus den Worten hervor: "anrufen" ‑ "glauben" ‑ bekennen"! Ohne Zweifel setzen sie einen ernsten Zustand der Seele, ein Ergriffensein des Herzens voraus, denn Gott will Wirklichkeit und nicht einen bloßen Form‑ oder Kopfglauben haben. Es bedarf eines göttlichen, lebendigen, durch den Heiligen Geist im Herzen gewirkten Glaubens, der die Seele durch ein ewiges Band mit Christus verbindet.

 

Dazu kommt ‑ und auch das ist wichtig ‑ das Bekennen des Herrn Jesus mit dem Mund. Es könnte jemand sagen: "Ich glaube in meinem Herzen, aber ich bin nicht dafür, religiöse Überzeugung immer im Mund zu führen. Ich behalte meine Religion für mich und betrachte sie als eine Sache zwischen mir und Gott. Ich halte es nicht für richtig, anderen meine religiöse Überzeugung aufzudrängen".

 

Ein solches Reden ist grundverkehrt. Ein Bekenntnis mit dem Mund ist unumgänglich notwendig. Viele möchten gern durch Christus er­rettet werden, schrecken aber vor der Schmach zurück, die auf dem Bekenntnis Seines Namens ruht. Sie möchten gern zum Himmel gehen, wenn sie sterben, aber sich nicht gern solidarisieren mit einem ver­worfenen Christus. Gott erkennt solche nicht an. Er erwartet von dem Gläubigen ein klares Bekenntnis zu Christus angesichts einer feind­lichen Welt. Dasselbe erwartet der Herr Jesus. Er erklärt, daß Er jeden, der irgend Ihn vor den Menschen bekennt, auch vor den Engeln Gottes bekennen werde, und daß Er jeden, der Ihn vor den Menschen ver­leugnet, auch vor den Engeln Gottes verleugnen werde. Der Räuber am Kreuz zeigte jene beiden großen Züge des echten, errettenden Glau­bens. Er glaubte mit seinem Herzen und bekannte mit seinem Munde, und zwar in einer Art, durch die er sich in der wichtigsten Frage, die je erhoben worden ist, in Widerspruch zu der ganzen Welt setzte: der Frage über die Person Christi. Er erwies sich als ein entschiedener jün­ger Christi. Möchte es mehr solcher entschiedener jünger geben! Ein entschiedenes Zeugnis für den Herrn Jesus tut uns not.

 

Schließlich wendet sich Mose in besonders feierlicher Weise an das Herz und Gewissen des Volkes.

 

"Siehe, ich habe dir heute das Leben und das Glück, und den Tod und das Unglück vorgelegt." So ist es immer unter der Regierung Gottes. Diese beiden Dinge sind unzertrennlich miteinander verbunden. Es steht geschrieben, daß Gott "einem jeden vergelten wird nach seinen Werken: denen, die mit Ausharren in gutem Werke Herrlichkeit und Ehre und Unverweslichkeit suchen, ewiges Leben; denen aber, die streitsüchtig und der Wahrheit ungehorsam sind, der Ungerechtigkeit aber gehorsam, Zorn und Grimm. Drangsal und Angst über jede Seele eines Menschen, der das Böse vollbringt, sowohl des Juden zuerst als auch des Griechen; Herrlichkeit aber und Ehre und Frieden jedem, der das Gute wirkt, sowohl dem Juden zuerst als auch dem Griechen; denn es ist kein Ansehen der Person bei Gott" (Röm. 2, 6‑11).

 

Der Apostel beschäftigt sich an dieser Stelle nicht mit der Frage der Kraft, sondern berichtet einfach die Tatsache, die zu allen Zeiten und unter jedem Haushalt, sei es Regierung, Gesetz oder Christentum, an­wendbar ist, daß Gott "einem jeden vergelten wird nach seinen Wer­ken". Das ist wichtig und beachtenswert. Vielleicht fragt mancher: "Stehen denn die Christen nicht unter der Gnade?" ja, Gott sei Dank! aber das schwächt nicht im geringsten den angeführten Grundsatz der Regierung Gottes. Er wird vielmehr dadurch noch bestätigt und be­kräftigt. Weiter möchte man fragen: "Kann ein unbekehrter Mensch überhaupt etwas Gutes tun?" Diese Frage wird in der angeführten Stelle gar nicht berührt. jeder, der von Gott belehrt ist, hat die Über­zeugung, daß in dieser Welt nichts "Gutes" getan werden kann ohne die Gnade Gottes und daß der Mensch, sich selbst überlassen, zu allen Zeiten nur Böses tut. Aber das berührt den behandelten Grundsatz nicht, daß nämlich Leben und Glück, ebenso wie Tod und Unglück un­zertrennlich miteinander verbunden sind.

 

Nichts könnte ernster sein als die letzten Ermahnungen Moses an die Gemeinde Israel (V. 15‑20). Sie stimmen völlig mit dem ganzen Tun und Charakter des fünften Buches Mose überein. Dieses Buch enthält die ergreifendsten Ermahnungen, die je ein menschliches Ohr erreicht haben. Diese Ermahnungen und Warnungen finden sich in so feier­licher Form nicht in den vorhergehenden Büchern. Jedes Buch hat, wie schon wiederholt bemerkt, seinen besonderen Platz, seinen eigenen Zweck und Charakter. Aber das fünfte Buch ist gekennzeichnet durch eindringliche Aufforderungen zu willigem, ernstem Gehorsam. Die Grundlage dafür sind das besondere Verhältnis zwischen Gott und dem Volk und die damit zusammenhängenden Vorrechte.

 

Er wies nicht deshalb auf seine grauen Haare hin oder redete von der heiligen Zucht Gottes, um die Aufmerksamkeit des Volkes auf sich selbst, auf seine Umstände oder Gefühle hinzulenken, sondern nur um auch dadurch auf ihre Herzen und Gewissen zu wirken.

 

Kapitel 31

 

ABSCHIEDSWORTE. JOSUA WIRD ZUM FÜHRER BERUFEN

 

Das Herz Moses ist immer noch in großer Fürsorge mit dem Volk be­schäftigt. Er scheint nicht müde zu werden, immer wieder seine ernsten Ermahnungen an sie zu richten. Er wußte, wie nötig das war. Er sah die Gefahren voraus, die dem Volk drohten, und wie ein sorgsamer, treuer Hirte suchte er es darauf vorzubereiten. Man kann seine letzten Worte nicht lesen, ohne durch ihren ernsten, feierlichen Ton ergriffen zu wer­den. Sie erinnern uns an die rührenden Abschiedsworte, die der Apostel Paulus viel später an die Ältesten von Ephesus richtete. Diese beiden geliebten und geehrten Diener Gottes verwirklichten den Ernst ihrer eigenen Stellung und derjenigen ihrer Zuhörer in lebendiger Weise. Sie fühlten die ungewöhnliche Bedeutung der Interessen, die auf dem Spiel standen, sowie die dringende Notwendigkeit eines treuen Han­delns mit den Herzen und Gewissen. Hieraus erklärt sich der feierliche Ernst ihrer Ermahnungen. Alle, die die Stellung und Bestimmung des Volkes Gottes in dieser Welt wirklich kennen, müssen ernst sein. Ein wirkliches, in der Gegenwart Gottes gewonnenes Verständnis über diese Dinge muß dem Charakter heilige Würde und dem Zeugnis Kraft und Schärfe verleihen.

 

"Und Mose ging hin und redete diese Worte zu dem ganzen Israel. Und er sprach zu ihnen: Hundert und zwanzig Jahre bin ich heute alt, ich vermag nicht mehr aus ‑ und einzugehen; und der HERR hat zu mir gesagt: Du sollst nicht über diesen Jordan gehen." Wie ergreifend sind die Anspielungen, die Mose hier auf sein hohes Alter und auf die ernste Handlungsweise Gottes mit ihm macht! Offenbar wünschte er dadurch seinen Worten größere Kraft und Wirksamkeit zu verleihen.

 

"Der HERR, dein Gott, er zieht hinüber vor dir her; er selbst wird diese Nationen vor dir vertilgen, daß du sie austreibest. Josua, er zieht hinüber vor dir her, wie der HERR geredet hat. Und der HERR wird an ihnen tun, wie er an Sihon und an Og, den Königen der Amoriter, und an ihrem Lande getan, die er vertilgt hat. Und wenn der HERR sie vor euch dahingibt, so sollt ihr ihnen tun nach dem ganzen Gebot, das ich euch geboten habe." Kein Laut der Klage oder des Murrens kommt bei dieser Gelegenheit über die Lippen Moses. Die Art und Weise, wie er von dem redet, der seinen Platz einnehmen Sollte, verrät nicht die geringste Spur von Neid oder Eifersucht. Jede selbstsüchtige Erwägung wurde verdrängt durch das eine große Ziel, das Volk zu ermutigen, mit festem Schritt den Weg des Gehorsams einzuschlagen, der immer der Weg des Sieges, des Segens und des Friedens sein wird.

