Jüngerschaftsbeziehungen im Gemeindebau
Wie kann ein junger Christ im Glauben wachsen
und selber zu einem dienenden, reifen Mitarbeiter werden? Die
uebliche Antwort ist, durch Integration in die Gemeinde, also
durch verbindliche und regelmaessige Teilnahme am Angebot der
Gemeindeveranstaltungen. Doch ist dieses passive Konsumieren tatsaechlich
der von Gott vorgesehene Weg zur Reife?
Eine andere Moeglichkeit ist das persoenliche Anleiten in einer
Juengerschaftsbeziehung (ein Lehrer leitet einen Schueler an).
Solche Beziehungen stellen wir uns meistens als etwas ausserhalb
der Gemeinde vor. Koennen diese beiden Ansaetze miteinander kombiniert
werden und findet sich ein solcher Gedanke im neutestamentlichen
Gemeindemuster?
Das Leben eines Christen lässt sich grundsätzlich unter
zwei Gesichtspunkten beschreiben: zum einen als ein Jünger
Jesu Christi (um dies nicht mit der Juengerschaftbeziehung zu
verwechseln, wollen wir das hier als Nachfolge bezeichnen)
und zum anderen als Glied der Gemeinde.
Diese beiden Gesichtspunkte, die Nachfolge Jesu und die Gliedschaft
am Leib Jesu, gehören zusammen und dürfen nicht gegeneinander
ausgespielt werden, vielmehr ergänzen sie sich wunderbar.
Dieses ergänzende Bild stellt uns das Neue Testament selber
vor Augen. Ein Leben der Nachfolge wird hauptsächlich in
den Evangelien vorgestellt, ein Leben als Glied der Gemeinde hingegen
in den Paulus- und Petrusbriefen. In der Apostelgeschichte finden
wir die harmonische Kombination aus beidem; hier werden alle Christen
ausdrücklich als "Jünger" bezeichnet und zugleich
finden wir einen lebendigen Einblick in Ursprung und Praxis der
Gemeinde und ihrer Glieder. Die Gliedschaft am Leib Jesu ist in
den Evangelien noch ein Geheimnis, das erst durch Paulus geoffenbart
werden sollte. "Nachfolge" hingegen wird in den Briefen
nicht mehr ausdrücklich erwähnt, das Wort "Jünger"
kommt hier nicht mehr vor.
Bei den Erweckungsbewegungen der letzten Jahrhunderte, in denen
bedeutende Wahrheiten der Briefe und insbesondere das neutestamentliche
Gemeindemuster wiederentdeckt wurden, geriet die Seite der Nachfolge
zugunsten dieser neuen Prioritäten etwas ins Hintertreffen.
Das ist einerseits nicht so tragisch wie der umgekehrte Fall,
da der Gedanke der Gemeinde der fortgeschrittenere Gedanke im
Ratschluss Gottes ist und in der lebendigen Gemeinde nach Gottes
Plan eigentlich die persönliche Nachfolge Jesu mit inbegriffen
ist. Andererseits hatte dieses - somit eigentlich unnötige
- Ungleichgewicht in den Erweckungsbewegungen einen Nachteil,
der auf die traditionsgemäße Praxis zurückging:
"Gemeinde" oder "Kirche" wurde nämlich,
bewusst oder unbewusst, in den letzten Jahrhunderten häufig
als eine Institution verstanden, bei der eine Minderheit von "Geistlichen"
aktiv und die große Mehrheit der "Laien" passiv
ist. Für den gewöhnlichen Gläubigen hat "Gemeinde"
allzu oft den Beigeschmack von stundenlangem Dasitzen und Zuhören.
Solche Zusammenkünfte sind im Neuen Testament zwar tatsächlich
vorgesehen und praktisch auch nicht anders durchführbar,
als dass die meisten Anwesenden die längste Zeit über
still sitzen und zuhören, doch ist das längst nicht
alles, was Gott sich unter "Gemeinde" gedacht hat.
Auch heute wird von Gläubigen häufig nur erwartet, dass
sie zur Gemeinde "kommen", "da sind", und
man meint, in unserer Zeit des Rückgangs und Verfalls sei
das wohl alles, was man erhoffen könne. Als Gradmesser für
den geistlichen Zustand eines Gläubigen wird die Regelmäßigkeit
seiner (passiven) Teilnahme an den Gemeindeveranstaltungen herangezogen.
