Glauben
ohne Gründe?
Alt-neue Ansätze zur rationalen
Rechtfertigung religiöser Überzeugungen
(1)
Proseminararbeit von Andreas
Allemann im Fach Dogmatik, eingereicht im November 1999 bei
Prof. J. Christine Janowski, Universität Bern
Inhaltsverzeichnis
1.
Gott und das heutige Denkklima
2.1. Calvins „sensus divinitatis" und dessen Funktion
2.2. Betriebsstörung infolge Sündenfall
2.3. Das innere Zeugnis des Heiligen Geistes
2.4. Chancen und Grenzen der natürlichen Theologie
3.1. Bauplan für Überzeugungen, Modell klassischer
Fundamentalismus
3.2. Die evidentialistische Herausforderung
3.3. Plantingas Antwort, erster Teil: Klassischer
Fundamentalismus K.O.
3.4. Plantingas Antwort, zweiter Teil: Die externalistische
Wende
3.5. Erkenntnistheorie, Metaphysik und die entscheidende Frage
nach wahr oder falsch
2.
4. Conclusio: Was bringt die Reformierte
Erkenntnistheorie?
5.1. Anhang A: Der Weihnachtsmann und andere Einwände zur
Reformierten Erkenntnistheorie
5.2. Anhang B: Grundlos? Alstons Vergleich von
Sinneswahrnehmung und religiöser Erfahrung
6. Fussnoten
7. Bibliographie
1. Gott und das heutige Denkklima
Früher stand die Kirche noch im Dorf. Heute tut sie dies auch
noch, aber sie ist nicht mehr eine Kirche, sondern ein Büro, ein
Hotel oder gar ein Nachtclub, wie Beispiele in England zeigen.
Religion hat sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, sie ist
„privatisiert" worden. Der Glaube an Gott hat an Bedeutung
verloren.
Der Wind hat gedreht. War es vor einigen Jahrhunderten, ja noch
vor einigen Jahrzehnten selbstverständlich, von Gott zu reden,
so wird dieses Reden heute als problematisch empfunden. Im
Einführungskurs „Calvins Institutio" fiel es uns schon früh auf,
dass Calvin die Existenz Gottes einfach so voraussetzt, ganz
ohne Prolegomena oder einführende Gedanken, wie dies ein Thomas
von Aquin getan hat. Wir fragten uns: Darf er das? Auch in
unserem Alltag erleben wir diese Reaktion. Wir können vielleicht
über Gott diskutieren, aber von ihm erzählen (die Rede von
Gott), erscheint vielen als dubios. Nun, wenn es schon seltsam
ist, von Gott zu reden, wieviel seltsamer ist es dann, „einfach
so" an ihn zu glauben? Der Glaube an Gott hat nicht nur an
Bedeutung, sondern auch an Plausibilität verloren: Die
Hochkonjunktur des „christlichen" Abendlandes ist vorbei, die
Gottesvorstellung und noch mehr der konkrete, daran festgemachte
Glaube, werden kaum noch als selbstverständlich akzeptiert. War
während langer Zeit in den letzten zwei Jahrtausenden die
Atheistin eine Ausnahmeerscheinung, so ist es heute die
bekennende Christin. -
Plausibilität hat viel mit Rationalität zu tun.(2)
Was mir nicht als rational, vernünftig oder einsichtig
erscheint, das werde ich auch nicht „einsehen können". Und was
ich nicht einsehen kann, das wird für mich auch kaum Bedeutung
erlangen. - Meines Erachtens ist der Bedeutungsverlust des
Glaubens unter anderem eine Folge davon, dass sein Anspruch auf
Rationalität und damit auch Plausibilität besonders seit der
Aufklärung stark gelitten hat. (Wobei zu beachten ist, dass
Rationalität erst durch die Aufklärung ihren dominanten
Stellenwert erhielt.) Soll der Glaube eine valable Option und
bedeutungsrelevant bleiben oder wieder neu werden,
so muss die Frage geklärt werden, ob religiöse Überzeugungen
wirklich irrational oder unvernünftig oder
ungerechtfertigt oder sonst irgendwie intellektuell
unzulänglich sind.
In dieser Arbeit werde ich deshalb der Frage nach der
rationalen Rechtfertigung religiöser Überzeugungen nachgehen
(3): Darf ich einfach so
an Gott glauben, wie ich dies in der Sonntagsschule gelernt
habe? Oder gilt der „rationale Imperativ": „Glaube nur, wofür du
Beweise hast!"? In anderen Worten: Kann ich in meinem Glauben an
Gott rational gerechtfertigt sein? Unter welchen
Umständen?
Dieses Unterfangen werde ich von zwei Seiten aus angehen. In
einem ersten Hauptteil kommt vor allem Johannes Calvin selbst
ausgiebig zu Wort. Wie oben schon erwähnt, ist das Wissen von
Gottes Existenz für ihn unumstösslicher Ausgangspunkt. Er
begründet dies mit seiner Lehre vom „sensus divinitatis" und vom
„inneren Zeugnis des Heiligen Geistes" und bringt damit zwei
hochinteressante Elemente ins Spiel, die in einem klaren
Kontrast zum Projekt der natürlichen Theologie stehen. In einem
zweiten Hauptteil werde ich zeigen, wie moderne
Religionsphilosophen und hier insbesondere Alvin Plantinga
Calvins Gedanken aufgegriffen und, nachdem sie die Unhaltbarkeit
gängiger erkenntnistheoretischer Modelle und Forderungen
aufgezeigt haben, kreativ angewendet haben. Das Resultat, das
auch unsere Titelfrage beantworten wird, ist allgemein unter dem
Namen „Reformierte (4)
Erkenntnistheorie" bekanntgeworden und hat eine breite
Diskussion ausgelöst, die erst am Anfang steht. -
Es scheint mir wichtig, schon an dieser Stelle darauf
hinzuweisen, dass die Absichten Calvins und Plantingas in ihren
jeweiligen Darstellungen kaum deckungsgleich sein dürften.
Während Plantinga primär die rationale Rechtfertigung des
Glaubens an Gott im Auge hat, so betont Calvin die
Verantwortlichkeit jedes Menschen, sein Leben gemäss seiner
Gotteserkenntnis auszurichten.
(5) Dies braucht uns jedoch nicht länger zu stören,
solange wir beachten, dass Plantingas Modell lediglich eine
Interpretationsmöglichkeit bzw. Weiterentwicklung von Calvins
Ideen ist. (6)
2.1. Calvins „sensus divinitatis" und dessen Funktion
Dass Gott existiert, ist für Calvin keine Frage. Seine
Überzeugung ist aber nicht einfach aus der Luft gegriffen,
sondern soll das Produkt einer im Menschen eingepflanzten
Neigung oder Disposition sein, die Calvin „sensus divinitatis",
also eine Art „siebter Sinn"(7)
, nennt:
Dass der menschliche Geist durch
natürliches Ahnvermögen eine Art Empfindung für die Gottheit
(sensus divinitatis) besitzt, steht für uns ausser allem Streit.
Denn Gott selbst hat allen Menschen eine Kenntnis seiner
Gottheit zu eigen gemacht, damit ja niemand den Vorwand der
Unwissenheit als Entschuldigung anführe. Diese Kenntnis frischt
er stets auf und benetzt sie mit neuen Tröpflein. Und wenn die
Menschen doch alle miteinander darum wissen, dass ein Gott sei
und dass er ihr Schöpfer ist, so sollen sie sich durch ihr
eigenes Zeugnis verdammen, weil sie ihm keinen Dienst erweisen
und seinem Willen ihr Leben nicht zum Opfer darbringen. ...
[W]ie schon ein heidnischer Denker (Cicero) sagt: kein Volk ist
so barbarisch, kein Stamm so verwildert, dass nicht die
Überzeugung fest eingewurzelt wäre: es ist ein Gott. ... So sehr
hat jene gemeinsame Ahnung alle Herzen durchdrungen, so fest
wurzelt sie in allen Gemütern. Da also seit Anbeginn der Welt
kein Gebiet, keine Stadt, ja nicht ein Haus war, das der
Religion entbehren konnte, so liegt in dieser Tatsache ein
stillschweigendes Eingeständnis, dass in alle Herzen ein
Empfinden um die Gottheit eingeschrieben ist. (8)
Wortreich umschreibt Calvin, was in uns steckt, nämlich eine
Überzeugung, eine Ahnung, ein Wissen von Gott, ein Keim der
Religion (9) . Und als ob
das noch nicht genug wäre, doppelt er gleich nach, indem er auch
den Götzendienst als Beweis für sein Postulat anführt, denn
offenbar müsse der Mensch in seiner Suche nach Transzendenz
einfach etwas haben, dass er anbeten könne.