 

"Seid stark und mutig, fürchtet euch nicht und erschrecket nicht vor ihnen! denn der HERR, dein Gott, er ist es, der mit dir geht; er wird dich nicht versäumen und dich nicht verlassen." Wertvoll und herz­erquickend sind diese Worte und sehr dazu angetan, das Herz über alle entmutigenden Einflüsse zu erheben. Das tiefe Geheimnis der Kraft zum Vorangehen liegt in dem Wissen um die Gegenwart des HERRN und in der Erinnerung an Seine gnädigen Wege mit uns in der vergan­genen Zeit. Dieselbe mächtige Hand, die Sihon und Og vor Israel ver­tilgt hatte, konnte auch alle Könige Kanaans vor ihnen niederwerfen. Die Amoriter waren nicht weniger furchtbar als die Kanaaniter, aber der HERR war mächtiger als sie alle. "Gott, mit unseren Ohren haben wir gehört, unsere Väter haben uns erzählt die Großtat, die du gewirkt hast in ihren Tagen vor alters. Du, mit deiner Hand hast du Nationen ausgetrieben, und sie hast du gepflanzt, Völkerschaften hast du ver­derbt, und sie hast du ausgebreitet" (Ps. 44, 1. 2).

 

Josua sollte einen hervorragenden Platz in der Gemeinde einnehmen, und deshalb brauchte er eine besondere Ermunterung. Aber beachten wir, daß die an ihn gerichteten Worte (V. 7. 8) keine anderen Wahr­heiten enthielten, als diejenigen, die zu der ganzen Gemeinde geredet worden waren. Mose versicherte ihm, daß Gott und Seine Kraft mit ihm sein würden, und das genügte Josua ebenso wie dem unschein­barsten Glied der Gemeinde. Es tut nichts zur Sache, welche Gefahren und Schwierigkeiten vor uns liegen mögen. Gott ist größer als alles. Wenn wir nur das Wissen um Seine Gegenwart, sowie die Autorität Seines Wortes für das Werk haben, in dem wir stehen, können wir trotz aller feindlichen Einflüsse und Schwierigkeiten mit fröhlichem Vertrauen vorangehen.

 

In den Versen 9‑13 sind zwei Dinge besonders wichtig. Da ist zunächst die Tatsache hervorzuheben, daß der HERR größten Wert auf die öffentlichen Zusammenkünfte Seines Volkes legt, die den Zweck hatten, dem Volk Sein Wort zu übermitteln. Ganz Israel, Männer, Frauen und Kinder, wie auch der Fremdling, der in ihrer Mitte lebte, alle wurden angewiesen, sich zu versammeln, um das Vorlesen des Gesetzbuches Gottes anzuhören, damit alle Seinen heiligen Willen und ihre Pflichten kennenlernten. Jedes Glied der Versammlung sollte in persönlichen Kontakt mit dem geoffenbarten Willen des HERRN gebracht werden, damit jeder einzelne seine ernste Verantwortung kannte.

 

Zweitens ist es wichtig zu sehen, wie auch die Kinder vor dem HERRN versammelt werden mußten, um Sein Wort zu hören. Beide Tatsachen sind voll Belehrung für alle Glieder der Kirche Gottes, weil sich gerade in bezug auf diese beiden Punkte heutzutage ein bedauernswerter Mangel zeigt. Es scheint oft, als fehle dem Wort Gottes an und für sich die genügende Anziehungskraft, um uns zusammenzuführen. Vielfach zeigt sich ein Verlangen nach anderen Dingen. Menschliche Redekunst, Musik und allerlei andere, auf die religiösen Gefühle einwirkenden Dinge hält man für nötig, um die Leute zusammenzubringen. Das Wort Gottes allein genügt nicht mehr.

 

Vielleicht wird man einwenden, daß zwischen uns und Israel doch ein großer Unterschied bestehe, da jetzt jeder das Wort Gottes in seinem Haus habe und lesen könne, und daß deshalb ein gleiches Bedürfnis für das öffentliche Lesen und Betrachten des Wortes Gottes nicht mehr vorliege. Doch ein solcher Einwand hält einer Prüfung im Licht der Wahrheit nicht stand. Alle, die das Wort Gottes persönlich schätzen und lieben und es im Familienkreis lesen und erforschen, werden sicher auch ein Interesse an dessen öffentlicher Verkündigung haben. Solche schätzen es als ein großes Vorrecht, sich zusammen mit anderen um die Heilige Schrift zu versammeln, um aus ihr, der Quelle lebendigen Wassers, zu gemeinsamer Segnung und Erfrischung zu schöpfen.

 

Aber leider wird das Wort Gottes im allgemeinen weder im häuslichen Kreis noch in den Versammlungen so geschätzt und geliebt, wie es sein sollte. Während man zu Hause begierig Zeitschriften und dergleichen liest, verlangt man in den Versammlungen nach Musik, Gesang und feierlichen Zeremonien. Wenige lieben solche Versammlungen, in denen einfach das Wort Gottes betrachtet wird. Das Verlangen nach Erregung religiöser Gefühle steigert sich immer mehr, während der Wunsch nach einer ruhigen Betrachtung des Wortes Gottes im gleichen Maß ab­nimmt.

 

Gott sei Dank, daß es hier und dort noch einige gibt, die das Wort Gottes wirklich lieben und deren Freude es ist, sich darum zu scharen, um seine wertvollen Wahrheiten zu erforschen! Möge der Herr ihre Zahl vermehren! Und möchten auch wir bis zum Ende zu ihrer Zahl gehören!

 

In den Versen 14‑18 dieses Kapitels redet der HERR mit Seinem ge­liebten und geehrten Diener in rührender und zugleich ernster Weise über dessen Tod und über Israels düstere Zukunft.

 

"Viele werden der Schmerzen derer sein, die einem anderen nacheilen , sagt der Geist Christi in Psalm 16. Die feierliche Wahrheit dieser Worte hat Israel bereits erfahren und wird sie noch mehr erfahren. Seine ver­gangene Geschichte, seine gegenwärtige Zerstreuung und vor allem die "große Drangsal", die ihm noch "zur Zeit des Endes" bevorsteht, alles das bestätigt die Wahrheit, daß der sicherste Weg, unsere Schmerzen zu vermehren, darin besteht, sich von dem Herrn abzuwenden und auf irdische Hilfen zu vertrauen. Das ist eine der vielen praktischen Lehren, die wir aus der Geschichte des Samens Abrahams zu lernen haben.

 

Ernst sind auch die Worte, die wir in den folgenden Versen (19‑21) lesen. Anstatt daß die Kinder Israel vor allen Nationen ein Zeugnis für den HERRN waren, wurde das Lied Moses ein Zeugnis für den HERRN gegen sie. Sie sollten Seine Zeugen sein und Seinen Namen und Sein Lob in dem Land verkündigen, in das Er sie in Seiner Treue und unumschränkten Gnade einführen wollte. Aber sie haben darin ganz und gar versagt, und deshalb mußte angesichts dieser demütigen­den Tatsache ein Lied aufgeschrieben werden, das einerseits die Herrlichkeit Gottes hervorhob, andererseits aber Israels bedauernswerte Fehler in jedem Abschnitt seiner Geschichte schilderte.

 

"Und Mose schrieb dieses Lied an selbigem Tage auf, und er lehrte es die Kinder Israel. Und er gebot Josua, dem Sohne Nuns, und sprach: Sei stark und mutig! denn du, du sollst die Kinder Israel in das Land bringen, das ich ihnen zugeschworen habe; und ich will mit dir sein." Josua sollte sich durch die vorausgesagte Untreue Israels nicht entmuti­gen oder zaghaft machen lassen. Er sollte wie sein großer Vorgänger stark im Glauben sein, Gott die Ehre geben, und, gestützt auf den Arm des HERRN, des Bundesgottes Israels, in fröhlichem Vertrauen auf Sein Wort vorangehen. Er sollte sich durch seine Widersacher nicht erschrecken lassen, sondern an der Versicherung festhalten, daß der Gott Abrahams Seine Verheißung erfüllen und Seinen Namen in der Wiederherstellung und ewigen Segnung Seines auserwählten Volkes verherrlichen würde, mochte dieses auch noch so sehr im Gehorsam fehlen und sich daher selbst unter das Gericht bringen.