Oder wir fragen einander "in welche Gemeinde gehst
du", anstatt zu fragen, "in welcher Gemeinde dienst
du?", "wo hast du deine Aufgaben?", "wo bist
du Mitarbeiter?" Und wenn wir sagen, dass wir in einer Gemeinde
"unseren Platz" haben, meinem wir damit im Unterbewusstsein
vielleicht mehr einen angestammten Sitz- und Ruheplatz als einen
Arbeitsplatz.
Das Neue Testament präsentiert uns mit der Gemeinde etwas
ganz anderes, als das Ein-Mann-Szenario vor einer großen
Zuschauermenge, wie es die meiste Zeit der Kirchengeschichte über
praktiziert wurde. Sicherlich ist die Gemeinde zuerst der Quell-
und Ruheort, die Oase, wo wir zu den Füßen des Herrn
Jesus sitzen, um Ihn geschart, um Ihn anbetend zu bewundern, auf
Ihn zu hören und Ihn an uns dienen zu lassen. Das gilt für
alle Gemeindeglieder, einschließlich den Leitern.
Doch leider gleichen Gemeinden oft dem Schema eines Bundesliga-Fußballspiels,
bei dem 23 völlig abgekämpfte Profis, die dringend Erholung
brauchen, eine Show vor 23.000 Zuschauern ableisten, die dringend
Bewegung nötig haben.
Als ein lebendiger, harmonischer Leib ist die Gemeinde das organische
Gefüge, bei dem jedes Glied, jede Einzelheit, eine von Gott
zugedachte Funktion ausübt. Jedes Glied hat eine Gabe, die
es zum Nutzen der anderen Glieder einsetzen soll (1Petr 4,10).
Der Sinn dieser Gaben ist gerade der Dienst aneinander, in der
von Gott eingerichteten Ordnung (1Kor 12; Röm 12). Dieser
Vergleich mit dem Leib ist keineswegs "nur ein Bild",
sondern eine geistliche, himmlische Realität - Gottes neue,
reale Schöpfung. Ebenso eine Realität ist die Gemeinde
als der wahre Tempel Gottes, an dessen Bau jeder Gläubige
ein lebendiger Stein ist - und darin zugleich ein Priester, der
Gott anbetet, ihm dient und ihn auf dieser Erde repräsentiert
(1Petr 2,5). Eine lebendige Gemeinde ist nach Gottes Gedanken
die wirkliche Stiftshütte (von der die Stiftshütte im
Alten Testament ein Abbild war), wo seine Herrlichkeit in der
Wolke offenbar wird, wo der Herr Jesus der Mittelpunkt ist und
sich alles um ihn dreht. Außerdem ist die Gemeinde das Haus
Gottes mit einer Ordnung unter den einzelnen Hausgenossen.
Dieses Thema ließe sich beliebig ausdehnen.
Jedenfalls wird deutlich, dass innerhalb der Gemeinde jeder einzelne
Gläubige Aufgaben von Gott zugedacht bekommen hat, die sich
nicht nur auf die Außenwelt (Evangelisation, Zeugen sein)
beziehen, sondern insbesondere auf den gegenseitigen Dienst unter
Gläubigen. Das ist das Erkennungsmerkmal der Gemeinde
der Jünger Jesu: dass sie einander dienen und somit hingegebene
Liebe untereinander zeigen (Joh 13,35). Die Gemeinde ist
ein äußerst eng geknüpftes, komplexes Beziehungsnetz.
In der Jerusalemer Gemeinde war eine Menge von etlichen Tausend
Jungbekehrten "ein Herz und eine Seele" (Apg 4,32).
Es ist ein ausführliches Bibelstudium wert, das Vorkommen
des Wortes "einander" bzw. "gegenseitig" im
Neuen Testament zu untersuchen. Die einzelnen Glieder der Gemeinde
sind z.B. aufgefordert: einander zu lieben (Röm 13,8) einander
zu ermahnen (Röm 15,14); einander zu dienen (Gal 5,13); einander
zu ermuntern (1Thes 4,18) uvm. Und geistliches Wachstum - hoffentlich
das Ziel jeder Gemeinde - ist nur durch solch innige Zuwendung
zueinander und ein intensives Mitander möglich. Im Epheserbrief
ist das sehr schön ausgedrückt: Durch den Herrn Jesus
ist jedes einzelne Glied der Gemeinde zum Leib zusammengefügt
und verbunden, und "entsprechend der Wirksamkeit nach dem
Maß jeden einzelnen Teils (jedes einzelnen Gläubigen)"
"wirkt er (der Herr) das Wachstums des Leibes zu seiner Selbstauferbauung
in Liebe" (Eph 4,16). Auf diesen letzten, sehr wichtigen
Vers werden wir unten noch einmal zurueckkommen.