(10) Sogar die Atheisten
nimmt Calvin kühn ins Visier, denn auch in ihnen seien bestimmt
unausrottbare Überreste des Wissens um Gott vorhanden.
(11) Der „sensus
divinitatis", nachfolgend mit „siebter Sinn" wiedergegeben, ist
offenbar ein universales Phänomen, das jedem Menschen eigen
ist.
Wie aber funktioniert dieser geheimnisvolle siebte Sinn? Und
was bringt er hervor? Gemäss Plantinga verstehen wir darunter am
besten einen Mechanismus in unserem Denken, der auf verschiedene
externe Umstände reagiert und in uns eine Überzeugung in Bezug
auf Gott entstehen lässt. Diese externen Inputs („neue
Tröpflein"; „Fünklein") können verschiedener Natur sein; worauf
Calvin explizit Bezug nimmt, ist das Zeugnis der Schöpfung:
Höchstes Ziel des seligen Lebens
ist nun die Erkenntnis Gottes. [...]; deshalb hat Gott nicht nur
dem Menschenherzen das geschenkt, was wir den Keim der Religion
nannten. Er hat sich auch derart im ganzen Bau der Welt
offenbart und tut es noch heute, dass die Menschen ihre Augen
nicht aufmachen können, ohne ihn notwendig zu erblicken. ...
[E]r hat den einzelnen Werken zuverlässige Kennzeichen seiner
Herrlichkeit eingeprägt .... Überhaupt: wohin man die Augen
blicken lässt, es ist ringsum kein Teilchen der Welt, in dem
nicht wenigstens irgendwelche Fünklein seiner Herrlichkeit zu
sehen wären! (12)
Konkret heisst das, dass ich zum Beispiel den Sternenhimmel
oder das in wunderbares Abendrot getauchte Matterhorn betrachte
und dabei von Gottes Grösse und Allmacht überwältigt werde.
Diese Überzeugung ist eine unmittelbare; es ist also nicht so,
dass ich die Struktur einer Schneeflocke studiere, aufgrund
ihrer Komplexität und Schönheit auf einen Designer schliesse,
und dafür schliesslich Gott einsetze. Vielmehr geschieht es
einfach, dass ich schon beim Anblick der Schneeflocke über
Gottes Kreativität staune. (13)
- Der siebte Sinn führt uns also zu Überzeugungen, die
irgendetwas mit Gott zu tun haben. Doch was genau ist der Inhalt
dieser Gotteserkenntnis? Calvin gibt folgenden Hinweis:
Erkenntnis Gottes ist nun für
mein Verständnis nicht allein darin beschlossen, dass wir
wissen: es ist ein Gott. Wir sollen auch festhalten, was uns von
ihm zu wissen nottut, was zu seiner Ehre dient, was uns
zuträglich ist. Denn es kann von einem eigentlichen Erkennen
Gottes keine Rede sein, wo Ehrfurcht (religio) und Frömmigkeit
fehlt. Und dabei denke ich noch nicht einmal an jene Weise der
Erkenntnis Gottes, durch welche in sich verlorene und verdammte
Menschen in Christus, dem Mittler, Gott als Erlöser ergreifen.
Hier ist bloss von jener ursprünglichen und einfachen
Erkenntnisweise die Rede, zu welcher schon die Ordnung der Natur
führen würde, wenn Adam nicht gefallen wäre.
(14)
Gemäss Sudduth präsentiert Calvin hier zwei Konzepte
(15) :
1. Die Unterscheidung zwischen der Erkenntnis Gottes als
Schöpfer und der Erkenntnis Gottes als Erlöser, auch als
zweifache Erkenntnisweise Gottes (duplex cognitio Dei) bekannt.
2. Die ursprüngliche und einfache Erkenntnis Gottes als
Schöpfer, die drei Elemente beinhaltet: a) wissen, dass es Gott
gibt; b) verstehen, was gut für uns und was gut für Gottes Ehre
ist; c) Ehrfurcht und Frömmigkeit.
Da Gott als Erlöser nur aus der Schrift erkannt werden kann,
fällt diese Option schon mal weg. Es bleibt die Erkenntnis von
Gott als Schöpfer, und auch da bleibt offen, wie weit diese
geht. Auf der einen Seite haben wir das mit dem programmatischen
Titel „Die Gotteserkenntnis ist dem Menschen innerlich von Natur
eingepflanzt" überschriebene Kapitel 3 des ersten Buches, in dem
der siebte Sinn und damit eine fest eingewurzelte Überzeugung
von Gott eingeführt werden. Andererseits scheint dem die obig
erwähnte Einschränkung, nämlich der Sündenfall Adams,
entgegenzustehen, die einen Karl Barth dazu geführt hat,
jegliche Möglichkeit einer natürlichen Gotteserkenntnis nach
dem Fall zu verneinen.(16)
Wäre dies der Fall, könnten wir an dieser Stelle aufhören. Es
dünkt mich deshalb angebracht, das Ausmass des Sündenfalls
genauer unter die Lupe zu nehmen. Danach werden wir klarer
sehen, von welcher Qualität die allenfalls übrigbleibende
Gotteserkenntnis sein wird.
2.2. Betriebsstörung infolge Sündenfall
Calvin ist sich bewusst, dass der Sündenfall schwerwiegende
Folgen für unser Denken hat, wenn er auch nicht einem noetischen
(17) Super-GAU
gleichkommt:
Die Erfahrung bezeugt, dass Gott
in alle Herzen den Keim der Religion hineingelegt hat. Aber es
ist doch unter hundert kaum einer, der da hegt und pflegt, was
er empfangen hat, nicht ein einziger, in dem es zur Reife käme,
geschweige denn Frucht brächte zu seiner Zeit. Die einen
verlieren sich im Aberglauben, die anderen werden mit Absicht
und bösem Vorsatz von Gott abtrünning - aber alle weichen sie
von der wahren Gotteserkenntnis ab. Auf diese Weise bleibt
keinerlei wahre Frömmigkeit in der Welt bestehen. [...] Und
trotzdem lebt jener Keim, der auf keine Weise gänzlich
auszurotten ist, jene Ahnung, es sei irgendein göttliches Wesen.
(18)
Calvin setzt hier wahre Gotteserkenntnis mit wahrer Frömmigkeit
gleich. Zu „reiner und lauterer Erkenntnis Gottes"
(19) gehört offenbar die
Komponente eines praktischen, personalen, erfahrenen Glaubens,
das, was Calvin mit Ehrfurcht und Frömmigkeit bezeichnet. Das
„wirre Wissen um Gott" (20)
hingegen besteht aus einigen Sätzen oder Propositionen der Art
„Gott existiert.", „Gott ist mächtig." oder „Gott ist der
Schöpfer der Welt." In Bezug auf die obige erwähnte
Unterscheidung von Sudduth ist es also so, dass der verfinsterte
siebte Sinn lediglich das Element 2. a) produziert. Das ist
nicht viel, aber immerhin mehr als nichts. Die noetischen
Auswirkungen des Sündenfalls, und a fortiori natürlich auch
jeder bewussten Sünde, kommen also glücklicherweise nicht einer
Elimination der Funktionsfähigkeit des siebten Sinnes gleich,
sondern „nur" einer Reduktion. Natürliche
Gotteserkenntnis, verstanden als propositionale Erkenntnis, ist
also grundsätzlich möglich, ja mehr noch, sie gehört zur
Grundausstattung jedes Menschen, wenn sie auch „unstabil und
flüchtig" (21) ist. Das
muss jedoch nicht so bleiben, denn Gottes Reparaturkiste enthält
treffliche Werkzeuge.
2.3. Das innere Zeugnis des Heiligen Geistes
Massgeblich beteiligt an der Aufgabe, Dinge ins rechte Licht
zu rücken, ist der Heilige Geist. Er ist es, der über die
propositionale Gotteserkenntnis hinaus den Glauben bewirkt: „Das
vornehmste Werk des Heiligen Geistes aber ist der Glaube."