 

Alles das erscheint in dem Lied Moses mit Lebendigkeit und Kraft, und Josua hatte im Glauben daran seinen Dienst auszuüben. Er sollte nicht auf die Wege Israels sehen, sondern auf die ewige Festigkeit des mit Abraham geschlossenen göttlichen Bundes. Seine Aufgabe war es, Israel durch den Jordan hindurch in das schöne Erbteil einzuführen, das nach Gottes Vorsatz für sie bestimmt war. Hätte Josua auf Israel gesehen, dann hätte er sein Schwert in hoffnungsloser Verzweiflung in die Scheide stecken müssen. Aber nein, er sollte sich stärken in dem HERRN, seinem Gott, und seinen Dienst in der Energie eines Glaubens ausüben, der ausharrt, als sähe er den Unsichtbaren. Ein wertvoller Glaube' der Gott die Ehre gibt und die Seele über alle Schwierig­keiten erhebt! Er allein kann uns befähigen, den uns umringenden Schwierigkeiten und feindseligen Einflüssen entgegenzutreten und unse­ren Lauf mit Freuden zu beenden.

 

Der Rest des Kapitels erinnert uns an die Abschiedsworte des Apostels Paulus an die Ältesten zu Ephesus: "Denn ich weiß dieses, daß nach meinem Abschiede verderbliche Wölfe zu euch hereinkommen werden, die der Herde nicht schonen. Und aus euch selbst werden Männer auf­stehen, die verkehrte Dinge reden, um die Jünger abzuziehen hinter sich her. Darum wachet und gedenket, daß ich drei Jahre lang Nacht und Tag nicht aufgehört habe, einen jeden mit Tränen zu ermahnen. Und nun befehle ich euch Gott und dem Wort seiner Gnade, welches vermag aufzuerbauen und euch ein Erbe zu geben unter allen Gehei­ligten" (Apg. 20, 29‑32).

 

Der Mensch ist überall und immer derselbe. Seine Geschichte ist be­fleckt von Anfang bis Ende. Aber welchen Trost und welche Erleichte­rung gibt der Gedanke dem Herzen, daß Gott immer derselbe bleibt, und daß Sein Wort "feststeht in den Himmeln! (Ps. 119, 89). Es war in der Bundeslade verborgen und blieb dort trotz der schrecklichen Sünden und Torheiten des Volkes unversehrt bewahrt. Das gibt dem Herzen zu allen Zeiten Ruhe, selbst angesichts der menschlichen Feh­ler, des Verderbens und Verfalls dessen, was den Händen des Menschen anvertraut worden ist. "Das Wort des HERRN bleibt in Ewigkeit", und während es einerseits ein wahres und ernstes Zeugnis gegen den Menschen und seine Wege ablegt, gibt es uns andererseits die wertvolle und beruhigende Versicherung, daß Gott über allen Sünden und Tor­heiten des Menschen steht, daß Seine Quellen unerschöpflich sind und daß der Augenblick sich nähert, wo Seine Herrlichkeit unverhüllt her­vorstrahlen und den ganzen Schauplatz erfüllen wird.

 

Kapitel 32

 

DAS LIED MOSES

 

"Und Mose redete vor den Ohren der ganzen Versammlung Israels die Worte dieses Liedes bis zu ihrem Schlusse." Wir gehen nicht zu weit, wenn wir sagen, daß wir hier einen der wichtigsten und umfas­sendsten Abschnitte des Wortes Gottes vor uns haben, der eingehende Betrachtung erfordert. Er enthält die Geschichte der Wege und Hand­lungen Gottes mit Israel von Anfang bis Ende und einen feierlichen Bericht der schrecklichen Sünden dieses Volkes und der göttlichen Ge­richte über das Volk. Aber, Gott sei Dank! er beginnt und endet mit Gott. Wäre das nicht so, dann hätten wir nur die traurige Geschichte der Wege des Menschen vor uns und müßten hiervon überwältigt werden. So aber können wir die Geschichte der Wege des Menschen in Ruhe verfolgen und sehen, wie alles unter seinen Händen zugrunde geht, welche gewaltigen Anstrengungen der Feind macht, um sich der Ausführung der Ratschlüsse und Vorsätze Gottes zu widersetzen, und endlich, wie das Geschöpf in allem versagt hat und so dem traurigsten Verderben anheimgefallen ist. Wir können das deshalb mit Ruhe tun, weil wir wissen, daß Gott trotz allem Derselbe bleibt. Er wird am Ende die Oberhand behalten, und dann wird und muß alles in Ordnung kommen. Dann wird Er "alles in allem. sein, und kein Feind, nichts Böses wird in dem unermeßlichen Bereich des Segens gefunden werden, in dem unser anbetungswürdiger Herr Jesus Christus gleichsam die Zentralsonne bilden wird.

 

"Horchet, ihr Himmel, und ich will reden; und die Erde höre die Worte meines Mundes!" Himmel und Erde werden aufgefordert, auf diese er­habenen Aussprüche zu lauschen. "Es träufle wie Regen meine Lehre, es fließe wie Tau meine Rede, wie Regenschauer auf das Gras und wie Regengüsse auf das Kraut! Denn den Namen des HERRN will ich ausrufen: Gebet Majestät unserem Gott!"

 

Hier sehen wir die feste, unerschütterliche Grundlage von allem. Mag kommen was will, der Name unseres Gottes wird ewiglich bestehen. Keine Macht der Erde oder der Hölle kann die göttlichen Vorsätze hintertreiben oder das Ausstrahlen der göttlichen Herrlichkeit verhindern. Der Name unseres Gottes, des Gottes und Vaters unseres Herrn Jesus Christus, ist unsere Zuflucht und Hilfe in dieser finsteren, sündigen Welt und angesichts der scheinbaren Erfolge des Feindes. Das Anrufen des Namens des HERRN tut der Seele wohl wie der erfri­schende Tau und der erquickende Regen der dürstenden Flur.

 

"Der Fels: vollkommen ist sein Tun" (V. 4). Er ist Aer Fels", nicht ein Fels. Es kann keinen anderen Felsen geben als Ihn. Sein Werk ist vollkommen. Nicht der geringste Fehler zeigt sich an dem, was von Seiner Hand kommt. Alles trägt den Stempel unbedingter Vollkommen­heit. Dies wird bald allen Geschöpfen offenbar werden. Doch der Glaube erkennt es jetzt schon und findet eine Quelle göttlichen Trostes darin. "Denn alle seine Wege sind recht. Ein Gott der Treue und sonder Trug, gerecht und gerade ist er!" Die Ungläubigen mögen darüber spöt­tisch lächeln und in ihrer eingebildeten Klugheit die Handlungen Gottes kritisieren, aber ihre Dummheit wird bald allen offenbar werden. "Gott aber sei wahrhaftig, jeder Mensch aber Lügner, wie geschrieben steht­ „Damit du gerechtfertigt wirst in deinen Worten, und überwindest, wenn du gerichtet wirst“ (Röm. 3, 4). Wehe denen, die sich anmaßen, die Vollkommenheit der Worte und Werke des allein weisen und all­mächtigen Gottes in Frage zu stellen! Wir haben es mit einem Gott zu tun, der immer treu bleibt und sich selbst nicht verleugnen kann, dessen Wege vollkommen sind und der, wenn der Feind sein Äußerstes getan hat und den Höhepunkt seiner boshaften Pläne erreicht hat, sich selbst verherrlichen und allgemeine und ewige Segnungen einführen wird.

 

Wohl muß Gott Gericht über die Wege des Menschen ausüben und manchmal die Zuchtrute mit furchtbarer Strenge gegen Sein eigenes Volk gebrauchen. Er kann unmöglich das Böse bei denen dulden, die Seinen heiligen Namen tragen. Das wird mit besonderem Ernst in dem vorliegenden Lied deutlich. Rückhaltlos werden in ihm die Wege Israels bloßgestellt und verurteilt. Nichts wird übergangen. Alles wird mit hei­liger Genauigkeit und Treue behandelt. Wir lesen: "Es hat sich gegen ihn verderbt ‑ nicht seiner Kinder ist ihr Schandfleck ‑ ein verkehrtes und verdrehtes Geschlecht. Vergeltet ihr also dem HERRN, du törichtes und unweises Volk? Ist er nicht dein Vater, der dich erkauft hat? Er hat dich gemacht und dich bereitet."

 

Diese Worte bilden den ersten Vorwurf in diesem Lied. Aber gleich da­nach hören wir auch schon ein herrliches Zeugnis von der Güte, Treue und Barmherzigkeit des HERRN, des höchsten Gottes. Gedenke der Tage der Vorzeit, merket auf die Jahre von Geschlecht zu Geschlecht.. frage deinen Vater, und er wird es dir kundtun, deine Ältesten, und sie werden es dir sagen. Als der Höchste den Nationen das Erbe austeilte, als er voneinander schied die Menschenkinder, da stellte er fest die Grenzen der Völker nach der Zahl der Kinder Israel".