Würde die Gemeinde hier auf der Erde tatsächlich so
funktionieren, dass "jedes einzelne Teil" sich "entsprechend
seiner Wirksamkeit" einbringt (d.h. wenn jeder Gläubige
dem Herrn entsprechend gehorchen und seine Aufgabe erfüllen
würde), - Evangelisten, Hirten und Lehrer (Eph 4,12) - dann
wäre die Gemeinde ein Missionswerk und eine Bibelschule zugleich.
Ja, dann wären sogar keine Missionswerke und Bibelschulen
nötig, denn diese sind von Gott eigentlich gar nicht vorgesehen.
Die einzige "christliche Institution", die von Gott
im Neuen Testament vorgesehen ist, ist die Gemeinde. Sie ist die
einzige "Firma der Reichsgottesarbeit", hier wird die
Herrlichkeit und Weisheit Gottes verkündet (Eph 3,10). Wenn
Gemeinde so funktioniert, ist sie ein lebendiger Organismus, der
wächst und sich vermehrt, ein Organismus aus hingegebenen,
gefestigten Jüngern, die einander im Glauben erbauen und
zugleich als Menschenfischer hinausgehen und weitere lebendige
Steine zum Tempel Gottes hinzufügen.
Wenn wir uns dies alles so vor Augen führen, scheint es äußerst
rätselhaft, warum in den Gemeinden meistens so viele Gläubige
untätig und unmotiviert herumsitzen und offenbar nicht wissen,
welche Herausforderung die Nachfolge des Herrn Jesus im Dienst
für Ihn in Seiner Gemeinde darstellt!
Eine christliche Jugendfreizeit stand unter dem Thema "Herausforderungen".
An einem Abend sollten die jungen Leute sich in Gruppen zusammensetzen
und aufschreiben, welche Herausforderung sie in der Nachfolge
Jesu sehen - z.B. jemand anderem zum Herrn führen oder in
der gottlosen Welt gegen den Strom schwimmen. Beim Vortragen der
Ergebnisse stellte sich dann heraus, dass einer Gruppe sage und
schreibe keine einzige Herausforderung eingefallen war! Welch
ein Jammer in einer Zeit, wo händeringend Jünger und
Mitarbeiter gesucht werden! Im Reich Gottes gibt es keine Arbeitslosigkeit,
im Gegenteil. Es gibt Äcker zu bestellen, Häuser zu
bauen und Kriege zu führen. Mitarbeiter werden gebraucht
in der Mission und deren Unterstützung, in der Organisation,
in der Seelsorge, in der Kinder- und Jugendarbeit, in Hauskreisen
und anderen Formen von Verkündigung und Unterweisung. Und
Mitarbeiter vor allem in persönlichen Beziehungen. Mitarbeiter,
denen Menschen wichtiger sind als Dinge, denen die Heiligung der
Geschwister mehr am Herzen liegt als ein volles Aktionsprogramm
oder ihr beschaulich-bürgerliches Wohlergehen.
Unsere Gemeinden kranken und siechen oft, weil es an Orientierung,
Motivation und praktischer Anleitung zu solchen Aufgaben fehlt.
Die Leute, die passiv in den Gemeinden sitzen, werden nie zu tatkräftigen
Jüngern werden, wenn sie nur einmal pro Woche von der Kanzel
eine Predigt hören, die mitunter nicht einmal aus der Vollmacht
Gottes gesprochen ist. Sie brauchen Aufmerksamkeit, Beziehungen,
Vorbilder und Anleitung, damit ihnen geistlich auf die Sprünge
geholfen wird. Das ist Dienst aneinander und Hinwendung zueinander.
Jüngerschaftsbeziehungen sind lebensnotwendige Elemente in
der Gemeinde. Das ist übrigens der wesentliche Kern des oben
unvollständig zitierten Verses Epheser 4,16: Die einzelnen
Glieder der Gemeinde sind vom Herrn "verbunden durch jedes
der Unterstützung dienende Gelenk" (siehe auch Kol 2,19).