(22) Konkret ist er dafür
verantwortlich, dass der Mensch die Gottesoffenbarung verstehen
und sich aneignen kann:
Denn wie Gott selbst in seinem
Wort der einzige vollgültige Zeuge von sich selber ist, so wird
auch dies Wort nicht eher im Menschenherzen Glauben finden, als
bis es vom inneren Zeugnis des Heiligen Geistes versiegelt
worden ist. (23)
Der Heilige Geist bringt uns also dazu, in der Bibel Gott
sprechen zu hören und ihm dort zu begegnen. Ist dies erst einmal
geschehen, können wir mit dieser „Brille"
(24) auch das „Buch der
Natur" ganz neu - und diesmal mit besseren Resultaten -
entziffern. Es ist sicher nicht zu spekulativ, sich
vorzustellen, dass der Heilige Geist in diesem Prozess den
siebten Sinn repariert und quasi bei ihm „andocken" kann: „[D]er
sensus divinitatis wird durch den Glauben und das ihn
begleitende Wirken des Heiligen Geistes im Herzen teilweise
geheilt und seine richtige Funktionsfähigkeit wieder
hergestellt." (25) Die
volle Gotteserkenntnis kann Wirklichkeit werden. - Viele Wege
führen nach Genf. Führen auch viele Wege zur richtigen
Gotteserkenntnis? Anders gefragt, könnte man das obige Ergebnis
auch via einen anderen Weg, nämlich mittels der natürlichen
Theologie, erreichen? Diese heiss umstrittene Frage wird uns im
nächsten Abschnitt beschäftigen.
2.4. Chancen und Grenzen der natürlichen Theologie
Für die einen, hauptsächlich VertreterInnen der katholischen
Tradition, ist natürliche Theologie eine heilige Kuh und
unabdingbare Hilfe, für andere, vorwiegend VertreterInnen der
calvinistischen bzw. reformierten Tradition wie z. B. Karl
Barth, Blasphemie und damit Feindbild Nr. 1. Doch was ist
überhaupt das Anliegen der natürlichen Theologie? Wie es der
Name schon sagt, versucht sie, auf natürlichem Wege, also ohne
auf irgendwelche Gottesoffenbarung in expliziter Form, wie z. B.
die Bibel, zurückzugreifen, zu Erkenntnissen über Gott zu
gelangen oder ihn sogar zu beweisen. Traditionellerweise ging es
primär um die Entwicklung von rationalen, für alle verständliche
Gründen für den Glauben an Gott, die Bibel etc.
(26) Wie steht nun Calvin
dem Unterfangen gegenüber?
Die Propheten und Apostel führen
nicht ihren Scharfsinn für sich an oder was sonst den Rednern
Glauben verschaffen mag, sie bestehen auch nicht auf
Vernunftgründen, sondern sie nennen Gottes heiligen Namen, durch
den die ganze Welt zum Gehorsam genötigt wird. Jetzt wollen wir
zusehen, wie es nicht bloss mit einer gewissen
Wahrscheinlichkeit, sondern mit lauterer Wahrheit offenbar ist,
dass ihre Berufung auf Gottes Namen weder Leichtsinn noch Trug
war. Wollen wir nun dem Gewissen aufs beste raten, um es davor
zu bewahren, in stetem Zweifel zu schwanken oder zu wanken oder
bei den geringsten Anstössen hängenzubleiben, so muss solche
Festigkeit der Überzeugung an höherer Stelle begründet sein als
in menschlichen Vernunftgründen, Urteilen oder Mutmassungen,
nämlich im geheimen Zeugnis des Heiligen Geistes.
(27)
Plantinga kommentiert:
Das Thema dieser Diskussion ist
nicht der Glaube an die Existenz Gottes, sondern der Glaube an
Gott als den Autor der Schrift; allerdings erachte ich es als
klar, dass Calvin dasselbe über den Glauben an Gottes Existenz
sagen würde. Es ist nicht so, dass der Christ die natürliche
Theologie braucht, weder als Quelle seiner Gewissheit noch um
seinen Glauben zu rechtfertigen. Weiter ist es auch nicht so,
dass der Christ auf der Grundlage von Beweisen glauben soll;
wenn er es tut, so wird sein Glaube wahrscheinlich „in stetem
Zweifel wanken". (28)
Auch an anderer Stelle kommt diese kritische Haltung Calvins
zum Vorschein, etwa wenn er sich dagegen wehrt, Sein und Wesen
Gottes in „umständliche[r] Beweisführung .. [und] eitlem
Gedankenspiel ... ergrübeln"
(29) zu wollen. Nichtsdestotrotz finden sich jedoch auch
Bemühungen, die in eine andere Richtung zeigen, nämlich dort, wo
Calvin durchaus mit rationalen Gründen für die Glaubwürdigkeit
der Schrift argumentiert (30)
oder wo Spuren eines kosmologischen
(31) oder teleologischen
(32) Beweises
durchschimmern. So gesteht er denn auch zu, dass Erwägungen zur
Zuverlässigkeit der Schrift (und sicher auch des Glaubens an
Gottes Existenz) zwar nicht Gewissheit hervorrufen können, aber
„sehr brauchbare, geeignete Stützen (zur Bestätigung) sein"
(33) können. Analog zum
Resultat der natürlichen Gotteserkenntnis, die ja Voraussetzung
für jede natürliche Theologie ist, kommt man zwar mittels
rationaler Überlegung nicht zur wahren, vollständigen Erkenntnis
Gottes bzw. zur Frömmigkeit, aber wenigstens zur Tatsache eines
„unbekannten Gott[es]" (34)
, was positiv gedeutet schon mal ein „Samenkorn des Wissens um
Gott" (35) ist, welches
aufgehen kann. Allerdings braucht es dazu, wie schon oben
erwähnt, den direkten Zuspruch Gottes via das Zeugnis des
Heiligen Geistes. Zusammenfassend kann vielleicht gesagt werden,
dass der natürlichen Theologie deutliche, nicht überschreitbare
Grenzen gesetzt sind, dass sie aber als möglicher
Anknüpfungspunkt für Nicht-Glaubende und als Bestätigung im
Nachhinein für Glaubende ihre Berechtigung hat.
(36) In anderen
Worten, die natürliche Theologie ist also für den Glauben weder
hinreichend noch notwendig, aber auch nicht nutzlos.
Das Projekt der natürlichen Theologie erfüllt die
Voraussetzungen eines ganz bestimmten erkenntnistheoretischen
Modelles, das schon seit Plato und Aristoteles ein wenig und
mindestens seit der Aufklärung unser Denken massgeblich geprägt
hat und immer noch prägt. Dieses Modell, das für die weitere
Diskussion grundlegend ist, wird im nächsten Abschnitt
eingeführt.
3.1. Bauplan für Überzeugungen, Modell klassischer
Fundamentalismus (37)
Wir alle denken, und wir tun dies in einer bestimmten Art und
Weise. Um unser Denken besser zu verstehen, ist es hilfreich,
einen Blick auf unsere noetische Struktur - das System
unserer Überzeugungen und die sie miteinander verbindenden
Beziehungen - zu werfen. Die allgemein geläufige Form, unsere
Überzeugungen möglichst logisch zu ordnen, folgt dem Modell des
Fundamentalismus. Demzufolge haben wir zwei Arten von
Überzeugungen. Einerseits haben wir Überzeugungen, die sich auf
andere Überzeugungen stützen bzw. von diesen abgeleitet
sind: Ich glaube, dass das Wort „Erdbeere" E-r-d-b-e-e-r-e
buchstabiert wird. Diese Überzeugung stützt sich auf die
Überzeugung, dass es so im Wörterbuch steht. Andererseits gibt
es Überzeugungen, zu denen wir nicht aufgrund anderer
Überzeugungen gelangen, sondern die wir als basal, d. h.
grund-legend, betrachten. Dazu gehört zum Beispiel die
Überzeugung, dass 2 + 2 = 4, oder dass ich an einem Computer
sitze und dabei Schmerzen im Rücken habe. Wir unterscheiden also
basale und nicht-basale Überzeugungen.
Natürlich können wir nicht nach eigenem Gutdünken willkürlich
festlegen, welche Überzeugungen wir als basal betrachten wollen
und welche nicht. So ist es sicher vernünftig, nur diejenigen
Überzeugungen, die wir nicht aufgrund von anderen Belegen
glauben, als berechtigterweise basal zu bezeichnen. Was
aber ist das Kriterium für diese berechtigte Basalität? Der
starke oder klassische Fundamentalismus, massgeblich
beeinflusst von Descartes und Locke, versucht darauf eine
Antwort zu geben, indem er zwei Arten von Überzeugungen zulässt:
evidente (self-evident) und unkorrigierbare. Dabei
ist eine Überzeugung evident oder ersichtlich oder glasklar,
wenn ich sofort weiss, dass sie wahr ist, sobald ich sie
verstanden habe. Beispiele sind das oben erwähnte „2 + 2 = 4"
und der Syllogismus „Alle Menschen sind sterblich. Sokrates ist
ein Mensch. Also ist Sokrates sterblich.". Unkorrigierbar ist
eine Überzeugung, die für mich unmöglich falsch sein
kann, wie zum Beispiel dass ich Schmerzen in meiner linken Hand
verspüre oder einen Baum zu sehen meine. (Das „meinen" ist hier
wichtig; würde ich sagen, dass ich einen Baum sehe, so könnte
ich auf Grund irgendwelcher Umstände immer noch irren. Meine
subjektive Meinung jedoch, einen Baum zu sehen, kann nicht
falsch sein, unabhängig davon, ob der Baum da ist oder nicht.)