 

Diese herrliche Tatsache wird von den Völkern der Erde wenig verstan­den und beachtet. Wie wenig denkt man daran, daß der Höchste die Grenzen der Völker ursprünglich unter unmittelbarer Bezugnahme auf "die Kinder Israel" festgestellt hat! Wenn wir Geographie und Ge­schichte von einem göttlichen Standpunkt aus studieren, finden wir, daß das Land Kanaan und der Same Jakobs ihren Mittelpunkt bilden. ja, dieser kleine, an der Ostküste des Mittelmeeres gelegene Streifen Land, mit einer Fläche von ungefähr 20 000 Quadratkilometern ist der Mittelpunkt der Geographie Gottes, und die zwölf Stämme Israels bil­den den Mittelpunkt der Geschichte Gottes. Wie wenig haben Geo­graphen und Historiker an diese Tatsache gedacht! Sie haben Länder beschrieben und die Geschichte von Völkern aufgezeichnet, die an Größe und politischer Wichtigkeit Palästina und sein Volk weit über­ragen, die nach dem Urteil Gottes jedoch nichts sind im Vergleich mit dem kleinen Land, das Er Sein eigenes Land nennt und das Er nach Seinem Vorsatz dem Samen Abrahams, Seines Freundes, als ewiges Erbteil geben will.*)

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*) Wie wahr ist das Wort: "Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der HERR“ (Jes, 55, 8). Für den Menschen sind ausgedehnte Gebiete, reiche Hilfsmittel, gut geschulte Heere, mächtige Flotten usw. von großer Bedeutung. Gott aber nimmt keine Notiz von solchen Dingen. Sie haben für Ihn nicht mehr Gewicht als Staub auf der Waagschale (Vergl. Jes. 40, 21‑23). Wie wichtig aber ist das kleine Palästina! Welche Ereignisse haben dort stattgefunden! Welche Pläne werden dort noch ausgeführt werden! Es gibt keinen Fleck auf der ganzen Erde, der für das Herz Gottes so interessant wäre, wie das Land Kanaan und die Stadt Jerusalem. Die Schrift ist voll von Beweisen dafür, und die Zeit nähert sich schnell, wo offenbare Tatsachen bewirken werden, was durch die klarsten Zeugnisse der Schrift nicht bewirkt worden ist, nämlich die Überzeugung bei den Menschen, daß das Land Israel den Mittelpunkt der Pläne Gottes bezüglich dieser Erde bildet. Alle anderen Völker verdanken ihre Bedeutung, ihr Interesse und den Platz, den sie in den Blättern der Schrift gefunden haben, nur der Tatsache, daß sie in der einen oder anderen Weise mit dem Land und dem Volk Israel in Verbindung gestanden haben. Daran denken die Historiker nicht. Wir sollten es jedoch tun.

 

Der herrliche Inhalt der Verse 9‑14 ist zunächst natürlich auf Israel anzuwenden. Auch kann er der Kirche zur Belehrung und zum Nutzen dienen. Wollte man ihn aber auf sie anwenden, so würde man einen doppelten Fehler begehen: man würde die Kirche ihrer himmlischen Stellung berauben und auf einen irdischen Boden stellen, und zugleich dem Volk Israel den Platz und das Teil entziehen, die ihm von Gott bestimmt sind. Dir Kirche Gottes oder der Leib Christi hat nichts mit den Völkern der Erde und der Verteilung ihrer Gebiete zu tun. Sie ist nach den Gedanken Gottes ein Fremdling auf der Erde. Ihr Teil, ihre Hoffnung, ihre Heimat, ihr Erbe sind himmlisch. Auch ihre Berufung, ihr Wandel, ihre Bestimmung, ihr ganzer Charakter sind himmlisch oder sollten es sein. Die Kirche hat nichts mit der Politik dieser Welt zu tun. Ihr Bürgertum ist in den Himmeln, von woher sie auch den Herrn als Heiland erwartet (Phil. 3). Wenn sie sich in die Politik dieser Welt einmischt, erweist sie sich untreu gegen ihren Herrn, ihre Beru­fung und ihre Grundsätze. Es ist ihr hohes und heiliges Vorrecht, mit einem gekreuzigten, auferstandenen und verherrlichten Christus ver­bunden zu sein. Sie hat so wenig mit Gesellschaftsproblemen oder dem Lauf der Weltgeschichte zu tun, wie ihr verherrlichtes Haupt in den Himmeln. Der HERR Selbst sagt von den Seinen: "Sie sind nicht von der Welt, gleichwie ich nicht von der Welt bin".

 

Das ist entscheidend und kennzeichnet unsere Stellung und unseren Weg hier auf der Erde. "Wie er ist, sind auch wir in dieser Welt." Diese Worte enthalten eine doppelte Wahrheit, nämlich unsere An­nahme bei Gott und unsere Trennung von der Welt. Wir sind in der Welt, aber nicht von ihr. Wir haben als Fremde in ihr zu leben, indem wir auf die Ankunft unseres Herrn warten, auf die Erscheinung des hellen, glänzenden Morgensterns. Aber es ist nicht unsere Sache, uns mit der Politik zu befassen. Wir sind berufen und werden wiederholt ermahnt, den "obrigkeitlichen Gewalten" zu gehorchen, für alle, die in Hoheit sind, zu beten, Steuern zu entrichten und niemand etwas schul­dig zu sein. Wir sollen "tadellos und lauter" sein, "unbescholtene Kin­der Gottes inmitten eines verdrehten und verkehrten Geschlechts", in dem wir scheinen "wie Lichter in der Welt, darstellend das Wort des Lebens" (Phil. 2). Hieraus geht hervor, wie wichtig es ist, "das Wort der Wahrheit recht zu teilen".

 

Mit Vers 15 tritt ein Wendepunkt in dem Lied Moses ein. Bis dahin sahen wir Gott und Sein Tun, Seine Vorsätze, Ratschlüsse und Gedan­ken, Sein liebevolles Interesse an Seinem Volk Israel und Sein zärtliches Handeln mit ihm. Alles das ist voll reichen Segens. Wenn wir Gott und Seine Wege sehen, gibt es kein Hindernis für die Freude unserer Her­zen. Alles ist göttlich vollkommen, und die Betrachtung des Wortes er­füllt uns mit Bewunderung und Dank.

 

Aber es gibt auch eine menschliche Seite, und hier begegnen wir nur Fehlern und Enttäuschungen. So lesen wir im 15. Vers unseres Kapitels: "Da ward Jeschurun fett und schlug aus". Wie lebendig stellen uns diese Worte trotz ihrer Kürze die innere Geschichte Israels vor Augen! ‑ "du wurdest fett, dick, feist! Und er verließ Gott, der ihn gemacht hatte, und verachtete den Fels seiner Rettung. Sie reizten ihn zur Eifer­sucht durch fremde Götter, durch Greuel erbitterten sie ihn. Sie opfer­ten den Dämonen, die Nicht‑Gott sind, Göttern, die sie nicht kannten, neuen, die vor kurzem aufgekommen waren, die eure Väter nicht ver­ehrten. Den Felsen, der dich gezeugt, vernachlässigtest du, und ver­gaßest den Gott, der dich geboren" (V. 15‑18).

 

Wie reden diese Worte auch zu uns! Wir sind alle in Gefahr, den hier aufgezeigten verkehrten Weg zu betreten. Wir machen von den Gaben Gebrauch, wobei wir den Geber ausschließen. Wir werden wie Israel fett und schlagen aus. Wir vergessen Gott. Wir verlieren das wertvolle Wissen um Seine Gegenwart und Seine vollkommene Allgenugsamkeit und wenden uns anderen Zielen zu, wie Israel sich zu falschen Göttern wandte. Wie oft vergessen wir den Felsen, der uns gezeugt, den Gott, der uns geboren, und den Herrn, der uns erlöst hat! Alles das ist bei uns noch weniger zu entschuldigen, weil unsere Vorrechte höher sind als diejenigen Israels. Wir sind in ein Verhältnis und in eine Stellung eingeführt, wovon Israel nichts kannte. Unsere Vorrechte und Segnun­gen sind die allerhöchsten. Es ist unser Vorzug, Gemeinschaft mit dem Vater und mit Seinem Sohn Jesus Christus zu haben. Wir sind die Empfänger dieser vollkommenen Liebe, die nicht eher ruhte, als bis sie uns in eine Stellung gebracht hatte, in der von uns gesagt werden kann: "Gleichwie er (Christus) ist, sind auch wir in dieser Welt". Die Liebe Gottes zu uns ist nicht nur in der Hingabe und dem Tod Seines eingeborenen Sohnes und in der Gabe Seines Geistes geoffenbart wor­den, sondern sie ist auch mit uns vollendet worden, da sie uns in die­selbe Stellung gebracht hat, die unser Herr einnimmt.