Gelenke sind die Verbindungen der Glieder untereinander, die unbedingt
funktionieren müssen, damit der Leib agieren kann. Wenn sie
gestört sind, wird das Gefüge des Leibes starr und steif,
wie bei Arthritis. Verstehen wir, was das für den Leib der
Gemeinde und seine Glieder bedeutet? Der Unterarm kann nur gebraucht
werden, wenn seine Beziehung zum Oberarm stimmt, wenn der Oberarm
die Signale vom Haupt weiterleitet und in einer richtigen Beziehung
(Gelenk) zum Unterarm steht. Und vom Oberarm kommt die Kraft,
um den Unterarm in Bewegung zu setzen. Durch den Oberarm wird
sogar der Impuls vom Kopf an den Unterarm weitergeleitet. So ist
jedes Körperteil, das nicht unmittelbar an der Peripherie
arbeitet wie die Fingerspitzen, zwischen zwei anderen Gliedern
eingebunden: Eins, von dem es Bewegung, Kraft und Impuls empfängt,
und eines, an das sie diese weitergibt.
Der zitierte Vers entstammt einem aeusserst wichtigen NT-Abschnitt
ueber Funktion, Ziel und Wachstum der Gemeinde. Wenn wir dieses
Bild von Gliedern und Gelenken auf uns Gläubige als Glieder
der Gemeinde anwenden, fällt es uns wie Schuppen von den
Augen, wie wichtig impulsgebende, anleitende Beziehungen unter
uns Gläubigen sind. Paulus hatte solch eine Beziehung offensichtlich
zu Timotheus, oder auch zu Aquila und Priszilla, mit denen er
anderthalb Jahre zusammen gelebt und gearbeitet hat. Dieses Ehepaar
wiederum nahm einen glaeubigen Juden namens Apollos in ihr Privatleben
auf. Als Apollos dadurch zu einem reifen Christen geworden war,
ging er nach Korinth, und diente dort den Glaeubigen (Apg 19,1;
1Kor 3,6). Das ist nur ein biblisches Beispiel vom Prinzip der
Multiplikation durch persoenlichen Anleitung. Das beste Beispiel
ist natuerlich der Herr Jesus selbst, der seine kostbarste Zeit
in das Training von zwoelf erlesenen Maennern investierte.
Diese persoenlichen Beziehungen, durch die wir die Befehle vom
Herrn, die wir selbst durch andere Glieder empfangen haben, an
andere weiterleiten, sind nichts anderes als Jüngerschaftsbeziehungen.
Sie funktionieren wie Gelenke am Koerper, ueber welche ein Glied
mittels der Nerven (die eigene "Beziehung zum Haupt")
den Impuls an das naechste Glied weitergibt. Und nicht nur Impulse,
sondern alle Naehrstoffe, die Kraft, der Rueckhalt, alles wird
ueber das Glied auf der anderen Seite des Gelenks vermittelt.
Was für eine Bedeutung von Jüngerschaft für die
Gemeinde und ihr Wachstum!
Jüngerschaftsbeziehungen sind also alles andere als etwas,
das außerhalb der Gemeinde angesiedelt wäre oder sich
auf den Privatbereich von zwei Menschen beschränkte. Wie
wir am Bild der Gelenke und deren Wichtigkeit fuer das Funktionieren
des Leibes sehen, sind Jüngerschaftsbeziehungen von Gott
fuer die Gemeinde vorgesehen und aeusserst wichtig. So wichtig
wie die Glieder selbst sind ihre Beziehungen untereinander. Die
oertliche Gemeinde, und insbesondere ihre Leiter, sorgt also fuer
die Bereitstellung des Rahmens solcher Beziehungen, sie ist Nährboden
und zugleich Wirkungsfeld dieser Beziehungen. Dann
wird sie daraus profitieren, durch reife Mitarbeiter (und moeglicherweise
spaetere Aelteste) und Anbeter, die ihren Herrn und Gott kennen
und mit einem hingegebenen, christusaehnlichen Leben verherrlichen.
So wird das Ziel erreicht: Wachstum des Leibes Jesu zu seiner
Selbstauferbauung in Liebe (Eph 4,16).
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