Die Position des klassischen Fundamentalismus kann also
folgendermassen zusammengefasst werden:
Eine Person, die eine bestimmte
Überzeugung akzeptiert, ist rational, wenn diese Überzeugung
entweder evident ist, oder unkorrigierbar ist, oder richtig von
einer anderen Überzeugung, die evident oder unkorrigierbar ist,
logisch abgeleitet ist.
(38)
Das so formulierte Prinzip ist das Biotop für die Position des
Evidentialismus, den wir als nächstes betrachten.
3.2. Die evidentialistische Herausforderung
Immer wieder ist es Philosophen in ihrer Suche nach
Erkenntnis darum gegangen, zwei Ziele zu erreichen: die Wahrheit
zu finden und Irrtum zu vermeiden. Dies ist denn auch die
treibende Motivation hinter dem Evidentialismus, der seinen
Namen nach seinem Grundanliegen hat: ich glaube nur, wofür ich
rationale Belege, Argumente, oder eben Evidenz habe, bzw.
der Grad meines Glaubens muss proportional zum Grad meiner
Evidenz sein. W. K. Clifford verleiht dem in deutlichen Worten
Nachdruck: „Es ist immer, überall und für alle falsch (oder
irrational, unvernünftig), etwas auf Grund von ungenügender
Evidenz zu glauben." (39)
Dieses Diktum bezieht sich auf alle Lebensbereiche, hat aber
natürlich vor allem in Bezug auf religiöse Überzeugungen fatale
Auswirkungen, wie Wolterstorff bemerkt:
Es wurde betont, dass es für
eine Person falsch wäre, das Christentum oder eine andere Form
des Theismus zu akzeptieren, wenn es für sie nicht vernünftig
wäre, dies zu tun. Und zweitens wurde festgehalten, dass dies
für eine Person nicht vernünftig ist, ausser wenn sie
belegmässig gute Überzeugungen hat, die ihre religiösen
Überzeugungen stützen. Religion ist nur dann akzeptierbar, wenn
sie vernünftig ist, und sie ist nur dann vernünftig, wenn es sie
stützende Evidenz gibt. Das ist die evidentialistische
Herausforderung. (40)
Eine mögliche Antwort auf diese Herausforderung wäre, sich Hals
über Kopf in das Projekt der natürlichen Theologie zu stürzen,
sich mit der Konstruktion von schlagkräftigen Gottesbeweisen und
der Abwehr von feindlichen Argumenten wie dem Problem des Übels
abzumühen, mit dem Ziel, möglichst viel Evidenz zugunsten von
Gott zusammenzutragen. Einige Philosophinnen und Theologen haben
dies getan und tun es immer noch, aber ob das den letzten
Skeptiker wird überzeugen können, ist zu bezweifeln, wie das
Beispiel von Bertrand Russell zeigt: Dieser wurde gefragt, was
er sagen würde, falls er nach seinem Tod vor Gott treten und ihm
eine Antwort geben müsste, weshalb er nicht an ihn geglaubt
habe. Er meinte: „Ich würde sagen: ´Nicht genügend Evidenz,
Gott! Nicht genügend Evidenz.´"
(41)
Eine andere Reaktion auf die evidentialistische Herausforderung
ist es, den Spiess umzudrehen den Evidentialismus und damit auch
den klassischen Fundamentalismus genauer unter die Lupe zu
nehmen. Genau dies hat Plantinga getan, mit nicht geringem
Erfolg.
3.3. Plantingas Antwort, erster Teil: Klassischer
Fundamentalismus K.O.
Zur Auffrischung formuliere ich hier nochmals das Kriterium
für berechtigte Basalität, wie es der klassische
Fundamentalismus postuliert:
Eine Proposition p ist berechtigterweise basal für eine Person S
dann und nur dann, wenn p entweder evident für S oder
unkorrigierbar für S ist.
Wird dieses Kriterium konsequent befolgt, so folgt man ihm bis
zu einem bitteren Ende: es weist nämlich zwei unüberwindbare
Schwächen auf. Erstens gibt es ein
„Sicherheit-vs.-Inhalt-Problem."
(42) Wenn ich tatsächlich vom obigen Kriterium ausgehe,
so gelange ich zwar zu wirklich unerschütterlichen
berechtigterweise basalen Überzeugungen, aber diese lassen sich
an einer Hand abzählen... Anders ausgedrückt, viele
Überzeugungen, an denen wir in unserem Alltag festhalten und von
denen wir felsenfest überzeugt sind, fallen aus der Kategorie
„berechtigterweise basal" heraus. Beispiele sind die Existenz
der Aussenwelt, die Existenz anderer Personen, die ähnlich
funktionieren wie ich oder die Existenz der Vergangenheit, denn
es ist weder evident noch unkorrigierbar, dass es diesen Tisch
vor mir wirklich gibt (43)
, dass mein Bruder Schmerz empfindet, weil ich ihm auf den Fuss
getreten bin, oder dass ich heute morgen um 8.03 Uhr
gefrühstückt habe. Dazu ein kleiner Exkurs: Nach gängiger
philosophischer Meinung wäre es also völlig korrekt zu
behaupten, dass ich die einzige Person bin, die es gibt
(Solipsismus), dass es die Aussenwelt, wie wir sie wahrnehmen,
gar nicht gibt, sondern alle Sinneswahrnehmungen eigentlich nur
elektronische Impulse sind, die ein Computer mir eingibt
(Putnams Gehirn im Tank), und dass die Welt erst seit fünf
Minuten existiert. Es gibt keine Gegenargumente, die evident
oder unkorrigierbar wären. Das tönt zwar alles ein bisschen
weltfremd - es ist weltfremd. Plantinga schliesst daraus,
dass das obige Kriterium zu restriktiv ist: wenn der klassische
Fundamentalismus wahr ist, dann ist fast unser ganzes Wissen
falsch bzw. nicht sicher.
Zweitens, und das ist eine philosophische Todsünde, ist das
Kriterium selbstreferentiell inkohärent, d. h. auf sich selbst
bezogen widersprüchlich. Denn: Ist das Kriterium evident? Nein.
Ist es unkorrigierbar? Nein. Ist es wenigstens von
Überzeugungen, die evident oder unkorrigierbar sind, abgeleitet?
Nein. Das Ergebnis ist paradox und erschütternd: Wenn der
klassische Fundamentalismus wahr ist, so ist es nicht rational,
den klassischen Fundamentalismus zu akzeptieren; denn akzeptiert
werden dürfen nur berechtigterweise basale Überzeugungen oder
Überzeugungen, die richtig von solchen abgeleitet wurden. Das
obige Kriterium scheitert an sich selber und muss deshalb
fallengelassen werden.
Plantinga nutzt nun die Gunst des Augenblicks bzw. der
tabula-rasa-Situation und behauptet, dass der Glaube an Gott
berechtigterweise basal sei, wie auch der Glaube an andere
Dinge: ich sehe einen Baum, ich habe mir heute morgen die Zähne
geputzt, meine Schwester freut sich über die geschenkte Rose,
und ich glaube an Gott. Punkt. Weshalb sollte es nicht so sein?
Erkenntnistheoretisch gibt es zwischen den obigen Überzeugungen
keinen Unterschied. - Das tönt jetzt ein bisschen gar einfach -
ist es aber nicht, denn Plantinga weiss seine Position durchaus
zu verteidigen. (44)
Positive Unterstützung für seine Behauptung erhält Plantinga
natürlich von Calvin; Calvin und dessen siebter Sinn sind es
auch, die ihn zu dieser Behauptung überhaupt angestiftet haben:
Plantinga knüpft die rationale
Zulässigkeit eines theistischen Fundamentalismus explizit an
das, was Calvin über den sensus sagt. Calvin hat Recht gehabt
mit seiner Aussage, man könne ohne Gründe (argument) an Gott
glauben. Denn wenn wir, wie Calvin es sagt, einen solchen Sinn
haben, eine innere Neigung an Gott zu glauben, und diese Neigung
ihre Erfüllung dann findet, wenn sie der Grösse und Schönheit
unserer Umgebung bewusst wird, dann brauchen wir die Existenz
Gottes nicht mit Gründen (argument) zu beweisen; wir haben ja
schon die Überzeugung, dass es Gott gibt, wenigstens solange der
sensus richtig und nicht fehlerhaft funktioniert.