 

Die Verse 19‑25 zeigen uns die Regierungswege Gottes in Seinem Volk, die an die Worte des Apostels in Hebr. 10, 31 erinnern: "Es ist furchtbar, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen"! Die Ge­schichte Israels beweist deutlich, daß "unser Gott ein verzehrendes Feuer ist". Kein Volk der Erde ist durch eine so strenge Zucht gegangen wie das Volk Israel. Der Herr erinnert sie mit den Worten daran: "Nur euch habe ich von allen Geschlechtern der Erde erkannt; darum werde ich alle eure Missetaten an euch heimsuchen" (Amos 3, 2). Keine andere Nation ist zu dem Vorzug berufen worden, eine so enge Verbindung mit dem HERRN zu haben. Diese Würde war einer Nation vorbe­halten; aber gerade diese bildete die Grundlage einer sehr ernsten Ver­antwortlichkeit. Israel war berufen, das Volk Gottes zu sein, aber es war auch verantwortlich, sich so zu verhalten, wie es dieser Stellung würdig war, andernfalls würde es die schwersten Züchtigungen erfah­ren, die je ein Volk getroffen haben.

 

Aus dem Bericht der Wege Gottes mit Seinem Volk sollten wir lernen, wie notwendig es für uns ist, demütig, wachsam und treu in unserer hohen und heiligen Stellung zu leben. Zwar besitzen wir das ewige Le­ben, sind die bevorzugten Gegenstände jener herrlichen Gnade, die ,durch Gerechtigkeit herrscht zu ewigem Leben durch Jesus Christus, unseren Herrn". Wir sind Glieder des Leibes Christi, Tempel des Heiligen Geistes und Erben der ewigen Herrlichkeit. Aber gibt uns das etwa das Recht, die warnende Stimme zu überhören, die uns aus der Geschichte Israels entgegentönt? Sollten wir, weil wir höhere Vorrechte besitzen, sorglos leben und die Ermahnungen verachten, die sich aus der Geschichte des irdischen Volkes Gottes ergeben? Gott bewahre uns vor einem solchen Gedanken! Nein, wir sind im Gegenteil verpflichtet, ernstlich auf die Dinge achtzuhaben, die der Heilige Geist zu unserer Belehrung aufgezeichnet hat. je höher unsere Vorrechte, je reicher unsere Segnungen, je inniger unser Verhältnis zu Gott, desto mehr geziemt es uns, treu zu sein und uns so zu betragen, wie es Dem wohl­gefällig ist, der uns berufen hat "aus der Finsternis zu seinem wunder­baren Licht" (i. Petr. 2, 9b).

 

Im 26. Vers finden wir eine interessante Seite aus der Geschichte der Wege Gottes mit Israel. "Ich hätte gesagt: Ich will sie zerstreuen, ihrem Gedächtnis unter den Menschen ein Ende machen!" Warum hat Gott das nicht getan? Die Antwort auf diese Frage stellt eine Wahrheit von unermeßlicher Wichtigkeit für Israel dar, eine Wahrheit, die allen ihren zukünftigen Segnungen zur Grundlage dient. Ohne Zweifel hätte es Israel selbst verdient, daß sein Gedächtnis unter den Menschen ausge­tilgt würde. Aber Gott hat Seine eigenen Gedanken und Vorsätze> mit Seinem Volk, und Er nimmt daneben auch Rücksicht auf die Gedanken der Nationen über Israel. Das tritt im 27. Vers hervor. Gott läßt sich herab, den Grund dafür anzugeben, warum Er nicht jede Spur des sün­digen, widerspenstigen Volkes vertilgen will. "Wenn ich die Kränkung von seiten des Feindes nicht fürchte, daß ihre Widersacher es ver­kännten, daß sie sprächen: Unsere Hand war erhaben, und nicht der HERR hat dies alles getan!"

 

Wie groß ist die Gnade, die aus diesen Worten hervorstrahlt! Gott will nicht, daß die Widersacher den Gedanken hegen, ihre Macht habe das Volk Israel zu Boden geschmettert. Er will die Völker wohl als Zuchtrute gebrauchen, aber sobald sie versuchen, in ihrer bitteren Feind­schaft die ihnen bestimmten Grenzen zu überschreiten, wird Er die Rute in Stücke zerbrechen und es vor allen offenbar machen, daß Er Selbst sich mit Seinem geliebten, wenn auch irrenden Volk nur zu seiner schließlichen Segnung und Herrlichkeit, beschäftigt.

 

Das ist eine wertvolle Wahrheit. Es ist der feste Vorsatz des HERRN, alle Völker der Erde zu lehren, daß Israel einen besonderen Platz in Seinem Herzen und eine hervorragende Stellung auf dieser Erde hat. Wenn die Völker diese Tatsache vergessen oder sich ihr widersetzen wollen, werden sie die Folgen ihres Tuns tragen müssen. Sie werden erfahren, daß der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs jeden Anschlag niederschlagen wird, den sie gegen das Volk Seiner Wahl schmieden. Der Mensch mag in seinem Stolz und Wahn meinen, seine Hand sei erhaben, aber er wird die Erfahrung machen müssen, daß die Hand des HERRN erhabener ist.

 

In den Versen 29‑33 wendet Gott sich an die Herzen und Gewissen des Volkes: "Wenn sie weise wären, so würden sie dieses verstehen, ihr Ende bedenken. Wie könnte einer Tausend jagen, und zwei Zehn­tausend in die Flucht treiben, wäre es nicht, daß ihr Fels sie verkauft und der HERR sie preisgegeben hätte? Denn nicht wie unser Fels ist ihr Fels: dessen sind unsere Feinde selbst Richter!" ‑ Es gibt nur den einen Felsen, dem niemand gleicht. Es kann keinen anderen geben! ‑"Denn von dem Weinstock Sodoms ist ihr Weinstock und von den Flu­ren Gomorras; ihre Beeren sind Giftbeeren, bitter sind ihre Trauben. Gift der Drachen ist ihr Wein und grausames Gift der Nattern".

 

Welch ein schreckliches Bild von dem sittlichen Zustand eines Volkes! Es ist das Bild des wirklichen Zustandes aller, die nicht den Fels Israels als ihren Fels besitzen. Doch der Tag der Rache wird kommen. Er ist bis heute wegen der langmütigen Gnade Gottes zurückgehalten worden, aber er wird kommen, so wahr ein Gott auf dem Thron in den Him­meln sitzt. An diesem Tag werden alle Völker, die Israel mit Stolz und Verachtung behandelt haben, vor dem Richterstuhl des Sohnes des Menschen wegen ihres Verhaltens Rechenschaft geben, sie werden Sein gerechtes Urteil hören und Seinen schonungslosen Zorn über sich ergeben lassen müssen.

 

Mit dem 42. Vers des Kapitels enden die Anordnungen des Gerichts und der Rache Gottes. Das Lied Moses enthält nur einen kurzen Bericht über diese ernsten Dinge, während die Schriften der Propheten sie aus­führlich behandeln. Wir verweisen unter anderem auf das 38. und 39. Kapitel des Propheten Hesekiel, in welchen das Gericht über Gog und Magog, den großen Feind des Nordens, beschrieben wird, der am Ende gegen das Land Israel heraufziehen, aber dort vernichtet werden wird. Auch in Joel 3 ist von diesen Dingen die Rede. Wir lesen dort: "Denn siehe, in jenen Tagen und zu jener Zeit, wenn ich die Gefangenschaft Judas und Jerusalems wenden werde, dann werde ich alle Nationen versammeln und sie in das Tal Josaphat hinabführen; und ich werde daselbst mit ihnen rechten über mein Volk und mein Erbteil Israel, welches sie unter die Nationen zerstreut haben, und mein Land haben sie geteilt" (V. 1. 2). Man ersieht aus diesen Stellen, wie genau die Pro­pheten mit dem Lied Moses übereinstimmen, und wie klar in beiden der Heilige Geist die Wahrheit von Israels zukünftiger Herrlichkeit und Oberherrschaft darstellt.

 

Die Schlußworte des Liedes sind wirklich belebend. Sie sind gewisser­maßen der Schlußstein des ganzen Gebäudes. Alle Feinde Israels, unter welchem Namen sie auch auf der Bildfläche erscheinen mögen ‑ ob als Gog und Magog, ob als Assyrer oder als König des Nordens ‑, werden vernichtet und dem ewigen Verderben preisgegeben werden. Dann tönen die herrlichen Worte an unser Ohr: "jubelt, ihr Nationen, mit seinem Volk! denn er wird rächen das Blut seiner Knechte und wird Rache erstatten seinen Feinden, und seinem Lande, seinem Volke, vergeben".