(45)
Plantinga scheint zwei Arten von Gründen zu unterscheiden: auf
der einen Seite gibt es rationale Gründe (reasons, arguments)
und Evidenz, z. B. die klassischen Gottesbeweise, auf der
anderen Seite Grundlagen (grounds oder bestimmte
Umstände, wie z. B. die Empfindung, das Gott zu mir spricht,
wenn ich die Bibel lese, oder das Gefühl bei der Beichte, dass
Gott mir vergibt. (46) Um
zur Titelfrage zurückzukehren: Kann ich in meinem Glauben an
Gott rational gerechtfertigt sein, auch wenn ich keine -
rationalen - Gründe dafür habe? Die Antwort ist ein
uneingeschränktes „Ja".
Allerdings sind wir damit noch nicht am Ende. Dies war nämlich
lediglich Plantingas erster Streich, und der zweite folgt
sogleich.
3.4. Plantingas Antwort, zweiter Teil: Die
externalistische Wende (47)
Um Plantingas weitere Gedanken verständlich machen zu können,
muss ich philosophisch ein bisschen ausholen. - Die
Gretchenfrage in der Erkenntnistheorie lautet folgendermassen:
Was macht eine Überzeugung (belief) zu Wissen?
Traditionellerweise hiess die Antwort: Wissen ist eine
gerechtfertigte, wahre Überzeugung.
(48) Das heisst, ich
weiss einen Satz p dann, wenn ich a) p glaube, b) p wahr ist und
c) ich Gründe für meine Überzeugung p anführen kann. Recht lange
hat das gut funktioniert, aber dann hat Edmund Gettier die
Unzulänglichkeit dieser Definition gezeigt: Nehmen wir an, ich
glaube, dass es zwölf Uhr mittags ist, dies auch wahr ist, und
die Zeiger meiner Taschenuhr beide auf die Ziffer zwölf zeigen,
was meine Überzeugung genügend rechtfertigen sollte. Gemäss
diesem Sachverhalt darf ich davon sprechen, zu wissen, dass es
zwölf Uhr ist. Tatsächlich habe ich aber einfach Glück gehabt,
denn, ohne dass ich es gemerkt habe, ist meine Taschenuhr
stehengeblieben, und zwar genau vor zwölf Stunden exakt um
Mitternacht... Die dritte Bedingung ist nicht „richtig" erfüllt
worden, und meine Begründung trifft nur zufällig zu. Dieses
Beispiel zeigt, dass die obige Definition ergänzungsbedürftig
ist, und seitdem sucht man nach einer mysteriösen vierten
Bedingung. -
Charakteristisch für diesen Ansatz, Wissen zu definieren, ist
die Innenperspektive: alle Bedingungen, die erfüllt
werden müssen, sind mir zugänglich; um gerechtfertigt zu sein,
muss ich wissen, was ich glaube, und warum ich es glaube. Diese
Position wird deshalb erkenntnistheoretischer Internalismus
genannt. Nun ist dieser Ansatz jedoch in letzter Zeit, nicht nur
wegen der fehlenden vierten Bedingung, weiter unter Beschuss
geraten. Hauptproblem ist die Tatsache, dass subjektive
Rechtfertigung nicht automatisch objektive Rechtfertigung
bedeutet. Insbesondere können externe Faktoren, die mir nicht
zugänglich sind, meine Rechtfertigungsverfahren sabotieren.
Beispielsweise kann ein Gehirntumor meine Wahrnehmung und/oder
mein Denkvermögen trüben, oder ich gerate zufällig in ein von
der Filmindustrie gebautes Dorf, das ich erst entlarve, wenn ich
in ein Haus hineingehen will und dann bemerke, dass alles nur
Fassade ist. Es scheint, dass äussere Faktoren eine
wichtige Rolle spielen, ob ich zu den richtigen Überzeugungen
komme oder nicht. Plantinga hat sich deshalb in den vergangenen
Jahren immer mehr von einer internalistischen Sichtweise
entfernt, sofern er sie je vertreten hat, und an einer
externalistischen Position gearbeitet:
Was wir gemäss Plantinga
brauchen, um die Gettier-Paradoxe zu lösen, ist nicht die
gesuchte vierte Bedingung, sondern eine externalistische
Perspektive, ein Modell, das sich nicht auf den Zugang eines
Individuums auf seine mentalen Zustände abstützt, sondern ein
Modell, das von Wahrheiten über das kognitive Funktionieren des
Individuums und dessen Umgebung ausgeht. Externalismus hat nicht
Gründe, zu denen der Erkenntnissuchende Zugang hat, im
Blickfeld, sondern sieht den Erkenntnissuchenden als einen
Mechanismus, der richtig oder falsch funktioniert; er
funktioniert richtig, wenn er auf zuverlässige
(49)
Weise wahre Überzeugungen hervorbringt, und falsch, wenn er
falsche Überzeugungen hervorbringt.
(50)
Und Plantinga selbst schreibt:
... die grundlegende Idee ist,
dass eine Überzeugung Garantie (warrant) hat, wenn sie von
einwandfrei funktionierenden kognitiven Fakultäten in einer
passenden epistemischen Umgebung gemäss einem Design-Plan, der
erfolgreich auf Wahrheit ausgerichtet ist, produziert worden
ist. (51)
Gehen wir diese komplexe Aussage nochmals durch. Der Begriff
der Rechtfertigung ist durch den Begriff „Garantie" (warrant)
ersetzt worden. Die Definition von Wissen heisst also neu:
Wissen ist wahre Überzeugung plus Garantie. Garantie habe ich
dann, wenn
a) meine kognitiven Fakultäten oder Mechanismen auf die
Wahrheit ausgerichtet sind: Es gibt auch Mechanismen, die
nicht auf Wahrheit ausgerichtet sind, z. B. Wunschdenken oder
veränderte Wahrnehmung, die andere Funktionen haben: der
Lottospieler rechnet fest damit, dass er eines Tages den
Hauptpreis gewinnt, und dies gibt ihm Kraft, sein schwieriges
Leben weiterzuführen; oder ich drücke bei einem eigentlich
gravierenden Versehen einer Kollegin ein Auge zu, um die
Freundschaft zu erhalten.
b) meine kognitiven Fakultäten einwandfrei
funktionieren (proper function): Ich leide nicht an einer
psychischen oder physischen Krankheit, die zu einer
Wahrnehmungsstörung führen würde.
c) meine kognitiven Fakultäten in einer ihnen
angemessenen Umgebung funktionieren: Die Aussenwelt ist
prinzipiell so, dass sie mir mehr oder weniger zugänglich und
verständlich ist. (Es gibt Uhren; meistens zeigen sie recht
zuverlässig die Zeit an; manchmal bleiben sie jedoch stehen.)
Bedingungen a) und b) sind erfüllt, wenn meine kognitiven
Fakultäten oder Mechanismen nach einem entsprechenden
Design-Plan „gebaut" sind, und Bedingung c) ist erfüllt, wenn
die Umgebung tatsächlich angemessen ist.
Es ist unschwer zu erkennen, dass auch bei diesem Modell Calvin
Pate gestanden ist, und dass Plantinga dabei den siebten Sinn
aus einer neuen Perspektive betrachtet hat:
... Plantinga sieht Calvins
Vorstellung des sensus nicht mehr so, dass dieser in
internalistischer Manier Grundlagen (grounds) liefert, sondern
als einen Mechanismus für die Erzeugung einer wahren
Überzeugung, wenn dieser Mechanismus in einer angemessenen
Umgebung einwandfrei funktioniert. Der sensus ist nicht eine
Fakultät (52),
welche Grundlagen (grounds), die Überzeugungen oder
Wissensansprüche stützen sollen, untersucht, sondern ein Gerät,
das zuverlässige Überzeugungen produziert.
(53)
Natürlich ist es dann auch der siebte Sinn, der dafür
verantwortlich ist, wahre Überzeugungen über Gott zu
produzieren. Wie sieht es also mit der Beantwortung unserer
Titelfrage aus? Kann ich in meinem Glauben an Gott rational
gerechtfertigt sein, auch wenn ich keine - rationalen - Gründe
dafür habe? Nun, die Frage kann so nicht mehr beantwortet
werden, denn der Begriff der Rechtfertigung bezieht sich auf
einen rein internalistischen Rahmen. Wie wir jedoch gesehen
haben, ist es mit der Beachtung von mir zugänglichen Bedingungen
noch nicht getan, sondern auch externe Faktoren spielen eine
Rolle (54). Die Frage muss
deshalb umformuliert werden: Hat der Glaube an Gott Garantie?