 

Damit endet dieses Lied, einer der schönsten und kraftvollsten Gesänge, die es im Buch Gottes gibt. Es beginnt und endet mit Gott und enthält die ganze Geschichte des Volkes Israel in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Es zeigt uns die Bestimmung der Völkergebiete mit Be­zug auf die göttlichen Pläne mit dem Samen Abrahams. Es redet über alle Nationen, die gegen das erwählte Volk gehandelt haben oder noch handeln werden. Und schließlich, nachdem Israel gemäß dem mit seinen Vätern geschlossenen Bund völlig wiederhergestellt und gesegnet ist, werden die erretteten Völker aufgefordert, sich mit ihm zu freuen und zu jubeln.

 

Welch ein Kranz von Wahrheiten wird uns hier vorgestellt! Wohl mag gesagt werden: "Gott ist der Fels, Sein Werk ist vollkommen!" Hier kann das Herz in heiligem Frieden ruhen, mag kommen was da will. Alles mag in den Händen des Menschen in Stücke gehen, alles, was menschlich ist, mag in hoffnungslosem Verfall enden, aber "der Fels" wird ewig bestehen, und jedes Werk Gottes wird in ewiger Vollkom­menheit glänzen zu Seiner Verherrlichung und zum Segen Seines Volkes.

 

Selbstverständlich handelt es sich in diesem Lied nicht um die Kirche Gottes, den Leib Christi. Als Mose dieses Lied aufschrieb, war das Geheimnis der Kirche noch im Herzen Gottes verborgen. Der Apostel Paulus war der begnadete Diener, durch den es geoffenbart werden sollte. Wenn wir das nicht verstehen, sind wir unfähig, die Heiligen Schriften zu erklären. Für ein einfältiges Herz, das sich nur durch die Schrift belehren lassen will, ist es klar, daß das Lied Moses die Regie­rungswege Gottes mit Israel und den Völkern der Erde als Gegenstand, die Erde als Schauplatz und das Land Kanaan als Mittelpunkt hat.

 

"Und Mose kam und redete alle Worte dieses Liedes vor den Ohren des Volkes, er und Hosea, der Sohn Nuns. Und als Mose alle diese Worte zu dem ganzen Israel ausgeredet hatte, da sprach er zu ihnen: Richtet euer Herz auf alle die Worte, die ich euch bezeuge, damit ihr sie euren Kindern befehlet, daß sie darauf achten, alle Worte dieses Geset­zes zu tun. Denn es ist nicht ein leeres Wort für euch, sondern es ist euer Leben; und durch dieses Wort werdet ihr eure Tage verlängern in dem Lande, wohin ihr über den Jordan ziehet, um es in Besitz zu nehmen" (V. 44‑47).

 

Wir sehen in diesem Buch von Anfang bis Ende, wie Mose, dieser treue Knecht Gottes, damit beschäftigt ist, dem Volk die Pflicht eines unbedingten, von Herzen kommenden Gehorsams gegenüber dem Wort Gottes einzuprägen. Dieser Gehorsam war der Schlüssel zu Leben, Frie­den, Fortschritt und Wohlfahrt für das Volk. Sie hatten nichts anderes zu tun als zu gehorchen. Möge ein solch einfältiger, unbedingter Ge­horsam auch uns kennzeichnen, in dieser Zeit der Verwirrung, in der der Wille des Menschen eine so schreckliche Rolle spielt! Die Welt und die sogenannte Kirche handeln nach ihrem eigenen Willen, der sie bald in Finsternis stürzen muß. Unser Wunsch sollte es sein, den schmalen Pfad des Gehorsams gegenüber den gesegneten Geboten unseres Herrn und Heilandes zu gehen! Das allein wird unseren Herzen wirklichen Frieden geben. Mögen wir dann auch den Menschen dieser Welt und sogar Christen engherzig und weltfremd erscheinen, dann laßt uns doch nicht um Haaresbreite von dem Weg abweichen, den uns das Wort Gottes zeigt. Möge das Wort des Christus reichlich in uns wohnen und der Friede des Christus in unseren Herzen herrschen, bis zum Ende hin! Es ist bemerkenswert und eindrucksvoll, daß dies Kapitel mit einem neuen Hinweis auf die Regierungswege des HERRN mit Seinem ge­liebten Diener Mose schließt (Vergl. Verse 48‑52). Ernst und demüti­gend ist die Regierung Gottes. Das Herz sollte bei dem bloßen Ge­danken an Ungehorsam erzittern. Wenn ein so hervorragender Knecht wie Mose gerichtet wurde, weil er unbedachtsam mit seinen Lippen geredet hatte, was wird dann das Ende derer sein, die ihr Leben in gewohnheitsmäßiger Vernachlässigung der klaren Gebote Gottes und in eigenwilliger Verwerfung Seiner Autorität dahingehen!

 

Kapitel 33

 

DER SEGEN MOSES

 

"Und dies ist der Segen, womit Mose, der Mann Gottes, die Kinder Israel vor seinem Tode gesegnet hat" (V. 1). Es ist tröstlich, daß die letzten Worte des Gesetzgebers Worte unvermischten Segens sind. Wir haben uns bei seinen verschiedenen Reden aufgehalten, den ernsten und ergreifenden Worten, die er an die Gemeinde Israels in den Ebenen Moabs richtete. Wir haben sein wunderbares Lied, gemischt aus Gedanken der Gnade und der Regierung, betrachtet. Aber jetzt werden wir angehalten, auf Segensworte zu lauschen, die, voll Trostes, gleichsam aus dem Herzen des Gottes Israels hervorströmen, Seine Ge­danken der Liebe über Sein Volk wiedergeben und uns einen Blick in die herrliche Zukunft Israels gewähren.

 

Es besteht ein Unterschied zwischen diesen letzten Worten Moses und den Segnungen des Patriarchen Jakob in 1. Mose 49. Jakob berichtet uns die Taten seiner Söhne, und ihr Tun war teilweise sehr traurig und demütigend. Mose dagegen stellt uns die Handlungen der göttlichen Gnade ‑ sei es für oder gegen das Volk ‑ vor. Die bösen Taten Ru­bens, Simeons und Levis werden von Jakob erwähnt, von Mose ver­schwiegen. Ist das ein Widerspruch? Nein, sondern göttliche Harmonie. Jakob betrachtete seine Söhne in ihrer persönlichen Geschichte, Mose sieht sie in ihrem Bundesverhältnis mit dem HERRN. Jakob erzählt uns von menschlicher Schwachheit und Sünde, Mose berichtet uns von göttlicher Treue, Güte und Freundlichkeit. Jakob teilt uns menschliche Handlun­gen und das Gericht über sie mit, Mose führt uns in göttliche Pläne ein und beschreibt den Segen, der aus ihnen hervorkommt. Dank und Preis sei unserem Gott! Seine Pläne, Seine Segnungen und Seine Herrlich­keiten stehen weit über allen menschlichen Fehlern, Sünden und Tor­heiten. Er wird schließlich alles nach Seinen Gedanken ausführen, und zwar für ewig. Dann werden Israel und die Nationen völlig gesegnet werden und sich miteinander an der Güte Gottes erfreuen und Seinen Ruhm von Meer zu Meer, von Küste zu Küste und "von dem Strome bis an die Enden der Erde" verkündigen.

 

Die verschiedenen Segnungen der Stämme sind voll von wertvollsten Lehren, ohne daß sie besonderer Erklärung bedürfen.

 

"Ruben lebe und sterbe nicht, und seiner Männer sei eine Zahl!" (V. 6).

 

Hier findet sich nichts von Rubens Unbeständigkeit, nichts von seiner Sünde. Die Gnade steht im Vordergrund, und Segnungen fließen in reicher Fülle aus dem Herzen Dessen, der Seine Freude daran findet, zu segnen und Herzen um sich zu haben, die bis zum Überströmen mit dem Wissen um Seine Güte erfüllt sind.

 

"Und dieses von Juda; und er sprach: Höre, HERR, die Stimme Judas und bringe ihn zu seinem Volke; seine Hände seien mächtig für ihn, und hilf ihm von seinen Bedrängern!" Juda ist die königliche Linie. "Unser Herr ist aus Juda entsprossen". In bewundernswerter Weise zeigt das, wie die göttliche Gnade sich in ihrer Majestät über die Sünde des Menschen erhebt und über Umstände triumphiert, die die äußerste menschliche Schwachheit offenbaren! "Juda aber zeugte Phares und Zara von der Thamar." Wer anders als der Heilige Geist hätte solche Worte aufschreiben können! Wie klar zeigen sie, daß Gottes Gedanken nicht wie unsere Gedanken sind! Welche menschliche Hand würde Thamar in das Geschlechtsregister unseres Herrn und Heilandes einge­fügt haben? Matth. 1, 3 trägt, wie jeder Satz des heiligen Buches, den Stempel göttlicher Inspiration. (Vergl. auch 1. Mose 49, 8‑12; Offbg. 5, 1‑6).

 

Der Stamm Juda ist hoch bevorrechtet. Es ist eine hohe Ehre, dem Stamm anzugehören, aus dem unser Herr entsprossen ist, und doch wissen wir aus dem Munde des Herrn selbst, daß es weit höher und gesegneter ist, das Wort Gottes zu hören und zu bewahren. Den Willen Gottes zu tun, in unseren Herzen Seine Gebote zu bewahren, bringt uns Christus weit näher als sogar die Tatsache, menschlich mit Ihm verwandt zu sein (Matth. 12, 46‑50).

 

"Und von Levi sprach er: Deine Thummim und deine Urim (Lichter und Vollkommenheiten) sind für deinen Frommen, den du versucht hast zu Massa, mit dem du hadertest bei dem Wasser von Meriba; der von seinem Vater und von seiner Mutter sprach: Ich sehe ihn nicht; und der seine Brüder nicht kannte, und von seinen Söhnen nichts wußte. Denn sie haben dein Wort beobachtet, und deinen Bund bewahrten sie" (V. 8‑9).

 

Simeon wird hier ausgelassen, obgleich er in 1. Mose 49 so eng mit Levi verbunden ist. Wir lesen dort: "Simeon und Levi sind Brüder, Werkzeuge der Gewalttat ihre Waffen. Meine Seele komme nicht in ihren geheimen Rat, meine Ehre vereinige sich nicht mit ihrer Ver­sammlung! denn in ihrem Zorn haben sie den Mann erschlagen, und in ihrem Mutwillen den Stier gelähmt. Verflucht sei ihr Zorn, denn er war gewalttätig, und ihr Grimm, denn er war grausam! Ich werde sie ver­teilen in Jakob und sie zerstreuen in Israel."

 

Hier tritt der oben erwähnte Unterschied zwischen den beiden Kapiteln wieder zutage. In dem einen begegnen wir der Natur und ihren Hand­lungen, in dem anderen der Gnade und ihren Früchten. Jakob betrach­tete Simeon und Levi als ihrer Natur nach verbunden. Beide zeigen die Leidenschaften und Wege der Natur, und deshalb verdienen beide gleicherweise den Fluch. Aber in Levi sehen wir dann die herrlichen Triumphe unumschränkter Gnade, die ihn fähig machte, in den Tagen des goldenen Kalbes sein Schwert umzugürten und für die Herrlichkeit des Gottes Israels einzutreten (2. Mose 32, 26‑29).

 

Wo war Simeon bei dieser Gelegenheit? Er war bei Levi in den Tagen des Eigenwillens, des Zornes und Grimmes. Warum nicht in den Tagen der Entschiedenheit für den HERRN? Er war bereit, mit seinem Bruder zu gehen, als es galt, eine Beleidigung seiner Familie zu rächen. Warum trat er nicht hervor, als die Ehre Gottes durch die götzendienerische Handlung der ganzen Gemeinde beleidigt war, War er nicht ebenso verantwortlich wie Levi? Erging der Ruf Moses nicht an die ganze Ge­meinde? Gewiß, aber nur Levi antwortete ihm, und nur er empfing den Segen. Er stand an einem finsteren und bösen Tag auf seiten Gottes, und deshalb wurde er mit dem Priestertum geehrt, mit der höchsten Würde, die ihm übertragen werden konnte. Simeon antwortete nicht auf den Ruf, und deshalb ging er des Segens verlustig.*)

________________

*) Wegen weiterer Einzelheiten über den Stamm Levi und seine Geschichte verweisen wir den Leser auf die "Gedanken zum 2. Buch Mose", Kap. 32, und auf die "Gedanken zum 4. Buch Mose", Kap. 3. 4 und 8.

 

"Von Benjamin sprach er: Der Liebling des HERRN! in Sicherheit wird er bei ihm wohnen; er beschirmt ihn den ganzen Tag, und zwi­schen seinen Schultern wohnt er."

 

Gesegneter Platz für Benjamin und jedes geliebte Kind Gottes! Wie kostbar ist der Gedanke, sicher in der Gegenwart Gottes wohnen zu dürfen, in der Nähe des treuen Hirten und Aufsehers unserer Seelen zu leben, und Tag und Nacht unter Seinem Schutz zu stehen! Möchten wir die Wirklichkeit und Segnung des Platzes und Teiles Benjamins mehr und mehr verstehen! Seien wir nicht mit etwas Geringerem zufrieden als mit der Gegenwart Christi und dem bleibenden Wissen um deine innige Verbindung mit Ihm! Es ist unser wunderbares Vorrecht. Lassen wir es uns durch nichts rauben! Mögen wir stets an der Seite des guten Hirten bleiben, in Seiner Liebe ruhen und auf den grünen Weiden und an den stillen Wassern lagern, zu denen Er uns führt.

 

"Und von Joseph sprach er: Gesegnet von dem HERRN sei sein Land ‑ vom Köstlichsten des Himmels, vom Tau, und von der Tiefe, die unten lagert; und vom Köstlichsten der Erträge der Sonne und vom Köstlichsten der Triebe der Monde; und vom Vorzüglichsten der Berge der Urzeit und vom Köstlichsten der ewigen Hügel; und vom Köst­lichsten der Erde und ihrer Fülle; ‑ und das Wohlgefallen dessen, der im Dornbusch wohnte: Es komme auf das Haupt Josephs und auf den Scheitel des Abgesonderten unter seinen Brüdern! Sein ist die Majestät des Erstgeborenen seines Stieres; und Hörner des Büffels sind seine Hörner. Mit ihnen wird er die Völker niederstoßen allzumal bis an die Enden der Erde. Und das sind die Zehntausende Ephraims, und das die Tausende Manasses" (V. 13‑17).

 

Joseph ist ein bemerkenswertes Vorbild von Christus. Wir haben uns in unseren Betrachtungen über das 1. Buch Mose bei seiner Geschichte länger aufgehalten. Nachdrücklich spricht Mose von der Tatsache, daß er abgesondert war von seinen Brüdern. Er wurde verachtet und in eine Grube geworfen. Er ging bildlich gesprochen durch die Wasser des Todes und gelangte auf diesem Weg zu Ehren und Würden. Er wurde aus dem Gefängnis geholt, um Herr über ganz Ägypten zu werden und um seine Brüder am Leben zu erhalten. Er kam in das Eisen, und er mußte die Bitterkeit des Todes schmecken, ehe er in den Bereich der Herrlichkeit versetzt wurde. Ein treffendes Bild von Dem, der einst am Kreuz hing, im Grab lag und jetzt für immer auf dem Thron der Maje­stät in den Himmeln erhöht ist!

 

Eine überraschende Segensfülle wird sowohl hier als auch in 1. Mose 49 über das Haupt Josephs ausgeschüttet. Herrlich sind die Segnungen. Einst werden sie alle in den Erfahrungen Israels ihre Erfüllung finden. Die Leiden des wahren Joseph werden die unerschütterliche Grundlage der zukünftigen Segnungen Seiner Brüder im Land Kanaan bilden, und der Strom des Segens wird von diesem bevorzugten Land in erfrischen­der Kraft ausfließen und sich über die ganze Erde ausbreiten. "Und es wird geschehen an jenem Tage, da werden lebendige Wasser aus Jeru­salem fließen, zur Hälfte nach dem östlichen Meere und zur Hälfte nach dem hinteren Meere; im Sommer und im Winter wird es ge­schehen" (Sach. 14, 8). Welch eine Aussicht für das Land Israel und für die ganze Erde!

 

"Und von Sebulon sprach er: Freue dich, Sebulon, deines Auszugs, und du, Issaschar, deiner Zelte! Sie werden Völker zum Berge laden; da­selbst werden sie Opfer der Gerechtigkeit opfern; denn sie werden saugen die Fülle der Meere und die verborgenen Schätze des Sandes" (V. 18. 19). Sebulon soll sich seines Auszugs und Issaschar seiner Zelte erfreuen. Es soll Freude sein daheim und in der Ferne, und zugleich Kraft, um auf andere einzuwirken: sie laden Völker ein zu dem Berge, um Opfer der Gerechtigkeit zu opfern. Alles gründet sich auf die Tat­sache, daß sie selbst den Überfluß der Meere und die verborgenen Schätze des Sandes saugen werden. So ist es dem Grundsatz nach im­mer. Es ist unser Vorrecht, uns allezeit am Herrn zu erfreuen und aus den ewigen Quellen und verborgenen Schätzen zu schöpfen, die in Ihm gefunden werden. Dann werden wir aus einem passenden Herzenszu­stand heraus auch andere auffordern können, zu schmecken und zu sehen, daß der Herr gütig ist, und Opfer der Gerechtigkeit darbringen, die Ihm so wohlgefällig sind.