Ist er von einem einwandfrei funktionierenden Mechanismus, der
auf Wahrheitsgewinn ausgerichtet ist und in einer angemessenen
Umgebung funktioniert, erzeugt worden? Oder ist er gerade das
Produkt einer Fehlfunktion, wie es Freud, Marx und Nietzsche als
„Meister des Verdachts" (Paul Ricoeur) behaupten würden? Die
Klärung dieser Frage ist unerwartet, verblüffend und von
weitreichender Konsequenz.
3.5. Erkenntnistheorie, Metaphysik und die entscheidende
Frage nach wahr oder falsch
Es ist schwierig, auf die obigen Fragen eine Antwort zu
finden. Der Grund liegt darin, dass die Anwort nicht im Bereich
der Erkenntnistheorie liegt, sondern ausserhalb: es ist
von entscheidender Bedeutung, wie wir Menschen beschaffen sind,
und wie die Welt beschaffen ist. Und schon sind wir im Gebiet
der philosophischen Anthropologie und der Metaphysik angelangt.
Zwei Lösungen - nicht weniger, aber auch nicht mehr -
bieten sich hier an, eine naturalistische und eine
supranaturalistische. (55)
Zuerst folgt die naturalistische Version, was meistens auf eine
Art der evolutionären Erkenntnistheorie hinausläuft. Plantinga
ist dieser Möglichkeit gegenüber sehr skeptisch, denn:
Es gibt keine offensichtliche
Verbindung zwischen dem Überleben eines Organismus und der
Produktion von wahren Überzeugungen in diesem Organismus (im
Gegensatz zur Produktion von angemessenem Verhalten). Weiter
kann es sein, dass die Wahrscheinlichkeit, dass unsere
kognitiven Fakultäten zuverlässig sind, tief ist, wenn wir davon
ausgehen, dass wir die Produkte einer naturalistischen Evolution
sind. (56)
Zwar gesteht Plantinga zu, dass es plausibel sei, dass einige
Fakultäten wie die Sinneswahrnehmung oder das
Erinnerungsvermögen, welche sicher mit dem Überleben zu tun
haben, wahrscheinlich zuverlässig funktionierten: nur wer den
Tiger als Tiger einschätzt und sich an dessen Gefährlichkeit
erinnert, wird nicht gefressen. Dies jedoch auch von unseren
mehr theoretischen Überzeugungen behaupten zu können, sieht er
keinen Anlass. Insbesondere gibt es keinen Grund zu glauben,
dass der Naturalismus wahr ist, auch wenn er es sein sollte. Es
ist demzufolge nicht rational, die naturalistische Position zu
vertreten.
Was die Meister des Verdachts betrifft: wenn der Naturalismus
wahr ist, so haben sie tatsächlich Recht. Wenn es keinen Gott
gibt, so gibt es auch keinen Sinn für die Gottheit, und
so muss der Glaube an ihn notwendigerweise das - vielleicht
nützliche - Produkt von Wunschdenken oder einer anderen Form von
Fehlfunktion sein. (57)
Die supranaturalistische Version hingegen rechnet mit Gott. Und
wenn wir vom Gott, wie er in der christlichen und jüdischen
Tradition überliefert wird, ausgehen, der uns geschaffen hat,
uns liebt und will, dass wir ihn kennenlernen können, so ist es
sehr plausibel anzunehmen, dass er uns deshalb einen siebten
Sinn eingepflanzt hat:
Es ist natürlich zu denken, dass
die kognitiven Prozesse, die wirklich den Glauben an Gott
hervorbringen, so von ihrem Schöpfer gestaltet wurden, dass sie
diese Überzeugung hervorrufen würden. Dann heisst das, dass
diese entsprechende Überzeugung durch einwandfrei
funktionierende kognitive Fakultäten gemäss einem Design-Plan,
der erfolgreich auf Wahrheit abzielt, erzeugt wird: deshalb hat
er Garantie. (58)
Hat der Glaube an Gott Garantie? Die Antwort ist, dass es zwei
Antworten gibt: Wahrscheinlich nein, wenn der Theismus falsch
ist. Wahrscheinlich ja, wenn der Theismus wahr ist.
Damit nähert sich das Ende, und wir kommen zur grossen
Abrechnung, in der geklärt werden soll, was die Reformierte
Erkenntnistheorie nun wirklich leisten kann.
4. Conclusio: Was bringt die Reformierte
Erkenntnistheorie?
Wir haben einen weiten Weg hinter uns, so dass es gar nicht
so einfach ist, ein Fazit zu ziehen. Insbesondere mag die
Tatsache, dass Plantinga nicht bei seinem eher internalistischen
Modell geblieben ist, sondern sich auch in Richtung
Externalismus bewegt hat, einige Verwirrung stiften. Für
Plantinga selbst sind diese Modelle nicht Gegensätze, sondern
sie betonen jeweils unterschiedliche Aspekte oder
Betrachtungsweisen. Sowohl Rechtfertigung wie Garantie sind
nämlich beides Beispiele für einen positiven epistemischen
Status. (59)
Dennoch möchte ich in meinem Fazit der Einfachheit halber die
Zweiteilung von Plantingas Antwort auf den
„Irrationalitätsvorwurf" des theistischen Glaubens
berücksichtigen, obschon einige Punkte sich überschneiden. Das
Resultat sieht dann folgendermassen aus:
Plantingas eher internalistisch ausgerichtete Antwort zeigt
auf, dass die evidentialistische Forderung ihren eigenen
Kriterien nicht standhält, der Glaube an Gott also als
berechtigterweise basal und damit auch als rational betrachtet
werden darf. Drei mögliche positive Folgen dieser Tatsache finde
ich erwähnenswert:
a) Das Selbstbewusstsein der Christin wird gestärkt. Sie
muss nicht mehr in einer - ihr zugeschobenen - defensiven
Haltung leben und laufend erklären, weshalb sie denn eigentlich
glauben dürfe. Vielmehr kann sie offensiv auftreten und, um es
mit Luther zu sagen, die Haltung einnehmen: Hier stehe ich, ich
kann nicht anders. Die positive Beweispflicht ist zu einer
negativen geworden: Ich bin unschuldig, bis das Gegenteil
bewiesen ist. (60) (Was
keinesfalls ausschliesst, dass ich weitere positive Evidenz auch
in propositionaler Form, z. B. mit Gottesbeweisen, suche.)
b) Der siebte Sinn liefert keine rationalen Gründe,
sondern nicht-propositionale Evidenz in Form von Grundlagen.
Damit rückt die religiöse Erfahrung in das Blickfeld und
wird als eigenständige und unabhängige Möglichkeit der
Rechtfertigung aufgewertet.
c) Die natürliche Theologie erhält den ihr gebührenden
Stellenwert, indem ihr der richtige Aufgabenbereich zugewiesen
wird: sie soll als Stütze, zur Bestätigung oder aber als
Wegbereiterin dienen.
Plantingas externalistische Antwort interpretiert den siebten
Sinn als paradigmatischen Fall für einen Mechanismus, der in
einer angemessenen Umgebung, richtig „designed" und einwandfrei
funktionierend, zu wahren Überzeugungen führt. Insbesondere
seine metaphysischen Überlegungen fördern folgende Konsequenzen
zu Tage:
a) Die „de jure"-Frage „Ist der Glaube an Gott rational?"
wird reduziert auf die „de facto"-Frage „Ist der Glaube an Gott
wahr?", denn es gilt ja: Der Glaube an Gott ist rational,
wenn er wahr ist, und er ist irrational, wenn er falsch ist. Den
evidentialistischen Herausforderern wird damit der Boden unter
den Füssen weggezogen, und die Meister des Verdachts müssen
eingestehen, dass ihre Kritik nicht unabhängig davon ist, wie
die Welt beschaffen ist. Sie dürfen demzufolge nicht mehr zuerst
die Rationalität des Glaubens an Gott anzweifeln, sondern dessen
Wahrheit. (61)
b) Beim Wettstreit zwischen dem naturalistischen und dem
supranaturalistischen metaphysischen Hintergrundsbild für eine
naturalistische Erkenntnistheorie scheint eine theistische
Lösung einen kohärenten Denkrahmen zu bieten und am meisten Sinn
zu machen:
Eine naturalistische
Erkenntnistheorie, zusammen mit einer naturalistischen
Metaphysik, führt mittels des Konzepts der Evolution zu
Skeptizismus oder zu einer Verletzung von Standards der
Rationalität; zusammen mit dem Theismus nicht.
(62)
So komme ich denn zum Schluss: Ist es vernünftig, an Gott zu
glauben? Wie die obigen Erwägungen gezeigt haben, ist der Glaube
an Gott in keiner Weise mangelhafter als irgendeine andere
Überzeugung; es gibt im Gegenteil viele Gründe, dass der Glaube
an Gott auch ohne Gründe vernünftig sein kann.
(63)
5.1. Anhang A: Der Weihnachtsmann und andere
Einwände zur Reformierten Erkenntnistheorie
Plantingas Ausführungen sind kontrovers und haben einigen
Widerspruch hervorgerufen. (64)
Nachfolgend die wichtigsten Einwände:
a) Einwand: Die Kritik am fundamentalistischen Kriterium
für berechtigte Basalität ist nicht erfolgreich: Zwar ist es
zugegebenermassen nicht evident und auch nicht unkorrigierbar,
aber es könnte ja von evidenten oder unkorrigierbaren
Propositionen abgeleitet sein. Der Nachweis dafür steht einfach
noch aus. - Plantingas Antwort: Für die Aufgabe, diesen Nachweis
zu erbringen, hat man 2000 Jahre lang Zeit gehabt. Bisher ist
nichts Erwähnenswertes gefunden worden, und es besteht auch
nicht die geringste Aussicht, dass sich dies bald ändern wird.
b) Einwand: Wenn der Glaube an Gott berechtigterweise
basal ist, so kann auch der Glaube an den Weihnachtsmann, der
jede Weihnachten wiederkommt und seine Anhänger besucht ,
(65) berechtigterweise
basal sein. Nach dem Motto „anything goes", kann jeder glauben,
was er will, sei das nun ein Muslim, ein Voodoo-Priester oder
eine Weltuntergangsprophetin. - Plantingas Antwort: Nur weil der
Glaube an Gott als berechtigterweise basal betrachtet wird,
heisst dies noch lange nicht, dass jeder Nonsens auf dieselbe
Art geglaubt werden darf. Vielmehr ist es unsere Aufgabe, auf
induktivem Weg ein neues Kriterium zu formulieren:
Wir müssen Beispiele für
Überzeugungen und Bedingungen sammeln, so dass erstere unter
letzeren offensichtlich berechtigterweise basal sind, und
Beispiele für Überzeugungen und Bedingungen, so dass erstere
unter letzeren offensichtlich nicht berechtigterweise basal
sind. Wir müssen dann Hypothesen über die notwendigen und
hinreichenden Bedingungen berechtigter Basalität entwerfen und
diese Hypothesen anhand jener Beispiele testen.
(66)
Allerdings können auch da alle mitmachen, und so wird man zu
verschiedenen Kriterien gelangen, je nachdem welche
Beispielsmenge man gewählt hat. Ein Calvinist und ein Anhänger
des Weihnachtsmanns werden sich so wahrscheinlich nie einig
werden. Plantinga ist sich dessen durchaus bewusst, und so gibt
er auch das lang gehegte Ideal universaler Übereinstimmung auf,
da unsere Denkvoraussetzungen zu unterschiedlich seien:
Dieser Punkt ist tatsächlich
korrekt, und ich habe das ... durchaus betont: es gibt keinen
Grund, im Voraus anzunehmen, dass alle übereinstimmen, welche
Beispiele zu wählen sind. Ich akzeptiere, ja noch mehr, ich
beharre auf dieser Konsequenz; ich sehe nicht ein, weshalb das
zu Recht beklagenswert sein sollte. Verschiedene Philosophen,
die diese Methode anwenden, werden zu verschiedenen Schlüssen
gelangen: das ist sicher wahr, aber kennen wir eine
einigermassen gültige philosophische Methode (um zu
epistemischen Kriterien zu gelangen), bei der dies nicht auch
der Fall wäre? So ist nun mal das Leben in der Philosophie.
(67)
Plantinga betont denn auch, dass jede Gruppe für ihre eigene
Beispielsmenge verantwortlich ist: die Christinnen für ihr
Modell, und die Atheisten für ihr Modell. Der Glaube an den
Weihnachtsmann muss daher nicht akzeptiert werden, wenn er zum
Beispiel nicht in das christliche Modell passt, sondern er kann
als Paradebeispiel für eine irrationale basale Überzeugung
gelten.
c) Einwand: Es ist heutzutage für einen intellektuellen,
aufgeklärten Menschen nicht mehr möglich, den Glauben an Gott
als basal zu betrachten. Gründe für Gottes Nichtexistenz, allen
voran das Problem des Übels, sind offensichtlich und
unüberwindbar. - Plantingas Antwort: Natürlich ist es so, dass
es einige „Saboteure" (od. Einwände; engl.: defeater) für den
christlichen Glauben gibt, und man ihnen als Christ vielleicht
auch begegnet. Ist dies der Fall, so gibt es zwei mögliche
Verhaltensweisen. Einerseits kann der Glaube an Gott die Rolle
eines intrinsischen Saboteuren-Saboteurs übernehmen,
nämlich dann, wenn ich meinen Glauben an Gott als ungleich
stärker und überzeugender einschätze als die Aussagekraft eines
möglichen Saboteurs, z. B. des Problems des Bösen. Dies ist
einfach eine Umkehrung des Prinzips: Es ist nicht so, dass der
atheistische Einwand meinen Glauben zu Fall bringt, sondern mein
Glaube lässt den atheistischen Einwand verstummen. Andererseits
kann natürlich der Saboteur für mich ein ernstzunehmendes
Problem darstellen, das die Grundfesten meines Glaubens
erschüttert und mich zum Zweifeln bringt; dann bin ich
offensichtlich gefordert, entsprechende extrinsische Saboteure
für den Saboteur zu finden, indem ich z. B. dem Problem des
Bösen die Verteidigung mit dem freien Willen (free-will defense)
entgegenhalte. Mit dieser Strategie der negativen Apologetik
genügt es, die gegnerischen Argumente zu entkräften, und der
Glaube kann auch ohne zusätzliche positive Evidenz weiterhin als
basal betrachtet werden.
5.2. Anhang B: Grund-los? Alstons Vergleich von
Sinneswahrnehmung und religiöser Erfahrung
Alstons Schachzug besteht darin, religiöse Erfahrung in
Analogie zur „normalen" Sinneswahrnehmung zu betrachten
(68) . Bei der
Sinneswahrnehmung gibt es das erkennende Subjekt (die Person,
die ein Nilpferd sieht), das zu erkennende Objekt (das Nilpferd)
und das Phänomen (die Erscheinung des Nilpferds). Bei der
religiösen Erfahrung verhält es sich ähnlich: ein Erkennender
erkennt Gott durch die Art, wie Gott sich ihm mitteilt. Diese
Gemeinsamkeiten könnten dazu führen, die beiden Arten von
Erfahrung als gleichwertig zu betrachten. Nun gibt es jedoch
auch Unterschiede, die man nach Meinung einiger Philosophen
berücksichtigen müsse:
a) Für die Sinneswahrnehmung gibt es Standardmethoden,
mittels derer die Genauigkeit jeder einzelnen Überzeugung, die
auf Sinneswahrnehmung beruht, überprüft werden kann.
b) In vielem, was wir beobachten, können wir Regularitäten
feststellen; dies befähigt uns zu erfolgreichen Vorhersagen.
c) Die Fähigkeit für Sinneswahrnehmung ist bei normalen
erwachsenen Menschen universell vorhanden.
d) Wenn Menschen von Sinneserfahrungen sprechen, verwenden
sie unabhängig von ihrem Kulturkreis dasselbe begriffliche
Schema.
All diese Punkte treffen auf die religiöse Erfahrung nicht zu.
Ein bestimmtes mystisches Erlebnis kann nicht im Nachhinein
überprüft werden, es gehorcht kaum bestimmten
Gesetzmässigkeiten, es wird nicht von allen Menschen gemacht,
und es wird auch nicht überall gleich beschrieben. Ist also
religiöse Erfahrung doch sehr verschieden von Sinneserfahrung?
Alston erklärt, weshalb diese Verschiedenartigkeiten zu Stande
kommen könnten, indem er von folgenden Annahmen ausgeht:
a) Gott ist „vollkommen anders", so dass wir keine
Regularitäten in seinem Verhalten erkennen können.
b) Aus demselben Grund können wir keine glasklare
Vorstellung, und noch dazu eine universelle, davon formen, wie
Gott ist.
c) Gott offenbart sich nicht einfach jeder beliebigen
Person in voller Klarheit, sondern stellt gewisse Bedingungen,
die erfüllt werden müssen.