 

Eine Erklärung der Verse 20‑29 ist unnötig. Nichts kann die Gnade übertreffen, die die letzten Verse unseres Buches durchweht. Die Segnungen des 33. Kapitels beginnen und enden, wie das Lied Moses in Kapitel 32, mit Gott und Seinen wunderbaren Wegen mit Israel. Es ist belebend und tröstend, am Schluß aller Ermahnungen, Warnun­gen, Prophezeiungen und Drohungen solche Worte zu finden, wie diese. Gnade und Herrlichkeit strahlen mit ungewöhnlichem Glanz aus diesen Schlußversen des 5. Buches Mose hervor. Gott wird noch verherrlicht werden in Israel, und Israel wird für ewig gesegnet werden in Gott. Die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind unbereubar. Er wird jedes Jota, jedes Strichlein Seines Wortes erfüllen. Die letzten Aus­sprüche des Gesetzgebers legen noch einmal ein klares Zeugnis von die­ser Tatsache ab. Besäßen wir nur die letzten vier Verse dieses Kapitels, würden sie völlig genügen, um die zukünftige Wiederherstellung, Segnung und Herrlichkeit der zwölf Stämme Israels in ihrem Land zu beweisen.

 

Kapitel 34

 

DER TOD MOSES

 

Dieses kurze Kapitel bildet einen Nachsatz zu dem 5. Buch Mose. Es wird nicht gesagt, wen Gott gebraucht hat, um diesen Abschnitt auf­zuschreiben, aber das ist auch nebensächlich. Es genügt uns zu wissen, daß die Nachschrift ebenso wirklich inspiriert ist, wie das ganze 5. Buch Mose und das ganze Wort Gottes.

 

Wir haben uns wiederholt bei der ernsten Tatsache aufgehalten, die uns in den ersten sechs Versen mitgeteilt wird, und so möchten wir hier nur daran erinnern, daß wir, um den Gegenstand wirklich verstehen zu können, Mose von zwei Gesichtspunkten aus betrachten müssen, näm­lich in seiner amtlichen Stellung und in seinem persönlichen Charakter. Betrachten wir ihn von dem ersten Gesichtspunkt aus, so konnte es nicht seine Sache sein, die Gemeinde Israel in das gelobte Land zu füh­ren. Der Bereich seiner Tätigkeit war die Wüste. Sein Dienst stand in Verbindung mit der Verantwortung des Menschen unter dem Gesetz und der Regierung Gottes, und daher kam es ihm nicht zu, das Volk durch den Fluß des Todes in das verheißene Erbe einzuführen. Das wurde seinem Nachfolger vorbehalten. Josua, ein Bild des auferstan­denen Heilandes, sollte als Werkzeug Gottes das Volk durch den Jordan in sein göttliches Erbteil führen.

 

Das ist bemerkenswert. Aber wir müssen Mose auch in seinem per­sönlichen Charakter betrachten und hierbei wieder zwei Gesichtspunkte unterscheiden. Mose war ein Gegenstand der Regierung Gottes und ein Gegenstand der göttlichen Gnade. Wir dürfen diesen Unterschied nie aus dem Auge verlieren. Er ist von größter Bedeutung. Es war die Re­gierung Gottes, die Mose den Eintritt in das verheißene Land mit unbeugsamer Entschiedenheit verweigerte, so sehr sich Mose auch danach sehnen mochte, seinen Fuß in das Land Kanaan zu setzen. Er hatte un­besonnen mit seinen Lippen geredet. Er hatte Gott nicht vor den Augen der Gemeinde an den Wassern von Meriba verherrlicht, und deshalb konnte sein Wunsch, in das Land einzuziehen, nicht erfüllt werden.

 

Diese Tatsache ist sehr beachtenswert. Sicherlich dürfen wir nicht hart von dem Fehler eines der hervorragendsten Knechte Gottes reden, aber er ist zu unserer Belehrung und Ermahnung aufgezeichnet worden, und wir sollten immer daran denken, daß auch wir, obwohl unter der Gnade stehend, Gegenstände der göttlichen Regierung sind. Auch wir stehen unter Verantwortung. Zwar sind wir Kinder Gottes, geliebt mit einer unendlichen, unveränderlichen Liebe, geliebt wie Jesus selbst, aber wir sind auch Gegenstände der göttlichen Regierung. Laßt uns das nicht vergessen! Gott wolle uns vor allen einseitigen Anschauungen über die Gnade bewahren! Gerade die Tatsache, daß die Liebe und Gunst Gottes unser ewiges, unveränderliches Teil sind, sollte uns anspornen, die gött­liche Regierung um so ernster zu beachten.

 

Sollten nicht ‑ um ein schwaches Bild zu gebrauchen ‑ die Kinder eines Königs gerade deshalb, weil sie Königskinder sind, die königlichen Ge­setze vor allen anderen achten und ehren? Und wenn sie die Gesetze übertreten, erfordert es dann nicht die Würde der königlichen Regie­rung, daß sie die festgesetzte Buße für ihre Übertretung bezahlen? Wenn das nun im Blick auf eine menschliche Regierung so ist, wieviel mehr hinsichtlich der Regierung Gottes! Die Zeit ist gekommen, daß das Gericht anfange bei dem Hause Gottes; wenn aber zuerst bei uns, was wird das Ende derer sein, die dem Evangelium Gottes nicht ge­horchen! Und wenn der Gerechte mit Not errettet wird, wo will der Gottlose und Sünder erscheinen?" (i. Petr. 4, 17. 18).

 

Doch Mose war auch ein Gegenstand der Gnade, und diese Gnade strahlt uns vom Gipfel des Pisga in vollem Glanz entgegen. Dort wurde es dem ehrwürdigen Knecht Gottes erlaubt, in der Gegenwart seines Herrn zu stehen und das Land der Verheißung in seiner ganzen Aus­dehnung zu überschauen. Er durfte es vom göttlichen Standpunkt aus sehen, nicht nur so, wie Israel es besessen, sondern so, wie Gott es gegeben hat.

 

Dann entschlief er und wurde zu seinen Völkern versammelt. Er starb nicht als ein schwacher, hinfälliger Greis, sondern in der ganzen Frische und Kraft eines gereiften Mannes. „Und Mose war hundertundzwanzig Jahre alt, als er starb; sein Auge war nicht schwach geworden und seine Kraft nicht geschwunden." Welch ein Zeugnis! Welch eine seltene Tat­sache in der Geschichte der gefallenen Menschheit! Das Leben Moses war in drei wichtige und deutlich unterschiedene Abschnitte von je vier­zig Jahren eingeteilt. Er brachte vierzig Jahre im Hause des Pharao zu, hütete vierzig Jahre die Herde Jethros "hinter der Wüste" und wan­derte vierzig Jahre durch die Wüste. Welch ein wunderbares Leben: Wie reich an Ereignissen und Belehrungen! Wie interessant ist es, ein solches Leben zu betrachten, es zu verfolgen vom Ufer des Nil, wo Mose als hilfloses Knäblein lag, bis zu dem Gipfel des Pisga, wo er in Gemeinschaft mit seinem Herrn stand, um mit unverhülltem Auge das herrliche Erbteil des Volkes Gottes zu sehen, und ihn dann wiederzu­sehen auf dem Berge der Verklärung, in Gesellschaft seines Mitknechtes Elia, "redend mit Jesu" über das erhabenste Thema, das je die Auf­merksamkeit von Menschen und Engeln beansprucht hat! Welch ein hochbegnadeter Mann war er, welch ein gesegneter Knecht, welch ein wunderbares Gefäß!

 

Den Abschluß des Buches bildet das Zeugnis, das Gott Selbst Seinem geliebten Diener ausstellt: "Und es stand in Israel kein Prophet mehr auf wie Mose, welchen der HERR gekannt hätte von Angesicht zu An­gesicht, nach all den Zeichen und Wundem, die der HERR ihn gesandt hatte zu tun im Lande Ägypten, an dem Pharao und an allen seinen Knechten und an seinem ganzen Lande; und nach all der starken Hand und nach all dem Großen und Furchtbaren, das Mose vor den Augen des ganzen Israel getan hat."

 

Möge der Herr in Seiner Güte diese Gedanken zum 5. Buch Mose segnen! Mögen seine wertvollen Lehren durch den Geist Gottes selbst tief in unsere Herzen eingegraben werden und dazu dienen, unseren Charakter in einer Gott wohlgefälligen Weise zu bilden, unser Verhal­ten zu lenken und unseren Weg durch diese Welt zu bestimmen!