Alston folgert, dass es auf dem Hintergrund dieser wohl
plausiblen Annahmen nicht überraschend ist, dass für die
religiöse Erfahrung die obigen Merkmale a) - d) nicht zutreffen.
Die Verschiedenartigkeit kann so hinreichend erklärt werden, und
ist kein Mangel der religiösen Erfahrung mehr. Und wie die
Zuverlässigkeit der Sinneswahrnehmung wiederum auf positiver
sinnlicher Wahrnehmung beruht, so beruht auch die
Zuverlässigkeit religiöser Erfahrung auf wiederholter religiöser
Erfahrung. Alston schliesst:
Ich komme zum Schluss, dass
[religiöse Erfahrung] im wesentlichen denselben epistemischen
Status wie [Sinneswahrnehmung] hat und dass niemand, der die
letztere gutheisst, in einer Position ist, in der er an der
ersteren herumkritteln könnte.
(69)
Für unsere Belange heisst dies, dass religiöse Erfahrungen
durchaus als legitime Grundlagen für Überzeugungen dienen
können, wie es Sinneswahrnehmungen tun.
6. Fussnoten
1 Diese Arbeit ist, gemessen an der Komplexität des Themas,
unvollkommen und vereinfacht. Sie ist deshalb auch als erste
Hinführung zum Thema gedacht. Für die weitere Beschäftigung
verweise ich auf die angeführte Originalliteratur und
insbesondere auf das nächstens erscheinende Buch von Plantinga,
Warrant and Christian Belief.
2 Obschon es auch einen Trend zur Irrationalität gibt, wie
Samuel Morgenthaler es ausgedrückt hat: Unglaublich viel
Menschen glauben unglaublich viel Unglaubliches.
3 Nicht zu verwechseln mit der Frage nach der Wahrheit
religiöser Überzeugungen, obschon natürlich ein Zusammenhang
besteht: kaum jemand wird etwas für rational halten, das er
nicht auch für wahr hält.
4 „reformiert" deshalb, weil ihre Exponenten der
reformierten Tradition angehören und sich auch ausdrücklich auf
Grössen dieser Tradition wie Calvin bezogen; der Begriff kam
eher zufällig zustande.
5 Helm, FU, p. 198
6 Charakteristischerweise lautet ein Eintrag im
humoristischen „Philosophischen Lexikon": „plantingen, Verb:
sich bemühen, unter Einsatz von Dünger des 20. Jahrhunderts
Ideen des 11. Jahrhunderts wieder aufblühen zu lassen, die man
schon für tot hielt; auch: Plantinger, Nomen: einer, der
plantinget." Dennett, PL. Der Eintrag bezieht sich auf
Plantingas Modalversion von Anselms ontologischem Gottesbeweis,
passt jedoch auch nicht schlecht für Calvin und die Reformierten
Erkenntnistheorie. Siehe dazu Helm, FU, p. 197 - 201
7 mein Begriff
8 Inst. I.3.1
9 Inst. lat. I.3.1-2: persuasio, praesumptio Deum esse,
aliaquam Dei notio, semen religionis
10 Inst. I.3.1
11 Inst. I.3.3
12 Inst. I.5.1
13 Plantinga, WBG, p. 287-289
14 Inst. I.2.1
15 Sudduth, NKG, p. 2
16 Sudduth, NKG, p. 1
17 noetisch = auf das Denken und unsere Überzeugungen
bezogen18
18 Inst. I.4.1; I.4.4
19 Inst. I.5.15
20 Inst. I.4.4
21 Inst. I.3.3
22 Inst. III.1.4
23 Inst. I.7.5
24 Inst. I.6.1
25 Plantinga, WBG; p. 293; englischsprachige Zitate wurden
von mir übersetzt.
26 Am bekanntesten sind wohl die kosmologischen (alles hat
eine erste Ursache, und Gott ist dieser „erste Beweger"),
teleologischen (Dinge, die zweckmässig funktionieren, müssen
einen Designer haben), ontologischen (Gott ist ein Wesen, über
das hinaus nichts gedacht werden kann) und moralischen (ohne
Gott gäbe es keine Moral) Gottesbeweise. Siehe dazu Peterson,
RRB, pp. 85 - 115
27 Inst. I.7.4
28 Plantinga, RBG, p. 67
29 Inst. I.5.9
30 Inst. I.8.1-13
31 Inst. 1.5.6
32 Inst. 1.5.2
33 Inst. I.8.1
34 Inst. I.5.12
35 Inst. I.5.15
36 Zu letzterem siehe Calvins realistische Einschätzung
der menschlichen Situation: „[I]m Lauf dieses Lebens ist es um
uns nie so gut bestellt, dass wir von der Krankheit unseres
Mangels an Vertrauen gänzlich geheilt und völlig vom
Glauben erfüllt und in Besitz genommen sind." Inst. III.2.18
37 „Fundamentalismus" hat hier nichts mit religiösem
Fundamentalismus zu tun, sondern ist die deutsche Übersetzung
des in der englischsprachigen Erkenntnistheorie geläufigen
Begriffes „foundationalism".
38 Peterson, RRB, p. 149
39 Clifford, EB, p. 183
40 Wolterstorff, FR, p. 6
41 Wood, E, p. 155
42 Wood, E, p. 94
43 Was im philosophisch und theologisch interessanten Film
„Die Matrix" plausibel dargestellt wird.
44 Siehe dazu 5.1. Anhang A: Der Weihnachtsmann und andere
Einwände zur Reformierten Erkenntnistheorie, wo die wichtigsten
Einwände behandelt werden.
45 Helm, FU, p. 186-7
46 Die Definition von „Grund" ist natürlich ein
springender Punkt in der Beantwortung der Titelfrage. Plantinga
scheint sich mehr oder weniger dem Verständnis Alstons
anzuschliessen, der sich ausgiebig mit dem
erkenntnistheoretischen Status religiöser Erfahrung
auseinandergesetzt hat. Siehe 5.2. Anhang B: Grund-los? Alstons
Vergleich von Sinneswahrnehmung und religiöser Erfahrung.
47 Dieser Begriff wie auch die obige Zweiteilung („erste
und zweite Anwendung des sensus divinitatis") geht zurück
auf Helm, FU p. 182-3
48 knowlegde = justified true belief
49 Deshalb wird diese Position manchmal auch Reliabilismus
genannt.
50 Helm, FU, p. 194
51 Plantinga, WBG, p. 291
52 Fakultät = sinnliches Vermögen wie z. B. Hörvermögen,
Sehvermögen etc.
53 Helm, FU, p. 194
54 Es erscheint mir wichtig zu betonen, dass eine
externalistische Sicht nicht als Gegensatz, sondern als
Ergänzung zur internalistischen Sicht verstanden werden muss:
Rechtfertigung bleibt weiterhin wichtig, wenn auch das Gewicht
mehr auf Garantie liegt.
55 Naturalistisch: Die Natur ist alles, was es gibt; also
muss auch alles natürlich erklärt werden; supranaturalistisch:
Gott kommt ins Spiel.
56 Helm, FU, p. 202
57 Für eine ausführlichere Behandlung von Freud und Marx
siehe Plantinga, REP, p. 209 - 217
58 Plantinga, WBG, p. 294
59 epistemisch = auf das Wissen bezogen; „positiver
epistemischer Status" ist sozusagen das Gütesiegel für
vernünftige Überzeugungen; RFE, p. 386
60 Ich verweise ausdrücklich auf 5.1. Anhang A, Punkt c).
61 Plantinga, REP, p. 217
62 Plantinga, WPF, p. 237
63 Ich danke den folgenden Personen, die diesen Text
gelesen und kommentiert haben: Dorothee Bertschmann, Katharina
Fahrni, Eva Inniger, Markus Nagel, Andrea Schärer und Beat
Stübi. Ganz besonders danke ich meinen intellektuellen
Sparringspartnern Dominic Roser und Roger Koch für ihre
hartnäckigen Fragen.
64 Plantinga, GG, pp. 317 - 330; Quinn, SFT, pp. 331 -
353; Plantinga FTR, pp. 289 - 309
65 Im Original ist es der „Grosse Kürbis", der alljährlich
an Halloween auftaucht (great pumpkin objection).
66 Plantinga, GG, p. 328
67 Plantinga, FTR, p. 303
68 Alston, RERÜ, pp. 303 - 316
69 Alston, RERÜ, p. 316
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Adresse des
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Andreas Allemann, Grossholzweg 5, 3073 Gümligen,
Schweiz; allemann@gmx.ch;
6. November 1999
|